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Herr Edward Nutt, der rührige Chefredakteur der Zeitung »The Daily Reformer«, saß an seinem Schreibtisch, las Briefe und korrigierte Bürstenabzüge, begleitet von den heiteren Klängen einer Schreibmaschine, die von einer kraftvollen jungen Dame bearbeitet wurde.
Er war ein etwas beleibter, blonder Mann in Hemdsärmeln; seine Bewegungen waren energisch, sein Mund entschlossen und sein Ton gebieterisch; doch seine runden, beinahe kindlich blauen Augen sahen verwirrt, ja oft sogar ängstlich in die Welt, was mit seinem sonstigen Gesichtsausdruck in heftigem Widerspruch stand. Dieser Eindruck war auch nicht ganz irreführend. Denn man konnte von ihm, wie von beinahe allen Journalisten, mit vollem Recht sagen, daß seine gewöhnliche Gemütsverfassung die einer ununterbrochenen Angst war: Angst vor Verleumdungsklagen, Angst vor entgangenen Sensationen, Angst vor Druckfehlern, Angst vor Entlassung.
Sein Leben war eine Reihe von aufreibenden Kompromissen zwischen dem Eigentümer der Zeitung, einem senilen Seifensieder mit drei unausrottbaren fixen Ideen im Kopf, und dem sehr tüchtigen Stab von Mitarbeitern, den er sich zur Führung der Zeitung gesammelt hatte; einige davon waren wirklich erfahrene und ausgezeichnete Leute, die sogar, was noch schlimmer war, einen aufrichtigen Enthusiasmus für die politische Überzeugung des Blattes hatten.
Ein Brief von einem dieser Männer lag in diesem Augenblick vor ihm und – so entschlossen und schnell er sonst in seinen Handlungen war – jetzt schien er beinahe zu zögern, bevor er den Brief öffnete. Er nahm statt dessen einen kurzen Bürstenabzug zur Hand, überflog ihn mit blauen Augen und einem blauen Bleistift, änderte das Wort »Unzucht« in »Ungehörigkeit« um und das Wort »Jude« in »Ausländer«, läutete dann und schickte die Korrektur in die Druckerei hinauf.
Hierauf riß er mit etwas nachdenklicheren Blicken den Brief eines seiner hervorragenderen Mitarbeiter auf; der Poststempel war von Devonshire, und der Brief lautete folgendermaßen:
»Lieber Nutt, da ich sehe, daß Sie Spuk- und Geistergeschichten bringen, wie wärs mit einem Artikel über jene Affäre der Eyres von Exmoor oder, wie die alten Weiber hier sagen: ›Das Teufelsohr der Eyres‹? Das Haupt der Familie ist, wie Sie wissen, der Herzog von Exmoor; er ist einer der wenigen wirklich alten, steifen Tory-Aristokraten, die wir noch haben, ein verkrusteter, alter wirklicher Tyrann, und es läge so richtig auf unserer Linie, mit ihm Streit anzufangen. Ich glaube, ich bin auf der Spur einer Geschichte, die Staub aufwirbeln wird.
Natürlich glaube ich nicht an die alte Legende von James I., und was Sie anbelangt, so glauben Sie ja überhaupt an nichts, nicht einmal an den Journalismus. Die Legende handelt, wie Sie sich wohl erinnern werden, von jenem dunkelsten Stückchen der englischen Geschichte, der Vergiftung Overburys durch diese behexte Schlange Frances Howard und dem ganz unerklärlichen, geheimnisvollen Schrecken, der den König zwang, den Mördern zu verzeihen. Es wurden da noch eine Menge durch Zeugenaussagen beglaubigte Hexereien mit der Geschichte in Zusammenhang gebracht, und man erzählte sich, daß ein Diener, der während einer Unterredung zwischen dem König und Carr am Schlüsselloch gehorcht hatte, die Wahrheit erfuhr; doch das Geheimnis, das der Mann erlauschte, war so entsetzlich, daß sein Ohr zu riesenhafter und monströser Gestalt anwuchs. Und wenn man ihn auch mit Ländereien und mit Gold überschütten mußte und ihn zum Ahnen eines Herzogsgeschlechtes machte, so ist das durch Zauberkraft geformte Ohr doch in der Familie geblieben. Nun, Sie glauben nicht an Zauberei, und wenn Sie es täten, so könnten Sie es nicht als Manuskript verwenden. Wenn in Ihrem Büro ein Wunder geschähe, so müßten Sie es vertuschen, jetzt, da so viele Bischöfe Agnostiker sind. Aber das gehört nicht zur Sache. Tatsache ist, daß mit dem Exmoor und seiner Familie wirklich etwas Merkwürdiges los ist; irgend etwas ganz Natürliches wahrscheinlich, aber etwas ganz Abnormes. Und das Ohr spielt irgendeine Rolle dabei, glaube ich; entweder als Symbol oder als Täuschung oder als Mißgestalt oder Verkrüppelung oder sonst etwas. Es gibt auch noch eine andere Legende, die besagt, daß die Kavaliere kurz nach James I. anfingen, das Haar lang zu tragen, nur um das Ohr des ersten Lords von Exmoor zu bedecken. Das ist sicherlich auch nur Einbildung.
