Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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Der Fehler der Maschine

Um die Zeit des Sonnenunterganges saßen Flambeau und sein Freund im Temple-Garden; die Umgebung oder eine ähnlich zufällige Ursache hatte das Gespräch auf das Thema der Gerichtsverhandlungen gelenkt. Von dem Problem der Zulässigkeit des Kreuzverhöres wendete sich das Gespräch der römischen und mittelalterlichen Folter zu, dann dem französischen Untersuchungsrichter und schließlich dem »Dritten Grad« in Amerika.

»Ich habe kürzlich«, sagte Flambeau, »etwas über diese neue psychometrische Methode gelesen, von der man besonders in Amerika jetzt soviel redet. Sie wissen, was ich meine? Man legt einem Menschen ein Pulsometer um das Handgelenk und urteilt nach dem Herzschlag des Betreffenden beim Aussprechen gewisser Worte. Was halten Sie davon?«

»Ich finde es sehr interessant«, erwiderte Pater Brown. »Es erinnert mich an jene interessante Vorstellung des dunklen Zeitalters, daß eine Leiche frisch zu bluten anfangen würde, wenn der Mörder sie berührte.«

»Wollen Sie damit wirklich sagen«, fragte der Freund, »daß Sie beide Methoden für gleich wertvoll halten?«

»Ich halte sie für gleich wertlos«, erwiderte Brown. »Blut fließt schnell oder langsam in toten oder lebendigen Leuten, aus noch einmal soviel Millionen Gründen, als wir je wissen können. Blut wird gar seltsam fließen müssen, Blut wird das Matterhorn hinauffließen müssen, ehe ich darin ein Zeichen erkennen werde, daß ich es vergießen sollte.«

»Die Methode ist«, bemerkte der andere, »in Amerika von einigen der bedeutendsten Wissenschaftler bestätigt worden.«

»Was diese Wissenschaftler doch sentimental sind!« rief Pater Brown aus, »und wieviel sentimentaler noch müssen die Wissenschaftler in Amerika sein! Wer anders als ein Yankee würde je daran denken, irgend etwas auf Grund von Herzschlägen beweisen zu wollen? Ja, sie müssen rein ebenso sentimental sein wie einer, der glaubt, daß eine Frau in ihn verliebt sei, wenn sie errötet. Diesen auf der Blutzirkulation beruhenden Beweis hat der unsterbliche Harvey erfunden; auch ein recht fauler Beweis!«

»Und doch«, fuhr Flambeau beharrlich fort, »könnte er ziemlich gerade auf das eine oder das andere hindeuten.«

»Stöcke, die geradeaus zeigen, haben einen gewissen Nachteil«, antwortete der andere. »Welchen? Ja nun, das andere Ende des Stockes zeigt immer nach der entgegengesetzten Seite hin. Es hängt davon ab, ob man den Stock beim richtigen Ende zu fassen bekommt. Ich habe einmal zugesehen, wie die Sache gemacht wurde, und habe seither nie mehr an sie geglaubt.« Und er fuhr fort, die Geschichte zu erzählen, die ihn in seinem Skeptizismus so bestärkt hatte.

Die Sache hatte sich vor etwa zwanzig Jahren zugetragen, als er Kaplan seiner Glaubensbrüder in einem Gefängnis in Chicago war – wo die irische Bevölkerung eine solche Befähigung sowohl für Verbrechen wie für Reue an den Tag legte, daß er reichlich beschäftigt war. Der zweite Kommandant, der dem Gouverneur im Rang zunächst stand, war ein ehemaliger Detektiv namens Greywood Usher, ein leichenblasser, bedächtig sprechender Yankee-Philosoph, der seine strenge Miene gelegentlich gegen eine seltsame, wie um Entschuldigung bittende Grimasse vertauschte. Er mochte Pater Brown in einer leicht gönnerhaften Art gut leiden; und Pater Brown hatte den Kommandanten gern, obwohl er dessen Theorien von Herzen haßte, die ungeheuer kompliziert waren und mit ungeheurer Einfachheit festgehalten wurden.

Usher hatte eines Abends nach dem Priester geschickt, und der nahm seiner Gewohnheit gemäß schweigend an einem Tische Platz, auf dem die Papiere, teils in Stößen aufgehäuft, teils verstreut, umherlagen, und wartete. Der Beamte suchte aus den Papieren einen Zeitungsausschnitt heraus und reichte ihn dem Priester hin, der ihn mit ernster Miene las. Es zeigte sich, daß der Ausschnitt aus einem der bestinformierten Blätter der amerikanischen guten Gesellschaft stammte und folgende Ankündigung zum Inhalt hatte.

»Der lustigste Witwer der Gesellschaft macht wieder einmal mit einem exzentrischen Maskenfeste Sensation. Alle besseren Bürger unserer Stadt werden sich noch des Kinderwagen-Parade-Festes entsinnen, bei welchem unser ›Letzter-Trick‹-Todd in seinem Palais in Pilgrims Pond so viele unserer prominentesten ›débutantes‹ noch jünger erscheinen ließ, als sogar ihre Jahre vermuten lassen mochten. Ebenso elegant, doch noch abwechslungsreicher und großzügiger vom gesellschaftlichen Standpunkt aus, war unseres ›Letzten-Tricks‹ vorjähriges Fest, das berühmte Kannibalen-Mahl der guten Gesellschaft, wobei das Konfekt scherzhafterweise in Form von menschlichen Armen und Beinen serviert wurde und mancher unserer lustigsten Witzbolde sich erbot, seine Partnerin ›aufzufressen‹. Die Scherzparole, welche diesmal dem Abend zugrunde liegen wird, ruht bisher noch in Herrn Todds verschwiegenem Geiste oder ist in der mit Edelsteinen besetzten Brust des heitersten Führers unserer Stadt verschlossen. Doch hat man einiges verlauten hören über eine nette Parodie der einfachen Sitten und Gebräuche von Menschen entgegengesetzter Gesellschaftsschichten. Dies wäre um so effektvoller, als der gastliche Todd in Lord Falconroy, dem berühmten Weltreisenden, einen reinrassigen Aristokraten, frisch von den Eichenwäldern Englands, zu seinen Gästen zählt. Lord Falconroys Reisen begannen, noch bevor sein alter Adelstitel wieder auferstanden war; er ist schon in seiner Jugend einmal in der Republik gewesen, und in der vornehmen Welt munkelt man allerlei über den heimlichen Grund seiner Rückkehr. Fräulein Etta Todd ist eine unserer seelenvollen New Yorkerinnen und wird einmal zu einem Vermögen von beinahe zwölfhundert Millionen Dollars gelangen.«

