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»Paris ist also sehr hübsch; es gefällt dir?«
Der kleine Tonkinese machte mit dem Kopfe ein Zeichen der Bejahung und lächelte sanft, wobei er in seinem gelben Gesichte die blendend weißen Zähne zeigte, die nicht vom Betel angegriffen waren; und als er abermals wiederholte: »Ja, Paris ist hübsch,« glaubte ich feenhafte Visionen in seinen braunen, tiefen Augen sich spiegeln zu sehen, wie Wandelbilder in einem dunkeln Zimmer.
Bis jetzt hatte er erst wenig von Paris gesehen: Häuser, Straßen, Haufen von Steinen von der Droschke aus, Kirchen, die vergoldete Kuppel des Invalidendomes, die sich dicht neben dem auf der Esplanade für den Sommer errichteten tonkinesischen Dorfe emporhob; und um diesen kleinen Fleck Erde, auf dem die Bambushütten ihn an die Häuser seiner Heimat erinnerten, die unaufhörliche Menge, das Auf- und Abwogen der Pariser, der Besucher, der Neugierigen, der Fremden, die Menschenflut, die sich dort brach mit dem Brausen ihrer Wogen, den Schaumspitzen ihre Witze, ihrer ewigen Bewegung, ihren Fragen und einfältigen Ausrufen ...
Wie verschieden aber war das, was er von Paris gesehen hatte, von dem, was er weit von hier in Hanoi am Ufer des Sees vor Augen gehabt hatte, worin sich die Kokospalme abspiegelte! Diese große Stadt des Frankenlandes eröffnete diesem kleinen asiatischen Gehirn einen so hellen Blick auf eine so mächtige, seltsame Zivilisation, daß das, was er davon wie durch Zufall gesehen hatte, ihm riesenhaft, bewunderungswürdig, erdrückend vorkam.
Zum erstenmal hatte ich ihn gesehen, als ich in einem der kleinen Läden des tonkinesischen Dorfes um eine mit Perlmutter eingelegte Schale handelte. Hinter dem Ladentische saßen er und ein armseliger Teufel mit trüben Augen, mager, traurig, die Zähne schwarz von Betel, der kein Wort Französisch verstand und trübselig auf die Menge blickte.
Als ich die Schale bezahlen wollte, bemerkte ich in einer Ecke einen Napf aus Porzellan, der mir so seltsam vorkam, daß ich ihn in die Hand nahm und besah. Auf diesem Napf, der aus einer ziemlich feinen, bläulichen Masse gemacht war und um den Rand ein Kupfernetz hatte, war eine Figur in lebhaftem Blau gemalt, die, auf einem Felsen ausgestreckt, im Schatten eines unbekannten Baumes mit gewundenen Aesten eine lange Angelschnur ins Wasser warf, an deren Ende ein Fisch hing. Die Gestalt dieses Anglers mit dem geschorenen Haupte und seinem blauen Rocke zeigte trotz seiner kleinen Verhältnisse einen äußerst lebhaften Ausdruck, während der stachelige Baum, der wie ein Stück Koralle gewunden war, einen phantastischen Anblick darbot. Daneben erklärten für uns unentzifferbare Buchstaben, die wie Blumenbeete aussahen und wie Kornblumen auf das Porzellan geworfen waren, das sonderbare Bild.
»Das ist têt,« sagte das Kind zu mir, »und bedeutet eine Geschichte.«
Ich betrachtete den kleinen Tonkinesen, der mir Lust zum Plaudern zu haben schien; mit sanftem, seltsamem Tone, bei dem der Buchstabe R nur schwer herauszuhören war, da er in seiner Sprache nicht vorkommt, sagte er: »Ja, mein Herr, das ist eine Sage.«
Und fast stolz fügte er hinzu: »Eine Sage aus meiner Heimat.«
Dieses Bürschlein mit den flachen Augen unter einer gewölbten Stirn, das jenen chinesischen oder japanischen Figuren ähnelte, die man in den Läden mit japanischen Sachen kauft, kam mir so gelehrt wie ein Rabbi vor, als er fortfuhr: »Dieser Fischer ist Len Mong. Schon im Alter von sechs Jahren angelte er im Flusse Qui-Son, und beim Angeln dachte er nach und hat so die höchste Weisheit erlangt.«
Ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren, als ich die Worte »höchste Weisheit« aus dem Munde dieses jungen Menschen kommen hörte.
Er fuhr fort: »Als Len Mong achtundneunzig Jahre alt geworden war, fragte ihn der Kaiser, ob er nicht, anstatt immer im Flusse Qui-Son zu angeln, ihm helfen wolle, die Menschen zu regieren.«
»Das ist schwieriger als Fische fangen,« sagte ich.
Doch das Kind ließ sich nicht aufhalten: »Der Fischer Len Mong wurde sehr mächtig, und hundertachtundzwanzig Jahre alt ertrank er mit dem dritten Kaiser von China.«
»Ertrank er zufällig?«
»Zufällig.«
»Und hatte er die Menschen gut regiert?«
Das Kind lächelte.
»Das weiß ich nicht, mein Herr. Ich erzähle Ihnen nur, was man mich gelehrt hat.«
Darauf blieb er stumm wie ein Führer, der seine Erklärung beendigt hat.
»Wieviel kostet dieser Napf?« fragte ich.
»Zwei Franken; aber das geht mich nichts an.«
Und als ich das Geld hinhielt, um die Geschichte Len Mongs auf dem Porzellan zu bezahlen, sagte mir Linh – dieses war sein Name – mit stolzem Tone, indem er das Geld zurückwies und auf den Kaufmann mit den schwarzen Zähnen wies, der neben ihm zusammengekauert saß: »Er ist der Verkäufer, ich bin der Dolmetsch!«
In diesen letzten Worten, bei denen er den Kopf ein wenig emporrichtete, lag der Ausdruck des Stolzes, die Feststellung einer in jenen nach Rangstufen abgeteilten Ländern gern beanspruchten Ueberlegenheit. »Ich bin Dolmetsch!« Das antike civis romanus sum konnte einem Fremden nicht in edlerer Weise entgegengehalten werden.
