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Der Strick.

Erstes Kapitel.

Herr Thomassière schob mit einer heftigen Bewegung seine Kaffeetasse zurück und blickte starr seinen alten Freund an: »Wenn das wahr ist, was du mir erzählst, Langlade, wenn Theodor fähig ist, eine solche Thorheit, eine derartige Schändlichkeit zu begehen, ja, wenn er überhaupt nur daran denkt, so schwöre ich dir, ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um diesen wahnsinnigen Dummkopf daran zu verhindern, sich von den schönen Augen einer Schauspielerin ködern zu lassen! ...«

Der alte Langlade mit dem gutmütigen und schlauen Gesicht schlürfte seinen Kaffee und schüttelte den Kopf.

»Wer hat es dir übrigens gesagt?« fuhr Vater Thomassière fort. »Woher weißt du es denn? Vielleicht ist es nur ein Pariser Zeitungsklatsch! Erzähle mir alles!«

Die alten Freunde hatten soeben auf der Veranda eines alten Hauses im echten Stile des Perigord ihr Frühstücksmahl beendet. Das einfache, stille Haus lag in einem Garten, den die Septembersonne, glänzend wie im Juli, mit ihren warmen Strahlen beschien. Das Dach der Veranda gewährte ihnen Schatten, und in voller Lebenslust sahen Herr Thomassière, ein ehemaliger Notar, und Herr Langlade, der Friedensrichter, dem Spiel der umherflatternden Schmetterlinge zu und der Fliegen, die wie hellleuchtende Pünktchen den Garten durchschwirrten, den Spinnen mit silbernen Fäden durchwebt hatten; das Geräusch der Glöckchen und Fuhrwerke, das gedämpft von außen her hineindrang und von dem Klappern der Pferdehufe auf der Landstraße begleitet war, störte die beiden Freunde nicht im Genuß des schönen Herbstmorgens, an dem sich das Rot der Granaten, der traubenförmigen Ebereschen und die Geraniumsblüten mit dem noch saftigen Grün der Bäume vermischten, ebenso wie das hellrote Bändchen, das den dunkelblauen Rock des Herrn Langlade zierte.

Nach dem feinen Frühstück, dessen Ueberreste noch recht verlockend auf dem weißen Tischtuch standen – Hasenpastete, Lampreten, Rebhühner, Krebse aus dem Bache St. Alvère, Muskatellertrauben, saftige Feigen – zeigten die beiden langjährigen Genossen eine solche Lebensfreude, daß dieser Hintergrund aus Licht, Grün und Blüten einen vortrefflichen Rahmen für das dicke, fette und heitere Gesicht des Herrn Langlade und das scharfgeschnittene Profil des Herrn Thomassière abgab.

Sein Freund Langlade fand das Aussehen des ehemaligen Notars vortrefflich: denn während sein Gesicht für gewöhnlich blaß und ernst aussah, mit seiner krummen Nase und seinem langen Halse, um den eine Krawatte nach der Mode von 1830 eng geschlungen war, die den weißen Backenbart nach beiden Seiten auseinanderhielt, so war Herr Thomassière heute seinem Freunde im Gegenteil zuerst ganz heiter erschienen. War das die Wirkung des Weines von Costo-Rasto, das Wachrufen der alten Erinnerungen, die Lust, diese laue, schöne Luft einzuatmen? Die verdrießliche Miene des ehemaligen Notars war verschwunden, und seine blassen Wangen hatten eine sanfte Erdbeerfarbe angenommen; ja, beim Anblick des vergnügten, alten, stämmigen Friedensrichters wurde er sogar ganz heiter, so daß die alte Marion, die sie bediente, den ganz ungewohnten Anblick hatte, diesen phlegmatischen Clergyman mit einem dicken, gutmütigen, heiteren Mönche an Lebenslust wetteifern zu sehen. Aber das Lachen des Herrn Thomassière hatte nicht lange gedauert. Er ließ nicht mit sich spassen, wenn er schlechter Laune war, und da teilte ihm gerade heute morgen nach dem Frühstück und gleichsam als Nachtisch sein Freund jene unbegreifliche Nachricht von den Heiratsgelüsten seines eigenen Sohnes, Theodor Thomassière, mit, der in eine Schauspielerin vom Palais Royal in Paris verliebt war!

Als Diplomat hatte Langlade mit dieser Nachricht für den Vater bis zum Kaffee gewartet, jetzt aber machte er sich Vorwürfe, diesen Augenblick gewählt zu haben; sein Freund wurde ganz rot im Gesicht, und da er noch mit vollem Magen bei Tische saß, so war ein Blutandrang nicht unmöglich, obgleich er nicht so dick und fett wie Langlade selbst war ...

»Ich hätte vielleicht doch noch warten sollen,« sagte der Friedensrichter zu sich.

Aber geschehene Dinge lassen sich nicht ändern, und da Thomassière sich nur noch mehr aufregen konnte, wenn man ihn auf die weiteren Einzelheiten warten ließ, so hielt es Langlade fürs beste, ihm alles zu sagen.

»Mein Neffe hat mir davon geschrieben, mein alter Gaston,« fuhr Langlade fort, der absichtlich den Notar bei seinem Vornamen nannte, um ihn weicher zu stimmen. »Mein Neffe kennt alle Welt und lebt in Paris, wie ich fürchte, um Vaudevilles zusammenzuschreiben, anstatt in sein Büreau zu gehen! ... Kurz, da er mit deinem Sohne sehr befreundet ist, so hat Theodor ihn gebeten, das Terrain zu sondieren, und wenn ich dir jetzt davon spreche, so geschieht es begreiflicherweise, um meinerseits zu erfahren ...«

»Was zu erfahren?« fragte Thomassière und schob heftig seine Tasse zurück.

»Beruhige dich, ich bitte dich,« antwortete Langlade; »als guter Philosoph muß man die Dinge nehmen, wie sie sind, und in einem zwanzigjährigen Kopf nicht die Weisheit eines ... Phocion zu finden hoffen ...«

Offenbar suchte Langlade in seiner heiteren Frühstückslaune absichtlich nach den Worten.

Aber gerade der verehrungswürdige Name Phocion erbitterte Herrn Thomassière noch mehr: »Phocion! Phocion! Was redest du mir da von Phocion? Meinst du vielleicht, dein Phocion sollte mir raten, die Thorheit eines leichtfertigen Burschen zu entschuldigen, der in eine Komödiantin verliebt ist? ...«

»O! O! Komödiantin! Nein,« erwiderte der Friedensrichter; »Fräulein Gabriele Vernier ist keine Komödiantin; sie hat die Norah in einem Stück von Dumas Sohn gespielt.«

»Zum Teufel! Wie gut du unterrichtet bist! ...«

»Durch meinen Neffen, wie du dir denken kannst! Fräulein Gabriele Vernier also ...«

»Soeben sagtest du, sie hieße Gabri!«

»Unter Bekannten Gabri, auf dem Theaterzettel Gabriele. Gabri nur für die Vertrauten, die Lebemänner, die echten Pariser ...«

»Wie dein Neffe Gustav!«

»Wie mein Neffe.«

»Gabri! Theodor eine Gabri heiraten! Gabri!« Und Herr Thomassière schlug auf den Tisch, daß die Reste des Rebhuhns in die Höhe sprangen und die Gläser und Tassen klirrten. »Frau Gabri Thomassière! Thomassière Gabri!«

»Gabriele, Gabriele ... Rechtmäßig heißt sie nicht Gabri, sondern Gabriele!« meinte der Richter Langlade mit einem Anflug von gascognischer Schalkhaftigkeit. »Uebrigens soll diese Gabriele sehr hübsch sein ... klein, rund und blond ... oder vielmehr mit Henna gefärbt, – was dasselbe ist ...«

»Mit ...?«

»Henna, das jetzt sehr Mode ist! Wie mein Neffe mir erzählt, brauchen alle Damen von der Oper Henna für den Kopf ... und nicht nur für den Kopf ...«

Die Erinnerung an die Erzählungen seines Neffen Gustav nötigte dem Friedensrichter ein Lächeln ab, trotzdem der Augenblick nicht dazu angethan war, sich mit jenen Damen von der Oper zu beschäftigen. Thomassière nämlich, weiß wie die Serviette, die er in Wut zusammenfaltete, streckte über den Tisch hinüber seine große Nase dem roten Gesichte Langlades entgegen, um Näheres über die Verrücktheit Theodors von seinem Freunde zu erfahren, der bei sich ernstlich überlegte, wie weit er mit seinen Mitteilungen gehen dürfe.

Uebrigens war die Sache Theodors sehr einfach. Nach Vollendung seines Rechtsstudiums hatte sich der Sohn des Notars, der noch nicht nach Perigord zurückkommen wollte, unter die Advokaten aufnehmen lassen und wartete, wie viele andre, auf Praxis, während ihm das Pariser Leben die Haare auf seinem Haupte immer mehr lichtete. Ein amüsanter Prozeß – es handelte sich um einen Rechtsstreit des Fräulein Gabriele Vernier mit ihrem Hühneraugenoperateur – hatte eines schönen Tages den Namen Theodors in den Zeitungen bekannt gemacht, und nach einer geistreichen Beschreibung, Verteidigung und – Betrachtung des niedlichen Fußes der Schauspielerin, bot ihr der Sohn des Notars sein Herz und seine Hand an. Mochte es auch immerhin eine Thorheit, eine Verblendung, ein Skandal sein, die Liebe bleibt ja stets das unvermeidliche Vorspiel aller Thorheiten, seien sie legal oder nicht.

»Alles in allem genommen, mein alter Freund, hätte dein Junge eine noch schlechtere Wahl treffen können! Erinnere dich an den jungen Mederic Migayroux von Bergerac, der auch eine Schauspielerin vom Bobinotheater geheiratet hat! Diese alte Schauspielerin vom Bobino teilt jetzt in Bergerac das geweihte Brot sicherlich ebenso würdevoll aus, als irgend eine andre! Und nun welcher Unterschied zwischen dem Palais Royal-Theater und dem Bobino! ...«

»Nein,« unterbrach ihn wütend der ehemalige Notar, jener Mederic Migayroux ist nicht mit Theodor Thomassière zu vergleichen! Ach! Was würde die Mutter Theodors sagen, wenn sie hörte, er sei in eine Gabri verliebt? ... Gabri! ... Gabri!«

Gleichsam um sich selbst damit wehe zu thun, wiederholte er den Namen mehreremal. Ein seltsames Gefühl des Erstaunens und gleichzeitig des Zornes hatte sich seiner bemächtigt: alles schien um ihn herumzutanzen: die Bäume im Garten, die Tassen und das gutmütige, lächelnde Gesicht Langlades drehten sich in wildem Reigen.

»Ist es möglich? ... Ist es denn wirklich möglich?«

In den letzten Briefen Theodors, die Thomassière sich ins Gedächtnis zurückrief, war keine Rede von Fräulein Gabri! ... Er hatte seinem Vater darin von Politik und Finanzoperationen gesprochen und erzählt, daß man in Paris von einer neuen Konversion und der einhundertvierzigsten Ministerkrisis spreche. Von Theatern kein Wort! »Er schien sich nur mit ernsten Dingen zu beschäftigen! ...« Und da schickte er plötzlich eines schönen Morgens ohne weiteres den Neffen Gustav zu Langlade ..., der es dann Herrn Thomassière wiedersagen sollte ..., denn sicherlich hatte Theodor den Neffen Gustav beauftragt ...

»Wo ist dein Neffe Gustav?« fragte plötzlich Thomassière, indem er seine Erwägungen unterbrach.

Als erfahrener Mann ließ Langlade eben in einer Untertasse ein Stückchen Zucker, in Cognac getaucht, abbrennen, um sich einen Punsch zu machen und dabei seinen Freund sich ungestört seinen Gedanken hingeben zu lassen ...

Die Frage des ehemaligen Notars rief ein Lächeln auf seinen Lippen hervor.