»Nun?« fragte Usher, »interessiert Sie das?«

»Nein, ich finde keine Worte dafür«, antwortete Pater Brown. »Ich kann mir auf der ganzen Welt nichts vorstellen, was mich in diesem Augenblick weniger interessieren würde. Und wenn der gerechte Zorn der Republik nicht endlich alle Journalisten auf dem elektrischen Stuhl hinrichten läßt, weil sie so schreiben, sehe ich auch nicht recht ein, warum es Sie interessieren sollte.«

»Ah!« bemerkte Usher trocken und reichte ihm einen anderen Zeitungsausschnitt hin. »Nun, interessiert Sie das vielleicht?«

Die Notiz trug die Überschrift: »Schauerliche Ermordung eines Wachtpostens! Sträfling entflohen!« und lautete: »Knapp vor Tagesanbruch wurde heute morgen in der Strafanstalt von Sequah, in diesem Staate, ein Hilferuf gehört. Als man der Richtung des Schreies nacheilte, fand man die Leiche des Wachtpostens, der auf der Nordmauer des Gefängnisses patrouillierte, der steilsten und schwierigsten Stelle, für deren Bewachung bisher immer ein einziger Mann genügt hatte. Der unglückselige Soldat war jedoch von der hohen Mauer herabgeschleudert und der Schädel ihm, wie mit einer Keule, eingeschlagen worden; sein Gewehr wurde vermißt. Weitere Nachforschungen ergaben, daß eine der Zellen leer war. Sie war von einem etwas störrischen Verbrecher, der sich Oscar Rian nannte, bewohnt gewesen. Er war nur vorübergehend irgendeines verhältnismäßig geringfügigen Vergehens wegen eingesperrt gewesen; doch hatte er auf jedermann den Eindruck eines Menschen mit einer dunklen Vergangenheit und einer gefährlichen Zukunft gemacht. Schließlich, als das Tageslicht den Schauplatz des Mordes voll erhellte, fand man, daß er auf die Mauer über der Leiche einen fragmentarischen Satz geschrieben hatte, anscheinend mit einem in Blut getauchten Finger: ›Das war Notwehr, und er hatte das Gewehr. Ich wollte weder ihm noch sonst jemand etwas zuleide tun, bis auf einen. Ich heb' mir die Kugel für Pilgrims Pond auf. – O. R.‹ Nur tückischster List oder erstaunlichstem und tollkühnstem Wagemut konnte es gelingen, eine solche Mauer trotz des bewaffneten Postens zu stürmen.«

»Nun«, gab der Priester heiter zu, »der literarische Stil ist etwas besser, aber ich seh' immer noch nicht ein, womit ich Ihnen dienen kann. Ich würde eine traurige Rolle spielen mit meinen kurzen Beinen, wenn ich einem Mörder so athletischer Art durch den ganzen Staat nachlaufen wollte. Ich zweifle, ob ihn irgend jemand finden kann. Die Strafanstalt von Sequah ist etwa dreißig Meilen von hier entfernt; das Land, das dazwischen liegt, ist ziemlich wild und verwachsen, und das Land jenseits, wohin er sicherlich vernünftigerweise gehen wird, ist vollkommen herrenloses Gebiet, das in die weiten Prärien übergeht. Er mag in irgendeinem Loch oder auf irgendeinem Baum sein.«

»Er ist in keinem Loch«, sagte der Beamte, »er ist auf keinem Baum.«

»Ja, woher wissen Sie denn das?« fragte Pater Brown blinzelnd.

»Möchten Sie gerne mit ihm sprechen?« fragte Usher.

Pater Brown riß seine unschuldigen Augen weit auf. »Er ist hier?« rief er aus. »Ja, wie haben Ihre Leute ihn denn erwischt?«

»Ich habe ihn selbst erwischt«, sagte der Amerikaner gedehnt, erhob sich und streckte faul seine langen Beine vor dem Feuer. »Ich hab' ihn mit dem gebogenen Ende eines Spazierstockes erwischt. Schauen Sie nicht so verdutzt drein! Es ist wirklich so. Sie wissen, daß ich manchmal auf den Feldwegen außerhalb dieses trübseligen Ortes hier spazierengehe. Nun, heute in den frühen Abendstunden war ich auf einem steilen Weg draußen, der auf beiden Seiten von dunklen Hecken und grau aussehenden, gepflügten Äckern umsäumt war, während der zunehmende Mond am Himmel stand und seinen silbernen Schein auf den Weg warf. In diesem Licht sah ich einen Mann über das Feld auf den Weg zu laufen; er rannte mit vorgebeugtem Körper und in einem guten Dauerlaufschritt. Er schien ziemlich erschöpft zu sein, doch als er zu der dichten, schwarzen Hecke kam, schoß er durch sie durch, als wäre sie aus Spinnweben gemacht, oder eher – denn ich hörte die starken Zweige brechen und aneinanderschlagen wie Bajonette – als wäre er selbst aus Stein. In dem Augenblick, da er gegen den Mond stehend auftauchte und den Weg kreuzte, hakte ich meinen Stockgriff um seine Beine, so daß er strauchelte und hinfiel. Dann pfiff ich lang und laut auf meiner Pfeife, bis unsere Leute angerannt kamen, um ihn festzunehmen.«