Dolmetsch mit vierzehn Jahren! Ein von Frankreich bezahlter Beamter! Bezahlt, um seinen Landsleuten die alltäglichen Fragen der Besucher zu übersetzen und den Parisern die Antworten seiner Landsleute zu übermitteln! Dolmetsch war er, d. h. er war mit einer Machtbefugnis, einem Amt bekleidet und bildete das einzige Band, das diese armen Teufel von Arbeitern vom andern Ende der Welt mit den Neugierigen verband, die herbeieilten, um ganz aus der Nähe diese Leute in schwarzen Gewändern und mit ihren unter dem Turban zusammengerollten Haaren zu sehen.
Weit her kam der kleine Linh, um dieses große, schöne Paris mit seinen Häusern zu sehen, die ebenso hoch wie die neue Kathedrale von Hanoi waren. Er war übers Meer gefahren, hatte viele Tage und Nächte in einem Schiffe geschlafen; man hatte ihn fast wie einen Soldaten angeworben, da man ihm achtzig Franken Gehalt den Monat versprach, die er bei seiner Rückkehr auf einmal ausgezahlt bekommen sollte. Eines Abends hatte seine Mutter, der die Thränen über ihre kupferfarbigen Wangen rollten, zum letztenmal die schwarzen, glänzenden Haare des Kleinen ausgerollt, die lang und spröde wie die einer Frau waren; langsam hatte sie sie mit ihren dünnen Fingern wie mit einem Kamme gekämmt und hatte ihn unzähligemale geküßt, während der Vater, ein Seidenhändler in Hanoi, umgeben von seinen zwei Töchtern, die kein Wort darüber äußerten, daß Linh so weit fortginge, mit fester Stimme erklärte: »Es ist sehr nützlich, daß unsre Kinder reisen; Linh wird klug werden; er wird aus nächster Nähe sehen, daß die Franzosen ein stärkeres Geschlecht als wir sind, und daß sie stärkere Arme als die Chinesen haben; wenn er zurückkommt, wird er irgend ein Amt beim Generalresidenten bekleiden können!«
Jener Abend in dem Häuschen zu Hanoi war dem kleinen Linh sein ganzes Leben lang unvergeßlich. Die Nacht darauf konnte er nicht schlafen und bis zum Morgen hin glaubte er jemand weinen zu hören, wie die Bambusrohre, die leise klagen, wenn der Wind in der Ebene über sie hinstreicht. Vielleicht war es die Mutter, die so klagte, oder die Schwestern. Alle drei, Tung, Thuan und Phuang hatten am folgenden Morgen ganz rote Augen, als Linh nach dem Schiffe ging, das nach Frankreich abfuhr, und als die Mutter ihn wie ihren Schatz in die Arme schloß, da liebkosten seine kleinen Schwestern ihn wie eine Puppe, die man ihnen wegnehmen wollte.
Die Reise bis Toulon hatte sehr lange gedauert. Der Sturm, das Schlingern des Schiffes, der Aufenthalt in Aden, in Port-Saïd und in Algier waren ihm wohl erinnerlich; dort hatte er den Sohn des Königs von Hué in seinem Gefängnis gesehen und bemerkt, wie er beim Anblick aller der gelben Gesichter weinte; – bis zum Tode war er eingekerkert, was Linh übrigens ganz einfach und richtig fand, da dieser Fürst doch ein besiegter war. Besonders lebhaft waren ihm die Zwischenfälle auf dieser Reise in Erinnerung, der Tod eines tonkinesischen Arbeiters, der auf offenem Meere vom Fieber dahingerafft wurde. Das Kind hatte in großer Aufregung das Leichentuch betrachtet, worein die Franzosen den Körper des Gestorbenen wickelten, den er im Leben so oft in Hanoi gesehen, und der dicht neben seinem elterlichen Hause Laternenmaler gewesen war. Nachdem die Bonzen ihre Gebete gesprochen hatten, war der Leichnam am Schiffe hinab wie ein Paket ins Meer hinuntergelassen worden, das sich öffnete und bald wieder mit einem leisen Gluck-gluck schloß, das Linh noch in den Ohren tönte. Niemals sollte der Laternenmaler Hanoi, niemals Tonkin Wiedersehen!
Linh war weder furchtsam noch zur Traurigkeit angelegt. Vor der Thüre seines väterlichen Hauses hatte er der Enthauptung von Piraten beigewohnt, deren verzerrte, drohende Köpfe man später ausstellte. Als er noch ganz klein war, hatte er einem Oberst von den Chasseurs d'Afrique als Führer und Dolmetsch gedient, der ihn auf seinem Sattel mitten durch die Reisfelder hindurch genommen hatte. Die chinesischen Kugeln hatten ihm um den runden, heiter blickenden Kopf gepfiffen, doch in seiner Erinnerung hatte er nur den Eindruck eines angenehmen Bienengesummes davon bewahrt. Und wie flink nicht die blauen Reiter des Obersten bei der Verfolgung der Chinesen waren! Diese Jagd auf die Schwarzflaggen war wie ein Ausflug zu Pferde gewesen. Zum erstenmal erschien ihm aber jetzt der Tod unheimlich an diesem starren Körper in dem weißen Segel, diesem unbeweglichen Leichnam des Nachbarn aus Hanoi, der noch vor wenigen Tagen rote Teufel und grüne Drachen auf die Laternen gemalt hatte und der jetzt verloren und vergessen auf dem Grunde des Meeres lag.