»Mein Neffe Gustav? O, der ist sogleich wieder abgereist, da es ihm in St. Alvère zu langweilig war. Er ist in Bordeaux, der Filiale von Paris!«

»In dem Falle also,« fragte Vater Thomassière, »kann ich nichts weiter erfahren als das, was du mir mitgeteilt hast?«

»Genügt dir das nicht?«

Ein strenger Blick des Notars auf seinen Freund war die Antwort. Dieser gute Langlade scherzte wirklich, während Thomassière vor Wut fast erstickte. Aber nach verdautem Frühstück würde er an Theodor einen Brief schreiben, der wie ein Blitzstrahl auf sein Haupt fallen sollte!

»Fräulein Gabri! ... Gabri! Gabri!«

Mit allen Modulationen der Verachtung, der Wut, der Verwünschung wiederholte der Notar diesen Namen! ... Wenn Stephanie Thomassière je daran hätte denken können, es würde dem kleinen Theodor einst einfallen, ein Fräulein Gabri! ... Gabri! ... zu lieben, – ja, zu heiraten! Ja, ja und hundertmal ja, er würde ihm schreiben und wie!

»Wozu denn? ...« warf Langlade vorsichtig ein; »warte doch, bis er dich benachrichtigt und dir schreibt!«

»Und wenn er nicht schreibt?«

»Wo denkst du hin? Er muß dir schreiben, um dir die beabsichtigte Heirat mitzuteilen und dich um deine Einwilligung zu bitten.«

»Ah! Meine Einwilligung! Wenn er sich einbildet! ...«

»Bitten, Vorstellungen ...«

»Ganz unnütz!«

»Ehrerbietiges Ansuchen ...«

»Was sagst du?«

»Ehrerbietiges Ansuchen. Wie alt ist Theodor?«

»Siebenundzwanzig.«

»Nun, mit siebenundzwanzig ist man kein Kind mehr, mein alter Gaston. Ehrerbietiges Ansuchen ...«

»Höre, Langlade,« unterbrach ihn Thomassière außer sich noch einmal, »laß mich mit deinem ehrerbietigen Ansuchen zufrieden ... Entweder ist es das Rebhuhn oder die Lamprete, die mir wie Blei im Magen liegen und mich fast zum Ersticken bringen ... Ehrerbietiges Ansuchen! ... Für Fräulein Gabri ehrerbietiges Ansuchen! Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Dabei schwang er wie eine Schlachtenfahne seine Serviette, die er vom Tische wieder aufgegriffen hatte, richtete sich ganz auf und sah in den Garten hinein, als wenn Theodor dort erscheinen müsse, um von dem wütenden Notar vernichtet zu werden.

Aber nein: da hinten im Garten gab es nur Sonnenschein, Granatblüten und Libellen mit Gazeflügeln, die in raschem Fluge um die noch für einige Tage grünen Rasenplätze flatterten.

*

Zweites Kapitel.

Am folgenden Tage war die alte Marion höchst erstaunt, als Herr Thomassière, der für gewöhnlich sehr häuslich war und selten sein Zimmer und seine Bücher verließ – denn er übersetzte heimlich den Horaz – sie zu sich rief und ihr befahl, seinen Koffer zu packen und dem Knechte zu sagen, das Pferd zu satteln.

»Geht der Herr Notar wieder nach Perigueux zur landwirtschaftlichen Ausstellung?«

Jene Reise des Herrn Thomassière bei Gelegenheit der Ausstellung war nämlich als ein großes Ereignis des Hauses berühmt geblieben.

Herr Thomassière zuckte mit den Schultern.

»Es ist keine Ausstellung mehr in Perigueux, Marion. Uebrigens reise ich nach Paris!«

»Nach Paris?«

»Nach Paris!«

Die alte Magd war aufs höchste überrascht und versuchte mit ihren scharfen, schlauen Augen, die sich auf das undurchdringliche Gesicht des Herrn Thomassière hefteten, die Ursache dieser plötzlichen Reise zu erraten, da sie unwillkürlich irgend ein Abenteuer Theodors dahinter ahnte! ... Ach, dieses Paris, dieses Paris! ... Eine Menschenmahlmühle ist es, die schon mehr als einen aus der Gegend verschlungen hatte!

»Der Herr Notar geht also nach Paris? Und wie lange gedenkt der Herr Notar in Paris zu bleiben?« brummte Marion, während sie nachsah, ob auch die Hemdenknöpfe des Herrn Notars fest angenäht waren.

Der plötzliche Entschluß des Herrn Thomassière brachte im ganzen Hause eine Verwirrung hervor, als wenn der Blitz eingeschlagen hätte. Die Dienstboten, die Knechte, die Pächter fragten sich leise, was wohl der Herr Theodor dort begangen haben mochte, auf daß Herr Thomassière sich sofort in den Sattel schwingen mußte, wie ein Dragoner zur Attacke. Der Name des Herrn Theodor war in aller Munde! ... Er war ein lustiges Haus und hatte bei seiner Abreise in der ganzen Gegend von Saint Alvère bis Saint Foix mehr als ein pochendes Herz und manches schöne Auge vom Weinen gerötet zurückgelassen! Gewiß machte sich Herr Thomassière auf den Weg, um den Herrn Theodor zur Vernunft zu bringen.

Als sein Freund Langlade übrigens Herrn Thomassière Adieu zu sagen kam, da schnappte Marion, die an der Thüre horchte, einige Worte der Drohung gegen den Pariser auf. Herr Thomassière hatte ihn im Gespräch mit dem Friedensrichter einen Taugenichts genannt. Auch griff Marion, wie eine Mücke im Fluge, einen sonderbaren Namen auf, der ihr keine Ruhe ließ: Gabri, Gabri ... zweifellos ein Frauenname, der Name irgend einer Dirne augenscheinlich!

Am folgenden Morgen brach Herr Thomassière zu Pferde nach Mussidan auf, nachdem er seinen Leuten seine Anordnungen schriftlich hinterlassen hatte; ein berittener Knecht folgte ihm mit einem zweiten Koffer. Als Herr Langlade seinem alten Freunde auf dem Pferde die Hand zum Abschied geschüttelt hatte, und als die beiden Reiter unten bei der Biegung des Weges verschwanden, da wußten alle im Hause Thomassière, daß der Notar verreise, um den jungen Herrn von einigen Dummheiten zu kurieren; und die alte Marion steckte in der Küche eine Kerze an, die für die Gewittertage aufbewahrt wurde, – um von dem Wege des Vaters die Räuber, und dem Leben des Sohnes die Dirnen fernzuhalten.

Von Mussidan schickte Vater Thomassière den Knecht mit den beiden Pferden zurück, da er niemand mehr brauchte. Er wollte allein in der kleinen Stadt den Zug von Coutras nach Bordeaux erwarten und von dort weiter nach Paris reisen. Gewöhnlich ziemlich kühl und steif wie eine antike Bildsäule, schüttelte der Notar diesmal seinem Knechte die Hand und dankte ihm in dem heimatlichen Dialekt für seine Glückwünsche zur Reise. Als er dann endlich allein war, überließ er sich seinen Gedanken. Der Entschluß, den er gefaßt hatte, war immerhin ein sehr plötzlicher; er dachte nicht daran, auf das berühmte, ehrerbietige Ansuchen Theodors zu warten, da jener Thor zu allen möglichen Dummheiten entschlossen schien. Welche Ironie des Gesetzes: ehrerbietig! Nein, er wollte selbst sofort zu Theodor und ihn ohne weiteres wegen seiner Liebschaft mit Fräulein Gabri zur Rede stellen! ...

Schon jetzt stellte er sich Fräulein Gabri vor! Geschminkt, bemalt, bepflastert, mit einer gemeinen Stimme! Dadurch lassen sich heute die jungen Leute dummerweise verführen! Wie so ganz anders waren die Grisetten früherer Zeiten! Die waren wenigstens nette Mädchen, heiter, frisch und offen, in ihren einfachen Häubchen und Kleidern, während die heutigen mit jenen in keiner Weise zu vergleichen sind. Die alten Herren wissen das aus eigener Erfahrung.

Trotz dieser Gedanken und der Visionen von weißen Häubchen und farbigen Kleidern verspürte Herr Thomassière Hunger und ließ sich, da der Zug von Coutras erst in zwei Stunden kommen sollte, ein Mittagessen auftragen. Es schmeckte ihm sehr gut, obwohl er immer noch erregt war, und kaum war er in den Zug gestiegen, als er einschlief und so bis Bordeaux fuhr.

Dort hätte er unmittelbaren Anschluß nach Paris gehabt, aber in Bordeaux erwachten die Erinnerungen aus seiner Jugend wieder in ihm. Hatte er es doch nicht wiedergesehen, seitdem er in einem kleinen Zimmer der Rue Huguerie Austern von Arcachon in Gesellschaft einer lustigen, hübschen Brünette mit Weißwein hinuntergespült hatte! ... Die war nicht geschminkt, nicht bemalt oder bepflastert, und man brauchte sie auch nicht zu heiraten! O, dieser dreifache Dummkopf von Theodor! ...

Herr Thomassière war durchaus nicht sentimental angelegt; daher belebte der Anblick von Bordeaux allmählich seine Erinnerungen. Er hatte im Jahre 1838 in Bordeaux gelebt und damals an alles andre eher gedacht, als Notar in Saint Alvère zu werden. Es fiel ihm ein, wie er beinahe ein Duell mit einem jungen Offizier vom dritten Regiment wegen eines großen Mädchens aus einer Leihbibliothek gehabt hätte, wo er die Romane Pigault-Lebruns holte ... Freunde indessen hatten die Sache vermittelt, wiewohl er sich nicht zu Entschuldigungen hatte verstehen können, zumal, da er nach damaliger Sitte das Florett geschickt zu führen verstand. Und alles das am Vorabend seiner Hochzeit mit Fräulein von Prunières, die ihm als Mitgift das Haus in Costo-Rasto brachte, aber verlangte, daß er sich in Perigueux in der Nähe der alten Eltern von Prunières niederließe. Von dem Augenblick an hatte für ihn das eintönige, langweilige, fast unerträgliche Leben eines Notars in einer ganz kleinen Stadt begonnen. So verging Tag auf Tag, Jahr auf Jahr! Theodor, der erst nach zwanzigjähriger Ehe geboren wurde, wuchs zum Manne heran, während der Notar ein Greis wurde und als Witwer die ehrgeizigen Hoffnungen seiner eigenen Jugend auf seinen Sohn übertrug! Wie war das alles schnell vorübergerauscht! Fast hätte man meinen können, der Sturmwind hätte sein ganzes Leben wie eine Staubwolke dahingetragen!

Trotz alledem fühlte er sich nicht trübe gestimmt; waren es doch nur einfache Gedanken, die wie Blümlein zwischen dem alten Pflaster von Bordeaux hervorschossen! Da er die Nacht nicht in der Eisenbahn zubringen wollte, so blieb er in Bordeaux und ging abends ins Theater, wo die Hugenotten gegeben wurden. Die Sängerinnen schienen ihm alt, die Pagen als Statisten mager und linkisch in ihren abgetragenen Tricots. Er konnte es nicht begreifen, wie man sich in solche Mädchen vergaffen könnte. Diese Vorstellung der Hugenotten hatte ihm Migräne gemacht; er konnte nicht verstehen, wie diese Welt von bemalter Leinwand und Pappe Theodor bethört hatte! ...