»Es wäre ein wenig peinlich gewesen«, bemerkte Brown, »wenn Sie herausgefunden hätten, daß er ein bekannter Sportsmann war, der für einen Dauerlauf trainierte.«

»Nein, das war er nicht«, sagte Usher grimmig. »Wir haben bald herausgefunden, wer er war, aber ich hatte es erraten, sobald ihn der erste Strahl des Mondes streifte.«

»Sie dachten, es wäre der durchgebrannte Sträfling«, bemerkte der Priester schlicht, »weil Sie heute früh in der Zeitung gelesen hatten, daß ein Sträfling durchgebrannt sei.«

»Ich hatte etwas bessere Anhaltspunkte«, erwiderte der Beamte kühl. »Ich will den ersten, allzu selbstverständlichen übergehen: nämlich, daß fashionable Sportsleute nicht über gepflügte Äcker rennen oder sich die Augen in dornigem Gebüsch ausstechen. Auch rennen sie nicht vornübergebeugt wie ein zusammengekauerter Hund. Es gab noch entscheidendere Einzelheiten für das leidlich geübte Auge. Der Mann trug grobe und zerrissene Kleider. Sie paßten so schlecht, daß es ganz grotesk aussah; sogar, als er sich nur in schwarzen Umrissen gegen das Mondlicht abhob, ließ ihn der Mantelkragen, der seinen Kopf halb verbarg, wie einen Buckligen erscheinen, und die langen, weiten Ärmel erweckten den Eindruck, als hätte er keine Hände. Es ging mir gleich durch den Sinn, daß er es irgendwie fertiggebracht hatte, seine Sträflingskleider gegen die eines Verbündeten auszutauschen, die ihm nicht paßten. Zweitens blies ein ziemlich starker Wind, gegen den er lief, so daß ich das flatternde Haar hätte sehen müssen, wenn es nicht sehr kurz gewesen wäre. Dann erinnerte ich mich, daß jenseits dieser gepflügten Äcker, die er überquerte, Pilgrims Pond lag, für das der Sträfling sich – Sie erinnern sich – seine Kugel aufgehoben hatte; daraufhin setzte ich meinen Spazierstock in Bewegung.«

»Ein Glanzstück schneller Deduktion«, sagte Pater Brown, »aber hatte er ein Gewehr?«

Als Usher mitten im Aufundabgehen plötzlich innehielt, fügte der Priester entschuldigend hinzu: »Ich habe nämlich gehört, daß eine Kugel ohne Gewehr nicht mehr halb so nützlich sei.«

»Er hatte kein Gewehr«, sagte der andere ernsthaft, »aber das lag zweifellos an irgendeinem sehr natürlichen, unglücklichen Zufall oder einer Änderung seines Planes. Wahrscheinlich hatte ihn dieselbe Politik, die ihn veranlaßt hatte, die Kleider zu wechseln, auch veranlaßt, das Gewehr fortzuwerfen.«

»Nun, das ist leicht möglich«, antwortete der Priester.

»Und es ist nicht der Mühe wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen«, sagte Usher, einige andere Blätter zur Hand nehmend, »denn wir wissen jetzt bereits, daß es der Mann ist.«

Der priesterliche Freund fragte zaghaft: »Aber wieso?« und Greywood Usher warf die Zeitungen hin und nahm wieder die ersten beiden Zeitungsausschnitte zur Hand.

»Nun, da Sie so eigensinnig sind«, sagte er, »wollen wir ganz von vorn beginnen. Sie werden bemerkt haben, daß diese beiden Zeitungsausschnitte nur eine Sache miteinander gemein haben, und zwar die Erwähnung von Pilgrims Pond, dem Besitz des Millionärs Ireton Todd, wie Sie wissen. Sie wissen ferner, daß er ein bemerkenswerter Mann ist; einer von jenen Leuten, die Schritt für Schritt hochgekommen sind und zur Erreichung ihres Zweckes das Mittel . . .«

»Das Mittel wählten, zuvor ihr eigenes Gewissen totzuschlagen«, stimmte der Gefährte bei. »Ja, ich weiß. Petroleum, glaub ich.«

»Immerhin«, sagte Usher, »der Name unseres ›Letzten-Trick‹-Todds ist von Bedeutung in dieser wunderlichen Geschichte.«

Wieder rekelte sich Usher vor dem Feuer und fuhr in seiner weitschweifigen, selbstgefälligen, umständlichen Art zu reden fort.

»Fürs erste also gibt es hier anscheinend überhaupt nichts Geheimnisvolles. Es ist nicht geheimnisvoll, es ist nicht einmal merkwürdig, daß ein Zuchthäusler mit einem Gewehr auf Pilgrims Pond losgeht. Unsere Leute sind nicht wie die Engländer, die alle einem Menschen seinen Reichtum verzeihen, wenn er für Spitäler und Pferde Geld vergeudet. Unser Todd ist durch seine eigene Geschicklichkeit reich geworden, und es besteht kein Zweifel darüber, daß viele, an denen er seine Geschicklichkeit bewiesen hat, nun gerne ihre Geschicklichkeit an ihm beweisen würden, mit dem Gewehr. Todd könnte leicht durch einen Mann zu Fall gebracht werden, von dem er nie gehört hat; durch irgendeinen Arbeiter, den er ausgesperrt hat, oder irgendeinen Angestellten eines Geschäftes, das er ruiniert hat. Todd ist ein Mann von geistigen Fähigkeiten und hohem öffentlichem Ansehen; aber in diesem Lande sind die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Angestellten ziemlich gespannt.