Der Grund, warum ich Ihnen das erzähle, ist der: ich halte es für einen Fehler, wenn wir die Aristokratie immer nur um ihres Champagners und ihrer Diamanten willen angreifen. Die meisten Leute bewundern die vornehme Gesellschaft darum, weil es ihr so gut geht; und ich glaube, wir ergeben uns zu früh, wenn wir zugeben, daß die Aristokratie auch nur die Aristokraten glücklich gemacht hat. Ich schlage eine Reihe von Artikeln vor, in denen dargelegt wird, wie trübselig, wie unmenschlich, ja wie geradezu diabolisch auch nur der Hauch der Atmosphäre einiger dieser großen Häuser ist. Es gibt eine Menge von Beispielen, aber man könnte kaum mit einem besseren beginnen als mit dem Ohr der Eyres. Ende der Woche hoffe ich Ihnen die Wahrheit über diese Sache mitteilen zu können.
Mit besten Grüßen Ihr ergebener Francis Finn.«
Herr Nutt starrte auf seinen linken Stiefel und überlegte einen Augenblick lang; dann rief er mit starker, lauter und vollkommen lebloser Stimme, in der eine Silbe wie die andere klang: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen Sie einen Brief für Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, ich glaube, es wird gehen. Das Manuskript müßte Samstag mit der zweiten Post hier sein.
Ihr E. Nutt.‹«
Diese vollendete Epistel sprach er so aus, als bestünde sie aus einem einzigen Wort, und Fräulein Barlow ratterte sie nieder, als bestünde sie aus einem einzigen Wort. Dann nahm er einen anderen kleinen Bürstenabzug und einen blauen Bleistift zur Hand und machte aus dem Wort »übernatürlich« ein »wunderbar« und änderte den Ausdruck »niederreißen« in »Einhalt tun«.
Mit derlei nützlichen und heiteren Arbeiten verbrachte Herr Nutt seine Zeit, bis ihn der darauffolgende Samstag an demselben Schreibtisch, wo er demselben Schreibmaschinenfräulein diktierte und denselben blauen Bleistift benützte, vor der ersten Teillieferung der Enthüllungen des Herrn Finn sitzen fand. Der Anfang war ein gesundes Stück zermalmender Schmähungen über die üblen Geheimnisse der Fürsten und die in den höchsten Kreisen der Gesellschaft herrschende Verrottung. Der Artikel war, obwohl wuchtig und temperamentvoll, in tadellosem Englisch geschrieben. Doch der Chefredakteur hatte, wie gewöhnlich, jemand anderem die Aufgabe zugewiesen, diese Einleitung in einzelne überschriftartige Sätze zu zerstückeln, die etwas würziger klangen, wie »Verbrechen und Verdienst«, »Adel und Angst«, »Ohr und Orden« oder »Die Eyres und ihr Eigentum« und so weiter in hundert glücklichen Wendungen. Dann folgte die Legende des Ohrs, ausgemalt nach dem Inhalt von Finns erstem Brief, und dann der Bericht seiner späteren Entdeckungen, wie folgt:
»Ich weiß, das Wesen des Journalismus besteht darin, das Ende einer Geschichte an den Anfang zu stellen und das eine Überschrift zu nennen. Ich weiß, Journalismus besteht zum größten Teil darin, zu sagen: ›Tod des Lord Jones‹, und zwar zu Leuten, die niemals wußten, daß Lord Jones gelebt hat. Ihr augenblicklicher Mitarbeiter ist jedoch der Meinung, daß dies, wie viele andere journalistische Gewohnheiten, schlechter Journalismus ist und daß der ›Daily Reformer‹ ein besseres Beispiel in derlei Dingen geben sollte. Ich unternehme es daher, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich Schritt für Schritt zugetragen hat. Ich werde die wirklichen Namen der Personen nennen, die gewiß bereit wären, meine Aussage zu bezeugen. Was nun die Überschriften und die sensationellen Ankündigungen anbelangt – so werden diese erst zum Schluß kommen.
Ich schritt einen öffentlichen Weg entlang, der durch einen privaten Obstgarten in Devonshire führte und ganz den Anschein erweckte, zu einem guten Devonshire-Apfelwein hinzuführen, als ich plötzlich schon vor einem ebensolchen Ort stand. Es war ein langes, niedriges Wirtshaus oder eigentlich ein Häuschen und zwei Schuppen; das Stroh ihrer Dächer sah aus wie bräunlichgraues Haar aus irgendwelcher vorsintflutlichen Zeit. Vor der Türe war ein Schild, wonach das Wirtshaus ›Zum blauen Drachen‹ hieß, und unter dem Schild stand einer jener langen Bauerntische, die früher vor den meisten guten, freien englischen Wirtshäusern zu stehen pflegten, bevor Abstinenzler und Bierbrauer miteinander die Freiheit zerstörten. Und an diesem Tisch saßen drei Herren, die vor hundert Jahren hätten leben können.
Jetzt, da ich sie näher kenne, ist es nicht schwer, die Eindrücke zu entwirren; aber gerade damals sahen sie wie drei leibhaftige Gespenster aus. Die dominierende Gestalt – dominierend, weil der Mann nach allen drei Dimensionen hin der größte war, und auch, weil er in der Mitte des langen Tisches gerade mir gegenübersaß – war ein großer, dicker Mann, ganz schwarz gekleidet, mit einem runden, apoplektischen Gesicht und kahler, bekümmerter Stirne. Als ich ihn genauer ansah, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was eigentlich diesen Eindruck des Altertümlichen an ihm erwecke, ausgenommen der altmodische Schnitt seiner weißen, priesterlichen Krawatte und die querlaufenden Falten über seiner hohen Stirne.