Auf seinem Wege zum Hotel kaufte er eine Pariser Zeitung, um sie vor dem Einschlafen zu lesen. Besonders interessierte ihn der politische Teil, da er zu denen gehörte, die die Stimmen zählten, welche die Minister zur Majorität brauchten. Nachdem er den Leitartikel gelesen – es lag gerade eine Ministerkrisis vor – wollte der ehemalige Notar, der schon zu Bett war, eben die Zeitung zu Boden werfen, als ihm plötzlich ein Name wie ein Blitz in die Augen sprang. Soeben hatte er in der That den verabscheuten Namen des Fräulein Gabriele Vernier gelesen. »Fräulein Gabriele Vernier,« berichtete die Zeitung, »wird in der nächsten Revue des Palais Royal die Gevatterin machen. Man verspricht sich viel von dem Couplet, das sie über die weltliche Erziehung zu singen hat.«

Herr Thomassière überlas die kurze Notiz zweimal, da er die Rolle nicht recht verstand, in der Fräulein Vernier auftreten sollte. Sie sollte singen und dabei die weltliche Erziehung feiern. So außergewöhnlich das auch klang, so stand es doch da; außerdem las Herr Thomassière noch, was die Zeitung noch dieser Notiz hinzufügte: »Man hofft, daß die Aufführung schon nächsten Montag stattfinden kann.«

Da er schon Sonntag abend in Paris anzukommen gedachte, so hatte er vollkommen Zeit, sich einen Platz im Palais Royal zu bestellen, um sich selbst zu überzeugen, wie dieses Fräulein Vernier aussähe ... diese Gabri, die es wagte, daran zu denken, sich Frau Thomassière nennen zu hören!

Darüber blies der Notar das Licht aus und schloß die Augen. Er hoffte schlafen zu können, aber jetzt in der Stille der Nacht hörte er aus unbestimmter Ferne die leichte Musik eines Vergnügungslokales oder benachbarten Kasinos, die ihm die leidenschaftliche Musik Meyerbeers in Wirtshausklängen herübersandte; – und halb eingewiegt durch diese Tanzmusik schlummerte er ein, mitten in seinen wirren Träumen von dem seltsamen Bilde des großen hübschen Mädchens verfolgt, die in den Hugenotten als Page auftrat und im Lied über die weltliche Erziehung nach der Melodie der Einsegnung der Dolche sang.

Nach schlecht verbrachter Nacht stieg er am folgenden Morgen in den Zug nach Paris ein und überlegte sich während der ganzen Fahrt die Rede, die er nun nächstens Theodor halten wollte. »Hast du, Unseliger, die ganze Tiefe des ... des Abgrundes ermessen? ...« Doch, ehe er Theodor überraschte, wollte er ihm aus eigener Meinung sein Urteil über das elende Mädchen sagen können, das der Dummkopf zu einer Thomassière machen wollte! Ja, er wollte sich selbst erst sein Urteil bilden, obwohl es schon jetzt bei ihm ganz feststand, daß sie häßlich, dumm und unbedeutend sein mußte ... Die jungen Leute sind ja leider heutzutage so einfältig! Oder höchstens mochte sie eine Art von verführerischer Schönheit besitzen, die auch nicht viel wert ist. Doch er wollte sich selbst überzeugen!

Auch Paris reizte seine Neugier, und er war im Grunde gar nicht unwillig darüber, es wiederzusehen. Wie in vergangenen Zeiten wollte er in der Cité Bergère in dem ruhigen Hotel absteigen, wo er sich früher so gemütlich gefühlt hatte, im Hotel du Midi! Damals war dort eine hübsche, blonde Wirtin, frisch wie ein Pfirsich und rund wie ein Rubens, der ihre Witwentracht verteufelt gut stand. Was war wohl aus der schönen Frau Chardonnet geworden! Zu jener Zeit war sie sechsunddreißig Jahre alt ... und seitdem waren achtundzwanzig Jahre vergangen! Arme Frau Chardonnet mit ihren vierundsechzig Jahren heute! ... Aber auch er selbst hatte die sechzig schon überschritten! ... Wie doch die Zeit dahinfliegt! Das Leben war dahingegangen, ja dahingegangen, so wie morgen die Revue im Palais Royal über die Bühne gehen wird.

In der Cité Bergère fand Herr Thomassière zwar das Hotel du Midi wieder, aber es hieß jetzt Hotel du Nord; ebenso hatte sein ehemaliges Zimmer Nummer 20, das auf die ruhige Straße ging, jetzt die Nummer 32 ... und was Frau Chardonnet anbetraf, so hatte sie sich schon lange vom Geschäft zurückgezogen und wohnte jetzt in Perigueux.

Siehe da, in Perigueux!

Jawohl, seit fünfzehn Jahren!

Wie wunderbar! Die schöne Frau Chardonnet hatte ganz in seiner Nähe gelebt und er hatte sie nie wiedergesehen! ... Vielleicht hätte er als Witwer die Gefühle gestanden, die er früher stets nur heimlich gehegt hatte trotz des einladenden Lächelns der vollen, heiteren Lippen der Hotelbesitzerin! ... Wie sonderbar! Sie lebt in Perigueux und er in Saint Alvère!

So fand der ehemalige Notar in dem alten, feuchten und trübseligen Hotel, in dem andre sich Rheumatismus geholt haben würden, Jugendanwandlungen und heitere Sonnenblicke wieder.

Den Abend brachte er auf den Boulevards zu, wo ihn das Gewoge der Menge ein wenig benahm; gedrängt, gestoßen, geschoben stand er wohl zwei ganze Stunden und betrachtete ein riesenhaftes Transparent, worauf bald Landschaften aus der Schweiz, bald wunderbare Gestalten, bald Anzeigen von Gesundheitssaugflaschen und wasserdichten Westen erschienen. Diese Zauberlaterne, in der die Anzeigen mit dem Malerischen abwechselten, interessierte ihn aufs höchste. Den halben Horaz hatte er schon in Versen übersetzt, aber doch meinte er, die Pariser zeigten viel Geist in dieser Vermischung des Nützlichen mit dem Angenehmen, utile dulci.

Uebrigens verursachte ihm auch dieses Schauspiel gerade so wie die Vorstellung der Hugenotten einen Anflug von Neuralgie. Er kehrte daher in sein Hotel zurück, betrachtete melancholisch den Glasverschlag, wo einst die schöne Frau Chardonnet, reizend wie eine saftige Frucht, gethront hatte, und wo jetzt ein kleines, vertrocknetes weibliches Wesen mit rötlichem Gesicht über seine Schreibereien gebückt saß, ging in sein Zimmer, legte sich zu Bett und schlief vor Ermüdung sofort ein, diesmal ohne zu träumen.

Da er die Adresse Theodors, Rue Fontaine-Saint Georges, hatte, so überkam ihn die Versuchung, schon in aller Frühe zu ihm zu gehen und ihm die kleine Rede zu halten, die er sich seit seiner Abreise von Perigueux zurechtgelegt hatte: »Hast du, Unseliger, die ganze Tiefe ermessen?«

Der Anfang war ihm so geläufig, daß er sich seiner entledigen wollte. Dennoch verschob er es auf morgen, um vorher zu sehen, gegen welchen Gegner seine väterliche Autorität zu kämpfen habe, und erst noch die Gabri kennen zu lernen.

In einer gewissen Aufregung irrte der ehemalige Notar den ganzen Tag hindurch in Paris umher. Zwar erkannte er in dem Gewühl des Straßenverkehrs die öffentlichen Gebäude etc. wieder, die sich nicht verändert hatten: die Magdalenenkirche, den Eintrachtsplatz, das Variététheater ... aber die Pracht der Läden, die Frauenmoden, das Geräusch der Wagen, der ganze Reiz des Pariser Lebens waren ihm neu und benahmen seine Sinne. Er kam sich selbst überrascht vor, als ernster Mann hier umherzugehen, wo so viele Verlockungen ihm lachend winkten. Es war ohne Zweifel Babylon, durch dessen Straßen er ging, aber dieses Babylon war eine wunderbare, fast unterhaltende und so ganz veränderte Stadt!

Hoch aufgerichtet stolzierte Herr Thomassière im Jägerschritt auf dem Asphalt und dem Holzpflaster einher, ohne müde zu werden, als verfolgte er in seiner Heimat eine Kette Rebhühner. Abends suchte er in der Nähe des Palais Royal-Theaters ein Restaurant, wo er zu Mittag essen könnte, und fand auch ein solches gerade dem Theater gegenüber. Als der Kellner ihm die Speisekarte brachte, machte er ihn darauf aufmerksam, daß man von dem Platze am Fenster aus gerade die Garderoben der Schauspielerinnen sehen könnte.

Herr Thomassière ließ sich das nicht zweimal sagen und ließ sich dicht am Fenster nieder.

In der That bemerkte er auf der andern Seite der ziemlich engen Straße schon erleuchtete Korridore und auch hie und da helle Fenster, hinter denen gestärkte Röcke und Theaterkostüme undeutlich sichtbar waren, so daß er sehr bedauerte, sein Glas nicht mitgebracht zu haben, um jene weißen, rosenfarbigen, himmelblauen Röcke besser sehen zu können.

Die Hitze war drückend wie meist gegen Ende des Sommers. Der Notar, der am offenen Fenster aß, sah, wie unten die Menge immer größer wurde, wie Wagen ankamen und ihre Insassen am Eingang des Theaters absetzten. Von Zeit zu Zeit stieg aus jenem dunklen Menschengewühl die Stimme irgend eines Ausrufers zu ihm empor: »Der Entr'acte! Der Entr'acte! Das Programm und die vollständige Rollenverteilung von Ote-toi de là que je m'y mette

So hieß die Revue, die aufgeführt werden sollte. Die acht Verfasser dieses lustigen Stückes hatten, wie eine Zeitung berichtete, mit der politischen Anspielung einen großen Erfolg erzielen wollen. Einen ganzen Monat lang war die Revue von der Zensur beanstandet worden. Von alledem wußte Herr Thomassière nichts, auch gab er sich nicht einmal die Mühe, den Titel zu verstehen, der ihm wohl etwas sonderbar, aber sehr philosophisch vorkam ... Die Menschen sagten sich im Leben ja nichts andres, als was dieser Titel in so sonderbarer Weise ausdrückte: Darwin in Pariser Jargon übertragen. Doch Herr Thomassière wußte nichts von Darwin. In St. Alvère las er Corneille bis auf Attila und Pertharite und hatte oft zu sich gesagt: »Wenn ich je nach Paris komme, so will ich Pertharite sehen! Das muß ein schönes Schauspiel sein!« Und was sollte er sofort nach seiner Ankunft sehen? Ote-toi de là que je m'y mette!

Aber er wollte ja nicht wegen des Stückes ins Theater gehen; die Gevatterin, die weltliche Erziehung, Gabriele Vernier, Fräulein Gabri zog ihn hin! Vielleicht befand sich das Fräulein gerade in einer jener Garderoben, die er mit seinen Blicken durchforschte! Natürlich! Sie kleidete sich wahrscheinlich in diesem Augenblick drüben in seiner unmittelbarsten Nähe an, und jener Thor von Theodor half ihr wohl gar beim Zuschnüren ihres Korsetts! Wie wunderbar würde es sein, wenn der erste Mensch, dem Herr Thomassière bei seinem Eintritt ins Theater begegnete, gerade dieser einfältige Theodor wäre!

In dem Falle wäre die Sache bald abgemacht. Vor allen Leuten würde er ihn mit den Worten begrüßen: »Hast du, Unseliger, die ganze Tiefe des Abgrundes ermessen? ...« Dann sollte man sehen, was Theodor für ein Gesicht dazu machen würde!

Inzwischen aß Herr Thomassière Blatt für Blatt seiner Artischocke mit pikanter Sauce. Dabei jedoch sah er alle Augenblicke nach jenen gewölbten Fenstern der Schauspielerinnen-Garderoben, die in der aufragenden Mauer des Theaters wie leuchtende Punkte aussahen. Die Schauspielerinnen kleideten sich an. Ganz besonders fühlte Herr Thomassière seinen Blick von einer mit persischem Rot ausgeschlagenen Garderobe angezogen, die gerade in der Richtung seiner Sehlinie lag. Eine junge Frau, die sehr hübsch und von eleganter Figur sein mußte, war soeben dort hineingetreten, nahm ihren Strohhut ab, auf dem ein ungeheurer Vogel angebracht war, und reichte ihn einer älteren Frau hin, die neben ihr stand. In diesen Anblick versunken, ließ Herr Thomassière nach und nach die Blätter seiner Artischocke ruhig auf seinem Teller liegen und betrachtete die anmutigen Bewegungen dieser jungen Frau. Sie schickte sich langsam, augenscheinlich etwas müde an, sich zu entkleiden, um das Kostüm irgend einer Rolle in der Revue anzulegen, und schon hatte sie mit einer leichten Kopfbewegung ihre Haare herabfallen lassen, die wie flüssiges Gold strahlten. Nachdem sie den Knopf ihres Halskragens entfernt hatte, machte sie langsam ihr Korsett auf, und Herr Thomassière fand dieses Schauspiel ganz unerwartet zwar ... aber entzückend ...