Uebrigens hatte Linh das alles, Port-Saïd sowie den gefangenen König und Tonkin, in Paris fast vergessen, dessen Lärm ihn zuerst mehr als das Geräusch des Meeres betäubt hatte, das ihn aber nach und nach anzog, reizte und ihm ein Riesenspielzeug, ein steinernes Paradies zu sein schien.
Ganz oben von der Pagode Angkor auf der Esplanade hatte er wie von einer Schiffsrahe dieses ungeheure Paris mit allen seinen Kirchtürmen und blitzenden, vergoldeten Kreuzen betrachtet; wie ein andres Meer war es ihm vorgekommen, das ihm nicht den Gedanken an den Tod erweckte, sondern im Gegenteil an das pulsierende Leben, das so verschieden von dem in seiner Heimat war!
Seit Eröffnung der Ausstellung schrieb Linh alle vierzehn Tage einen langen Brief an seine Eltern nach »Hanoi am Rande des Sees neben der Kokospalme«. Nachts schrieb er ihn, wenn es stille auf der Esplanade wurde, nachdem der Trompeter der Spahis die Retraite geblasen hatte, in der Hütte, wo die Bonzen mit gekreuzten Beinen Gebete aufschrieben. Er erzählte seinem Vater, seiner Mutter, den Schwestern alles, was er Schönes in Paris sah, von den Menschenmassen, die sich wie Büschel in den Reisfeldern drängten, von jenen unzähligen Soldaten mit ihren Kanonen bei der Parade zur Feier des Nationalfestes, von jenen Springbrunnen, die nachts ihre Farbe wechselten und Gold, Silber oder Rubinen emporwarfen; von jenem Turm, von dem man so viel in Hanoi gesprochen hatte, und der an Höhe alles Dagewesene überträfe. Jeder dieser Briefe endete indessen mit einem Ausdruck des Bedauerns: »Wenn ich all dies denen erzählen werde, die in Tonkin zurückgeblieben sind, so werden sie es mir gewiß nicht glauben!«
Aber es fehlte in der Reihe der Wunder, die Paris vor dem kleinen Tonkinesen zur Schau stellte, noch etwas zur Befriedigung seiner habsüchtigen Neugierde. Wohl waren die hohen Häuser, die alten Kirchen mit den gemalten Fenstern, die vollen Straßen sehr schön, aber der geheime Instinkt dieses asiatischen Sohnes zog ihn, wie alle seine Landsleute, zum Studium der Naturschauspiele hin. Er verglich die Pflanzen und Blumen Frankreichs mit den schönen Blumen seiner Heimat. Unsre Früchte fand er klein im Vergleich mit den frischen, großen seines Tonkin. Die Blumen! Die Seele der noch in der Kindheit befindlichen Völker hat die Tiefe einer Dichterseele, und wenn der kleine Linh nachts auf den Matten seiner Hütte einschlief, so ließ er sich von einem fernen Murmeln einlullen, das nicht dem Rollen der Trambahnen und Droschken glich, sondern dem verworrenen, langsamen, traurigen Liede des Bambus, den der Wind seiner Heimat durchrauschte.
Ganz besonders wünschte er sich, jenes seltsame, unbekannte, feenhafte Ding mit eignen Augen zu sehen und mit seinen kleinen Händen zu berühren, von dem man ihm so viel erzählt hatte, und das niemand in Tonkin, weder sein Vater, noch sein Großvater, hatte sehen können: den Schnee, Tuyet, den weißen Schnee, der – und er wußte das, wie er die Legenden der alten Dynastieen kannte – die Felder, die Bäume, die Häuser, die Wohnungen in Marmor verwandelte. Vom Schnee hatte er oft in dem kleinen Hause zu Hanoi geträumt, und wenn er die Stiche in den französischen Büchern, die farbigen Bilder in den chinesischen oder japanischen Albums betrachtete, so waren seine kindlichen Augen oft und viel in Gedanken auf dieser blendenden Weiße haften geblieben, die die Wege und die Berge bedeckte! ...
Tuyet!
In den Gebirgen Chinas gab es Schnee, ebenso auf dem Gipfel des Fushiama, dem heiligen Berge Yokohamas. Aber im Lande Hanoi hatte er niemals solchen gesehen, sollte ihn nie sehen. In dem verfeinerten Gehirn des asiatischen Sohnes, das indessen noch sehr natürlich und kindlich geblieben, war es eine Art von eigensinnigem Wunsch geworden; nicht sowohl um das Land der Franzosen, als ganz besonders um das zu sehen, was noch keiner der Seinigen gesehen hatte: den Schnee, war der kleine Linh freudig mit den Matrosen und Soldaten in das Schiff gestiegen, das ihn nach Europa, nach Toulon, nach Paris brachten ...
Als ganz kleines Kind schon hatte er von dem Anblick des weißen Schnees geträumt: eine Stadt schien in Salz verwandelt, ein großer, weißer Teppich war über die Dinge ausgebreitet; weiße Flocken fielen vom Himmel hernieder wie Federn unsichtbarer weißer, heiliger Vögel. Tuyet! Tuyet! Den Schnee fallen zu sehen, war der beständige Traum Linhs mitten in allem Feenzauber, der die Nationen, die Menschen von überall herbeilockte.
Fragte man ihn, ob er sich in Paris amüsiere, so antwortete er mit seiner sanften Kehllautstimme lächelnd: »Ja, mein Herr; ja, Madame.« Und fügte man hinzu: »Was möchtest du wohl gern sehen?« so leuchtete ein schneller Blitz in seinen schwarzen Augen auf, seine offenen und lachenden Lippen falteten sich, als drückten sie eine unmöglich zu befriedigende Neugierde aus, und furchtsam antwortete er, gleichsam einen Wunsch entschuldigend, den man ihm nicht gewähren könnte: »Tuyet!«
Schnee sehen!