Noch schwerer zu definieren war der Eindruck in bezug auf den Mann am rechten Tischende, der, offen gestanden, ein ganz alltäglich aussehender Mensch war, wie man ihn stündlich allüberall sehen kann, mit einem runden, braunhaarigen Kopf und einer runden Stumpfnase, doch war auch er in kirchliches Schwarz gekleidet. Erst als ich seinen breiten, geschwungenen Hut auf dem Tisch neben ihm liegen sah, wurde es mir klar, warum er in mir die Vorstellung von etwas Altertümlichem erweckt hatte. Er war ein römisch-katholischer Priester.
Vielleicht hatte der dritte Mann am anderen Ende des Tisches eigentlich mehr damit zu tun als alle übrigen, obwohl er in physischer Hinsicht schmächtiger und in seiner Kleidung unauffälliger war. Seine hageren Glieder steckten in enganliegenden grauen Ärmeln und Hosenbeinen, oder besser gesagt, sie waren hineingezwängt; er hatte ein langes, adlerartiges Gesicht, welches irgendwie darum noch melancholischer aussah, weil seine hohlwangigen Züge von einem Kragen und Halstuch umschlossen waren, wie sie von vergangenen Geschlechtern getragen wurden, und sein Haar hatte einen trüben, rötlichen Schimmer, der im Verein mit seinem gelben Gesicht mehr purpurn als rot wirkte. Die zwar nicht auffallende, aber doch ungewöhnliche Farbe war um so bemerkenswerter, als sein Haarwuchs beinahe unnatürlich gesund war und er das Haar lang und lockig trug. Doch wenn ich recht überlege, rührte mein erster Eindruck des Altmodischen wohl hauptsächlich von den hohen, altmodischen Weingläsern her, die neben einigen Zitronen und langen Pfeifen auf dem Tisch standen.
Da es anscheinend ein öffentliches Wirtshaus war, mußte ich als abgehärteter Reporter nicht erst viel von meiner Unverschämtheit zusammenraffen, um an dem langen Tisch Platz zu nehmen und ein Glas Apfelwein zu bestellen. Der große Mann in Schwarz schien sehr gelehrt, insbesondere in bezug auf die lokalen Altertümer; der kleine Mann in Schwarz überraschte mich, obwohl er weit weniger sprach, durch sein noch größeres Wissen, so daß wir uns bald ganz gut miteinander unterhielten. Doch der dritte Mann, der alte Herr mit der engen Hose, schien ein wenig unnahbar und hochmütig, bis ich auf das Thema des Herzogs von Exmoor und seiner Ahnen zu sprechen kam.
Es kam mir so vor, als brächte dieses Thema die beiden anderen ein wenig in Verlegenheit, doch jedenfalls brach es in sehr erfolgreicher Weise bei eben diesem Dritten den Bann des Schweigens. Er sprach zurückhaltend und mit dem Gehaben eines ungemein wohlerzogenen Herrn, paffte von Zeit zu Zeit an seiner langen Pfeife und erzählte mir einige der entsetzlichsten Geschichten, die ich je in meinem Leben gehört habe: wie einer der Eyres in früheren Zeiten einmal seinen eigenen Vater erhängt und ein anderer seine Frau, an einen Wagen gebunden, durchs Dorf hatte schleifen lassen; wie ein anderer wieder eine Kirche angezündet hatte, die voller Kinder war, und so weiter.
Einige von diesen Geschichten sind wirklich nicht zur Veröffentlichung geeignet. So zum Beispiel die Geschichte von der scharlachroten Nonne oder die abscheuliche Geschichte von dem gefleckten Hund, oder das Geschehnis im Steinbruch. Und diese ganze rote Sündenliste kam in beinahe geziertem Ton von seinen schmalen, vornehmen Lippen, während er dasaß und den Wein in kleinen Schlückchen aus dem hohen, dünnen Glase schlürfte.
Ich sah wohl, daß der große Mann mir gegenüber sich bemühte, ihn womöglich zu unterbrechen. Doch augenscheinlich hatte er zu großen Respekt vor dem alten Herrn und wagte es nicht, plötzlich einzufallen. Auch der kleine Priester am anderen Ende des Tisches, obwohl er von ähnlichen Gefühlen der Angst oder Verlegenheit frei zu sein schien, blickte unverwandt auf den Tisch und hörte der Erzählung scheinbar mit großem Unbehagen zu – was ja begreiflich war.
›Sie scheinen‹, sagte ich zu dem Erzähler, ›dem Geschlecht der Exmoor nicht sehr wohlgesinnt zu sein?‹
Er sah mich einen Augenblick lang an, den Mund anfangs noch zu liebenswürdigem Lächeln verzogen, doch bald wurden seine Lippen bleich und schmal. Dann plötzlich zerschlug er seine Pfeife und sein Glas auf dem Tisch und erhob sich – das wahre Bild des vollendeten Edelmannes im aufflammenden Zorn eines Unholdes.
›Diese Herren‹, rief er, ›werden Ihnen sagen, ob ich Grund habe, dies Geschlecht zu lieben. Der Fluch der alten Eyres lag schwer über diesem Lande, und viele hatten darunter zu leiden. Sie wissen, daß keiner von ihnen so sehr darunter zu leiden hatte wie ich!‹ Und damit zertrat er einen herabgefallenen Splitter des zerbrochenen Weinglases mit dem Absatz, während er im grünen Zwielicht der flimmernden Apfelbäume davonschritt.