»Darf ich wegnehmen?« fragte der Kellner, indem er nach dem Teller griff. »Was für ein Dessert soll ich bringen? Ah! Sie betrachten die Garderoben! ... Die sollten Sie zur Zeit der Hundstage sehen! Dann ist es wirklich spaßhaft und für uns einmal eine Abwechslung!«

Herr Thomassière hörte kaum, sein Auge lag wie gebannt auf der unbekannten Schauspielerin. Eine seltsame, nur zu schnelle Vision durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl: ein Kleid, das bis auf die Füße einer jungen Frau hinabglitt, ein Hemd, das die Arme und Schultern entblößt ließ ... die blendende Weiße jener Arme, jenes Halses, jener Schultern, jener Schimmer der halb verschleierten Nacktheit – und plötzlich stürzt auf ein Zeichen des hübschen Mädchens die Ankleidefrau auf die schmutzigroten Vorhänge zu, schließt sie rasch und entzieht die sich entkleidende Schauspielerin dem Blick, wie ein Schleier sich über eine Apotheose senkt.

Ratsch! In einem Augenblick war alles vorüber, alles verschwunden! Mit einem Schlage wurde Herr Thomassière aus seinem köstlichen, aufregenden Traum in die Alltäglichkeit eines kleinen Restaurants versetzt, wo der Kellner ihn mit sehr ernster Miene fragte: »Chester, Camembert, Pont-l'Evêque oder Roquefort? ...«

»Was Sie wollen,« erwiderte der Notar.

Immer noch mußte er nach dem Fenster hinblicken, das jetzt durch die roten Vorhänge verhüllt war, hinter denen er sich jene lebendige Statue und jene langen, goldigen Haare ausmalte, die er betrachtet, bewundert und hatte verschwinden sehen.

Wenn sie Fräulein Vernier wäre? ... Gabri! ... Sehr schöne Haare hatte sie ohne Zweifel, und wer weiß, ob sie es nicht war! ... Ach! Babylon!

Erst als der Kellner zu ihm sagte, er werde den komischen Anfang versäumen und Fräulein Desrignes trete auch in dem Stücke auf, entschloß sich Herr Thomassière, der von den Lichtstrahlen durch die roten Vorhänge wie hypnotisiert dasaß, seinen Platz am Fenster aufzugeben und hinunter auf die Straße zu gehen.

Ueber seinen Wanderungen durch Paris und allen Sehenswürdigkeiten hatte er es ganz unterlassen, die Theaterzettel zu lesen oder sich im voraus ein Billet für den Abend zu holen. Von der Kasse wurde er an die Billethändler gewiesen, die für einen Parkettplatz zwanzig Franken verlangten. Dazu noch bekam er, ohne es zu wissen, einen solchen mitten unter der Claque. Zwar fand er den Preis sehr hoch, aber er war ja ausdrücklich hergekommen, um Fräulein Vernier zu sehen; daher mußte er den Platz nehmen, um sie das berühmte Couplet über die weltliche Erziehung singen zu hören.

»Gut, ich nehme ihn für zwanzig Franken!«

In seinem Innern fing er an, Theodor recht zu geben, wenn dieser ihn immer um Geld bat: »Wenn du wüßtest, wie teuer alles in Paris ist!« ...

Der reine Abgrund, zum Teufel! Umsonst gibt es hier keine Theaterplätze! Alles ist teuer, sehr teuer! Theodor hatte recht!

*

Drittes Kapitel.

Die Revue am Schluß der Saison zog das gewohnte Publikum an: Journalisten, Boulevardiers, Mitglieder der Klubs, Börsenleute, Elegants aus den verschiedenen Cercles, große Börsenmakler, vornehme und nicht vornehme Lebemänner. Zwischen diesen schwarzen Fräcken und weißen Halsbinden sah Herr Thomassière mit seinem scharfgeschnittenen Gesicht und seinem langen Ueberrock im heimatlichen Schnitt etwas sonderbar aus; doch achtete man nicht auf ihn, ebensowenig, als er darauf achtete. Seine Aufmerksamkeit wurde durch den prächtigen, neu vergoldeten kleinen Zuschauerraum in Anspruch genommen, der viel schöner als selbst der im großen Theater zu Bordeaux war.

Ungeduldig erwartete er das Aufgehen des Vorhangs, und als vor diesem ein wohlbeleibter, freundlich lächelnder Mann erschien, zum Publikum sprach und einige Witze zum besten gab, da stieß der Nachbar Herrn Thomassière mit dem Ellbogen an und sagte zu ihm: »Das ist Darthenay, wir müssen ihn beklatschen!«

Herr Thomassière bemerkte in der That, daß man um ihn herum überall klatschte; daher that er es auch, und Darthenay, der den zum Gevatter gewordenen Regisseur machte, verkündete dem Publikum, Herr Dumas und Herr Gounod hätten ihr Wort, für das Palais Royal-Theater eine Revue zu verfassen, nicht gehalten; daher hätte sich die Direktion an die Herren Pierre, Paul und Jacques, Dekadenten und Symbolisten Neue Dichterschule des Pessimismus mit Schwärmerei für das Uebersinnliche. Anm. d. Uebers., deren Eifer, obwohl unvorbereitet, sich aufs glänzendste bewährt habe; das Publikum werde daher gebeten, die Prosa dieser Neulinge anstatt des Stückes der beiden berühmten Meister günstig aufzunehmen; so ließe sich auch der Titel des neuen Stückes verstehen: Ote-toi de là que je m'y mette!

Diese Ankündigung, an der Herr Thomassière durchaus nichts Komisches fand, entfesselte im Theater einen Sturm der Heiterkeit. Eine seltsam aussehende Frau – Fräulein Desvignes, wie es hieß – rief vom Balkon aus, wo sie saß, mit einem tiefen Lachen aus ihrem breiten Munde: »Bravo!«

Es war dem Notar so, als bestünde seine Umgebung aus besonders Eingeweihten, die sich über Witze freuten, von denen er fast nichts verstand.

»Es muß sicher äußerst spaßhaft sein,« dachte er bei sich, »da sie darüber lachen!«

Die Revue nahm ihren Anfang. Als der Vorhang aufging, bemerkte Herr Thomassière einen öffentlichen Platz – wie bei Molière – und wunderbare Figuren, die dem Notar ganz unverständlich erschienen, gingen über die Bühne: Frauen in unglaublichen Kostümen, die bald neue Zeitungen, bald Briefmarken darstellten. So antwortete eine von ihnen, wenn sie gefragt wurde: »Ich bin das Wasser der Dhuys!« Pariser Wasserleitungswasser. Anm. d. Uebers. und eine andre: »Ich bin das neue Postgebäude!« Jede Antwort rief ein ungeheures Gelächter hervor. Die Dame vom Balkon, Fräulein Desvignes, verschwand in einem solchen Ausbruch der allgemeinen Heiterkeit, nachdem sie seltsamerweise ein Couplet gesungen hatte. Herr Thomassière fragte sich, ob er wirklich so dumm sei, oder ob die Pariser eine ganz besondere Sprache redeten; denn wieder ertönte ein neuer Sturm der Heiterkeit durch das Haus, als auf der Bühne ein Herr im schwarzen Frack, weißer Binde und Klapphut unter dem Arm auf die Frage des Gevatters, wer er sei, antwortete: »Ich bin der Käse!«

Diese Antwort war von einer Bewegung begleitet, als wollte der Herr im Frack damit sagen: »Sehen Sie es denn nicht?« ...

Herr Thomassière fing an, an seinem Verstande zu zweifeln, während jener Herr im tadellosen Anzug und dem Unterpräfekten von Bergerac sprechend ähnlich, nach einer sentimentalen Melodie folgendes Couplet trällerte:

Au dessert, voyez l'avantage:
– O Chester, c'est un très bon tour! –
L'esprit a fait naître l'amour
Entre la poire et le fromage!
«

Zu seinem Erstaunen hörte Herr Thomassière einen seiner Nachbarn ganz laut sagen: »Es ist zum Totlachen!«

Und dieser Nachbar warf einen fast erzürnten Blick auf ihn, der ihn erstaunt zu fragen schien, warum er sich denn nicht totlache.

Wahrscheinlich war er ein Verwandter des Verfassers oder des Herrn, der dem Unterpräfekten so ähnlich sah.

Uebrigens war alles dies für Herrn Thomassière nur Nebensache; sein Interesse war auf das Erscheinen des Fräulein Vernier gerichtet und er erwartete die Ankunft der »weltlichen Erziehung«, wie auf der Jagd in St. Alvère das Aufgehen einer Kette Rebhühner. Ein stärkeres Einsetzen des Orchesters verkündete plötzlich das Erscheinen der »weltlichen Erziehung«. Sie war ein großes, schönes, blondes Mädchen, in schwarzem Kostüm, das Professorenbarett keck und schief auf ihrem üppigen, goldigen Haar, mit schwarzen Handschuhen, die bis zum Ellbogen gingen und ihre weiße Haut noch mehr hervortreten ließen; heiter und anmutig stand sie in ihrem tief ausgeschnittenen Kleide da und schritt dann mit triumphierender Sicherheit über die Bühne; ihre Lippen, ihre Zähne, Augen, ihr Hals zeugten von strotzender Gesundheit und üppiger Lebenslust, und so stellte sie sich mit der glücklichen Kühnheit der Jugend dicht vor den Souffleurkasten.

Herr Thomassière saß da wie geblendet.

Dieses schwarze, eng anliegende Kostüm, dieser weiße Teint verliehen dem schönen Mädchen einen unsäglichen Reiz, und als sie mit lauter, wenn auch bisweilen etwas falscher, aber klarer und heiterer Stimme das schelmische Couplet über die weltliche Erziehung sang, da klatschte das ganze Haus Beifall und Herr Thomassière mehr als alle andern.

Sein Nachbar stieß ihn darauf mit dem Ellbogen an und sagte in einem Tone, mit dem man etwa zu einem Schüler genügend sagen würde, zu ihm: »Das war recht! Diesmal haben Sie es schon besser gemacht!«

Aber kaum hatte der Nachbar Herrn Thomassière beglückwünscht, als der Notar überhaupt erst gewahr wurde, daß er geklatscht hatte! Ja, er, Thomassière, der absichtlich aus St. Alvère hergekommen war, um Theodor diesem Fräulein Gabri abspenstig zu machen, beklatschte unwillkürlich dieses Fräulein, ohne sich der Ungeheuerlichkeit seiner Unvorsichtigkeit bewußt zu werden! Wo stand ihm nur der Kopf? War er denn wirklich närrisch geworden? Durchaus nicht, aber die Gabri war so hübsch, und alle Nachbarn waren so begeistert, daß ihre Befriedigung sich auch dem Notar mitteilte. Es war zweifellos der Einfluß des Magnetismus.