So sieht die ganze Geschichte aus, angenommen, daß dieser Rian sich nach Pilgrims Pond aufgemacht hätte, um Todd zu töten. So sah sie für mich aus, bis eine andere kleine Entdeckung sämtliche Detektiveigenschaften in mir erweckte. Sobald ich meinen Gefangenen in Sicherheit gebracht hatte, nahm ich wieder meinen Spazierstock zur Hand und schlenderte zwei oder drei Straßen weiter hinunter, bis zu einem der Seitentore von Todds Besitztum, einem Tor zunächst jenem Teich oder See, der zu dem Besitz gehört. Es war vor etwa zwei Stunden, ungefähr um sieben Uhr. Der Mond schien um diese Zeit schon bedeutend heller, und ich konnte seine langen, weißen Strahlen auf dem geheimnisvollen Weiher mit den grauen, schlüpfrigen, schlammigen Ufern liegen sehen. Sie kennen die Stelle, die ich meine? Sie liegt nördlich von Todds Haus gegen die Wildnis zu, und es stehen zwei alte verwitterte Bäume dort, so elend und düster, daß sie eher wie riesige Schwammgewächse aussehen als wie richtiges Laubholz. Während ich dort stand und auf den Teich starrte, kam es mir vor, als sähe ich die schwachen Umrisse eines Mannes, der sich vom Hause her näherte, aber es war viel zu dunkel und zu weit, als daß ich meiner Sache hätte sicher sein können, und noch viel weniger irgendwelcher Einzelheiten. Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas viel Näherem völlig in Anspruch genommen. Ich duckte mich hinter dem Zaun nieder, der nicht mehr als zweihundert Ellen weit von dem einen Flügel des großen Gebäudes entfernt hinlief und glücklicherweise an verschiedenen Stellen Lücken hatte, wie ausdrücklich für neugierige Blicke so gemacht. Eine Tür war in der dunklen Masse des linken Flügels geöffnet worden, und eine Gestalt erschien jetzt, schwarz gegen das erleuchtete Innere – eine vermummte Gestalt, die sich, offenbar in die Nacht hinausstarrend, vorbeugte. Sie schloß die Türe hinter sich, und ich sah, daß sie eine Laterne trug, welche einige trübe Lichtflecken auf Kleidung und Gestalt des Trägers warf. Es schien die Gestalt einer Frau zu sein, die in einen zerrissenen Mantel gehüllt und anscheinend verkleidet war, um nicht erkannt zu werden. Es lag für einen Menschen, der aus diesen goldstrotzenden Räumen kam, etwas sehr Merkwürdiges sowohl in diesen Fetzen wie in der ganzen Verstohlenheit. Die Gestalt schritt vorsichtig über den gewundenen Gartenpfad vorwärts, was sie mir auf eine Entfernung von einem halben Hundert Ellen nahe brachte; dann blieb sie einen Augenblick auf der Rasenfläche stehen, die vor dem schlammigen See liegt, und, die brennende Laterne über den Kopf hochhebend, schwang sie diese dreimal deutlich hin und her, wie für ein Signal. Als sie die Laterne zum zweitenmal schwang, erhellte ein Lichtschimmer einen Augenblick lang ihr Gesicht – ein Gesicht, das ich kannte. Sie war unnatürlich blaß, und der Kopf war in ein ausgeliehenes Wolltuch gehüllt, wie Arbeiterfrauen sie zu tragen pflegen; aber ich bin sicher, es war Etta Todd, die Tochter des Millionärs.

Sie legte den Weg, den sie gekommen war, mit gleicher Vorsicht zurück und schloß die Türe wieder hinter sich. Ich wollte eben über den Zaun klettern, um ihr zu folgen, als mir klar wurde, daß das Jagdfieber des Detektivs, das mich in dieses Abenteuer gelockt hatte, ein wenig unwürdig sei und ich vom Standpunkt meiner höheren Autorität aus bereits alle Karten in der Hand hätte. Ich wollte mich eben zum Fortgehen wenden, als ein neues Geräusch die Stille der Nacht unterbrach. Ein Fenster wurde in einem der oberen Stockwerke aufgerissen, aber knapp um die Ecke des Hauses, so daß ich es nicht sehen konnte, und man hörte eine angsterfüllte Stimme durch die Dunkelheit des Gartens nach Lord Falconroy rufen, der in keinem Zimmer des Hauses zu finden war. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, wessen Stimme es war. Ich habe sie von vielen politischen Rednertribünen und in zahlreichen Direktoren-Versammlungen gehört: es war Ireton Todd selbst. Einige andere Leute schienen an die unteren Fenster oder hinaus auf die Treppe getreten zu sein, und man rief zu Todd hinauf, Lord Falconroy habe vor etwa einer Stunde einen Spaziergang zum See hinunter unternommen und könnte seither nicht wieder gefunden werden. Dann schrie Todd: ›Mord! Mord!‹ und schlug das Fenster heftig zu. Ich konnte ihn noch drinnen die Treppe hinunterrennen hören. Mich meines früheren und klügeren Vorsatzes entsinnend, machte ich mich davon, bevor die allgemeine Durchsuchung der Umgebung, die nun folgen mußte, begann, und kehrte nicht viel nach acht Uhr hierher zurück.

Ich bitte Sie nun, sich der kleinen Gesellschaftsnotiz zu entsinnen, die Ihnen so entsetzlich uninteressant vorgekommen ist. Wenn der Sträfling seine Kugel nicht für Pilgrims Pond aufhob, wie dies offenbar der Fall war, so ist es höchstwahrscheinlich, daß er sie für Lord Falconroy aufhob, und es sieht aus, als hätte er seine Ware abgeliefert. Es gibt keinen geeigneteren Platz, um einen Menschen zu erschießen, als die geologisch seltsame Umgebung des Teiches, wo ein hinabgeworfener Körper durch den zähen Schlamm bis zu unbekannten Tiefen sinken würde. Wir wollen also annehmen, daß unser Freund mit dem kurzgeschnittenen Haar gekommen war, um Lord Falconroy und nicht Todd umzubringen. Doch, wie ich bereits ausgeführt habe, gibt es viele Gründe, aus denen viele Leute in Amerika Todd umzubringen wünschen mögen. Es gibt keinen Grund, aus dem irgend jemand in Amerika einen neu gelandeten englischen Lord umzubringen wünschen sollte, bis auf jenen einzigen Grund, der in der Zeitung erwähnt ist: daß der Lord der Tochter des Millionärs seine Aufmerksamkeit schenkt. Unser kurzgeschorener Freund muß, trotz seiner schlecht sitzenden Kleider, ein hochstrebender Liebhaber sein.

