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Das Haus mit dem Mezzanin

I.

Vor sechs oder sieben Jahren lebte ich in einem der Kreise des T.schen Gouvernements, auf dem Gute eines gewissen Bjelokurow, eines jungen Mannes, der des Morgens sehr früh aufstand, einen ärmellosen Rock, wie ihn die Kleinbürger haben, trug, abends Bier trank und mir immer klagte, daß er nirgends und bei niemand Verständnis und Sympathie finden könne. Er wohnte im Gartenhause und ich im alten Herrenhause. Der große säulengeschmückte Saal, in dem ich hauste, hatte keinerlei Möbel, außer dem breiten Divan, auf dem ich schlief, und dem Tisch, auf dem ich Patiencen legte. Selbst bei windstillem Wetter rumorte es hier immer in den alten Öfen; während eines Gewitters zitterte das ganze Haus so sehr, als ob es auseinanderfallen wollte, und es war etwas unheimlich, besonders nachts, wenn sämtliche zehn große Fenster von einem Blitz erleuchtet wurden.

Vom Schicksal zu ewigem Faulenzen verdammt, tat ich absolut nichts. Stundenlang schaute ich zum Fenster auf den Himmel hinaus, auf die Vögel und die Alleen, las alles, was mir die Post brachte, und schlief. Manchmal ging ich aus dem Hause und irrte bis zum späten Abend herum.

Als ich eines Tages nach Hause zurückkehrte, stieß ich ganz zufällig auf ein mir noch unbekanntes Gut. Die Sonne war im Untergehen, und auf den blühenden Getreidefeldern lagerten sich die Abendschatten. Zwei Reihen alter, eng aneinander gepflanzter, sehr großer Tannen standen wie zwei undurchdringliche Mauern da und bildeten eine herrliche Allee. Ich kletterte mühelos über den Zaun und ging diese Allee entlang, über die Tannennadeln, die einige Zoll hoch den Boden bedeckten, gleitend. Es war still und dunkel, und nur oben in den Wipfeln zitterte noch ein goldner Schein, der in den Spinngeweben in allen Farben des Regenbogens schillerte. Es roch betäubend nach Harz und Nadeln. Aus den Tannen kam ich in eine lange Lindenallee. Auch hier sah alles vernachlässigt und verwildert aus. Das vorjährige Laub raschelte traurig unter meinen Füßen, und zwischen den Baumstämmen lauerten Schatten. Rechts im alten Obstgarten sang träge eine Goldamsel, die wohl ebenso alt wie der Garten war. Die Lindenallee führte mich zu einem weißen Haus mit einer Terrasse und einem Mezzanin, und plötzlich sah ich vor mir einen Hof, einen großen Teich mit einer Badehütte und einer Schar grüner Weiden, und auf dem andern Ufer des Teiches ein Dorf mit einem hohen schlanken Glockenturm, dessen goldnes Kreuz in den Strahlen der untergehenden Sonne blendend hell leuchtete. Für einen Augenblick überkam mich das Gefühl, als ob dieses Bild mir altbekannt und vertraut wäre, als ob ich es schon einmal in meiner Kindheit gesehen hätte.

Vor dem weißen Tor, das aus dem Hofe nach dem Felde ging, vor dem alten, von Löwen flankierten Tor standen zwei junge Mädchen. Die eine, wohl die ältere, war schlank, blaß und sehr hübsch, mit einer Flut kastanienbrauner Haare und einem kleinen trotzigen Mund; sie hatte einen strengen Gesichtsausdruck und schenkte mir fast keine Beachtung. Die andere, die noch ganz jung, höchstens siebzehn oder achtzehn und ebenfalls schlank und blaß war und einen großen Mund und große Augen hatte, sah mich, als ich vorüberging, erstaunt an, sagte etwas auf Englisch und wurde sichtbar verlegen. Ich hatte aber den Eindruck, als wären mir auch diese beiden lieben Gesichter seit langem bekannt. Und ich kehrte heim mit dem Gefühl, als ob ich einen schönen Traum gehabt hätte.

Als ich bald nach diesem Erlebnis eines Mittags mit Bjelokurow vor dem Hause auf und ab ging, fuhr plötzlich, im welken Laube raschelnd, eine Equipage vor, in der eines der beiden Mädchen saß. Es war die ältere. Sie kam mit einer Kollekte zugunsten der Bauern eines vor kurzem abgebrannten Dorfes. Ohne uns anzuschauen, berichtete sie sehr ernst und umständlich, wieviel Häuser im Kirchdorfe Sijanowo abgebrannt, wieviel Männer, Frauen und Kinder ohne Obdach geblieben seien, und was das Hilfskomitee, dessen Mitglied sie war, zu allererst zu unternehmen gedenke. Als wir uns auf die Liste eingetragen hatten, nahm sie sofort Abschied.

»Sie haben uns wohl ganz vergessen, Pjotr Petrowitsch,« sagte sie, indem sie Bjelokurow die Hand reichte. »Besuchen Sie uns doch einmal, und wenn Herr N. (sie nannte meinen Namen) sich interessiert, wie einige Bewundererinnen seiner Kunst leben, und uns besuchen möchte, so würden wir uns, Mama und ich, herzlich freuen.«

Ich machte eine Verbeugung.

Als sie fort war, erzählte mir Pjotr Petrowitsch einiges über sie. Das Mädchen war aus guter Familie und hieß Lydia Woltschaninow; das Gut, auf dem sie mit ihrer Mutter und Schwester lebte, hieß ebenso wie das Dorf auf der andern Seite des Teiches Schelkowka. Der Vater hatte einmal in Moskau eine hohe Stellung bekleidet und war im Range eines Geheimrats gestorben. Obwohl die Woltschaninows große Geldmittel besaßen, lebten sie immer, Sommer und Winter, auf dem Lande; Lydia betätigte sich als Lehrerin an der Dorfschule und bekam dafür einen Monatslohn von fünfundzwanzig Rubeln. Alle ihre persönlichen Ausgaben bestritt sie aus diesem Gelde und war stolz darauf, daß sie von ihrer eigenen Arbeit lebte.