Aber nein: Herr Thomassière befand sich nur unter dem Einfluß des schönen Mädchens, das im Glanze seiner Schönheit dort im Vordergrunde der Bühne stand. Sein Gefühl bei ihrem Anblick war sogar ein gemischtes, denn wenn es auch einerseits nicht frei von Zorn gegen Theodor war, so sprach es ihm auch wieder von mildernden Umständen. O! über diesen verteufelten Theodor! Bald fühlte Herr Thomassière sich geneigt, ihm seinen Leichtsinn des schönen Mädchens wegen zu verzeihen, bald empfand er eine Art von dumpfer, unbewußter Eifersucht auf ihn. Bei solchen Gedanken klatschte er fortwährend und so heftig, daß er alles übertönte. Machte die »weltliche Erziehung« lächelnd irgend einen Kalauer, so klatschte er; der Kalauer ließ ihn zwar kalt, aber nicht das Lächeln – ein reizendes Lächeln, das die blendend weißen Zähne zwischen den roten Lippen zeigte. Schließlich konnte er sich nicht mehr halten wie ein durchgehendes Pferd, und klatschte so laut, daß ein Herr zwei Reihen vor ihm sich umdrehte und zornigen Gesichts ihm laut zurief: »Ruhig da die Claque!«

Die Claque? Aha! Jener Herr machte sich augenscheinlich nichts aus der Gabri, da er keinen Geschmack hatte; wahrscheinlich protegierte er eine Nebenbuhlerin des Fräulein Vernier! Der Unverschämte erlaubte sich zu rufen: »Ruhig die Claque!«

Das Erstaunen des Herrn Thomassière wurde indessen noch größer, als sein Nachbar, derselbe, der ihn vorher mit dem Ellbogen angestoßen hatte, ihm in rauhem Ton zuflüsterte: »Was fällt Ihnen denn ein, ganz allein zu klatschen ... wollen Sie denn das Stück auspfeifen lassen?«

»Auspfeifen? Wer sollte das wagen?«

»Spielen Sie nicht den Einfältigen,« erwiderte der Nachbar, »und warten Sie, bis ich das Zeichen gebe!«

Dem Notar brauste es in den Ohren, als wenn man glühendes Eisen ins Wasser tauchte. Er spielte jetzt den Einfältigen! Man hatte ihn soeben einfältig genannt! Einen Augenblick dachte er daran, aufzustehen und diesen Unverschämten vor dem ganzen Hause, vor Fräulein Gabri zu ohrfeigen, aber er bezwang sich; es war ihm, als betrachtete die »weltliche Erziehung« ihn mit mildem Auge und bäte ihn, ruhig zu bleiben. Und er täuschte sich nicht; sagte die weltliche Erziehung ihm doch über die Lampen hinweg: »Sie haben mich verstanden und ich verstehe Sie! Bleiben Sie ruhig! Derjenige, welcher Ihnen zugerufen hat, ist ein Flegel und Ihr Nachbar ein Bauer!«

Mit einem Schlußcouplet ging übrigens der Akt nun zu Ende und Fräulein Vernier machte eine Bewegung, die augenscheinlich in irgend einem choreographischen Konservatorium des Quartier Latin einstudiert war. Die Nachbarn des Notars klatschten und riefen ungestüm: »Raus! Raus!« und wie in einer Apotheose bemerkte Herr Thomassière, nachdem der rote Vorhang wieder in die Höhe gegangen war, zwischen den bunten Kostümen der Statistinnen, dem Frack des Käse und den kurzen Röckchen der Damen, die entweder das elektrische Licht oder das Telephon oder das Holzpflaster darstellten, noch einmal mit hinreißender Bewunderung den weißen, in Schwarz gefaßten Körper dieses lebenden Rubens, der die »weltliche Erziehung« gab.

Dann verschwand alles aufs neue! Mit dem Fallen des Vorhangs war der Traum erloschen! Aber in dem Gruß der Gabri ans Publikum glaubte Herr Thomassière ein kleines Kopfnicken für ihn speziell, einen wärmeren Dank mit einem ganz besonderen Lächeln herausgefunden zu haben; er erhob sich noch ganz begeistert, um hinauszugehen, da sagte in demselben Augenblick noch sein Nachbar mit dem Ellbogen ziemlich barsch zu ihm: »Vor allem rate ich Ihnen, nicht im dritten Akte wieder anzufangen!«

Diesmal kitzelte es Herrn Thomassière aber in den Fingern, die früher nicht bloß die Feder zu führen verstanden, sondern auch eine Flinte abzufeuern, und die sogar das Florett gegen den kleinen Lieutenant vom dritten Regiment geführt haben würden! ...

Er faßte seinen unangenehmen Nachbarn zu dessen großem Erstaunen bei einem Knopfe seines Rockes und fragte ihn kurz: »Würden Sie gefälligst die Güte haben, mir zu erklären, was Sie meine Angelegenheiten und persönlichen Bewegungen angehen?«

Der Nachbar schien Herrn Thomassière etwas verdutzt.

»Wie,« sagte er, »was sie mich angehen? ... Ich bekümmere mich um das, was mich angeht! Hat man je gesehen, daß ein Claqueur vor dem Chef geklatscht hat?«

»Ein Claqueur! ... Chef! ...«

Herr Thomassière fiel aus den Wolken.

»Man kann dadurch,« fuhr der andre aufgeregt fort, »das Stück zu Falle bringen, und Ihre Aufgabe ist es nicht, Fiaskos zu machen!«

»Aber,« stammelte der Notar ganz demütig, »bin ich denn hier nicht als Zuschauer, sondern als Claqueur?«

»Nur Claqueur, ganz einfach.«

»Aber ich habe zwanzig Franken bezahlt für ...«

Der Chef der Claque unterbrach ihn achselzuckend: »Gerade deshalb; was sind zwanzig Franken für eine erste Vorstellung wie diese? Für sieben Louisdor hat man Parkettplätze in den Büreaus verkauft, mein Lieber!«

Mein Lieber, auch noch mein Lieber!

Wie versteinert hatte Herr Thomassière jetzt das bittere Gefühl, als sänke er von seiner Höhe herab. Nur als Claqueur sollte er Beifall geklatscht und zwanzig Franken bezahlt haben, um von dem Chef der Claque Einfältiger und mein Lieber genannt zu werden! Das war zu viel! Er mußte in die frische Luft hinaus und den Sternen sein Leid klagen!

Noch beim Hinausgehen wollte er seinen Nachbar um Aufklärung bitten; aber der Oberste der Claqueurs, sein Chef, sagte leise zu ihm: »Seien Sie doch endlich still! Es ist ein wahrer Skandal! Das ganze Haus hört es schon, und das macht einen schlechten Eindruck!«

Es blieb ihm also nichts andres übrig, als zu gehorchen, still zu sein und keinen Skandal zu machen. Aber unter keinen Umständen wollte er auf seinen Platz zurück, um sich nicht wieder von dem ersten besten »Ruhig da die Claque!« zurufen und von jenem Menschen »mein Lieber« nennen zu lassen. Dieser gut aussehende Mensch mit der weißen Halsbinde, der anfangs so höflich gewesen war, war sein Chef! Er, der Unbekannte, nannte ihn sein Lieber! Ihn, einen der ältesten Rechtsgelehrten der Landschaft Perigord!

Wütend über dieses »mein Lieber« war er die Treppe hinuntergegangen und trat durch die Glasthüre auf die Rue Montpensier.

Den Gedanken an dieses Abenteuer wurde er nicht los. Nein, nein, unter keinen Umständen wollte er auf seinen Platz zurück. Oh, über dieses Paris! Man bezahlte hier zwanzig Franken für das Recht, sich von irgend einem bezahlten Claqueur Beleidigungen sagen zu lassen! Nein, nicht mehr zurück, auf keinen Fall! Auf der andern Seite aber hatte er eine fast unwiderstehliche Lust, Fräulein Vernier wiederzusehen, mit ihr zu sprechen, ihr etwa folgende kleine Rede zu halten, die er sich eben wie die für Theodor zurecht gemacht hatte: »Sie sind sicher ein sehr, sehr hübsches Mädchen, und die Schönheit hat unbestreitbare Rechte wie das Talent: ist das aber ein Grund für ... ein Grund ...« Den Schluß würde er schon finden.

Langsam ging er so auf dem Trottoir auf und ab, wo junge Leute in weißen Halsbinden, wie der Chef der Claque, ihre Cigarren rauchten, und betrachtete die hell erleuchteten Fenster der Schauspielerinnen-Garderoben in der hohen, eintönigen Wand. In einer solchen war Gabri auch und kleidete sich dort um, ja vielleicht ... Er dachte indessen diesen Gedanken nicht aus; der nur zu kurze Traum vor zwei Stunden von jenem Restaurant aus stieg wieder in ihm auf ... Oh! hätte er doch gewagt!

Und warum sollte er nicht wagen? Da sie Theodor kannte, so konnte sie ihn sicherlich auch und würde ihn sofort empfangen: und wie das Gespenst der Pflicht würde er dann vor das schöne Mädchen treten: »Sie sind sicher ein sehr hübsches Mädchen, aber ...«

In Gedanken sah er sie blaß und rot werden, zittern.

Wie schön mußte Fräulein Gabri sein, wenn sie zitterte!

Als er vor dem Künstlereingang vorüberkam, hörte er, wie einer von zwei jungen Leuten, die ihre Zwischenaktscigarre rauchten, zum andern sagte: »Ich habe meine Karte durch den Schließer hinaufgeschickt!«

»Hat er das gethan?«

»Oh, er ist sehr gefällig!«

Warum sollte denn Herr Thomassière es nicht ebenso machen, wie diese jungen Leute, da der Schließer so gefällig war? Karten mit G. Thomassière, Notar a. D. hatte er bei sich, der Schließer würde eine dem Fräulein Vernier überbringen, der aus dem Namen schon alles weitere klar werden würde. Thomassière! Den Namen wagte die Unglückliche im Geiste zu tragen!

»Frau Thomassière! Nein, tausendmal nein! Niemals, Mag sie auch noch so schön sein, das ist noch immer kein Grund! ...«

Unwillkürlich war er bei diesen Gedanken die kleine Treppe zum Theater Stufe für Stufe hinaufgestiegen, und schon stand er mit seiner Karte in der Hand vor dem Schließer – der übrigens nicht so gefällig aussah, wie die jungen Leute sagten – als dieser mechanisch wie im Phonographentone die unvermeidliche Redensart hören ließ: »Wohin gehen Sie, mein Herr?«

»Ich ... ich gehe nicht,« antwortete Herr Thomassière, »sondern ich komme, um Sie zu bitten, diese Karte ... der Dame zu bringen, die die ›weltliche Erziehung‹ spielt!«

»Ach so!« erwiderte etwas spöttisch der Schließer. »Lassen Sie sie gefälligst hier ...«

Dabei betrachtete er, langsam buchstabierend, die Karte: »G. Thomassière, Notar a. D.!« Der Titel flößte dem Beamten Vertrauen ein. Notar a. D.! Das ist nichts Unmoralisches; vielleicht hatte die Schauspielerin sogar irgend ein Privatgeschäft mit diesem so ernst aussehenden Herrn.

»Bitte, nehmen Sie dort Platz. Niemand, der nicht zum Theater gehört, darf diese Treppen hinaufgehen!«

Herrn Thomassière bemächtigte sich nicht nur ein außerordentliches Erstaunen, sondern auch eine verwirrende Neugierde, als er in der Schließerloge Platz nahm, während der gute Mann mit der Karte zu Fräulein Gabri hinaufging. Wenn auch die Schließerloge mit ihrer unsaubern Tapete und den alten Bildern an den Wänden dem Ex-Notar häßlich erschien, so ließen dieser kleine Raum im Theater, diese Thür, die im Hintergründe das Coulissenleben zeigte, doch Herrn Thomassière das Blut schneller durch die Adern rinnen, erfreuten und hypnotisierten ihn. Im Theater! Er, der Notar von St. Alvère saß in der Schließerloge eines Theaters! ... Und jene Treppe führte, wie die Stufen zu irgend einer Hölle, hinauf zu den Garderoben der Schauspielerinnen, wo die soeben gesehenen schönen Frauen sich entkleideten und ihre Haare auflösten!