›Das ist ein merkwürdiger alter Herr‹, sagte ich zu den beiden anderen. ›Wissen Sie vielleicht, was die Familie der Exmoor ihm angetan hat? Wer ist er?‹
Der große Mann in Schwarz starrte mich mit der bestürzten Miene eines erschreckten Stieres an; er schien es anfangs gar nicht zu begreifen. Dann endlich sagte er: ›Wissen Sie nicht, wer er ist?‹
Ich versicherte, keine Ahnung zu haben, worauf abermals ein Schweigen eintrat. Dann sagte der kleine Priester, immer noch auf den Tisch starrend: ›Das ist der Herzog von Exmoor.‹
Hierauf, bevor ich mich noch sammeln konnte, fügte er ebenso ruhig, doch in einem Tonfall, als wolle er die Dinge nun in Ordnung bringen, hinzu: ›Mein Freund hier ist Dr. Mull, Bibliothekar des Herzogs. Mein Name ist Brown.‹
›Aber‹, stammelte ich, ›wenn das der Herzog ist, warum verdammt er die alten Herzöge so sehr?‹
›Er scheint wirklich der Meinung zu sein‹, antwortete der Priester namens Brown, ›daß sie ihm einen Fluch hinterlassen haben.‹ Dann fügte er anscheinend zusammenhanglos hinzu: ›Darum trägt er auch eine Perücke.‹
Es dauerte einige Augenblicke, bevor der Sinn dieser Worte in mir aufzudämmern begann. ›Sie meinen doch nicht jenes Märchen von dem Ohr?‹ fragte ich. ›Ich habe natürlich davon gehört, aber es kann doch nur eine abergläubische Geschichte sein, die aus einer viel einfacheren Tatsache entstanden ist. Ich habe manches Mal daran gedacht, ob es nicht irgendeine phantastische Version einer jener Verstümmlungsgeschichten ist. Man pflegte doch im sechzehnten Jahrhundert den Verbrechern oft ein Ohr abzuhauen.‹
›Ich glaube nicht, daß es das war‹, antwortete der kleine Mann nachdenklich, ›doch widerspricht es weder dem Naturgesetz noch der gewöhnlichen wissenschaftlichen Erfahrung, daß irgendeine Deformation in einer Familie häufig wiederkehrt – und zum Beispiel ein Ohr größer ist als das andere.‹
Der große Bibliothekar hatte seine große kahle Stirn in seine großen roten Hände gelegt wie einer, der sich bemüht, ernstlich seine Pflicht zu erwägen. ›Nein‹, stöhnte er endlich, ›Sie tun dem Mann eigentlich unrecht. Ich habe keine Ursache, ihn zu verteidigen, verstehen Sie mich wohl, und auch keine Verpflichtungen ihm gegenüber. Er war gegen mich, ebenso wie gegen alle anderen Leute, immer ein richtiger Tyrann. Glauben Sie nur ja nicht einfach darum, weil Sie ihn hier sitzen sahen, daß er nicht im übelsten Sinn des Wortes ein großer Herr sei. Er würde einen Menschen eine Meile weit herbeiholen, um an einer Glocke zu läuten, die eine Elle weit entfernt ist – wenn er damit einen anderen Mann aus einer drei Meilen weiten Entfernung herbeirufen könnte, um sich eine Zündholzschachtel bringen zu lassen, die drei Ellen weit liegt. Er braucht einen Diener, der seinen Spazierstock trägt; einen Kammerdiener, um sich sein Opernglas halten zu lassen . . .‹
›Aber keinen Bedienten, der seine Kleider bürstet‹, warf der Priester in seltsam trockenem Tone ein, ›denn sonst würde dieser Bediente auch die Perücke bürsten wollen.‹
Der Bibliothekar wendete sich dem Priester zu und schien meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Er war sehr erregt und wohl ein wenig vom Wein erhitzt. ›Ich weiß nicht, woher Sie es wissen, Pater Brown‹, sagte er, ›aber Sie haben recht. Er läßt die ganze Welt alles für sich tun – mit einer Ausnahme: ihm beim Ankleiden behilflich zu sein. Das muß in einer Einsamkeit geschehen, die einer Einöde gleichkommt. Jeder wird ohne Zeugnis aus dem Hause gejagt, der auch nur in der Nähe der Tür zu seinem Ankleidezimmer angetroffen wird.‹
›Scheint ein lustiger alter Kauz zu sein‹, bemerkte ich.