Oft sogar wurde er wirklich traurig bei dem Gedanken, abreisen zu müssen, ohne den weißen Feenzauber gesehen zu haben. Daran, daß es in diesem Frankreich niemals Schnee im Sommer gäbe, hatte er nicht gedacht, obwohl er es wußte. Aber man hatte ihm auch gesagt, daß auf gewissen Punkten Europas der Schnee ewig liegen bliebe und niemals schmelze. Vielleicht lag in der Nähe von Paris irgend ein Berg, einer jener bevorzugten Flecken Erde, wo Linh würde Schnee sehen können?
Doch nein, der Sommer würde vergehen; die Blätter der Esplanade würden gelb werden, abfallen, umherwirbeln, wenn sie die Farbe des Kupfers angenommen hätten, und dann würde Linh auf dem Schiff nach Hanoi, nach Tonkin zurückkehren, wo man den weißen Schnee nicht kennt ...
Tuyet! Tuyet! Tuyet!
Er sollte sein Tuyet nicht sehen!
In diesem vierzehnjährigen Kinde, das von dieser fixen Idee besessen war, lag etwas von der Leidenschaft eines verbannten Verliebten, ebenso wie von der Hartnäckigkeit eines Welten- oder Reimsuchers; – Reisende oder Dichter durchmessen ja die Unendlichkeit! ...
»Mein Herr,« sagte er eines Tages mit seinem feinen, etwas schalkhaften Lächeln zu mir, »denken Sie, ich glaube, ich werde ihn sehen ...«
»Wen?«
»Den Schnee! ... Ja ... Tuyet! Ich habe meine Eltern gebeten, mich noch in Paris zu lassen. Entweder werde ich in die Kolonialschule eintreten, wo schon Schüler aus Kambodscha sind, oder ich bleibe als Dolmetsch in dem Comptoir eines Warenkommissionärs, der ein Geschäft in Hanoi hat und den Generalresidenten sehr gut kennt. Er will mit dem Minister, dem Herrn Unterstaatssekretär, sprechen, und wenn meine Eltern einwilligen (und dieses Mal zeigte er sein verliebtes Lächeln), und sie werden einwilligen, dann werde ich ihn sehen ... ich werde den Schnee sehen!«
Die Ausstellung ging dem Schluß entgegen. Die Sommermonate mit ihren Feenzaubern waren schnell vorübergegangen. Die Javaner hüllten sich in ihre Mäntel und Shawls und gingen nicht mehr barfüßig umher. Die kleinen Tänzerinnen von Kampong, dicht in ihre Tücher verhüllt, sahen aus wie Nattern, die in wollene Decken gesteckt sind. Der äußerste Orient auf der Esplanade wurde traurig und fröstelnd, ein eisiger Orient.
Während der Novemberstürme, welche die Vorhänge der jetzt geöffneten Pagode zerzausten, diente der kleine Linh den Bonzen als Dolmetsch, die in ihren mit roter Seide oder mit gelben, himmelblau gestreiften Bändern besetzten Priesterröcken Buddha Geschenke darbrachten, während andre Priester, in Schwarz gekleidet, an Metallplatten und Cymbeln schlugen. Linh ging während des Gottesdienstes umher und erklärte den Besuchern den buddhistischen Ritus, die wild aussehenden Bilder, die Ansichten der Hölle, die zwischen den Säulen aus geschnitztem Holze aufgehängt waren.
Ueber seinem schwarzen Rock trug er jetzt eine Art von sehr warmem, grün wattiertem Seidenmantel; und da es bisweilen regnete, so stützte er sich fast immer auf einen gut zusammengerollten Regenschirm, der fast ebenso groß war wie er, und auf den er stolz zu sein schien; dieser Pariser Schirm war weit schöner als diejenigen, die man in Hanoi so teuer verkaufte, und wie würde er sich damit in seiner Heimat in der Straße Jean-Dupuis oder du Cuivre schmücken!
Aber nein! Noch wollte er nicht nach Tonkin zurück, sondern in Paris bleiben. Sprach er davon, so funkelten seine schwarzen, lebhaften Augen vor Vergnügen. Der Gedanke an eine mögliche, baldige Abreise regte ihn fieberhaft auf. Noch hatten seine Eltern nicht geantwortet, und falls die Antwort nicht eintraf, ehe die letzten seiner Landsleute die Heimreise antraten, so mußte er sich mit den Bonzen einschiffen.
Schon trafen diese ihre Anstalten zur Abreise. Linh wurde angst bei dem Gedanken, daß auch er vielleicht mitgehen müßte. Paris verlassen, nach Hanoi zurückkehren, wo doch die Mutter seiner wartete, die so glücklich sein würde, ihren Linh wiederzusehen und wieder seine langen, schwarzen Haare zu kämmen, zu den Bambushäusern zurückkommen und zu dem Ufer des Sees, bedeutete jetzt für den kleinen Tonkinesen ebensoviel wie Verbannung! Man hatte kaum vor ihm eine Thür aus eine unbekannte, lebensvolle junge Welt weit geöffnet: auf Europa, auf Frankreich; und jetzt wollte man sie ihm plötzlich wieder vor der Nase zuschlagen. Linh glaubte dafür geschaffen zu sein, unter jenen Franzosen zu leben, deren Fahne ihm wie die seinige erschienen war, als er bei strömendem Regen auf dem Longchamps die annamitischen Tirailleurs und die Spahis vorüberziehen sah.
Außerdem ließ diese Reise, diese Vision von Europa, dieser Traum im Geiste und im Herzen des Kindes eine Lücke, eine Leere, etwas Unvollständiges übrig: es hatte den weißen Schnee noch nicht gesehen! Es sollte in seine Heimat zurückkehren, ohne erfahren zu haben, was jene makellose Decke, jener Schmuck aus Marmor, der Schnee bedeutet und welchen poetischen Zauber er den Dingen und Menschen verleiht.