Es war dem alten Thomassière eigentümlich zu Mute, das Blut summte ihm in den Ohren, und es überkam ihn plötzlich die Lust davonzueilen, Fräulein Vernier, das Theater, die Schauspielerinnen zu fliehen ... Aber wohin? Das wußte er nicht, und daher zögerte er ... Jetzt wiederum wollte er geradeswegs hinter dem Schließer zur Loge des Fräulein Gabri hinaufgehen.

Die Wiederkehr des gefälligen Mannes machte seiner Unentschlossenheit ein Ende. Er bat Herrn Thomassière zu warten, da der dritte Akt sich seinem Ende nähere und dann der Notar eine mündliche Antwort auf seine Karte erhalten würde.

»Vortrefflich. Danke bestens. Ich werde warten.«

Der Gedanke, das schöne Mädchen aus nächster Nähe zu sehen, machte ihm Mut. Auf keinen Fall würde er mit der Wahrheit zurückhalten. Seine Worte an sie würden ungefähr folgende sein: »Ohne Zweifel sind Sie hübsch, sehr hübsch, mein Fräulein, aber ...« Aber, aber ... nach diesem verteufelten Aber indessen fand er kein Wort, das sowohl seine deutliche Absicht als auch Höflichkeit ausdrückte. Und doch wollte er Entschlossenheit zeigen, ohne grob zu sein, Bestimmtheit, ohne zu verletzen.

»Aber das ist kein Grund, um meinen Sohn auf unrechte Wege zu bringen!«

»Aber das ist kein Grund, um Frau Thomassière zu werden!«

»Aber ...«

Genug. Wenn er sich erst der Sirene gegenüber befände, so würde er das Schlußwort zu diesem Aber schon finden. Doch da hatte er es gefunden. Sirene hieß das Wort, und laut und deutlich würde er ihr ins Gesicht sagen: »Sirene! Die Sirene, der Sirene ...« In diesem Augenblicke bat der Schließer ihn höflich, wieder hinabzugehen, da die Verwaltung keinem nicht zum Theater Gehörigen den Aufenthalt in der Loge gestatte.

»Gut ... gut ... ich werde unten warten! Danke bestens.«

In der Straße suchte er seine Haltung wiederzugewinnen. Das Fräulein mußte sicher bald erscheinen und die Antwort auf die Karte in Person überbringen. Beim Aufundabgehen ließ Herr Thomassière in seiner Spannung keinen Blick von dem Theater, dieser hohen weißen Mauer mit ihren kleinen viereckigen Fenstern darin, die wie im maurischen Stil in die Straße hineinragten. Er lauerte auf das Erscheinen des Fräulein Vernier auf der Wendeltreppe und ließ kein Auge von der Holztreppe, der braun bemalten Wand, den Stufen, die durch so viele niedliche, leicht beschwingte Füßchen ausgetreten waren. Wie sonderbar erregt war er darüber, daß er zu einer Zeit, wo er gewöhnlich schon so schön in St. Alvère schlief, sich mitten im Pariser Leben befand, vor diesem Theater auf dem Trottoir hin und her ging, den Blick auf den Künstlereingang gerichtet, auf die Kutscher, deren Wagen in langer Reihe dastanden, auf die offenen Gasthäuser, denen warme Küchendünste und berauschende Hochzeitsmusik entströmten und hinter deren verhängten Fenstern sich die tanzenden Paare abzeichneten.

Sonderbare Gedanken begannen in ihm zu gären, Schwindel erfaßte sein Hirn, es summte ihm in den Ohren – vielleicht das Geräusch des Flügelschlags der blauen Schmetterlinge aus seiner Jugendzeit!

*

Viertes Kapitel.

Herr Thomassière wäre bei einer plötzlichen Wendung vor dem Künstlereingang zu seiner großen Ueberraschung fast an eine schöne Person angerannt, die, eingehüllt in einen blauen Fuchspelzmantel, aus dem Theater kam. Sie war groß, blond, trug einen schwarzen Schleier und hielt in der Hand ein kleines Täschchen von bläulichem Maroquin, aus dem eine Visitenkarte hervorguckte, wie die von einem Taschenspieler forcierte Karte aus dem Spiel hervorsteht, und Herr Thomassière erkannte sie sogleich als die seinige. Fräulein Vernier brachte die Antwort. Endlich sollte er dem Fräulein Gabri den Kopf zurechtsetzen können!

Sie drehte zunächst den Kopf lebhaft nach rechts und links, um ihre Umgebung zu prüfen, ließ dann ihren Blick auf dem ehemaligen Notar haften und musterte ihn schnell mit dem Auge eines Auktionators, der irgend einen Gegenstand abschätzt. Dann trat sie auf ihn zu, indem sie auf die Karte deutete, was augenscheinlich heißen sollte: »Sind Sie der Herr, der mir das geschickt hat? ...«

Der Notar seinerseits war in großer Aufregung näher getreten und sagte, nachdem er unbewußt den Hut abgezogen hatte: »Mein Fräulein, ich habe die Ehre ...«

»Bitte, setzen Sie doch den Hut auf,« sagte das hübsche Mädchen ... »Herr ... Herr ... Herr Thomassière? ... G. Thomassière, nicht wahr?«

»Jawohl, Thomassière ... Thomassière Vater ... Gaston Thomassière.«

»Ich habe nicht das Vergnügen ...«

»Nein,« unterbrach sie der ehemalige Notar, »das ist wahr; indessen bin ich einzig und allein nach Paris gekommen, um mit Ihnen von Theodor zu sprechen.«

Herrn Thomassière schien es, als wenn Fräulein Vernier leicht den Kopf in die Höhe höbe und aussähe, als suchte sie zu ergründen, von welchem Theodor man wohl mit ihr zu sprechen wünschte. Jedenfalls wollte sie sich damit ein Ansehen geben, als schlaue Pariserin, die sie war.

»Mit einem Wort, gnädiges Fräulein,« sagte der Notar mit einer gewissen Festigkeit, »ich möchte gern einen Augenblick mit Ihnen sprechen. Es handelt sich um eine ernste Angelegenheit, wie Sie sich denken können.«

Das hübsche Mädchen lachte unter ihrem Schleier herzlich auf.

»Mit mir sprechen? ... Sie sind köstlich! ... Eine ernste Angelegenheit?«

Doch Vater Thomassière, der seine Stimme erhoben hatte, war gar nicht lächerlich zu Mute.

Fräulein Gabri betrachtete ihn noch einen Augenblick zögernd und fragte sich, woher wohl dieses Original käme; dann brach sie wiederum in ein heiteres Lachen aus und sagte lebhaft: »Na! Sie haben übrigens Glück, daß mein Mann noch nicht zurück ist von seinen Gütern! ... Ach, über diese Jagd! Wenn Sie mir vielleicht einen Rebhuhnflügel anbieten wollen, ich sterbe vor Hunger! Dabei können wir ja plaudern!«

Herr Thomassière war starr über die schnell gemachte Bekanntschaft. Soeben noch hatte das hübsche Mädchen leichte Melodieen über die »weltliche Erziehung« gesungen, und jetzt stand er dicht vor ihr in einer Straße von Paris, und sie zog ihn am Arme zu einem jener Wagen dort hin, deren Laternen wie eine Reihe von Leuchtkäfern erglänzten. Sie faßte ihn in der That am Arm, und als sie in den Wagen stieg, dessen Fenster sie herabließ, während Herr Thomassière noch auf dem Trottoir stand, warf sie ihm in leichtem Tone die Frage zu: »Ins Café Anglais, nicht wahr?«

»Café Anglais, jawohl,« stammelte der Notar verdutzt.

Dann gehorchte er der einladenden Bewegung, die Fräulein Gabri mit ihrer kleinen Hand machte, und nahm neben ihr im Wagen Platz, während der Kutscher seine Pferde nach dem Boulevard zu in Bewegung setzte.

Herr Thomassière wußte nicht, ob er wache oder träume. Saß er wirklich neben einem hübschen Mädchen in einem geschlossenen Wagen, er, der vor noch nicht vier Tagen das Echo von Vésone unter den Bäumen seines Gartens in St. Alvère gelesen hatte? War er etwa betrunken, und wie war das geschehen?

Aus der Nähe schien ihm Fräulein Vernier noch hübscher als aus der Ferne. Wenn er sie, ohne ein Wort zu sprechen, von der Seite anblickte, so erschien ihm dies heitere Profil der Blondine, das er nur undeutlich sehen konnte, wirklich bezaubernd. Vor allem bewunderte er das fein geschnittene Ohr und den Nacken, den die aufgenommenen Haare frei ließen; oh! er war entzückend, weiß, voll ...

»Thut es Ihnen nichts, wenn ich das Fenster herunterlasse?« fragte sie. »Oder frieren Sie?«

Herr Thomassière war versucht zu antworten: »Im Gegenteil!« Jedoch fand er dieses Wort zu gewagt und ersetzte es durch eine Handbewegung.

»Ich ersticke,« sagte die Gabri und sog mit ihren roten Lippen und erweiterten Nasenflügeln die Straßenluft ein. »Und dabei weiß ich nicht, wo mir der Magen sitzt,« fügte sie hinzu! »Denken Sie sich, ich habe nicht zu Mittag gegessen!«

Nicht Mittag gegessen! Herrn Thomassière überkam eine Art von Erstaunen, vermischt mit Mitleid, als wenn irgend eine traurige Angelegenheit Fräulein Gabri zur Enthaltsamkeit verurteilt hätte. Nicht zu Mittag gegessen!

»Jawohl, und zwar wegen jener Depesche, die ich plötzlich erhalten habe.«

»Welche Depesche?« fragte der Notar.

»Nun ... die vom Regisseur. Bei Tische werde ich Ihnen das erzählen ... Ah! Endlich sind wir da! Werde ich aber einhauen!«

Herr Thomassière verstand sie offenbar nicht, doch flößte ein gewisser Instinkt ihm Mitleid mit dieser Gabri ein, dem armen Mädchen, das nicht zu Mittag gegessen hatte und jetzt ohne alle und jede Poesie vom Einhauen sprach. Sie war wenigstens offenherzig. Und dann hatte sie einen so hübschen Nacken, sah dazu auch gar nicht bösartig aus. Herr Thomassière entschuldigte zwar Theodor durchaus nicht, o nein, aber er begriff ihn.

Der Diener des Restaurants hatte Fräulein Vernier beim Aussteigen geholfen, während der Notar den Kutscher bezahlte. Dann stieg er, Gaston Thomassière, Notar in St. Alvère, hinter der langen Schleppe, die über den Teppich des Restaurants rauschte, die enge Treppe hinauf. Ein wenig eingeschüchtert, sein Bild im strahlenden Licht der kleinen Edisonlampen von den glänzenden Spiegeln zurückgeworfen zu sehen und über einer Glasthüre »Eintritt zu den Salons« zu lesen, legte er sich, über die Ecken des Teppichs stolpernd, die Frage vor, was wohl sein Freund Langlade von ihm denken würde, wenn er sähe, wie er dem leichten Schritt eines hübschen Mädchens folgte, das eben noch vor zwölfhundert Menschen Couplets über die weltliche Erziehung gesungen hatte.

Bah! Er würde es ganz in der Ordnung finden, ihn sogar beneiden! Uebrigens wußte ja Thomassière auch, warum er Fräulein Gabri zum Nachtessen führte! Wegen seines Theodor! Sicher würde er, noch ehe eine Stunde vergangen, die Absage des Mädchens erhalten haben. »Ja, Sie sind hübsch, verführerisch, Fräulein, aber ... aber ...«

Thomassière vergaß übrigens seine Rede, als er allein in dem Kabinett des Café Anglais mit der Speisekarte in der Hand, die ihm der ehrerbietig und zugleich spöttisch aussehende Kellner überreicht hatte, vor Fräulein Vernier stand, die sich auf ein kleines Sofa von rotem Plüsch geworfen hatte und erklärte, sie könnte nicht mehr.