›Nein‹, erwiderte Dr. Mull ganz schlicht. ›Und das eben meinte ich, als ich sagte, Sie täten ihm unrecht. Meine Herren, der Herzog empfindet wirklich all diesen Groll über den alten Fluch, so wie er es eben zeigte. Mit aufrichtiger Scham und ungeheucheltem Schrecken verbirgt er unter dieser purpurfarbenen Perücke irgend etwas, dessen Anblick seiner Meinung nach jeden Sterblichen vernichten müßte. Ich weiß, daß es so ist. Und ich weiß auch, daß es keine gewöhnliche, natürliche Verunstaltung ist wie zum Beispiel die Verstümmelung eines Verbrechers oder die vererbte Mißgestaltung eines Körperteils. Ich weiß, daß es schlimmer ist als all dies, ich weiß es von dem Augenzeugen einer Szene, die kein Mensch erfunden haben konnte, wo ein stärkerer Mann als irgendeiner von uns versucht hatte, dem Geheimnis zu trotzen und davor zu Tode erschrocken ist.‹
Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Mull fuhr – meine Anwesenheit gänzlich vergessend – aus der Höhlung seiner Hände hervor zu sprechen fort. ›Ich sage es Ihnen unverhohlen, Pater Brown, weil es eigentlich mehr den Herzog verteidigen heißt als ihn verraten. Haben Sie je von jener Zeit gehört, da er beinahe alle seine Güter verlor?‹
Der Priester schüttelte den Kopf, und der Bibliothekar fuhr fort, seine Geschichte zu erzählen, wie er sie von seinem Amtsvorgänger gehört hatte, seinem Vorgesetzten und Lehrer, dem er vorbehaltlos zu vertrauen schien. Bis zu einem gewissen Punkt war es die gewöhnliche Geschichte des Vermögensverfalls einer großen Familie, die Geschichte des Advokaten einer großen Familie. Doch dieser Advokat war klug genug, wenn man so sagen darf, auf ehrliche Weise zu betrügen. Anstatt anvertrautes Gut anzutasten, machte er sich die Nachlässigkeit des Herzogs zunutze und versetzte die Familie in eine finanzielle Zwangslage; so daß es für den Herzog notwendig werden mochte, den Advokaten die Besitztümer tatsächlich übernehmen zu lassen.
Der Advokat hieß Isaak Green, doch der Herzog nannte ihn Eliesa, wahrscheinlich im Hinblick auf die Tatsache, daß er, obwohl sicherlich nicht älter als dreißig, vollständig kahl war. Er war sehr schnell aus sehr schmutzigen Verhältnissen emporgewachsen, Spion und Denunziant gewesen und dann Wucherer; aber als Rechtsfreund der Eyres war er klug genug, nach außen hin korrekt zu bleiben, bis er soweit war, den entscheidenden Schlag zu führen. Dies geschah eines Tages beim Abendessen; und der damalige Bibliothekar erzählte, er werde niemals das Bild vergessen, wie der kleine Advokat vor den Lampenschirmen und Weinkaraffen mit ruhigem Lächeln dem großen Gutsherrn vorschlug, den Besitz mit ihm zu teilen. Die Folge war jedenfalls nicht zu übersehen; denn der Herzog schlug, ohne ein Wort zu sagen, mit einem plötzlichen Ruck dem kleinen Advokaten eine Weinflasche an den kahlen Kopf, genau so, wie wir es ihn eben hier im Obstgarten haben tun sehen, als er das Glas auf dem Tisch zerschlug. Eine große, dreieckige Wunde blieb am Schädel des Advokaten zurück, seine Augen wurden trübe, doch nicht sein Lächeln.
Er erhob sich taumelnd und schlug zurück, wie solche Leute zurückzuschlagen pflegen. ›Ich bin froh, daß es so gekommen ist‹, sagte er, ›denn jetzt kann ich den ganzen Besitz nehmen. Ich werde ihn von Gesetzes wegen bekommen.‹
Exmoor soll aschfahl gewesen sein, nur seine Augen funkelten. ›Das Gesetz wird Ihnen den Besitz zusprechen‹, sagte er, ›aber Sie werden ihn nicht nehmen . . . Warum nicht? Nun, weil das für mich der Jüngste Tag wäre; und wenn Sie ihn nehmen, so nehme ich meine Perücke ab . . . Sehen Sie, Sie erbärmlicher, gerupfter Vogel, jeder kann Ihren kahlen Schädel sehen. Aber niemand wird je den meinen schauen und weiterleben!‹
Nun, Sie mögen sagen, was Sie wollen, und darüber denken, was Sie wollen. Mull beschwört feierlich die Tatsache, daß der Advokat, nachdem er eine Weile lang verzweifelt die geballten Fäuste in der Luft geschüttelt hatte, einfach aus dem Zimmer hinausrannte und nie mehr wieder in der ganzen Umgebung auftauchte. Und seither wurde Exmoor, der Zauberer und der Hexenmeister, mehr gefürchtet als vorher der Gutsherr und der Beamte.
Doktor Mull erzählte wohl die ganze Geschichte mit etwas übertrieben theatralischen Bewegungen und mit einer Leidenschaft, die ich zumindest für parteilich hielt. Ich war mir der Möglichkeit wohl bewußt, daß das Ganze die Übertreibung einer alten Aufschneiderei und eines überlieferten Geschwätzes sei. Doch ehe ich diese erste Hälfte meiner Entdeckungen beschließe, halte ich es für meine Pflicht, zu berichten, daß meine ersten beiden Nachforschungen diese Erzählung bestätigt haben. Ich erfuhr von einem alten Apotheker im Dorfe, daß einmal des Nachts ein kahlköpfiger Mann, der sich Green nannte, im Frack zu ihm gekommen war, um sich eine dreieckige Wunde auf der Stirne mit einem Pflaster schließen zu lassen. Und ich fand aus alten Zeitungen und Gerichtsdokumenten, daß ein gewisser Green einmal ein gerichtliches Verfahren gegen den Herzog von Exmoor angestrengt oder zumindest in die Wege geleitet hatte.«
Herr Nutt, Chefredakteur des »Daily Reformer«, schrieb einige im höchsten Grade unangemessene Worte an die Spitze des Manuskriptes und einige im höchsten Grade geheimnisvolle Zeichen an den Rand desselben, dann rief er mit derselben lauten, monotonen Stimme wie sonst zu Fräulein Barlow hinüber: »Bitte, nehmen Sie einen Brief an Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, Ihr Manuskript wird gehen, aber ich mußte einige Überschriften dazusetzen lassen; auch würde unser Publikum niemals einen römischen Priester in der Geschichte dulden – man darf die Vorstadt nicht aus dem Auge verlieren. Ich habe einen Spiritisten namens Brown aus ihm gemacht.