Ich weiß, daß Ihnen diese Vorstellung widersinnig, ja komisch vorkommt, aber das ist nur, weil Sie ein Engländer sind. Sie tragen der emporsteigenden und aufstrebenden Macht unserer hervorragenderen Bürger nicht genug Rechnung. Sie haben einen gutaussehenden, grauhaarigen Mann im Frack mit einem Anstrich von Berühmtheit vor sich, Sie wissen, daß er eine Säule des Staates ist, und so glauben Sie auch schon, daß er eine lange Reihe von Ahnen hatte. Sie irren sich. Sie machen sich nicht klar, daß er vor verhältnismäßig wenigen Jahren in einer Siedlung oder möglicherweise im Gefängnis gewesen sein mag. Sie lassen die Spannkraft und den Aufschwung unserer Nation außer acht. Viele unserer einflußreichsten Bürger sind nicht nur erst ganz kürzlich, sondern auch in verhältnismäßig späten Jahren in die Höhe gekommen. Todds Tochter war volle achtzehn Jahre alt, als ihr Vater sein Glück machte. Es ist also eigentlich nicht so unmöglich, daß noch von früher her ein Verehrer aus den unteren Klassen an ihr hängt; oder sogar, daß sie noch an einem hängt, wie ich es mir vorstelle, wenn ich nach der Geschichte mit der Laterne urteile. Wenn dem so ist, so dürfte die Hand, welche die Laterne hielt, der Hand, welche das Gewehr hielt, nicht fremd sein. Dieser Fall, mein Herr, wird ein wenig von sich reden machen.«

»Nun«, fragte der Priester geduldig, »und was haben Sie dann getan?«

»Ich vermute, daß Sie entsetzt sein werden«, erwiderte Greywood Usher, »weil ich weiß, daß Sie mit dem Siegeslauf der Technik in bezug auf diese Dinge nicht einverstanden sind. Ich habe hier in vielen Dingen ziemlich freie Hand und nehme mir vielleicht noch ein bißchen mehr heraus, als man mir zugesteht. Und ich dachte, das hier wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, jenen psychometrischen Mechanismus auszuprobieren, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Denn meiner Meinung nach kann dieser Apparat nicht lügen.«

»Kein Apparat kann lügen«, sagte Pater Brown, »aber er kann auch nicht die Wahrheit sagen.«

»In diesem Fall hat sie es getan, wie ich Ihnen zeigen werde«, fuhr Usher zuversichtlich fort. »Ich setzte den Mann in den schlechtpassenden Kleidern in einen bequemen Sessel und schrieb einfach verschiedene Worte auf eine Tafel, und der Apparat verzeichnete einfach die Änderungen seines Pulsschlages, und ich beobachtete einfach sein Verhalten. Der Trick ist, irgendein Wort, das mit dem vermuteten Verbrechen in Zusammenhang steht, in eine Reihe von Worten, die irgendeinen ganz anderen Zusammenhang haben, einzufügen, jedoch so, daß es sich ganz natürlich einfügt. So schrieb ich also ›Reiher‹ und ›Adler‹ und ›Eule‹, und als ich ›Falke‹ schrieb, wurde er schrecklich aufgeregt, und als ich statt ›Falke‹ ›Falkon‹ schrieb, da begann der Zeiger des Apparates einfach zu springen. Wer sonst hätte in dieser Republik Ursache, bei dem Namen eines neu angekommenen Engländers wie Falconroy aufzufahren, wenn nicht der Mann, der ihn erschossen hat? Ist das nicht eine viel bessere Zeugenaussage als eine Menge Geschwätz von Augenzeugen? Die Zeugenaussage des verläßlichen Apparates!«

»Sie vergessen immer«, bemerkte der Gefährte, »daß der verläßliche Apparat stets von einem unverläßlichen Apparat in Betrieb gesetzt werden muß.«

»Wieso, was meinen Sie?« fragte der Detektiv.

»Ich meine den Menschen«, sagte Pater Brown, »der unverläßlichste Mechanismus, den ich kenne. Ich will nicht unhöflich sein, und ich hoffe, Sie werden das Wort Mensch nicht als beleidigende oder ungenaue Bezeichnung von sich selbst auffassen. Sie sagen, Sie hatten das Verhalten des Mannes beobachtet; aber woher wissen Sie, daß Sie richtig beobachtet haben? Sie sagen, die Worte müßten sich ganz natürlich einfügen; aber woher wissen Sie, daß Sie es so gemacht haben? Woher wissen Sie, wenn es darauf ankommt, daß er nicht Ihr Verhalten beobachtet hat? Wer sollte beweisen, daß Sie nicht schrecklich aufgeregt waren? Es war ja kein Apparat an Ihrem Puls befestigt.«

»Ich sage Ihnen«, schrie der Amerikaner in höchster Aufregung, »daß ich so kühl wie eine Gurke war.«

»Verbrecher können auch so kühl wie Gurken sein«, sagte Brown lächelnd. »Und beinahe so kühl wie Sie.«

»Nun, der war es eben nicht«, sagte Usher und warf die Zeitungen durcheinander. »Oh, Sie langweilen mich!«

»Das tut mir leid«, sagte der andere. »Ich lege nur dar, was eine vernünftige Möglichkeit zu sein scheint. Wenn Sie an dem Benehmen des Mannes erkennen konnten, wann das Wort kam, das ihn an den Galgen bringen würde, warum sollte er nicht an Ihrem Benehmen erkennen, wann das Wort kommen würde, das ihn an den Galgen bringen sollte? Ich würde nach mehr als bloß nach Worten verlangen, bevor ich einen an den Galgen brächte.«

Usher schlug auf den Tisch und erhob sich in einer Anwandlung von Zorn und Triumph zugleich.