»Die Familie ist recht interessant,« sagte Bjelokurow. »Wollen wir sie vielleicht wirklich einmal besuchen? Sie werden sich sicher freuen.«

An irgendeinem Feiertage nach dem Essen kamen uns die Woltschaninows wieder in den Sinn, und wir begaben uns zu ihnen nach Schelkowka. Die Mutter und die beiden Töchter waren zu Hause. Die Mutter, Jekaterina Pawlowna, war wohl in ihrer Jugend sehr hübsch gewesen; jetzt sah sie aber unverhältnismäßig alt aus, litt an Asthma und zeigte ein trauriges und zerstreutes Wesen. Sie versuchte mich in ein Gespräch über Malerei hineinzuziehen. Als sie von ihrer Tochter erfahren hatte, daß ich vielleicht nach Schelkowka kommen würde, erinnerte sie sich in aller Eile an zwei oder drei meiner Landschaften, die sie einmal in einer Moskauer Ausstellung gesehen hatte, und wollte nun von mir wissen, was ich in diesen Bildern eigentlich ausdrücken wollte. Lydia, oder Lida, wie man sie zu Hause nannte, sprach mehr mit Bjelokurow als mit mir. Sie blieb immer ernst, lächelte gar nicht und fragte ihn, warum er sich nicht bei den Semstwoinstitutionen betätige und bisher noch keine einzige Semstwoversammlung besucht habe.

»Es ist nicht schön von Ihnen, Pjotr Petrowitsch,« sagte sie vorwurfsvoll. »Gar nicht schön. Sie sollten sich schämen.«

»Lida hat recht,« stimmte ihr die Mutter zu. »Es ist wirklich nicht schön.«

»Der ganze Kreis ist in der Gewalt Balagins,« fuhr Lida fort, sich an mich wendend. »Er selbst ist Vorsitzender der Semstwoverwaltung und hat alle Ämter mit seinen Neffen und Schwiegersöhnen besetzt; so kann er alles tun, was er will. Man muß dagegen kämpfen. Die Jugend sollte sich doch zu einer starken Partei gegen ihn zusammenschließen. Aber Sie sehen, was wir hier für eine Jugend haben! Schämen sie sich, Pjotr Petrowitsch!«

Während die Rede von der Semstwoverwaltung war, sprach die jüngere Schwester Shenja kein Wort. An ernsten Gesprächen nahm sie niemals teil: man hielt sie in der Familie für nicht ganz erwachsen und nannte sie noch immer »Mißjusj«, weil sie als Kind ihre englische Miß so zu nennen pflegte. Während der ganzen Zeit musterte sie mich mit neugierigen Blicken, und als ich später in einem Photographienalbum blätterte, gab sie mir die Erklärungen: »Das ist der Onkel … Das ist mein Taufpate«; sie tippte auf jedes Bild mit dem Finger und lehnte sich dabei mit ihrer Schulter an mich; ich sah in nächster Nähe ihre kindliche, unentwickelte Brust, ihre schmalen Schultern, ihren Zopf und ihren ganzen mit einem Lederriemen eng umgürteten Körper.

Später spielten wir Krokett und Tennis, gingen im Garten spazieren, tranken Tee und saßen sehr lange beim Nachtmahl. Nach meinem großen öden Saal mit den Säulen fühlte ich mich in diesem kleinen gemütlichen Hause, wo es keinen einzigen Öldruck gab und wo man die Dienstboten mit »Sie« anredete, besonders wohl. Die Anwesenheit der beiden jungen Mädchen Lida und Mißjusj war wohl der Grund, warum mir hier alles so jung und rein erschien. Beim Abendessen sprach Lida mit Bjelokurow wieder von den Semstwoversammlungen, von Balagin und von den Schulbibliotheken. Pjotr Petrowitsch, der noch von seiner Studentenzeit her die Angewohnheit hatte, aus jedem Gespräch einen Streit zu machen, sprach langweilig, fad und langatmig mit dem offensichtlichen Bestreben, als ein kluger und fortschrittlich gesinnter Mann zu erscheinen. Er gestikulierte sehr lebhaft, und stieß mit dem Ärmel die Sauciere um; auf dem Tischtuch entstand eine große Pfütze, was aber außer mir niemand merkte.

Als wir nach Hause zurückkehrten, war es dunkel und still.

»Die gute Erziehung besteht nicht darin, daß man keine Sauciere umstößt, sondern darin, daß man es nicht merkt, wenn es jemand anderer tut,« sagte Bjelokurow und seufzte. »Ja, es ist eine reizende, gebildete Familie. Ich bin so ganz aus der Übung gekommen, mit solchen Menschen zu verkehren; ich bin furchtbar zurückgeblieben! Die Arbeit ist an allem schuld! Ja, die Arbeit!«

Er sprach davon, wie furchtbar viel man arbeiten müsse, wenn man eine mustergültige Landwirtschaft haben wolle. Und ich dachte mir: welch ein schwerfälliger, fauler Bursche! Wenn er von etwas Ernstem sprach, so dehnte er unerträglich jeden Vokal; und er arbeitete genau so langsam und träge wie er sprach. -- Er kam überall zu spät und versäumte alle Termine. An seine Geschäftstüchtigkeit konnte ich nicht recht glauben, weil er die Briefe, die ich ihm zur Beförderung gab, wochenlang in seiner Tasche herumschleppte, ehe er sie zur Post brachte.

»Das Traurigste ist,« murmelte er, »das Traurigste ist, daß man, soviel man auch arbeitet, nirgends und bei niemandem Verständnis und Mitgefühl findet. Nicht das geringste Mitgefühl!«

 

II.

Nun kam ich öfters zu den Woltschaninows und saß meistens auf der untersten Stufe der Terrasse; ich war mit mir recht unzufrieden und dachte mit Wehmut an mein eigenes Leben, das so schnell und so gewöhnlich vorüberzog, und wie gut es wäre, wenn ich mein Herz, das mit den Jahren so schwer geworden war, aus der Brust herausreißen könnte. Und während ich dieses dachte, hörte ich, wie oben auf der Terrasse gesprochen wurde, wie Kleider raschelten und Buchseiten umgeblättert wurden. Bald gewöhnte ich mich daran, daß Lida zu bestimmten Stunden Kranke aus dem Dorfe empfing und an Bauern Bücher verteilte, daß sie oft mit aufgespanntem Sonnenschirm, ohne Hut ins Dorf fortging und abends laut von den Semstwoinstitutionen und den Dorfschulen sprach. Dieses schlanke, hübsche, immer strenge Mädchen, mit dem kleinen schön geschwungenen Munde wandte sich, so oft die Rede auf diese Dinge kam, an mich mit der trockenen Bemerkung:

»Das wird Sie nicht interessieren.«

Ich war ihr wenig sympathisch. Sie liebte mich nicht, weil ich nur Landschaftsmaler war, auf meinen Bildern die Not des gemeinen Volkes nicht darstellte und weil ich, wie es ihr schien, gegen alles, woran sie so unerschütterlich glaubte, gleichgültig war. Vor vielen Jahren begegnete ich einmal am Ufer des Baikalsees in Sibirien einer jungen Burjatin; sie trug ein Hemd und eine Hose aus blauem chinesischem Baumwollzeug, saß in einem Männersattel und hielt eine Pfeife im Munde. Ich fragte sie, ob sie mir ihre Pfeife verkaufen möchte; sie streifte mein Europäergesicht und meinen Hut mit einem verächtlichen Blick, wurde im Nu meiner überdrüssig, stieß einen wilden Schrei aus und sprengte davon. Lida verachtete in mir wohl auf dieselbe Weise den Fremden. Sie äußerte zwar ihre Abneigung gegen mich durch nichts, aber ich fühlte sie dennoch. Wenn ich unten auf der Terrasse saß, ärgerte ich mich über sie und sagte manchmal, daß einer, der, ohne Arzt zu sein, die Bauern behandelt, sie einfach betrügt, und daß es gar nicht so schwer ist, Wohltäter zu sein, wenn man einen Landbesitz von zweitausend Deßjatinen hat.