Um in dieses Kabinett zu gelangen, hatte man lange Korridore durchschritten, und Herr Thomassière war, einen Augenblick geradeaus gehend, in einen großen, roten Salon gekommen, an dessen Schwelle der Kellner ihm in achtungsvollem Tone zugerufen hatte: »Nicht da, mein Herr, nicht da! Dort ist Grand Seize!«

Während Fräulein Gabri lachte, war Herrn Thomassière in dem Tone des Kellners eine Art von Ehrfurcht aufgefallen, als stehe er vor der geöffneten Thür eines Tempels. Grand Seize! Für den Perigordiner lag eine gewisse geheimnisvolle Harmonie in diesen zwei Worten ... Grand Seize! ... Nicht anders hätte der Kellner von dem Tempel der Isis gesprochen.

»Sie sind ein Kenner,« sagte Fräulein Gabri etwas spöttisch, nachdem sie sich gesetzt hatte.

»Ich?«

»Ja ... Grand Seize! Das erinnert Sie wohl an Ihre Jugend?«

Herr Thomassière verzog das Gesicht und musterte den langen Zettel, den ihm der Kellner hingereicht hatte.

Bei der Betrachtung der schlecht geschriebenen Namen der Tagesgerichte geriet der Notar in große Verlegenheit: Fleischbrühe mit kleinen Kuchen à la Bourdaloue. Hier Bourdaloue? Samtsuppe, Purée Condé, Mandelmilchsuppe, und sonst noch berühmte Namen, alle berühmt: Timbales à la Rossini, à la Talleyrand! Poularde à la Demidoff! Seezunge à la Joinville! Eis Nesselrode! Diese Karte ist ja ein reines Konversationslexikon, der Katalog eines Pantheon!

»Armorikanische oder Marennes?« fragte der Kellner.

»Armorikanische,« bestellte Thomassière, den der Name verführte, ohne zu wissen, was er verlangte. Vor Fräulein Gabri durfte er doch nicht wie ein Provinziale erscheinen! Er richtete sich hoch auf und hielt sein mageres Gesicht steif auf seinem ungeheuren Halstuch.

Ein andrer Kellner, dick und fett, aber sehr ernst – der Weinkellner – trat herein.

»Welchen Wein?«

»Vom besten,« sagte Thomassière. »Uebrigens wird das Fräulein selbst bestellen, was ihr beliebt,« fügte er hinzu, um aus der Verlegenheit zu kommen.

Erleichtert reichte er Gabri die Karte hin, und wie Fräulein Vernier aussuchte, so wiederholte der Kellner: »Krebssuppe, Kuchen à la Montglas. Sehr gut! Amerikanischen Hummer, gut! Niocchi! Wachtelragout mit Lattich, Aspic von Perlhühnern, getrüffeltes Rebhuhn! Sehr wohl! Englischen Pudding mit Weinsauce, nicht wahr? Oh! Wenn Madame davon gegessen haben werden! ...«

Thomassière war von einem unbekannten aber köstlichen Zauber befangen. Nacheinander richtete er seine Blicke auf den Kellner, das hübsche Mädchen, den alltäglichen Spiegel, in den so viele ihre Namen verschlungen hineingekritzelt hatten, und durch die Scheiben des gewölbten Fensters, auf den Boulevard, wo die Fußgänger schon seltener wurden, und auf die Wagen, die mit den leuchtenden Punkten ihrer Laternen dahineilten ... Der ganze Vorgang erschien ihm, dem ehemaligen Notar, wie ein Märchen aus Tausend und Eine Nacht. Die Reisen des Seefahrers Sindbad waren sicherlich nicht phantastischer und unwahrscheinlicher als dieses außerordentliche Abenteuer; und was würde Langlade sagen, wenn er ahnen könnte, sein Freund Gaston soupiere im Café Anglais ganz allein mit der berühmten Schauspielerin Gabri!

Aber unmöglich! Um diese Zeit schlief Langlade in seinem perigordinischen Hause den festen Schlaf des Landlebens ohne eine Ahnung von den Überraschungen, die Paris dem Freunde Thomassière bereitete!

Doch wäre es dem Notar gar nicht so unlieb gewesen, wenn Langlade nicht geschlafen hätte, sondern hier gewesen wäre und die Apotheose Thomassière mitangeblickt hätte, der sich anschickte, vor das gezähmte Fräulein Vernier wie ein rächender Richter zu treten!

Denn augenscheinlich war sie gezähmt, und Theodor mußte ihr entschlüpfen. Inzwischen aß sie. Das arme Kind! Sie hatte nicht gelogen, als sie behauptete, großen Hunger zu haben. Ihre hübschen, runden, weißen Finger zerbrachen mit großer Lebhaftigkeit die roten Krebsscheren, und bisweilen brachte sie in niedlicher Weise ihre rosigen Nägel an ihre Lippen, nachdem sie sie vorher an der Serviette abgewischt hatte. Dabei aß sie unaufhörlich, und das ganze Küchen-Konversationslexikon wurde durchgenommen.

Thomassière betrachtete sie mit leisem Schauer, mit Bewunderung und Mitleid; Bewunderung für ihre Schönheit, ihre schöne, glänzende Haut, auf der sich der Strahl der Kerzen spiegelte, mit Mitleid für das arme Mädchen, der er nach wenigen Augenblicken den harten Schlag mit den Worten versetzen wollte: »Geben Sie Theodor auf! Sie müssen, ich will es!«

»Ah!« sagte sie endlich mit einem langen Seufzer der Erleichterung, der köstlich ihre Brust anschwellte, »jetzt fühle ich mich besser! Ich hatte eine Kalfaterung nötig. Jetzt stimmt's wieder!«

»Kalfaterung?« fragte Thomassière.

Gabri lachte.

»Ein Marineausdruck! Ich bin zum erstenmal in Brest aufgetreten und davon ist mir etwas hängen geblieben! ... Ach! Was für ein Leben ist das am Theater! ... Wenn mir jemand gesagt hätte, ich würde heute die weltliche Erziehung singen, so hätte ich geglaubt, er wolle mich zum besten haben!«

Thomassière schien erstaunt.

»Wie, mein liebes Fräulein, Sie wußten nicht? ...«

»Gestern um diese Zeit hatte ich noch keine Ahnung davon ... ja, ich war im Begriff, denken Sie sich, mit der Agentur Robilleau einen Vertrag für Nizza zu unterzeichnen ...«

»Agentur Robilleau?«

»Ja, in der Rue St. Marc. Man bot mir ein annehmbares Engagement an, aber der einzige Haken, den ich darin fand, war, Paris verlassen! Daher segne ich die Gabriele Vernier und ihren Strick! ... Trinken wir ein Glas St. Marceaux auf den Strick der Gabriele Vernier!«

Bei diesen Worten reichte sie mit ihrem nackten, weißen Arm das leere Glas Thomassière hin, der sie starr betrachtete und sich vergebens bemühte, zu verstehen, was sie sagte und was die Worte Gabriele Vernier und Strick bedeuten sollten. Ein Strick! Welcher Strick? Der alte Notar fragte sich wirklich, ob das junge Mädchen nicht irgend ein besonderes, schwer verständliches Idiom spräche; – oder wäre vielleicht das Französisch, das in Paris gesprochen wurde, nicht ganz dasselbe wie das in St. Alvère.

»Den Strick?« wiederholte Thomassière, dessen Augen, Bewegungen und vorgebeugter Kopf die Schauspielerin befragten. »Welcher Strick?«

Sie brach in ein lautes Lachen aus und zeigte dabei ihre prächtigen, gierigen Zähne; dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »In der That, Sie können das nicht wissen! ... Der Strick! Er ist die Ursache der Geldstrafe, die die Gabriele so wütend gemacht hat und mir die Rolle der weltlichen Erziehung eingebracht hat!«

»Ihnen! Wie das?« fiel Thomassière ein. »Sind Sie denn nicht Fräulein Vernier?«

»Ich?«

»Sie!«

Sie richtete ihre blauen, sanften Augen, die in diesem Augenblick ein gewisses Erstaunen ausdrückten, auf ihn.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie sind nicht die Gabri?«

»Ich?«

»Fräulein Gabri?«

»Genug, mein Lieber,« sagte das schöne Mädchen kühl, »haben Sie mich etwa hierher geführt, um mich zum besten zu haben?«

»Nein, nein,« antwortete Thomassière, »hundertmal nein!«

Den Grund konnte er zwar nicht sagen, aber es mißfiel ihm durchaus nicht, daß diese hübsche Blondine nicht Fräulein Gabri war! Mitleid! Ohne Zweifel aus Mitleid! ... Eben noch hatte er sie mit einer gewissen Rührung betrachtet bei dem Gedanken, daß er ihr nach einem Augenblick einen Dolchstoß versetzen, ihr Theodor entreißen sollte ... »Sie sind wahrlich hübsch, sehr hübsch, anbetungswürdig hübsch, gnädiges Fräulein, aber meine Pflicht zwingt mich ...« Ach! die Pflicht zwang ihn augenscheinlich, Fräulein Gabri den Armen Theodors zu entreißen; wenn aber dieses hübsche Mädchen da vor ihm gar nicht Fräulein Gabri war, so zwang ihn ja nichts, ein so schönes Geschöpf zu verletzen. Er konnte ihr ja einfach nur sagen: »Sie sind wahrlich hübsch, sehr hübsch, anbetungswürdig hübsch, gnädiges Fräulein,« und dann konnte er ja seine Rede beendigen, wie er wollte, ohne Grausamkeit, ohne Dolchstoß. Aber was für ein Zauberland war dieses Paris! Komisch! Er hatte Fräulein Vernier eingeladen, und eine andre war gekommen!

»Das Sonderbarste ist, daß diese junge Frau auf den bloßen Anblick meiner Karte hin, ohne weiteres angenommen hat ... Das ist wirklich seltsam!«

In diese Gedanken versunken, betrachtete Herr Thomassière die Schauspielerin jetzt mit einer Art von Nachsicht, da er nicht zu der Notwendigkeit gezwungen war, ihr beim Nachtisch den Text zu lesen.

»Nun also,« sagte sie plötzlich, indem sie eine Mandel knackte, »es ist ein Irrtum, mein Lieber?«

»Irrtum ...«

»Ja, Sie hielten mich für Gabriele Vernier?«

»Ich hatte geglaubt ... meine Karte ... mein Name ...«

»Also war ich nicht um meiner selbst willen geliebt?« sagte sie und brach abermals in ein lautes Lachen aus, wobei sie ihre Zähne zeigte.

»Geliebt ... aber, Madame ... Fräulein ... ich bitte um Verzeihung ... ich ... indessen ... jetzt, da ich die Ehre habe, Sie zu kennen ... bedaure ich nicht ... im Gegenteil ...«

Er zögerte, suchte nach Worten, stammelte ...

»Bah!« sagte das schöne Mädchen, »dabei ist nichts Schlimmes und alles dies ist nur die Schuld Blequinets!«

»Blequinet?«

»Der Regisseur. Er hat die Direktion ersucht, keine Anzeige zu machen, weil eine solche, wie er meinte, das Publikum zurückschrecken würde. Man hat sich daher damit begnügt, einen Streifen über den Theaterzettel zu kleben. Hatten Sie ihn denn nicht gelesen?«

»Nein, gnädiges Fräulein.«

»Nun, wenn Sie den Zettel ganz durchgelesen hätten, so hätten Sie meinen Namen gedruckt auf dem aufgeklebten Streifen lesen können: ›Fräulein Margarete Copin wird in der Rolle der weltlichen Erziehung zum erstenmal auftreten ... ‹«

»Margarete!« sagte Thomassière, »Sie heißen Margarete?«

»Copin.«

»Das ist ein hübscher Name!«

»Montmorency klingt besser, aber das ist etwas andres!«

»Ich spreche nicht von Montmorency ... ich spreche von Margarete ... Wie reizend das klingt, Margarete!«

»Verführer haben mir das oft gesagt. Sie glaubten also die Gabri entführt zu haben?«

»Ich glaubte ... ich bedaure nicht ... im Gegenteil ...«

»Das haben Sie schon einmal gesagt, mein Lieber. Ha, ha, nicht meinetwegen, sondern ... Nun gut, das wird sie wenigstens lehren, ein andres Mal kein solcher Hitzkopf zu sein ...«

»Ah!« sagte Thomassière, »die Gabri ein Hitzkopf.«

»Die Gabri? Ein böses Weib!«

»Wie?«

»Ein böses Weib!«

Obgleich Thomassière richtig verstanden hatte, so wollte er das Wort doch noch einmal hören. Er dachte an Theodor. Ein böses Weib! Armer Theodor!