»Und das ist es eben, was ich Ihnen geben werde«, rief er. »Ich habe den Apparat zuerst ausprobiert, nur um die Sache nachher auf andere Weise zu prüfen: und der Apparat hatte recht!«

Er hielt einen Augenblick lang inne und fuhr dann weniger aufgeregt fort. »Ich möchte betonen, wenn es darauf ankommt, daß ich bis dahin mit Ausnahme des wissenschaftlichen Experiments sehr wenig Material hatte, mit dem ich etwas anfangen konnte. Es lag wirklich gar nichts gegen den Mann vor. Seine Kleider paßten ihm nicht, wie ich schon erwähnt habe, aber sie waren, wenn überhaupt anders, eher besser als jene der unteren Klassen, denen er sichtlich angehörte. Überdies war der Mann, abgesehen von all den Spuren, welche seine Jagd über geackerte Felder und sein Stürmen durch staubige Hecken hinterlassen hatte, verhältnismäßig sauber. Dies konnte natürlich bedeuten, daß er eben erst aus dem Gefängnis ausgebrochen war; aber es erinnerte mich mehr an die verzweifelte Anständigkeit der verhältnismäßig respektablen Armen. Sein Benehmen stimmte, wie ich gestehen muß, ganz damit überein. Er war schweigsam und würdevoll wie jene; er schien einen großen verborgenen Kummer zu haben wie jene. Er gab völlige Unkenntnis des in Frage stehenden Verbrechens vor und schien nur mit trotziger Ungeduld auf etwas Vernünftiges zu warten, dessen Eintreten ihn aus seiner unsinnigen Klemme befreien würde. Er bat mich mehr als einmal, ob er einem Advokaten telefonieren dürfe, der ihm vor langer Zeit in irgendeiner Geschäftssache behilflich gewesen war, und benahm sich in jeder Beziehung, wie man es von einem Unschuldigen erwarten würde. Es sprach absolut nichts gegen ihn, ausgenommen jener kleine Zeiger auf dem Zifferblatt, der auf die Veränderung des Pulsschlages gedeutet hatte.

Hier also, mein Herr, war der Apparat auf die Probe gestellt; und der Apparat hatte recht. Als ich mit ihm aus jenem Zimmer in den Vorraum kam, wo alle möglichen anderen Leute auf eine Untersuchung warteten, hatte er sich, glaube ich, mehr oder weniger schon entschlossen, die Dinge durch etwas Ähnliches wie ein Geständnis aufzuklären. Er wendete sich an mich und fing in leisem Ton zu sprechen an: ›Oh, ich kann das nicht mehr länger aushalten. Wenn Sie alles wissen wollen . . .

Im selben Augenblick stand eine von den armen Frauen, die auf der langen Bank saßen, auf, kreischte und zeigte mit dem Finger auf ihn. Ich habe in meinem Leben noch nie etwas so dämonisch Deutliches gesehen. Ihr dürrer Finger schien ihn aufs Korn zu nehmen, als zielte sie mit einem Blasrohr. Obwohl das Ganze nur wie ein Geheule klang, tönte jede Silbe so klar und deutlich wie ein einmaliger Schlag auf eine Glocke.

›Drugger Davis!‹ schrie sie. ›Sie haben Drugger Davis gefangene!‹

Von all den elenden Weibern, meist Diebinnen und Straßendirnen, wendeten sich ihm zwanzig Gesichter zu, die ihn voll Schadenfreude und Haß anstarrten. Wenn ich das Wort nie zuvor gehört hätte, so hätte ich aus dem bloßen Entsetzen auf seinem Gesicht gewußt, daß der sogenannte Oscar Rian seinen richtigen Namen nennen gehört hatte. Aber Sie werden sich vielleicht wundern zu hören, daß ich nicht ganz so unwissend bin. Drugger Davis war einer der schrecklichsten und verruchtesten Verbrecher, die unsere Polizei jemals genarrt haben. Sicher hat er mehr als einen Mord begangen, lange vor seiner letzten Heldentat an dem Wachtposten. Aber er konnte seltsamerweise niemals gänzlich überführt werden, weil er es auf dieselbe Art machte wie jene geringfügigeren – oder verächtlicheren – Verbrechen, deren er ziemlich häufig überführt wurde. Er war immer ein hübscher, wohlerzogen aussehender Schuft, wie er es bis zu einem gewissen Grad noch heute ist; er pflegte meist mit Kellnerinnen oder Ladenmädchen umzugehen und ihnen ihr Geld herauszulocken. Sehr oft ging er jedoch viel weiter, man fand die Mädchen mit Zigaretten oder Schokolade betäubt, und all ihr Hab und Gut verschwunden. Dann kam ein Fall, wo das Mädchen tot aufgefunden wurde, aber die Mordabsicht konnte nicht ganz bewiesen werden und, was noch wichtiger war, der Verbrecher konnte nicht aufgefunden werden. Ich hörte ein Gerücht, demzufolge er irgendwo wieder aufgetaucht sein soll, diesmal in der entgegengesetzten Rolle, als Geldverleiher anstatt als einer, der es sich entlieh, aber immer noch in Beziehungen zu armen Witwen, die er persönlich faszinieren konnte, und immer wieder mit demselben üblen Resultat für sie. Nun, das ist unser unschuldiger Mann und seine unschuldige Geschichte. Inzwischen ist er von vier Verbrechern und drei Wachtposten identifiziert und seine Geschichte bestätigt worden. Nun, was haben Sie jetzt gegen meinen armen, kleinen Apparat zu sagen? Hat es der Apparat nicht fertiggebracht, ihn zu überführen? Oder ziehen Sie vor zu sagen, daß jene Frau und ich es fertiggebracht haben?«

»Was Sie fertiggebracht haben?« erwiderte Pater Brown, indem er aufstand und sich behaglich schüttelte, »Sie haben ihn vor dem elektrischen Stuhl gerettet. Ich glaube nicht, daß man Drugger Davis um jener alten vagen Geschichte mit dem Gift hinrichten kann; und was den Sträfling anbelangt, der den Wachtposten getötet hat, glaub' ich, offensichtlich, daß Sie ihn nicht gefangen haben. Herr Davis ist dieses Verbrechens jedenfalls nicht schuldig.«