»Ach!« sagte er zu mir mit einem Blick auf die Buddhas der Pagode, »ich will nicht abreisen, nein, ich muß ihn sehen!«
Und mit trauriger Stimme wiederholte er im Tone des Gebetes dasselbe Wort: »Tuyet!«
Drei Tage später erst erfuhr ich, was der kleine Linh mit seinem »ich will nicht abreisen« sagen wollte. In seinem Kopfe war schon der Plan zur Flucht gereift, und als eines Morgens ganz frühe alle Tonkinesen, Arbeiter, Bonzen oder Dolmetsche verlesen wurden, die mit dem Zuge abreisen sollten, antwortete Linh nicht. Er war nicht da, er war geflohen. Schon vor Tagesanbruch war er aufgestanden, hatte sich in irgend einem verlassenen Kiosk versteckt, wo einst Thee oder Granaten verkauft wurden, hatte die Oeffnung der Thore abgewartet und war auf gut Glück nach Paris hineingelaufen.
Wohl schlug sein Herz ein wenig stärker und er empfand ein Gefühl von Furcht, als er sich ganz allein in den Straßen unter allen diesen unbekannten Leuten befand, von denen ihm einige spöttisch nachriefen: »Chinn! Chinn!« – Chinese! wie unsre Soldaten aus Tonkin sagten. Wohl fragte er sich, was aus ihm in diesem Paris werden solle, in dessen Straßen er auf gut Glück umherirrte, schon ein wenig müde und voll Angst, es möchte ihn einer der Polizisten anreden, die langsam auf den Trottoirs entlang gingen. Plötzlich kam er auf den Gedanken, bei dem Warenkommissionär Unterkunft zu suchen, der ihn ja als Kommis in sein Haus nehmen wollte.
Das war das Richtige. Da Herr Lecrosnier ihn haben wollte, so würde er ihn auch verbergen, ihm eine Unterkunft, eine Beschäftigung geben, ihn retten. So könnte er in Paris bleiben und seinen Wunsch und Traum erfüllt sehen.
Er rief einen Kutscher an.
»Rue Petites-Ecuries Nr. 10.«
Herr Lecrosnier war höchlichst erstaunt und auch ein wenig ärgerlich darüber, in seinem Geschäft das Kind zu erblicken, das ihm mit lächelnder Freimütigkeit, obwohl etwas blaß trotz seiner gelben Haut, sein Abenteuer erzählte. Er hatte die andern abreisen lassen. Das Schiff wartete ihrer in Toulon, ein andres gäbe es nach Hanoi nicht, und allein würde man ihn, den kleinen Linh, doch nicht reisen lassen.
»Nein; aber der Generalkommissär,« meinte der Kaufmann, »wird unzufrieden sein, und ich muß dich zu ihm zurückbringen!«
Ihn auf die Esplanade zurückbringen! Daran hatte Linh nicht gedacht und der Schrecken überkam ihn. Es fielen ihm plötzlich jene Chinesen oder Annamiten ein, die desertiert waren und zwischen Chasseurs d'Afrique oder Gendarmen mit gezogenem Säbel zurücktransportiert wurden. Würde man ihn auch so zum Herrn Generalkommissär zurückbringen?
»Sei ohne Furcht,« sagte Herr Lecrosnier jetzt, der nach einiger Ueberlegung froh war, den kleinen Linh für seine Korrespondenz mit Indo-China bei sich behalten zu können, ich werde für dich sprechen.«
Jedoch Linh war noch nicht beruhigt. Zurückbringen, sprechen für ihn! Er sollte also angeklagt werden, und da man ihn verteidigen wollte, so sollte er also wie ein Schuldiger vor Gericht gestellt werden? ... Alle diese Worte nahmen plötzlich einen furchtbaren Sinn für ihn an. Obgleich Herr Lecrosnier zu lächeln versuchte, so lachte Linh selbst jedoch nicht, sondern bedauerte fast, in Paris geblieben und nicht mit den andern gegangen zu sein. Warum war er auch von der thörichten Sehnsucht besessen, den Schnee zu sehen? Nur weil er so schön sein mußte!
Als er nach der Esplanade zurückkam, runzelte der Generalkommissär der Form wegen die Stirn und sprach von Gefängnis, das mit Krankenhaus gleichbedeutend war. Obwohl das Kind, das man dorthin brachte, durchaus nicht hart behandelt wurde, so erlitt sein moralisches Wesen doch einen tiefen Druck, eine Demütigung, die es nicht überwinden konnte. Hatte es nicht für immer seine armen Eltern entehrt, die untröstlich sein würden, wenn sie hörten, daß ihr Sohn Linh, der Sohn des Tang, in einem Gefängnis eingesperrt wäre?
An den Kommissär, ja an den Präsidenten der Republik wollte er schreiben, dem er am Tage des Drachenfestes eine Begrüßung auf têt übersetzt hatte; an jedermann wollte er schreiben und um seine Begnadigung bitten; nicht für sich selbst, er hatte seine Strafe verdient, sondern für die armen Seinigen in Hanoi, die so sehr weinen würden, wenn sie es erführen! ...
Nach Verlauf von drei Tagen wurde Linh vor den Generalkommissär beschieden.
»Bedanke dich bei Herrn Lecrosnier,« sagte man zu ihm, »er ist für dich eingetreten. Außerdem ist ein Brief aus Hanoi angekommen: deine Eltern erlauben dir, in Paris zu bleiben, und Herr Lecrosnier nimmt dich in sein Haus.«
Ah, das war mehr als Befreiung für Linh, das war reine Freude; er sollte in Paris bleiben, ein neues Leben führen, und ganz im Grunde seines kleinen Kindergehirns empfand er jetzt die Gewißheit, seine Idee würde sich verwirklichen, sein Traum sich erfüllen, wie der Wunsch nach einem sehnlichst verlangten und endlich gewährten Spielzeug sich erfüllt! ...