Ihre Schwester Mißjusj hatte aber keinerlei Sorgen und verbrachte ihre Tage gleich mir in Nichtstun. Wenn sie am Morgen aufstand, nahm sie gleich irgendein Buch vor und setzte sich damit auf die Terrasse, in einen breiten Lehnsessel, so daß ihre Füßchen kaum den Boden berührten; oder sie versteckte sich mit ihrem Buch in der Lindenallee, oder ging ins Feld hinaus. Sie las den ganzen lieben Tag, ohne sich vom Buche loszureißen, und nur daraus, daß ihre Augen müde und gleichsam bestürzt blickten und ihr Gesicht sehr blaß war, konnte man zuweilen merken, wie sehr das Lesen ihr Gehirn anstrengte. Wenn ich kam, und sie mich erblickte, errötete sie ein wenig, legte das Buch weg und erzählte mir, mich mit ihren großen Augen ansehend, sehr lebhaft, daß zum Beispiel im Dienstbotenzimmer sich der Ruß im Kamin entzündet, oder daß ein Arbeiter im Teiche einen Riesenfisch gefangen hätte. An Wochentagen trug sie gewöhnlich eine helle Bluse und einen dunkelblauen Rock. Wir gingen zusammen spazieren, pflückten Kirschen zum Einkochen oder fuhren Boot; und wenn sie nach einer Kirsche hüpfte, oder mit den Rudern arbeitete, leuchteten durch ihre weiten Ärmel ihre schwachen, dünnen Ärmchen hindurch. Oder ich malte eine Skizze, und sie stand neben mir und sah mir entzückt zu.

An einem Sonntag, es war Ende Juli, kam ich zu den Woltschaninows am frühen Morgen, gegen neun Uhr. Ich ging durch den Park, in einiger Entfernung vom Hause und suchte nach Steinpilzen, von denen es in jenem Sommer sehr viel gab; neben jedem Pilz, den ich fand, machte ich ein Zeichen, um ihn später gemeinsam mit Shenja wiederzufinden und zu pflücken. Es wehte ein warmer Wind. Ich sah, wie Shenja und ihre Mutter, beide in hellen Sonntagskleidern, aus der Kirche nach Hause gingen und wie Shenja ihren Hut, den der Wind davonzutragen drohte, mit der Hand festhielt. Später hörte ich, wie auf der Terrasse Tee getrunken wurde.

Für mich, der ich weder Sorgen noch eine Beschäftigung hatte und stets nach einer Rechtfertigung für mein Nichtstun suchte, hatte solch ein Sonntagsmorgen auf dem Gute einen ganz besonderen Reiz. Wenn der noch taufeuchte grüne Garten in der Sonne glänzt und so ungemein glücklich aussieht; wenn es in der Nähe des Hauses nach Reseden und Oleanderblüten duftet, und die Jugend, die soeben aus der Kirche heimgekehrt ist, im Garten Tee trinkt und alle so nett gekleidet und so lustig sind; wenn man weiß, daß alle diese gesunden, zufriedenen und schönen Menschen den ganzen lieben Tag nichts tun werden, so hat man den Wunsch, daß auch das ganze Leben ebenso sein möchte. Auch an diesem Morgen kamen mir dieselben Gedanken, und ich war bereit, den ganzen Tag und den ganzen Sommer ebenso ziellos und beschäftigungslos zu durchleben.

Nun kam Shenja mit einem Körbchen; sie hatte einen Ausdruck, als ob sie gewußt oder vorausgeahnt hätte, daß sie mich im Garten finden würde. Wir sammelten die Pilze ein und sprachen miteinander; wenn sie an mich irgendeine Frage richtete, ging sie einen Schritt vor und wandte sich nach mir um, um mein Gesicht zu sehen.

»Gestern geschah bei uns im Dorfe ein Wunder,« sagte sie. »Die lahme Pelageja war ein ganzes Jahr lang krank, und kein Arzt konnte ihr helfen; aber gestern besprach irgendeine Alte ihre Krankheit, und sie wurde gleich gesund.«

»Das ist nicht so wichtig,« sagte ich. »Man soll die Wunder nicht nur bei den Kranken und bei alten Weibern suchen. Ist denn die Gesundheit kein Wunder? Und das Leben? Alles, was unverständlich ist, ist ein Wunder.«

»Fürchten Sie sich denn nicht vor dem, was unverständlich ist?«

»Nein. An Erscheinungen, die ich nicht begreife, trete ich furchtlos heran und gerate niemals in ihren Bann. Ich bin darüber erhaben. Der Mensch muß sich über alle Löwen und Tiger, über alle Sterne und über die ganze Natur erhaben fühlen, selbst darüber, was ihm unverständlich ist und als ein Wunder erscheint. Sonst ist er kein Mensch, sondern eine Maus, die vor allem Angst hat.«

Shenja glaubte, daß ich als Maler sehr vieles wisse und das, was ich nicht wisse, leicht erraten könne. Sie wollte, daß ich sie in das Reich des Ewigen und Schönen einführe, in jene höhere Welt, in der ich, wie sie glaubte, zu Hause sei; und sie sprach mit mir oft von Gott, vom Leben im Jenseits und vom Wunderbaren. Ich hatte niemals glauben können, daß meine Gedankenwelt zugleich mit meinem Körper sterben sollte, und antwortete ihr daher: »Ja, die Menschen sind unsterblich.«

»Ja, uns erwartet das ewige Leben.« Sie hörte mir gläubig zu und verlangte keine Beweise.

Als wir uns dem Hause näherten, blieb sie plötzlich stehen und sagte:

»Unsere Lida ist ein ungewöhnlicher Mensch. Nicht wahr? Ich liebe sie von Herzen und bin jeden Augenblick bereit, für sie mein Leben zu opfern. Aber sagen Sie,« Shenja berührte meinen Arm: »Sagen Sie, warum streiten Sie mit ihr immer? Warum sind Sie gegen sie so gereizt?«

»Weil sie unrecht hat.«

Shenja schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Das ist so unbegreiflich!« sagte sie.