»Was meinen Sie?« fragte der andere. »Warum sollte er dieses Verbrechens nicht schuldig sein?«

»Ja, Gott steh uns bei!« rief der kleine Mann in einer seiner seltenen temperamentvollen Anwandlungen aus, »ja, weil er der anderen Verbrechen schuldig ist! Ich versteh' nicht, aus was ihr Leute gemacht seid! Ihr scheint zu glauben, daß alle Sünden in einem Sack verwahrt werden. Ihr redet, als ob ein Geizhals vom Montag immer am Dienstag ein Verschwender wäre. Sie erzählen mir, daß der Mann, den Sie hier haben, Wochen und Monate damit verbrachte, sparsamen Frauen ihre kleinen Geldsümmchen herauszulocken; daß er bestenfalls ein Betäubungsmittel und schlimmstenfalls ein Gift verwendete; und daß er später als einer der schäbigsten Geldverleiher auftauchte und noch mehr arme Leute auf dieselbe geduldige und friedliche Art betrog. Nehmen wir als erwiesen an – nehmen wir um des Argumentes willen an, daß er all dies getan hat. Wenn dem so ist, dann will ich Ihnen sagen, was er nicht getan hat: er hat keine mit Spitzen versehene Mauer gestürmt, gegen einen Mann mit einem geladenen Gewehr. Er hat nicht mit eigener Hand auf die Mauer geschrieben, daß er es getan hat. Er hat sich nicht damit aufgehalten, als seine Entschuldigung Notwehr anzugeben. Er hat nicht erklärt, daß er nichts gegen den armen Wachtposten habe. Er nannte nicht das Haus des reichen Mannes, in das er mit seinem Gewehr ging. Er schrieb seine eigenen Initialen nicht mit eines Mannes Blut. Oh, ihr Heiligen! Sehen Sie denn nicht, daß es ein ganz anderer Charakter ist, im Bösen wie im Guten? Ja, Sie scheinen nicht ein bißchen so geschaffen zu sein wie ich. Man würde meinen, Sie hätten niemals ein Laster gehabt.«

Der bestürzte Amerikaner hatte bereits den Mund geöffnet, um zu protestieren, als in einer so unzeremoniösen Art an der Türe seines privaten Amtsraumes gehämmert und gerüttelt wurde, wie er es noch nie gehört hatte.

Die Türe wurde aufgerissen. Einen Augenblick zuvor war Greywood Usher gerade zu dem Schluß gekommen, daß Pater Brown vielleicht verrückt sei. Einen Augenblick später fing er an zu glauben, daß er selbst verrückt sei. In sein Privatzimmer herein stürzte ein Mann, in den schmutzigsten Fetzen und mit einem speckigen Hut, den er schief aufgesetzt weiter auf dem Kopf behielt, ein blauer Fleck zog sich unter einem seiner Augen hin, und er starrte so wild wie ein Tiger. Das übrige Gesicht war nicht zu sehen, da es zum Teil von einem wirren Bart so sehr verdeckt war, daß die Nase kaum herausgucken konnte, und zum Teil war es mit einem schmutzigen, roten Taschentuch eingebunden. Herr Usher rühmte sich, die übelsten Exemplare der Staatsbürger zu kennen, aber noch niemals hatte er einen solchen als Vogelscheuche verkleideten Pavian gesehen. Doch vor allem hatte er in seinem friedlichen wissenschaftlichen Leben noch niemals gehört, daß ein solcher Mann als erster das Wort an ihn zu richten wagte.

»Schauen Sie einmal, mein lieber alter Usher«, schrie der Kerl in dem roten Taschentuch, »jetzt wird mir die Sache zu dumm. Probieren Sie Ihre Versteckspiele an einem anderen aus, aber nicht an mir; ich laß mich nicht zum Narren halten. Geben Sie meinen Gast frei, und ich werde das Zeichen geben, daß mein Fest weitergehen kann. Halten Sie ihn aber noch einen Augenblick zurück, so wird es Ihnen hübsch übel bekommen. Ich meine, ich bin nicht einer, der keinen Einfluß hätte!«

Der erhabene Usher sah das bellende Ungeheuer mit einem jedes andere Gefühl überwältigenden Erstaunen an. Der bloße Schock, den seine Augen erleiden mußten, machte seine Ohren beinahe gebrauchsunfähig. Endlich läutete er mit größter Heftigkeit an einer Zimmerglocke. Während der schrille Klang noch in der Luft lag, hörte man die sanfte, klare Stimme Pater Browns.

»Ich möchte gerne eine Vermutung aussprechen«, sagte er, »aber es klingt ein wenig verwirrend. Ich kenne diesen Herrn nicht – aber – aber ich glaube, daß ich ihn kenne. Nun, Sie kennen ihn – Sie kennen ihn ganz gut – aber Sie kennen ihn nicht, natürlich. Es klingt paradox, ich weiß.«

»Ich glaube, die Welt hat einen Sprung bekommen«, sagte Usher, ließ sich in seinen runden Schreibtischsessel fallen und spreizte die Beine von sich.

»Nun, hören Sie einmal zu«, brüllte der Fremde und schlug mit der Hand auf den Tisch, und seine Stimme klang um so geheimnisvoller, als seine Worte verhältnismäßig vernünftig waren, zugleich aber überlaut hinausgeschrien wurden. »Ich laß Sie nicht aus. Ich will . . .«

»Wer, zum Teufel, sind Sie?« schrie Usher plötzlich und setzte sich aufrecht in seinem Sessel zurecht.

»Ich glaube, der Name dieses Herrn ist Todd«, sagte der Priester. Dann nahm er das Stückchen Zeitung zur Hand.