Er blieb und trat bei dem Warenkommissionär ein. Am Ende der ersten Woche hätte man kaum den Tonkinesen von der Esplanade in diesem seltsamen Pariser Kommis mit der gelben Gesichtsfarbe erkannt, der im Büreau des Herrn Lecrosnier über die großen, grün eingebundenen Bücher mit den roten Etiketten gebeugt saß. Man hatte ihm sein asiatisches Kostüm, seinen langen, mit grüner Seide gefütterten Rock, seinen schwarzen Turban und seine weißen Hosen ablegen lassen und ihn nach europäischer Sitte gekleidet.
Für Paris, wo er hatte bleiben wollen, waren die Kleider aus Hanoi zu leicht, und wegen der hereinbrechenden Kälte mußte das Kind wärmer angezogen sein. Indessen vermißte er jene Art Uniform, die man ihm ausgezogen hatte. Zuerst stolz darauf, wie ein Europäer, ein Franzose gekleidet zu sein, fühlte er sich jetzt unbehaglich in dem Ueberrock, der ihm kaum bis zu den Knieen reichte, und mit dem instinktiven künstlerischen Gefühl, das jene fein angelegten Rassen besitzen, kam er sich unter seinem runden Filzhut etwas lächerlich vor.
Besonders vermißte er seine langen Haare, die er jetzt über dem Nacken zusammenrollte und welche die Mutter so schön fand, daß sie sie am Tage von Linhs Abreise mit schmerzerfülltem Munde immer wieder geküßt hatte. In der Geschichte der alten Herrschergeschlechter Frankreichs hatte er gelesen, daß man den Erben des Königs die Haare abschnitt, wenn man sie vom Throne entfernen wollte. Auch er hatte die Empfindung, als wäre er zurückgesetzt, geschoren!
Wenngleich Paris nach der Abreise all der Leute, die es monatelang in einen menschlichen Strom verwandelt hatten, sehr einsam wurde, so tröstete es ihn doch ein wenig. Indessen gab es neblige Tage, an denen man im Comptoir der Rue Petites-Ecuries um vier Uhr nachmittags schon das Gas anzündete, und an denen Linh mit gekrümmtem Rücken lange Stunden hindurch über den Rechnungsformularen mit der Geschäftsfirma saß, ohne etwas andres zu sehen, als eben dieses Papier, das er mit seiner schönen englischen Schrift bedeckte: Herr Phang, Kaufmann zu Hanoi schuldet ..., der Französische Bazar zu Hanoi schuldet ..., ohne etwas andres hinter den matten Fensterscheiben zu hören, als das Rollen der Droschken und Lastwagen, die durch diese Geschäftsstraße fuhren.
Diese Namen: der Französische Bazar! Herr Phang! riefen Linh wohlbekannte Stadtviertel in Erinnerung, in denen er als Kind gespielt hatte, durch die er so oft gekommen war. Dieser Herr Kaufmann Phang war ein Freund seines Vaters; er rauchte Opium und sah daher gebrochen und runzlig aus wie eine ausgetrocknete Wurzel. Jetzt hatte Linh bisweilen Heimweh nach der verlassenen Heimat, wo die Kameraden von der Esplanade, die Arbeiter und Dolmetscher, jetzt schon wieder angekommen waren.
Von seinen Schwestern erhielt er Briefe; Tung antwortete ihm immer auf seine kindlichen Mitteilungen: »Nun, bist du zufrieden? Hast du endlich Schnee gesehen? Wirst du uns bei deiner Rückkehr davon erzählen können?«
Linh lächelte. Nein, er hatte zu seinem großen Kummer noch keinen Schnee gesehen. Man sagte ihm sogar, daß es Winter gebe, in denen gar kein Schnee falle. Gelben, trüben Nebel, der ihm die Kehle wie ein Sumpfhauch zuschnürte, sah er genug, aber nichts von dem weißen Schnee, nichts!
Tuyet! Tuyet!
Vielleicht sollte er gar keinen sehen, obgleich die Kälte ziemlich empfindlich, jedoch naß und ungesund war. Der kleine Linh bewohnte in der obersten Etage des Hauses ein gut ausgestattetes, helles, luftiges Zimmer, das Herr Lecrosnier für ihn hatte einrichten lassen. Zuerst hatte er sich glücklich und frei darin gefühlt, da er nach Herzenslust sich dort seinen Gedanken, seinem Traume hingeben und in einem guten französischen Bette schlafen konnte. Dann hatte er nachts öfters Schauer empfunden und das Gefühl gehabt, als schnüre ihm eine trockene Hand den Hals zu; er hustete ein wenig und atmete bisweilen schwer. Bald schüttelte ihn der Frost, bald erstickte er fast vor Hitze unter seinen weißen Decken.
»Fehlt dir etwas, Linh?« fragte ihn Herr Lecrosnier.
»Nein, durchaus nichts!«
Daß er sich leidend fühlte, wagte er nicht zu gestehen, um nicht gescholten zu werden. Da er die Verantwortung für seinen Aufenthalt in Paris selbst trug, so fürchtete er, man möchte ihn wie ein hinderliches Gepäckstück nach Tonkin zurücksenden, doch ganz im Innern seines Seins keimte vielleicht schon der geheime Wunsch nach Abreise ...
Dort in der Heimat am Rande des Sees war es nicht so kalt wie in Paris!
Herr Lecrosnier, der den kleinen Linh husten hörte, war nicht ohne Besorgnis. Man ließ das Kind in das Zimmer des Kommissionärs selbst hinunterziehen und pflegte es. Der zugezogene Arzt sprach von einer Bronchitis, die in der schlechten Jahreszeit einen tödlichen Charakter annehmen könnte.