Lida war soeben nach Hause gekommen. Sie stand, mit der Reitpeitsche in der Hand, schlank, hübsch, von der Sonne beleuchtet, vor dem Hause und gab einem Arbeiter irgendwelche Befehle. Nachdem sie in großer Eile und laut sprechend zwei oder drei Kranke empfangen hatte, ging sie mit besorgtem und geschäftigem Ausdruck durch die Zimmer, machte bald den einen, bald den anderen Schrank auf und verschwand schließlich im Mezzanin; man mußte sie lange suchen und rufen; als sie endlich kam, hatten wir bereits die Suppe gegessen. An alle diese Einzelheiten kann ich mich noch, ich weiß nicht warum, sehr gut erinnern, und ich liebe diesen Tag, obwohl an ihm eigentlich nichts Besonderes passiert war. Nach dem Essen lag Shenja wieder in ihrem Lehnsessel, und ich saß auf der untersten Stufe der Terrasse. Wir schwiegen beide. Der Himmel hatte sich bewölkt, und es tröpfelte. Es war sehr schwül, der Wind hatte sich längst gelegt, und es schien, daß dieser Tag niemals enden würde. Jekaterina Pawlowna kam verschlafen, mit einem Fächer in der Hand, zu uns auf die Terrasse hinaus.

»Mama,« sagte Shenja, ihr die Hand küssend, »es tut dir nicht gut, wenn du am Tage schläfst.«

Sie vergötterten einander. Wenn die eine in den Garten ging, stand die andere schon auf der Terrasse, spähte hinaus und rief: »Shenja! Shenja!« Oder: »Mamachen, wo bist du?« Sie beteten immer zusammen und hatten den gleichen unerschütterlichen Glauben an Gott; sie verstanden einander immer, selbst wenn sie schwiegen. Auch ihr Verhältnis zu den andern Menschen war stets das gleiche. Jekaterina Pawlowna gewöhnte sich sehr schnell an mich und gewann mich lieb, und wenn ich zwei oder drei Tage ausblieb, so schickte sie gleich fragen, ob ich nicht etwa krank sei. Sie betrachtete meine Skizzen mit dem gleichen Entzücken wie Mißjusj, weihte mich ebenso aufrichtig in alle Geheimnisse des Hauses ein und berichtete mir ebenso ausführlich von allen neuesten Ereignissen.

Vor ihrer älteren Tochter hatte sie eine Art religiöse Ehrfurcht. Lida tat niemals zärtlich und sprach nur von ernsten Dingen; sie lebte ihr eigenes Leben und kam ihrer Mutter und Schwester als ein ebenso heiliges und geheimnisvolles Wesen vor, als welches den Matrosen der Admiral erscheint, der stets in seiner Kajüte sitzt.

»Unsere Lida ist ein ungewöhnlicher Mensch,« pflegte die Mutter zu sagen. »Nicht wahr?«

Auch jetzt, während es leise tröpfelte, sprachen wir von Lida.

»Sie ist ein ungewöhnlicher Mensch,« sagte die Mutter und fügte, mit dem Ausdruck einer Verschwörerin ängstlich um sich blickend, hinzu: »Einen solchen Menschen findet man nicht so leicht, obwohl sie mir doch einige Sorge macht. Diese Schulen, Hausapotheken und Bücher -- das ist ja alles sehr schön, aber wozu diese Übertreibungen? Sie ist ja schon vierundzwanzig und sollte doch auch an ihre Zukunft denken. Sie steckt so tief in diesen Dingen, daß sie gar nicht sieht, wie die Jahre vergehen … Heiraten sollte sie.«

Shenja, die wieder ganz blaß vom Lesen war, hob ihren Kopf -- ihre Frisur war in Unordnung geraten -- und sagte wie vor sich hin, auf die Mutter blickend:

»Mamachen, alles hängt doch vom Willen Gottes ab!«

Und sie vertiefte sich wieder in ihr Buch.

Nun kam Bjelokurow in seinem ärmellosen Kleinbürgerrock und gesticktem Hemd. Wir spielten Krokett und Tennis und saßen nachher lange beim Nachtmahl. Lida sprach wieder von den Schulen und von Balagin, der sich des ganzen Kreises bemächtigt hätte. Als ich an diesem Abend von den Woltschaninows heimging, nahm ich die Erinnerung an einen unendlich langen, in Müßiggang verbrachten Tag mit und das traurige Bewußtsein, daß alles in diesem Leben, wie lange es auch währen möchte, schließlich doch einmal ein Ende nehmen müsse. Shenja begleitete uns bis ans Tor; vielleicht aus dem Grunde, weil ich den ganzen Tag von früh bis spät in ihrer Gesellschaft gewesen war, hatte ich plötzlich die Empfindung, daß ich mich ohne sie langweilen würde und daß ich dieser ganzen Familie eigentlich von Herzen zugetan sei; und zum erstenmal in diesem Sommer überkam mich das Verlangen, etwas zu malen.

»Sagen Sie, warum leben Sie so langweilig und so farblos?« fragte ich Bjelokurow auf dem Heimwege. »Mein Leben ist langweilig, schwer und einförmig, weil ich ein Künstler und ein Sonderling bin, weil ich von Jugend auf von Neid, Unzufriedenheit mit mir selbst, und Unglauben an mein Werk geplagt werde, weil ich niemals Geld habe und mich wie ein Vagabund herumtreibe; aber Sie, der Sie ein gesunder und normaler Mensch und reicher Gutsbesitzer sind, warum leben Sie so uninteressant, warum genießen Sie so wenig vom Leben? Warum haben Sie sich z. B. noch immer nicht in diese Lida oder Shenja verliebt?«

»Sie vergessen, daß ich eine andere liebe,« erwiderte Bjelokurow.

Er meinte damit seine Freundin Ljubowj Iwanowna, die mit ihm im Gartenhause wohnte. Gar oft sah ich diese sehr korpulente, aufgedunsene und wichtig tuende Dame, die an eine gemästete Gans erinnerte, wie sie in russischer Nationaltracht, mit dicken Glasperlen am Halse und einem aufgespannten Sonnenschirm über dem Kopfe, im Garten spazieren ging und jeden Augenblick vom Dienstmädchen bald zum Essen, bald zum Teetrinken gerufen werden mußte. Vor drei Jahren hatte sie sich hier als Sommerfrischlerin eingemietet und blieb, ich weiß nicht wie, bei Bjelokurow wohnen; offenbar für immer. Sie war an die zehn Jahre älter als er und behandelte ihn sehr streng; wenn er irgendwohin ausging, mußte er sie stets zuvor um Erlaubnis bitten. Ich hörte sie oft mit einer Baßstimme schluchzen; in solchen Fällen ließ ich ihr sagen, daß ich, wenn sie nicht sofort aufhörte, die Wohnung kündigen würde; dann hörte sie augenblicklich auf.