Ihr E. Nutt.‹«
Einen oder zwei Tage später befand sich derselbe rührige und kritische Redakteur mit immer runder und runder werdenden blauen Augen bei der Überprüfung der zweiten Teilsendung von Herrn Finns Schauergeschichte aus der höchsten Gesellschaft. Sie begann mit den Worten:
»Ich habe eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Allerdings ist es ganz etwas anderes, als was ich mir vorgestellt habe, aber es wird das Publikum noch weit mehr in Erstaunen setzen, als ich gedacht hatte. Ich wage ohne allzu große Eitelkeit zu behaupten, daß man die Worte, die ich hier schreibe, in ganz Europa und sicherlich in ganz Amerika und in allen Kolonien lesen wird. Und doch erfuhr ich alles, was ich zu erzählen habe, noch bevor ich jenen unscheinbaren hölzernen Tisch in jenem Apfelbaumgarten verließ.
Ich verdanke alles jenem kleinen Priester Brown. Das ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Der große Bibliothekar hatte den Tisch verlassen, vielleicht ein wenig beschämt wegen seiner Geschwätzigkeit, vielleicht auch beunruhigt ob des Zorns, in dem sein geheimnisvoller Herr verschwunden war. Jedenfalls folgte er schweren Schrittes den Spuren des Herzogs und entschwand zwischen den Bäumen. Pater Brown hatte eine der auf dem Tisch liegenden Zitronen zur Hand genommen und besah sie mit merkwürdigem Vergnügen.
›Was für eine wunderschöne Farbe so eine Zitrone hat!‹ sagte er. ›Der Herzog hat etwas an sich, was mir nicht gefällt: die Farbe seiner Perücke.‹
›Ich glaube, ich verstehe Sie nicht recht‹, antwortete ich.
›Er muß wohl seinen guten Grund haben, warum er seine Ohren bedecken will wie König Midas‹, fuhr der Priester in einem heiteren, schlichten Ton fort, der mich unter den gegebenen Umständen als ein wenig oberflächlich berührte. ›Ich kann mir gut vorstellen, daß es hübscher ist, seine Ohren mit Haaren zu bedecken als mit Messingplättchen oder Lederlappen. Aber wenn er Haare verwendet, warum will er dann nicht, daß es wie Haar aussieht? Es hat noch niemals auf der ganzen Welt Haare von dieser Farbe gegeben. Es sieht eher aus wie eine Abendwolke, die bei Sonnenuntergang durch die Bäume schimmert. Warum versteckt er den Familienfluch nicht geschickter, wenn er sich dessen wirklich so sehr schämt? Darum, weil er sich dessen nicht schämt. Er ist sogar stolz darauf.‹
›Es ist eine häßliche Perücke, auf die man nicht stolz zu sein brauchte – und eine häßliche Geschichte‹, sagte ich.
›Überlegen Sie einmal‹, sagte der merkwürdige kleine Mann, ›wie Sie selbst über derlei Dinge denken. Ich nehme an, Sie sind nicht mehr versnobt und nicht angekränkelter als wir anderen; aber haben Sie nicht irgendwie das Gefühl, daß es eigentlich eine ganz feine Sache ist, einen echten alten Familienfluch zu besitzen? Würden Sie sich dessen schämen, oder wären Sie nicht eher ein wenig stolz darauf, wenn der Erbe aller Schrecken der Glamis Sie seinen Freund hieße oder wenn Byrons Familie Ihnen allein die üblen Abenteuer ihres Geschlechtes anvertraut hätte? Seien Sie nicht zu streng mit den Aristokraten, wenn ihre Köpfe ebenso schwach sind, wie die unseren es sein würden, und sie bezüglich ihrer eigenen Sorgen und Kümmernisse Snobs sind.‹
›Bei Gott!‹ rief ich, ›das ist wirklich wahr. In der Familie meiner Mutter gab es einen Geist, und wenn ich es mir ehrlich überlege, so hat mich das in mancher trüben Stunde getröstet.‹
›Und denken Sie nur‹, fuhr er fort, ›was für ein Strom von Blut und Gift bereitwillig von seinen schmalen Lippen drang, sowie Sie nur seine Ahnen erwähnten! Warum sollte er jedem Fremden gleich jene Schreckenskammern zeigen, wenn er nicht stolz auf sie wäre? Er verbirgt weder seine Perücke noch sein Blut, noch den Familienfluch, noch die Verbrechen seiner Familie – aber . . .‹
Die Stimme des kleinen Mannes veränderte sich so plötzlich, seine Hände krampften sich so schnell zusammen, und seine Augen blitzten auf einmal so eulenhaft rund und leuchtend auf, daß das Ganze wie eine kleine Explosion am Tische wirkte.