Und in der That wurde Linh immer magerer und trauriger. Schmerzhafte Hustenanfälle durchschüttelten seinen zarten Körper. Herr Lecrosnier erlaubte nicht mehr, daß das Kind, bevor es nicht wieder gesund wäre, über den Büchern säße, und ließ es nicht ins Comptoir; Linh mußte das Zimmer hüten und durfte nicht ausgehen. Zwar gingen die Fenster glücklicherweise auf die Straße, aber was half das? Linh wurde es langweilig, immer dasselbe Schauspiel vor Augen zu haben: eilige Fußgänger, nasse Droschken, den schwärzlichen Kot auf den Straßen und ihm gegenüber den Laden eines Packers, wo beständig weiße Holzkisten zugenagelt und mit schwarzen Buchstaben bemalt wurden, die in unbekannte Länder gingen, deren Namen Linh mit seinen scharfen Augen von drüben entziffern konnte: Buenos Aires, Rio de Janeiro, Bahia ...
Wie unendlich lang erschienen dem kleinen Kranken die Wintertage! Frau Lecrosnier kam wohl von Zeit zu Zeit nach dem Kinde zu sehen, tröstete es und sprach mit ihm wie eine Mutter, aber diese Erscheinungen waren nur von kurzer Dauer und brachten Linh nur den Gedanken an die andre, seine wirkliche Mutter, die in der Heimat war.
Uebrigens war Frau Lecrosnier auch in Sorge wegen des Zustandes, in dem sich Linh befand. Die Bronchitis wurde stärker, im Halse und der Brust des Kindes traten Beklemmungen ein; die Arzneien halfen nichts. Wenn man ihm sagte, es würde bald besser werden, so lächelte er und meinte: »Ja, ich weiß ... mir fehlt meine Sonne!«
Nicht mehr den Schnee wollte der kleine Tonkinese sehen, sondern die Sonne Asiens, die die Früchte so groß und die Blumen so schön machte. Und doch war der Traum noch rege in dieser Seele, die in einem kranken Körper rang. Da er von Tag zu Tag leidender wurde, so mußte er im Bett bleiben, und als er den ganzen Tag darin gelegen, so hatte er mit einem seltsamen, aber doch noch schalkhaften, leisen Lächeln gesagt: »Ach! Ich werde Tuyet nicht sehen!«
Und seine Gedanken wanderten zurück zu jenem asiatischen Königssohne, jenem kleinen Herrscher von Hué, den er in Algier in einem Zimmer für immer – »bis zu seinem Tode« eingeschlossen gesehen hatte.
Aber nicht nur Königssöhne unterlagen solchem Urteilsspruch. Der kleine Linh ahnte richtig. Der Arzt wurde unruhig und wünschte den Frühling herbei, um das Kind nach Tonkin zurückzuschicken. Er sprach vom Süden, von Nizza. Aber schon hatte ein gellender Husten, ein schleichendes Fieber den Aermsten ergriffen.
»Wenn ich wenigstens den Schnee gesehen hätte!« sagte Linh immer lächelnd!
Frau Lecrosnier brachte ihm eines Morgens eine Glaskugel auf einem Stück Pappe, worin eine Schneelandschaft mit weißen Häusern nachgebildet war.
Das Kind nahm die kühle Glaskugel in seine glühenden Hände und sagte: »Wie thut das der Haut so gut! Sie ist kalt!«
»Schüttele die Kugel einmal,« fuhr Frau Lecrosnier fort.
»So,« antwortete Linh.
Da sah er auf die Landschaft kleine, weiße Flocken rieseln, die wie Sonnenstäubchen in der Kugel umhertanzten. Mitten in der Landschaft stand eine ganz kleine Figur, ein weißer Mönch unter einer noch grünen Tanne. Der Mönch und die Tanne verschwanden fast unter diesen weißen Punkten, die wie toll umherwirbelten, je mehr Linh die Glaskugel schüttelte.
»Das ist Schnee,« meinte Frau Lecrosnier.
»Das da?«
Tuyet! ... Linh betrachtete es neugierig, erfreut, entzückt. Das hätte man ihm geben sollen, um es in die Heimat mitzubringen, an dem Tage, an dem er entfloh, um nicht auch abreisen zu müssen! Tuyet! In der That hübsch war dieses Weiß, dieser Wirbel von weißen Punkten, dieser gute Mann, der im Schnee stand, und dessen braune Kutte an die Farbe der Bonzenröcke erinnerte.
»Die Pagode!« murmelte Linh.
In der Pagode hatten ihm die Bonzen als Amulett ein kleines bedrucktes Papier gegeben, das wie die ersten, naiven xylographischen Versuche in chinesischen und französischen Buchstaben die Worte enthielt, über die jetzt Linh den Kopf schüttelte: »Du sollst alles nach Willen haben! Du wirst niemals krank werden!«
Eines von diesen Amuletten hatte er Frau Lecrosnier geschenkt, und sie erinnerte sich noch, wie sehr sie über die philologischen Erklärungen des Kindes gelacht hatte, als es ihr die Inschrift erklären wollte und nicht darüber hinauskam: »Die Chinesen sprechen mit Zeichen; wir dagegen sprechen mit Zeichen.«
Ach! An diese Amulette der Pagode, an diese Talismane der Bonzen glaubte Linh in seiner Krankheit nicht mehr. Aber er glaubte an das schöne Spielzeug, das Frau Lecrosnier ihm brachte, und den ganzen Tag und alle folgenden verbrachte er in seinem Bette damit, daß er die Glaskugel immer wieder umdrehte und den Schnee fallen sah. Wenn er die Kugel neben seinem Bette auf den Tisch legte, so glühte das Glas, als wäre es im Feuer erhitzt ...
»Linh ist verloren,« sagte eines Morgens der Arzt traurig zu Herrn Lecrosnier.
Die Halsschwindsucht wütete in dem kleinen Wesen, man mußte an die Eltern, an den Unterstaatssekretär der Kolonieen schreiben und alles sagen.
»Verloren?« wiederholte Frau Lecrosnier.
Ihr war so zu Mute, als entrisse man ihr einen der Ihrigen.