Als wir nach Hause gekommen waren, setzte sich Bjelokurow auf das Sofa in meinem Saal und wurde nachdenklich; ich ging aber auf und ab und fühlte mich erregt, wie ein Verliebter. Ich hatte das Verlangen, von den Woltschaninows zu sprechen.

»Lida kann nur einen Semstwoabgeordneten lieben, der das gleiche Interesse für Krankenhäuser und Dorfschulen hat wie sie,« sagte ich. »Aber einem solchen Mädchen zuliebe kann man nicht nur Semstwoabgeordneter werden, sondern auch, wie es im Märchen heißt, ein Paar eiserne Schuhe abtragen. Und Mißjusj? Wie reizend ist doch diese Mißjusj!«

Nun begann Bjelokurow langatmig von der Krankheit unserer Zeit, vom Pessimismus zu sprechen. Er sprach mit großer Sicherheit und in einem solchen Tone, als ob ich ihm widerspräche. Eine viele hundert Werst weite, öde, einförmige, ausgebrannte Steppe ist nicht imstande, solche Langweile und Wehmut einzujagen, wie ein einziger Mensch, der so dasitzt, und redet, und gar keine Anstalten macht, wegzugehen.

»Es handelt sich weder um Pessimismus noch um Optimismus,« sagte ich gereizt, »sondern darum, daß unter hundert Menschen neunundneunzig keinen Verstand haben.«

Bjelokurow nahm das persönlich und ging beleidigt fort.

 

III.

»In Malosjomowo ist der Fürst angekommen; er läßt dich grüßen,« sagte Lida zu ihrer Mutter Sie war soeben heimgekommen und zog sich gerade die Handschuhe aus. »Er erzählt viel Interessantes … Er will in der nächsten Semstwoversammlung die Frage von der Schaffung einer ärztlichen Station in Malosjomowo wieder zur Sprache zu bringen; die Aussichten sind zwar sehr gering.« Dann wandte sie sich an mich und sagte: »Entschuldigen Sie, ich vergesse immer, daß Sie sich für diese Dinge nicht interessieren.« Das ärgerte mich.

»Warum sollte ich mich dafür nicht interessieren?« fragte ich und zuckte die Achseln. »Sie wollen meine Ansicht gar nicht hören, aber ich versichere Sie, daß die Frage mich außerordentlich interessiert.«

»Ja, wirklich?«

»Ja, wirklich. Ich glaube nämlich, daß die ärztliche Station in Malosjomowo durchaus unnötig ist.«

Ich hatte sie mit meiner gereizten Stimmung angesteckt; sie kniff die Augen zusammen, sah mich an und fragte:

»Was denn ist nötig? Landschaftsbilder?«

»Auch die Landschaftsbilder sind unnötig. Alles ist dort unnötig.«

Sie hatte die Handschuhe abgestreift und entfaltete die Zeitung, die soeben von der Post gekommen war; nach einer Weile sagte sie leise, sich mit großer Mühe beherrschend:

»In der vorigen Woche ist die Bäuerin Anna am Kindbettfieber gestorben; wenn es in der Nähe eine ärztliche Station gegeben hätte, so wäre sie wohl am Leben geblieben. Ich meine, daß auch die Herren Landschaftsmaler irgendwelche Überzeugungen haben sollten.«

»Ich habe die Überzeugung,« antwortete ich, während sie sich hinter dem Zeitungsblatt versteckte, als ob sie mich gar nicht hören wollte. »Ich habe die sehr bestimmte Überzeugung, daß alle diese ärztlichen Stationen, Schulen, Bibliotheken und Hausapotheken bei den herrschenden Zuständen nur zur vollkommenen Versklavung des Volkes führen müssen. Das Volk ist auch ohnehin mit einer schweren Kette gefesselt; Sie und Ihresgleichen suchen aber gar nicht, diese Kette zu sprengen, sondern fügen ihr nur noch neue Kettenglieder hinzu. Das ist meine Überzeugung.«

Sie hob die Augen und lächelte spöttisch. Ich fuhr aber fort, indem ich mir Mühe gab, meine Grundidee möglichst zu betonen:

»Nicht das ist wichtig, daß die Anna am Kindbettfieber gestorben ist, sondern daß alle diese Annas, Mawras und Pelagejas vom frühen Morgen bis zum späten Abend über ihre Kraft arbeiten müssen; daß sie ihr Leben lang für ihre hungrigen und kranken Kinder zittern; daß sie ihr Leben lang vor Tod und Krankheiten Furcht haben; daß sie sich ihr Leben lang kurieren, daß sie früh verwelken, viel zu früh altern und in Schmutz und Gestank sterben; daß auch ihre Kinder dieselbe Qual durchmachen und daß Milliarden von Menschen jahrhundertelang ärger als die Tiere leben, an nichts anderes als an ein Stück trockenes Brot denken und in ewiger Angst zittern. Ihre Lage ist um so entsetzlicher, als sie gar keine Zeit haben, an ihre Seelen zu denken; Hunger, Kälte, tierische Angst, Mühe und Arbeit versperren ihnen wie Schneelawinen alle Ausgänge zu einer geistigen Tätigkeit, die doch nur allein den Menschen vom Tiere unterscheidet und das Leben lebenswert macht. Sie kommen ihnen mit Ihren ärztlichen Stationen und Schulen; damit befreien Sie sie aber nicht von den Fesseln, sondern fügen nur noch neue Fesseln hinzu; indem Sie in ihr Leben neue Vorurteile hineinbringen, vermehren Sie nur ihre Bedürfnisse; ganz abgesehen davon, daß sie für alle diese Mittelchen und Broschüren der Semstwoverwaltung zahlen müssen, folglich gezwungen sind, noch schwerer zu arbeiten.«

»Ich will mit Ihnen nicht streiten,« sagte Lida, indem sie die Zeitung weglegte. »Ich kenne das alles. Ich will Ihnen nur das eine sagen: man darf nicht müßig dasitzen und zuschauen. Es stimmt, daß wir die Menschheit auf diese Weise nicht retten können; es mag auch sein, daß wir uns in vielen Dingen irren; aber wir tun alles, was wir nur können, und darin haben wir recht. Die erhabenste und heiligste Aufgabe des Kulturmenschen besteht darin, daß er seinem Nächsten dient; und so dienen wir unsern Nächsten wie wir eben können. Ihnen gefällt das nicht, aber allen kann man es ja doch nicht recht machen.«

»Du hast recht, Lida, vollkommen recht,« sagte die Mutter.