›Aber‹, schloß er, ›er verbirgt wirklich das Geheimnis seiner Toilette.‹
Es paßte irgendwie zu dem Schauer, der meine erregten Nerven ergriffen hatte, daß der Herzog in diesem Augenblick wieder unter den flimmernden Bäumen auftauchte. Er kam mit leisen Schritten und seinem abendrotfarbenen Haar in Gesellschaft des Bibliothekars um die Ecke des Hauses. Ehe er in Hörweite gelangte, hatte Pater Brown noch vollkommen ruhig und erwägend hinzugefügt: ›Warum verbirgt er das wirkliche Geheimnis mit dieser purpurfarbenen Perücke? Weil es nicht solcherart ist, wie wir vermuten.‹
Der Herzog kam näher und nahm mit der ganzen ihm angeborenen Würde seinen Platz am Tische wieder ein. Der Bibliothekar tanzte vor lauter Verlegenheit wie ein großer Bär auf den Hinterbeinen. Der Herzog wendete sich mit tiefem Ernst an den Priester. ›Pater Brown‹, sagte er, ›wie mir Doktor Mull mitteilt, sind Sie hergekommen, um irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Ich will nicht vorgeben, daß ich die Religion meiner Väter hochhalte. Doch um ihretwillen und um der früheren Tage willen, da wir einander schon begegneten, bin ich gerne bereit, Sie anzuhören. Aber ich nehme an, es wird Ihnen lieber sein, wenn dies privat geschähe.‹
Alles, was ich noch von einem Gentleman in mir habe, hieß mich aufstehen und den Tisch verlassen. Doch alles, was ich von einem Journalisten in mir hatte, hieß mich bleiben. Noch ehe dieser Augenblick des Schwankens entschieden war, hatte der Priester eine Bewegung gemacht, die mich zurückhielt. ›Wenn Euer Gnaden meine eigentliche Bitte erfüllen wollten‹, sagte er, ›oder wenn ich das Recht hätte, einen Rat zu erteilen, so würde ich darauf dringen, daß so viele Leute wie nur irgend möglich anwesend sein sollten. Ich habe in dieser ganzen Gegend Hunderte von Leuten gefunden, sogar unter meiner eigenen Gemeinde, deren ganzes Denken vergiftet wird von diesem Bann, den zu brechen ich Sie beschwöre. Ich wollte, wir könnten ganz Devonshire hier haben, um zuzusehen, wenn Sie es tun.‹
›Wenn ich was tue?‹ fragte der Herzog mit emporgezogenen Augenbrauen.
›Wenn Sie die Perücke herunternehmen‹, sagte Pater Brown.
Das Gesicht des Herzogs blieb unverändert, aber der gläserne, stiere Blick, mit dem er den Bittsteller ansah, gab seinem Gesicht einen so entsetzlichen Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor an einem Menschen gesehen hatte. Ich sah, wie die langen Beine des Bibliothekars unter ihm zu schwanken anfingen gleich den Schatten von Zweigen über einem Teich; und ich konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß in der herrschenden Stille die Bäume ringsumher sich langsam mit Teufeln an Stelle von Vögeln füllten.
›Ich will Sie verschonen‹, sagte der Herzog schließlich mit dem Tonfalle übermenschlichen Mitleides. ›Ich weigere mich. Gäbe ich Ihnen den schwächsten Wink all jener Last des Entsetzens, die ich allein zu tragen habe, so lägen Sie jammernd zu meinen Füßen und schrien, daß Sie nicht mehr wissen wollten. Ich will Sie mit diesem Wink verschonen. Sie sollen den ersten Buchstaben dessen nicht entziffern, was auf dem Altar des unbekannten Gottes geschrieben steht!‹
›Ich kenne den unbekannten Gott‹, sagte der kleine Priester mit der unbewußten Gebärde einer unbedingten Sicherheit, die wie ein granitner Turm emporragt. ›Ich kenne seinen Namen, er heißt Satan. Der wahre Gott war aus Fleisch und Blut geschaffen und lebte in unserer Mitten. Und ich sage Ihnen, wo immer Sie Menschen finden, die bloß von einem Geheimnis beherrscht werden, so können Sie sicher sein, daß es das Geheimnis des Bösen und der Sünde ist. Wenn Ihnen der Teufel sagt, daß etwas zu schrecklich sei, um geschaut zu werden, so schauen Sie es an! Wenn er sagt, daß es zu schrecklich sei, um gehört zu werden, so hören Sie es an! Wenn Sie etwas für unerträglich halten, so ertragen Sie es! Ich beschwöre Euer Gnaden, diesem Nachtmahr jetzt ein Ende zu machen, gleich hier an dem Tische.‹
›Wenn ich es täte‹, sagte der Herzog mit leiser Stimme, ›so würden Sie und all Ihr Glaube und all das, wodurch allein Sie leben, als erstes zunichte. Es würde einen Augenblick lang das große Nichts über Sie kommen, bevor Sie stürben.‹
›Das Kreuz Christi stehe zwischen mir und irgendwelchem Übel‹, sagte Pater Brown. ›Nehmen Sie Ihre Perücke ab!‹
Ich beugte mich in unbeherrschbarer Erregung weit über den Tisch. Während ich diesem Wortgefecht lauschte, war ein halber Gedanke in mir erwacht. ›Euer Gnaden‹, rief ich, ›Sie bluffen. Nehmen Sie die Perücke ab, oder ich reiße sie herunter!‹
Ich glaube, man kann mich wegen Überfalls belangen, aber ich bin sehr froh, daß ich es getan habe. Als er mit derselben steinernen Stimme wiederholte: ›Ich weigere mich‹, da sprang ich einfach auf ihn los. Drei lange Sekunden lang wehrte er sich, als hülfe ihm die ganze Hölle, doch ich beugte seinen Kopf so weit zurück, bis die Haarmütze abfiel. Ich gebe zu, daß ich während des Ringens die Augen schloß, als die Perücke herunterfiel.