Trotzdem behauptete der kleine Linh, er hätte keine Schmerzen mehr, nur schlafen, schlafen, lange schlafen wollte er. Er fühlte sich müde und hatte keine Lust mehr, das Bett zu verlassen, hinauszugehen.
Eines Morgens stieß er einen lauten Freudenschrei aus, der aber in seinem kranken Halse erstickte ... er stützte sich in seinem Bett auf den Ellbogen und hob seinen mageren Arm in die Höhe! – Und mit dem Finger auf die weißen Dächer der Häuser gegenüber, die weißen Rinnen und die mit Schnee eingefaßten Fensterläden zeigend, wiederholte er mit seiner schwachen Stimme: »Tuyet! Tuyet! Tuyet!«
In der Nacht waren die weißen Flocken gefallen und fielen noch, in der Luft wirbelnd und bisweilen sich an die Fenster des kleinen Kranken heftend, als wollten sie zu ihm sagen: Da bin ich!
Er war so glücklich und sprach dasselbe Wort wieder und wieder aus, das seiner zusammengeschnürten Kehle wohl that.
»Tuyet!«
Es lag so viel Glanz in seinen schwarzen Augen, sein Körper bewegte sich so heftig, daß Frau Lecrosnier an einen Umschlag zum Bessern glaubte. Der Arzt jedoch sagte nichts, beugte sich über den kleinen Kranken, nahm seine Hand und sagte ganz leise, während er die Pulsschläge dieses jungen Körpers zählte: »Ja, Linh, das ist Schnee wie in der Glaskugel, die du geschenkt bekommen hast.«
»O!« antwortete das Kind, »viel schöner, viel schöner! Das ist wirklicher Schnee, Tuyet!«
Dann hob er den Kopf in die Höhe: »Was in den Geschichten steht, ist wirklich wahr: der Schnee ist hübsch; es ist, als tanzten kleine Lilien umher!«
Den ganzen Tag lang blieb Linh während des Schneefalls in seinem Bett mit dem kleinen Kopf nach dem Fenster gedreht, mit großen Augen und langsamem, schwerem Atem, den er zwischen den trockenen Lippen ausstieß.
Und oft wiederholte er, als stünde er unter einer Art Zauber: »Wie hübsch! wie hübsch! O, wie hübsch!« Aber ein unbestimmtes Gefühl von Sehnsucht, von Täuschung beschlich ihn, und seine Gedanken wanderten weit, weit weg in das Land, wo das Bambusrohr nachts rauscht und es keinen Schnee gibt ... in einer verworrenen Vision, in seinem Fiebertraum sah er das kleine Häuschen in Hanoi und die Seinigen wieder, die auf Matten um die rauchende Theekanne saßen, die auch wie das Bambusrohr summte; er hörte von sich sprechen, und seine Mutter und Schwestern Tung, Thuan und Phuang sagten alle dieselben Worte zum Vater, der nicht antwortete: »Wann wird unser Linh wiederkommen? Werden die Franzosen ihn behalten?« Plötzlich schien es Linh, als entwiche die liebe Vision, von einer Wolke verdunkelt, von den weißen Flocken verschleiert, die umhertanzten und dichter und dichter erschienen ...
Da überkam den kleinen Tonkinesen der Gedanke, der Schnee sei weiß wie ein Leichentuch, wie jenes Tuch, in das man unterwegs den armen Laternenmaler eingenäht hatte, den man längs des Schiffes ins Meer gleiten ließ: »Gluck!«
Ein Leichentuch! In dem durch den Schnee gedämpften Geräusch vernahm Linh deutlich die Hammerschläge von der andern Seite der Straße. Der Kistenmacher nagelte seine Kisten zu, – und Linh sah im Geiste jene weißen Holzkisten mit ihren geheimnisvollen Aufschriften: Bahia ... Costa-Rica ...
Auch ihn würde man wie irgend ein Paket in eine weiße Holzkiste nageln, um ihn fortzubringen, da er wußte, daß man in Europa die Toten in einer langen Kiste fortbringt.
Ein plötzlicher Schauder schüttelte seinen schwachen Körper, die Furcht erfaßte ihn. Der kleine Linh versuchte, sich zu erheben und das Bett zu verlassen; er wollte rufen: »Ich will nicht! Ich will nicht!«
Doch vermochte sein armer, kleiner Mund keinen Ton hervorzubringen ...
Jenes Geräusch, jene Hammerschläge, jene weißen Kisten erfüllten ihn mit Entsetzen.
Ganz verstört und in Schweiß gebadet faßte er mit seiner dünnen Hand an seinen mageren Hals: »Nein! Nein! Nein!«
Der Arzt betrachtete ihn traurig, neben Frau Lecrosnier stehend, die ganz bleich war.
»Hanoi! Hanoi!« murmelte das Kind aus Tonkin mit einer Stimme, die schon aus dem Jenseits kam, aus dem Lande ohne Schnee, wohin seine kleine Seele entfloh ... Der See! die Kokospalme!
Noch einmal sagte er fast zärtlich: »Tuyet!« dann suchte er mit einer mechanischen, unbestimmten Bewegung nach etwas und traf die Hand der Frau Lecrosnier, die zitterte: er ergriff sie, drückte sie und versuchte, sich mit seinen Lippen ihr zu nähern: dann ließ er sein müdes Haupt auf das weiße Kissen zurückfallen, schien sich mit glühender Zärtlichkeit hinzulegen und einzuschlafen, indem er ganz, ganz leise hauchte: »Mama!«
Am folgenden Tage lag der Schnee noch immer auf den Fenstern des kalten Zimmers, und die Flocken auf den Scheiben sahen aus wie weiße, starre Augen, die Linh betrachteten, der unbeweglich mit einem Lächeln auf seinen geschlossenen Lippen in seinem Bette lag, von einem Hauch hinweggeweht, wie im Winde eine Flocke Tuyet – sein Traum!
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