In Lidas Gegenwart war sie immer schüchtern. Wenn sie etwas sagte, so blickte sie immer ängstlich auf die Tochter, als fürchtete sie, etwas Überflüssiges oder Unpassendes zu sagen; sie widersprach ihr niemals, sondern sagte immer: Ja, Lida, du hast recht!

»Alle die Dorfschulen, alle die Bücher mit den elenden Moralpredigten und Versehen und alle ärztlichen Stationen können die Unkultur und die hohe Sterblichkeitsziffer ebensowenig niederkämpfen, wie das Licht aus Ihren Fenstern den ganzen riesengroßen Garten erleuchten kann,« sagte ich. »Sie geben den Leuten nichts; indem Sie sich in ihr Leben hineinmischen, rufen Sie in ihnen nur neue Bedürfnisse wach und schaffen somit auch neue Anlässe zur Arbeit.«

»Ach mein Gott, der Mensch muß doch arbeiten!« sagte Lida gereizt. Ich konnte ihr ansehen, daß sie alle meine Gründe für nichtig und lächerlich hielt.

»Man muß die Menschen von der schweren körperlichen Arbeit befreien,« sagte ich. »Man muß ihr Joch erleichtern, ihnen die Möglichkeit geben, etwas aufzuatmen, damit sie nicht ihr ganzes Leben am Herde, am Waschtrog und im Felde verbringen, sondern auch Zeit haben, an ihre Seelen und an Gott zu denken; damit sie sich auch geistig betätigen können. Der Beruf eines jeden Menschen liegt im Geistigen, in der ständigen Suche nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens. Befreien Sie sie von der schweren tierischen Arbeit, lassen Sie sie sich frei fühlen, und dann werden Sie selbst einsehen, welch ein Hohn alle diese Broschüren und Hausapotheken sind. Wenn der Mensch seinen eigentlichen Beruf erkannt hat, so können ihn nur Religion, Wissenschaft und Kunst befriedigen, aber nicht dieser Unsinn.«

»Sie wollen die Menschheit von der Arbeit befreien?« lächelte Lida. »Ist es denn möglich?«

»Ja. Nehmen Sie auf sich einen Teil ihrer Arbeit. Wenn wir alle ohne Ausnahme, ganz gleich, ob wir in der Stadt oder auf dem Lande leben, unter uns die ganze Arbeit aufteilten, die die Menschheit zur Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse verbraucht, so kämen auf einen jeden von uns nicht mehr als zwei oder drei Stunden Arbeit täglich. Stellen Sie sich vor, daß wir alle, wie die Reichen so auch die Armen, nur drei Stunden am Tage arbeiten und die übrige Zeit zu unserer freien Verfügung haben. Stellen Sie sich auch vor, daß wir, um uns unabhängiger von unserer körperlichen Arbeit zu machen, Maschinen erfinden, die Menschenarbeit ersetzen, und unsere Bedürfnisse auf ein Minimum reduzieren. Daß wir unsere Kinder abhärten, damit sie weder Hunger noch Kälte fürchten, und wir nicht immer für ihre Gesundheit zu zittern brauchen, wie Anna, Mawra und Pelageja für das Leben ihrer Kinder zittern. Stellen Sie sich vor, daß wir uns niemals kurieren lassen, daß wir weder Apotheken, noch Tabakfabriken, noch Schnapsbrennereien haben, -- wieviel freie Zeit bliebe uns dann! Und diese ganze freie Zeit würden wir den Wissenschaften und den Künsten widmen. Genau so wie die Bauern manchmal in ganzer Gemeinde eine Landstraße ausbessern, so würden auch wir in ganzer Gemeinde die Wahrheit und den Sinn des Lebens suchen; ich bin überzeugt, daß wir dann die Wahrheit sehr schnell finden würden und daß der Mensch von dieser ewigen quälenden, erdrückenden Angst vor dem Tode und sogar vom Tode selbst befreit werden würde.«

»Sie widersprechen sich selbst,« sagte Lida. »Jetzt reden Sie von der Wissenschaft und bestreiten dabei die Notwendigkeit der Volksaufklärung.«

»Eine Aufklärung, die darin besteht, daß der Mensch die Aushängeschilder an den Branntweinschenken und manchmal auch Bücher, die er nicht versteht, lesen kann, -- eine solche Aufklärung haben wir seit Rjuriks Zeiten; der Lakai Petruschka in Gogols ›Toten Seelen‹ kann schon längst lesen; aber die Bauern im Dorfe sind auch heute noch dieselben wie in Rjuriks Zeiten. Für die Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten braucht das Volk keine Volksschulbildung, sondern Freiheit. Wir brauchen keine Dorfschulen, sondern Universitäten.«

»Sie verwerfen ja auch die Medizin.«

»Ja. Sie hätte sich höchstens noch mit der Erforschung der Krankheiten als Naturerscheinungen zu befassen, doch keineswegs mit ihrer Heilung. Und wenn man schon etwas heilen soll, so nicht die Krankheiten, sondern ihre Ursachen. Beseitigen Sie die Hauptursache aller Krankheiten -- die erdrückende körperliche Arbeit, und dann werden sofort alle Krankheiten aufhören. Eine Wissenschaft, die heilen will, kann ich nicht anerkennen,« fuhr ich erregt fort. »Die wahren Wissenschaften und Künste streben nicht nach Zeitlichem und Speziellem, sondern nach Ewigem und Allgemeinem; sie suchen die Wahrheit und den Sinn des Lebens, sie suchen Gott und die Seele; wenn man sie aber an die Bedürfnisse des Tages, an alle diese Hausapotheken und Dorfbibliotheken anhängt, so erschweren sie nur das Leben und machen es komplizierter. Wir haben genügend Mediziner, Apotheker und Juristen; wir haben heute sogar viele Bauern, die lesen und schreiben können; aber wir haben viel zu wenig Biologen, Mathematiker, Philosophen und Dichter. Der ganze Geist, die ganze Seelenenergie werden zur Befriedigung zeitlicher, vergänglicher Bedürfnisse verschwendet … Die Gelehrten, Dichter und Künstler haben genug zu tun; wir haben es ihnen zu verdanken, daß die körperlichen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten sich von Tag zu Tag vermehren; und doch sind wir von der Wahrheit noch immer meilenweit entfernt, und der Mensch ist nach wie vor das raubgierigste und unsauberste Tier. Alles zielt darauf, daß die Menschheit in ihrer Mehrheit ausartet und ihre Lebensfähigkeit für immer verliert. Unter solchen Umständen hat das Leben eines Künstlers gar keinen Sinn, und je begabter er ist, um so seltsamer und unbegreiflicher ist seine Rolle; er schafft ja nur zur Ergötzung des raubgierigen und unsauberen Tieres und zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Ich will aber nicht arbeiten, und werde nicht arbeiten … Alles ist überflüssig, die Erde mag von mir aus in den Tartarus versinken!«

»Mißjusj, geh' hinaus,« sagte Lida zu ihrer Schwester. Sie glaubte wohl, daß meine Worte auf das junge Mädchen eine verderbliche Wirkung haben könnten.