Ein Schrei des Doktor Mull, der in diesem Augenblick auch neben dem Herzog stand, erweckte mich. Doktor Mulls Kopf war zusammen mit dem meinen über den kahlen Schädel des Herzogs gebeugt. Dann wurde das Schweigen plötzlich durch den Ausruf des Bibliothekars unterbrochen: ›Was soll das bedeuten? Ja, der Mann hatte doch nichts zu verbergen. Seine Ohren sind genau so wie die aller anderen Menschen!‹
›Gewiß‹, sagte Pater Brown, ›das war es, was er zu verbergen hatte.‹
Der Priester ging geradewegs auf den Herzog zu, doch blickte er seltsamerweise gar nicht nach seinen Ohren. Er starrte mit beinahe komischem Ernst auf seine kahle Stirn. Dann deutete er auf eine dreieckige, längst verheilte, doch noch wahrnehmbare Narbe und sagte höflich: ›Herr Green, glaube ich, und er hat also doch den ganzen Besitz bekommen.‹
Und jetzt will ich den Lesern des ›Daily Reformer‹ sagen, was ich an der ganzen Geschichte für das Merkwürdigste halte. Diese Verwandlungsszene, die Ihnen so verworren und purpurfarben wie ein persisches Märchen vorkommen wird, war von allem Anfang an – bis auf meinen regelrechten Überfall – streng gesetzmäßig und rechtlich. Dieser Mann mit der wunderlichen Narbe und den gewöhnlichen Ohren ist kein Betrüger. Obwohl er in einem gewissen Sinn eines anderen Mannes Perücke trägt und vorgibt, eines anderen Mannes Ohr zu besitzen, so hat er doch nicht eines anderen Mannes Adelstitel gestohlen. Er ist tatsächlich der einzige Herzog von Exmoor, den es gibt. Es ist folgendes geschehen: Der alte Herzog hatte wirklich ein leicht verunstaltetes Ohr, was wirklich mehr oder weniger in der Familie erblich war. Er war in dieser Beziehung etwas angekränkelt, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er diese körperliche Mißbildung als eine Art Fluch anrief in jener heftigen, zweifellos vorgefallenen Szene, in der er Green die Flasche an den Kopf warf. Doch der Streit endete ganz anders. Green bestand auf seiner Forderung und bekam den Besitz; der enteignete Edelmann erschoß sich und starb ohne Nachkommen. Nach einem angemessenen Zeitablauf ließ unsere schöne englische Regierung den ›erloschenen‹ Adelstitel der Exmoor wieder erneuern und verlieh ihn, wie gewöhnlich, dem bedeutendsten Mann, dem Mann, dem die Besitztümer der alten Exmoors gehörten.
Dieser Mann machte sich die alte Familienlegende zunutze – wahrscheinlich beneidete und bewunderte er in seinem versnobten Herzen die Leute wirklich darum. Und so zittern Tausende von armen englischen Leuten vor einem geheimnisvollen Oberhaupt mit einem Ahnenschicksal und einem Diadem von Sündensternen – während sie in Wirklichkeit vor einem Schurken aus der Gosse zittern, der erst Winkeladvokat und vor noch kaum zwölf Jahren ein Pfandleiher war. Dieser Fall erscheint mir ungemein bezeichnend für den wirklichen Stand unserer Aristokratie, wie sie heute ist und wie sie immer sein wird bis zu dem Tage, da Gott uns tapferere Männer schickt.«
Herr Nutt legte das Manuskript beiseite und rief mit ungewöhnlicher Strenge: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen Sie einen Brief an Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, Sie müssen verrückt sein; auf so etwas können wir uns nicht einlassen. Ich wollte Vampire und die schlechte alte Zeit und die Aristokratie Hand in Hand mit dem Aberglauben. Das hat man gern. Aber es muß Ihnen doch klar sein, daß die Exmoors uns das nie verzeihen würden. Und was würden unsere Leute dann sagen, möcht ich nur wissen? Ja, Sir Simon ist einer der besten Freunde der Exmoors; und es wäre der Ruin jenes Vetters der Eyres, der für uns in Bradford arbeitet. Außerdem war der alte Seifensieder unglücklich genug, daß er im vergangenen Jahr keinen Adelstitel bekommen konnte; er würde mich telegrafisch hinauswerfen lassen, wenn ich es ihm mit solchen Verrücktheiten für diesmal verdürbe. Und was wäre mit Duffey? Der schreibt einige klingende Artikel für uns über »Die Fußstapfen der Normannen«. Und wie kann er über die Normannen schreiben, wenn der Mann ein Advokat ist? So seien Sie doch bitte vernünftig!
Ihr E. Nutt.‹«
Während Fräulein Barlow den Brief lustig herunterratterte, knüllte Nutt das Manuskript zusammen und warf es in den Papierkorb, doch erst, nachdem er ganz mechanisch und nur infolge der Macht der Gewohnheit das Wort »Gott« in »die Umstände« korrigiert hatte.