»Ich fürchte, Sie haben die Gesellschaftsnotizen nicht genau gelesen«, sagte er und fing an, mit monotoner Stimme vorzulesen: ›. . . oder ist er in der mit Edelsteinen besetzten Brust des heitersten Führers unserer Stadt verschlossen; doch hat man einiges verlauten hören über eine nette Parodie der einfachen Sitten und Gebräuche von Menschen entgegengesetzter Gesellschaftsklassen‹. Es war heute abend ein großes Spelunkenfest in Pilgrims Pond angesagt, und ein Herr, einer der Gäste, ist verschwunden. Herr Ireton Todd ist ein guter Gastgeber und hat die Spur bis hierher verfolgt, ohne sich auch nur Zeit zu lassen, sein Festkostüm abzulegen.«

»Welchen Herrn meinen Sie?«

»Ich meine den Herrn mit den komischen, schlechtsitzenden Kleidern, den Sie über den gepflügten Acker laufen sahen. Wäre es nicht besser, Sie gingen hin und forschten der Sache nach? Er wird ein wenig ungeduldig darauf warten, bald wieder zu seinem Champagner zurückzukehren, von dem er in so großer Eile fortgelaufen ist, als der Sträfling mit dem Gewehr auftauchte.«

»Meinen Sie ernstlich . . .« fing der Beamte an.

»Nun, schaun Sie einmal, Herr Usher«, sagte Pater Brown ruhig, »Sie haben gesagt, der Apparat könne keinen Fehler machen, und in einem gewissen Sinn hat er das auch nicht getan. Aber der andere Apparat beging den Fehler, der Apparat, welcher ihn in Betrieb setzte. Sie haben angenommen, der Puls des in Fetzen gekleideten Mannes habe bei dem Namen Falconroy zu springen begonnen, weil er Lord Falconroys Mörder war. Er begann bei dem Namen zu springen, weil er Lord Falconroy ist.«

»Ja, zum Teufel, warum hat er es dann nicht gesagt?« fragte der verwirrt dreinschauende Usher.

»Er hatte das Gefühl, daß seine Verfassung und der kürzlich ausgestandene Schreck nicht sehr aristokratisch wirkten«, erwiderte der Priester, »darum hat er den Namen zuerst verschwiegen. Aber er war eben daran, ihn zu nennen, als –« und Pater Brown sah auf seine Stiefel nieder – »als eine Frau einen anderen Namen für ihn fand.«

»Sie werden doch nicht so verrückt sein, zu glauben«, sagte Greywood Usher leichenblaß, »daß Lord Falconroy Drugger Davis war.«

Der Priester sah ihn sehr ernst, doch mit bedeutsamer und etwas spöttischer Miene an.

»Ich sage weiter nichts«, bemerkte er, »den Rest überlasse ich Ihnen. Ihr gutinformiertes Blatt sagt, daß der Titel erst kürzlich wieder für ihn neu aufgefrischt wurde; aber diese Zeitungen sind alle sehr unverläßlich. Es heißt darin auch, daß er schon in seiner Jugend in Amerika gewesen war, aber die ganze Geschichte klingt sehr unwahrscheinlich. Davis und Falconroy sind beide ziemlich große Feiglinge, aber das sind schließlich noch eine Menge andere Menschen auch. Ich würde keinen Hund hängen, auf meine bloße Meinung darüber. Aber ich glaube«, fuhr er sanft und nachdenklich fort, »ich glaube, ihr Amerikaner seid zu bescheiden. Ich glaube, ihr idealisiert die englische Aristokratie – selbst in der Annahme, daß sie so aristokratisch wäre. Ihr seht einen gutaussehenden Engländer im Frack; ihr wißt, daß er Herrenhausmitglied ist, und da glaubt ihr auch schon, daß er eine Reihe von Ahnen hat. Sie tragen der Spannkraft und dem Aufschwung unserer Nation nicht genügend Rechnung. Viele unserer einflußreichsten Adeligen sind nicht nur erst kürzlich in die Höhe gekommen, sondern . . .«

»Ach, hören Sie auf!« rief Greywood Usher und versuchte verzweifelt, mit einer seiner schlanken Hände den ironischen Zug im Gesicht des anderen abzuwehren.

»Stehen Sie nicht hier, um mit diesem Narren zu reden!« rief Todd grob dazwischen. »Führen Sie mich zu meinem Freund.«

Am nächsten Morgen erschien Pater Brown mit derselben scheinheiligen Miene, in der Hand ein Stück von einem anderen bestinformierten Blatt.

»Ich fürchte, Sie vernachlässigen die Gesellschaftsnotizen in den Zeitungen ein wenig«, sagte er, »aber dieser Ausschnitt wird Sie vielleicht interessieren.«

Usher las die Überschrift: »Letzten-Trick-Todds verirrte Nachtschwärmer. – Eine lustige Szene hat sich vergangene Nacht vor Wilkinsons Autogarage abgespielt. Der diensthabende Polizeibeamte wurde dort auf einen Mann aufmerksam, der in Sträflingskleidern mit bemerkenswerter Ruhe auf dem Chauffeursitz eines sehr eleganten Autos Platz nahm; er war in Begleitung eines Mädchens, das ein Wolltuch um den Kopf gewickelt hatte. Als die Polizei einschritt, schlug das junge Mädchen das Tuch zurück, und alle erkannten die Tochter des Millionärs Todd, die eben von dem Spelunkenfest in Pilgrims Pond kam, wo alle auserlesensten Gäste in ähnlichem Aufzug zusammengekommen waren. Sie und der Herr, der Gefängniskleider angelegt hatte, begaben sich auf die gebräuchliche Scherzspazierfahrt.«

Unter der Meldung dieses bestinformierten Blattes fand Herr Usher eine Notiz aus einer später erschienenen Zeitung angeheftet mit der Überschrift: »Sensationelle Flucht der Millionärstochter mit dem Sträfling. Sie hatte das Maskenfest arrangiert. Jetzt sicher in . . .«

Herr Greywood Usher hob die Augen, aber Pater Brown war verschwunden.

 


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