Shenja warf der Schwester und der Mutter einen traurigen Blick zu und ging hinaus.

»Solche nette Dinge spricht man nur dann, wenn man seine eigene Gleichgültigkeit rechtfertigen will,« sagte Lida. »Die Notwendigkeit der Krankenhäuser und Schulen zu leugnen, ist jedenfalls leichter, als Kranke zu behandeln und Kinder zu unterrichten.«

»Ja, Lida, du hast recht,« sagte die Mutter.

»Sie drohen uns, daß Sie nicht mehr arbeiten werden,« fuhr Lida fort. »Sie schätzen wohl Ihre Arbeit sehr hoch ein. Wir wollen nicht mehr streiten, weil es doch zu nichts führt. Die unvollkommenste Bibliothek oder Apotheke halte ich immer noch für wertvoller als alle Ihre Landschaften.« Nun wandte sie sich zu der Mutter und fuhr in einem ganz andern Tone fort: »Der Fürst ist abgemagert und hat sich stark verändert, seit er uns zum letztenmal besucht hat. Die Ärzte schicken ihn nach Vichy.«

Sie erzählte der Mutter vom Fürsten, nur um nicht mit mir sprechen zu müssen. Ihr Gesicht glühte; um ihre Aufregung zu verbergen, beugte sie sich ganz tief, wie eine Kurzsichtige, über den Tisch und tat so, als ob sie die Zeitung läse. Meine Anwesenheit war ihr wohl lästig. Ich nahm Abschied und ging.

 

IV.

Draußen war alles still; das Dorf jenseits des Teiches schlief bereits. Kein einziger Lichtschein war zu sehen, und das Wasser spiegelte nur die blassen Sterne. Vor dem Tore mit dem Löwen stand unbeweglich Shenja. Sie wartete auf mich, um mich eine Strecke zu begleiten.

»Das ganze Dorf schläft,« sagte ich ihr, indem ich ihr gespannt ins Gesicht blickte und ihre auf mich gerichteten dunklen, traurigen Augen sah. »Der Schenkwirt und die Pferdediebe schlafen, aber wir, anständige Menschen, ärgern einander und streiten.«

Es war eine traurige Augustnacht; sie war so traurig, weil schon ein Hauch des Herbstes in der Luft lag. Von einer blutroten Wolke verdeckt, ging der Mond auf und beleuchtete mit schwachem Schein die Straße und die bereits mit Wintersaat bestellten Felder. Jeden Augenblick leuchtete eine Sternschnuppe auf. Shenja ging an meiner Seite und blickte kein einziges Mal zum Himmel hinauf: sie fürchtete die Sternschnuppen.

»Mir scheint, daß Sie recht haben,« sagte sie, in der feuchten Kühle zusammenfahrend. »Wenn sich alle Menschen gemeinsam einer geistigen Tätigkeit hingeben könnten, so würden sie wohl bald alles erfahren.«

»Selbstverständlich. Wir sind höhere Wesen; und wenn wir die ganze Macht des menschlichen Genius erfaßten und nur für höhere Ziele lebten, so würden wir schließlich wie die Götter sein. Das wird aber niemals kommen: die Menschheit wird ausarten, und der Genius wird spurlos verschwinden.«

Als man das Tor nicht mehr sehen konnte, blieb Shenja stehen und drückte mir hastig die Hand.

»Gute Nacht,« sagte sie mir; ihre Schultern waren nur mit der leichten Bluse bekleidet, und sie zitterte vor Kälte. »Kommen Sie morgen wieder!«

Es wurde mir so bange beim Gedanken, daß ich in meiner gereizten Stimmung, unzufrieden mit mir selbst und den Menschen, allein bleiben sollte; nun vermied ich es auch, auf die Sternschnuppen zu schauen.

»Bleiben Sie mit mir noch einen Augenblick,« sagte ich. »Ich bitte Sie darum!«

Ich liebte Shenja. Ich liebte sie wohl darum, weil sie mich immer empfing und begleitete und weil sie mich so zärtlich und so entzückt ansah. So rührend schön waren ihr blasses Gesicht, ihr feiner Hals, ihre dünnen Arme, ihr ganzer schwacher Körper, ihr Nichtstun und ihr ewiges Lesen. Und ihr Geist? Ich hielt sie für sehr klug; mich entzückte ihr offener Blick, ihre durch keinerlei Vorurteile eingeengte Denkweise; vielleicht kam es mir so vor, weil sie ganz anders dachte, als die strenge und schöne Lida, die mich nicht leiden mochte. Ich gefiel Shenja als Künstler; ich hatte ihr Herz mit meiner Kunst erobert, und ich fühlte plötzlich das leidenschaftliche Verlangen, nur für sie zu arbeiten; ich dachte an sie als an meine kleine Königin, die gemeinsam mit mir über diese Bäume und Felder, über den Nebel und das Abendrot, über diese ganze wunderbare, bezaubernde Natur herrschen sollte, über die Natur, in der ich mich bisher so hoffnungslos einsam und überflüssig gefühlt hatte.

»Bleiben Sie noch einen Augenblick bei mir!« flehte ich wieder.

Ich zog meinen Mantel aus und warf ihn über ihre bebenden Schultern; sie fürchtete wohl, in meinem Mantel lächerlich und unschön zu erscheinen: sie lachte auf und warf ihn ab. In diesem Augenblick umarmte ich sie und bedeckte ihr Gesicht, ihre Arme und Schultern mit Küssen.

»Morgen sehen wir uns wieder!« flüsterte sie und umarmte mich so vorsichtig, als fürchtete sie, durch eine allzu heftige Bewegung die nächtliche Stille zu stören. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander, und ich muß sofort alles Mama und Lida erzählen … Das ist mir so schrecklich! Vor Mama habe ich keine Angst, Mama mag Sie gerne leiden, aber Lida!«

Und sie lief zum Tore zurück.

»Leben Sie wohl!« rief sie mir zu.

Dann hörte ich sie noch an die zwei Minuten laufen. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, und ich wußte auch nicht, was ich zu Hause anfangen sollte. Ich blieb noch eine Weile, in Gedanken versunken, stehen und ging langsam zurück, um noch einmal das Haus zu sehen, in dem sie wohnte, das liebe, naive, alte Haus, das mich so verständnisvoll mit den Fenstern seines Mezzanins wie mit Augen anblickte. Ich ging an der Terrasse vorbei, setzte mich auf eine Bank am Tennisplatz, im Schatten einer alten Ulme und sah auf das Haus. In den Fenstern des Mezzanins, wo Mißjusj wohnte, leuchtete zuerst ein grelles weißes, und nachher ein ruhiges grünes Licht auf: auf die Lampe wurde ein grüner Schirm aufgesetzt, Schatten huschten an den Fenstern vorbei … Ich war voller Zärtlichkeit und fühlte mich so ruhig und so zufrieden mit mir selbst; zufrieden, weil es mir gelungen war, in den Bann dieses Mädchens zu geraten und es lieb zu gewinnen; gleichzeitig fühlte ich auch ein gewisses Unbehagen beim Gedanken, daß nur einige Schritte vor mir, in einem der Zimmer dieses Hauses Lida wohnte, die mich nicht liebte, die mich vielleicht haßte. Ich saß und wartete, ob Shenja nicht noch einmal herauskäme; ich lauschte, und es kam mir vor, als ob im Mezzanin gesprochen wurde.

So verging eine Stunde. Das grüne Licht erlosch, und die Schatten verschwanden. Der Mond stand hoch über dem Hause und beleuchtete den schlafenden Garten und alle Gartenwege; die Georginen und Rosen in den Beeten vor dem Hause waren deutlich zu sehen und schienen alle von der gleichen Farbe. Es war allmählich sehr kalt geworden. Ich ging aus dem Garten, hob den Mantel auf und schritt langsam meiner Wohnung zu.

Als ich am nächsten Nachmittag zu den Woltschaninows kam, stand die Glastür zum Garten weit offen. Ich saß eine Zeitlang auf der Terrasse und wartete, daß bei den Blumenbeeten oder in einer der Alleen Shenja erscheint, oder ihre Stimme aus dem Innern des Hauses dringt; dann ging ich in den Salon und in das Eßzimmer. Ich fand keinen Menschen vor. Aus dem Eßzimmer kam ich durch einen langen Korridor ins Vorzimmer und kehrte wieder um. Im Korridor waren viele Türen, und hinter einer der Türen hörte ich Lidas Stimme.

»Die Krähe … fand …« sprach sie laut und gedehnt, offenbar diktierend: »fand einmal ein Stückchen Käse … Die Krähe fand … fand … Wer ist da?« fragte sie plötzlich, als sie meine Schritte hörte.

»Ich bin es.«

»Ach so! Entschuldigen Sie, ich kann nicht zu Ihnen herauskommen, ich gebe der Dascha Stunde.«

»Ist Jekaterina Pawlowna im Garten?«

»Nein, sie ist heute früh mit meiner Schwester zu einer Tante nach dem Pensaschen Gouvernement verreist. Und im Winter gehen sie wahrscheinlich nach dem Auslande …« fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Die Krähe fand … einmal ein Stückchen Käse … Hast du es schon geschrieben?«

Ich stand im Vorzimmer und sah, ohne an etwas zu denken, auf den Teich und auf das Dorf, und hörte noch immer:

»Ein Stückchen Käse … Die Krähe fand einmal ein Stückchen Käse …«

Ich verließ das Haus auf dem gleichen Wege, auf dem ich zum erstenmal hingekommen war, und sah alles in der umgekehrten Reihenfolge: zuerst den Hof, dann den Garten, das Haus und die Lindenallee … Hier holte mich ein Junge ein und drückte mir einen Zettel in die Hand: »Ich habe alles meiner Schwester erzählt, und sie will, daß ich mich von Ihnen trenne,« las ich auf dem Zettel. »Ich hatte nicht die Kraft, ihr durch Ungehorsam Kummer zu bereiten. Gott gebe Ihnen Glück, verzeihen Sie mir. Wenn Sie wüßten, wie wir beide, Mama und ich, weinen!«

Dann kam die dunkle Tannenallee und der eingefallene Zaun … Auf dem Felde, wo damals das Korn blühte und die Wachteln hüpften, weideten jetzt Kühe und Pferde. Auf den Hügeln grünte hie und da das Winterkorn. Meiner bemächtigte sich eine nüchterne, alltägliche Stimmung; ich schämte mich plötzlich aller Worte, die ich bei den Woltschaninows gesprochen hatte, und das Leben erschien mir wieder so leer und langweilig. Als ich nach Hause kam, packte ich meine Sachen zusammen und verreiste am gleichen Abend nach Petersburg.

Die Woltschaninows sah ich niemals wieder. Als ich vor kurzem nach der Krim reiste, traf ich im Eisenbahncoup é Bjelokurow. Er trug noch immer einen ärmellosen Kleinbürgerrock und ein gesticktes Hemd. Als ich ihn nach seinem Befinden fragte, antwortete er: »Dank Ihren Gebeten nicht schlecht.« Wir kamen ins Gespräch. Er hatte sein Gut verkauft und ein anderes, kleineres auf den Namen seiner Ljubowj Iwanowna gekauft. Von den Woltschaninows konnte er nur wenig berichten. Lida lebte noch immer in Schelkowka und unterrichtete die Bauernkinder; es war ihr schließlich gelungen, einen Kreis von ihr sympathischen Menschen zu bilden, die sich zu einer starken Partei zusammenschlossen und bei den letzten Semstwowahlen Balagin, der den ganzen Kreis in seiner Gewalt gehabt hatte, stürzten. Über Shenja konnte er mir nur sagen, daß sie nicht mehr zu Hause lebte und sich unbekannt wo aufhielt.

Ich fange schon an, das Haus mit dem Mezzanin zu vergessen. Nur ab und zu, wenn ich lese oder schreibe, erinnere ich mich plötzlich, ohne jeden Anlaß, an das grüne Licht im Fenster, oder an meine eigenen Schritte, wie sie damals nachts im Felde hallten, als ich verliebt nach Hause ging und mir vor Kälte die Hände rieb. Noch seltener, wenn mich Einsamkeit und Trauer bedrücken, erinnere ich mich dunkel an alles, was gewesen, und ich habe das Gefühl, daß jemand ebenso an mich denkt und mich erwartet, und daß wir uns noch einmal begegnen …

Mißjusj, wo bist du?


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