»Immer,« sagte Margarete Copin, indem sie ihre schönen, frischen Lippen mit dem goldigen Champagner benetzte, dessen Schaum an ihre rosige Nase spritzte, »muß diese Gabri Klatschereien machen. Ich kann mich zwar nicht darüber beklagen, da ich einen Vorteil daraus gezogen habe! Aber welche Zierliese! Wenn es Sie nicht langweilt, so hören Sie also, was vorgefallen ist.«

»Mich langweilen? Im Gegenteil, es interessiert mich aufs äußerste, zunächst weil es sich um sie handelt, und dann weil auch Sie dabei im Spiele sind ... oder vielmehr,« sagte Herr Thomassière, dessen ernstes und würdiges Gesicht trotz allem Lächeln zuckte, zunächst weil es sich um Sie handelt ... und dann ...

»Zur Sache!« fiel Margarete ein. Es hätte fast die Aufführung der Revue verhindert, die so sehnlichst erwartet wurde! Jawohl, seit sie im Mirlitontheater gegeben wurde, verlangte das Publikum sie im Palais Royal ... Das Publikum verlangte sie geradezu! ... Ich ahnte nicht, daß ich in Ote-toi de là que je m'y en mette auftreten würde, und es lag mir viel daran, die erste Aufführung zu sehen, bevor ich mich vielleicht in Nizza vergraben ließ ... Wenngleich Nizza ein Paris im Winter ist, so fehlt ihm doch der Boulevard ... Sind Sie nicht auch dieser Ansicht?

»Nizza kenne ich nicht,« sagte seufzend Gaston Thomassière, der jetzt anfing einzusehen, daß er bei seinen sechzig Jahren doch recht wenig kenne.

»Schade,« sagte Fräulein Copin, »es ist immerhin sehr unterhaltend! Und dann ist Monte Carlo in der Nähe ... wo man sein Vermögen verbessern kann ... aber nein, ich liebe jenen Anblick mehr!« (Und dabei zeigte sie auf die Ecke des Boulevard Italien mit seinen Gaslichtern unter den Sternen ... ) »Kurz man zeigte die Revue für heute an und hielt vorgestern Generalprobe ... bei verschlossenen Thüren, nicht etwa wegen der Couplets, die es wohl verdienten, denn es sind einige etwas starke darunter, sondern wegen der Berichterstatter, die, wie Sie wohl wissen, noch vor der ersten Aufführung die Effekte berichten und die Schlagworte abdrucken, was die Verfasser ärgert ... Also man hält Probe ... Zunächst kommt Gabriele Vernier zu spät, was sie übrigens bekanntermaßen stets thut aus Gewohnheit. Natürlich macht ihr Blequinet seine Bemerkungen darüber ... Sie antwortet: ›Bitte, Blequinet, nicht heute! Ich bin zu aufgeregt; und wenn Sie mir heute Vorwürfe machen, so werde ich unangenehm!‹«

»Unangenehm ...«

»Ja! Gabriele scheint irgend welche Herzensangelegenheiten zu haben! ...«

Thomassière, den dies aufs lebhafteste interessierte, unterbrach sie. »Herzensangelegenheiten!« Augenscheinlich handelte es sich um Theodor. Ob wohl Fräulein Copin davon wußte?

»Nein, gar nichts. Ich weiß nur, daß die Gabri in einer furchtbaren Laune war und beim Ankleiden ihr Kostüm mit einem lauten Krach zerriß. Die Garderobenfrau meinte, sie hätte es absichtlich gethan und ausgesehen wie eine Mänade. Worüber war sie wütend? Wahrscheinlich Unannehmlichkeiten! Schauspielerinnen sollten niemand lieben, höchstens ihre Kunst!«

»Also Fräulein Gabri liebt wirklich? ...«

»Irgend einen einfältigen Menschen wahrscheinlich. Doch die Probe beginnt trotzdem ... Die Direktoren, die Verfasser, die Kritiker im Parkett ... die Schneiderinnen auf dem Balkon ... die Berichterstatter überall verstreut ... Indessen, ungefähr zweihundert Personen ausgenommen, vollständig geschlossenes Haus! ... Alles geht gut ... Der Anführer der Claque notiert die Effekte ... Man hat mir das alles erzählt ... Gabriele Vernier tritt auf, prächtig, denn sie ist hübsch, sehr hübsch ... aber sieh da! beim Betreten der Bühne verwickelt sie sich in einen Faden ...«

»Einen Faden?«

»Ja, einen Faden,« sagte Margarete, »und da liegt der Hund begraben! Auf dem Theater heißt alles, was Tauwerk ist, Faden ... Wenn man einen Strick Strick nennt, so bringt das Unglück, und zwar mit Notwendigkeit, ebenso wie wenn man ein Salzfäßchen umschütten oder ein Kreuz aus zwei Messern machen würde ... Das bringt stets Unglück! Daher ist Strick ein verpöntes, durchaus verbotenes Wort! Derjenige, welcher es sagt oder vielmehr das Unglück hat oder die Dummheit begeht, es auszusprechen, muß Strafe zahlen!«

»Strafe?«

»Gehörig! ... Man darf ebensowenig im Theater als im Hause eines Gehängten von einem Strick sprechen ... Was Gabri macht, werden Sie gleich hören! Sie verwickelt also ihren Fuß in einen Faden, sie strauchelt, hält sich aber zu ihrem Glück noch an einer Coulissenstütze; als sie dann auf die Bühne kommt, wendet sie sich zum Parkett hin und sagte: ›Man sollte doch den Maschinisten verbieten, ihre Stricke in den Coulissen umherliegen zu lassen!‹ Sie vergaß sich, und kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, als man in den Coulissen schon Beifall klatschte! ... ›Bravo, vortrefflich! Strafe für Fräulein Vernier! ...‹ Die Maschinisten zerpflücken sofort etwas Tauwerk und machen ein Bouquet aus Stricken und hüllen es in Papier ein, während Blequinet, der Regisseur, der stets heiter ist, ihr die Strafe auferlegt. Für gewöhnlich ist das nichts von Bedeutung. Wenn alles nach der Strafe ruft, so gibt man den Maschinisten ein bis zwei Goldstücke, damit sie sie auf die Gesundheit des Verurteilten vertrinken, während dieser mit seinem Bouquet aus Stricken weggeht. Alle machen das durch. Aber Gabri war schlecht aufgelegt, wütend! Sie sagt ihr Couplet schlecht, kehrt ärgerlich in die Coulisse zurück, und im Augenblick, wo der Obermaschinist ihr ceremoniell das Bouquet überreicht, sagt sie: ›Da haben Sie Ihr Bouquet und so bezahle ich Ihre Strafe!‹ Und mit diesen Worten wirft sie den in Papier geschlagenen Strick Blequinet an den Kopf. – ›Ich pfeife auf Ihren Strick und das Stück ist den Strick nicht wert, um daran aufgehängt zu werden!‹ Sie stampft mit den Füßen und schreit laut, und als Blequinet, der seine Autorität nicht einbüßen wollte, von einer zweiten Geldstrafe sprach, rief jene aus: ›Geben Sie mir so viel Strafen als Sie wollen, ich werde sie ebensowenig bezahlen wie die wegen des Strickes ... Ah! es bringt den Stücken Unglück, vom Stricke zu sprechen? ... Nun gut, Strick, Strick, Strick, Strick! Ihr Stück soll durchfallen, ausgepfiffen werden! Strick, Strick, Strick! Ich werde nicht spielen und gebe Ihnen diese jämmerliche Rolle zurück, lassen Sie das Couplet der ›weltlichen Erziehung‹ singen, von wem Sie wollen ... Strick, Strick, Strick, Strick ... ‹ Wie eine Furie! Alles war starr; die Verfasser sahen aus, als wenn sie verrückt wären; der Direktor meinte, sie wird spielen, ich werde sie dazu zwingen; und die Verfasser glaubten ihrerseits wieder, sie werde das Stück zu Fall bringen. ›Und wenn man mir zehntausend Franken gäbe,‹ schrie Gabri, ›ich würde nicht spielen! Der Teufel hole die ganze Bude! Strick, Strick, Strick!‹ Wie ein entfesselter Orkan wütete sie! – ›Herzensangelegenheiten,‹ meinte Blequinet. ›Es ist nicht ihre Schuld, Gabri hat zu viel Herz.‹ – Aber bei alledem, Wut und Herz zusammengerechnet, war das Theater in einer hübschen Patsche, und die Verfasser wußten nicht, was sie sagen sollten ... man sprach davon, die erste Vorstellung auszusetzen; aber die Oper gibt ihre Vorstellung am bestimmten Tage, und man mußte vor der Oper damit kommen ... man fragt, wer wohl die Gabri ersetzen könne; es findet sich, daß ich ihr ähnele ... das ist wahr, sogar sehr ... aber sie ist hübscher ... Blequinet, mit dem ich im Kasino von Enghien gespielt habe, denkt an mich, meint, ich werde die Rolle ohne weiteres spielen und das Kostüm werde mir sitzen wie ein Handschuh ... er kommt sofort zu mir: ›Margot (mein Beiname), ein Glückszufall! Willst du die ›weltliche Erziehung‹ zuerst darstellen?‹ – ›Mein Guter, ich stehe im Begriff, mich nach Nizza engagieren zu lassen!‹ – ›Unterzeichne nicht und komm zu uns!‹ – Das kam wie vom Himmel gefallen. Ich bin ganz allein in Paris und mein Mann ... ich sagte Ihnen, er sei auf der Jagd, nein, er ist nach Buenos Aires gegangen und hat mir verschiedene Rechnungen hinterlassen ... ich mußte einen Entschluß fassen. Warum sollte ich nicht in Paris wieder zu etwas kommen anstatt in Monte Carlo? Ich entschied mich für die ›weltliche Erziehung‹. Das Couplet lernte ich im Augenblick. im Verlaufe des Tages hielt man mit mir eine teilweise Probe ab und abends trat ich auf ... Oh! diese Probe! Sie hätten die Verfasser hören sollen: ›Sie ist unsre Rettung! ... Sie reißen uns heraus, mein Fräulein! Welche Stimme! Und diese Figur! Sie ist entschieden hübscher als Fräulein Vernier! ...‹ Ei, sie brauchten mich eben. Je näher die Stunde rückte, desto mehr erfaßte mich die Aufregung. Ich habe nicht zu Mittag gegessen, ich konnte nicht ... Und wahrhaftig, als Sie mir, zwar unbekannt, aber doch sympathisch entgegentraten, habe ich sogleich angenommen, was ich vor vierzehn Tagen nicht gethan hätte, und da bin ich, zwar nicht die Gabri, sondern Margarete Copin, die entzückt darüber ist, daß sie Beifall gefunden hat! ... Oh, ich hatte wohl gesehen, wie Sie mehr als alle andern klatschten, und als mir Ihre Karte gebracht wurde, habe ich gleich gesagt: ›Das ist der alte Herr!‹« (Thomassière verzog das Gesicht.) »›Das ist der alte Herr, der so laut klatschte!‹« (Thomassière lächelte wieder.) »Und deshalb bin ich mit Ihnen gekommen!«

Der ehemalige Notar hatte bei dieser Erzählung der Schauspielerin ein wenig den Kopf verloren. Die Geschichte mit dem Strick, die in einer nach den Coulissen schmeckenden Sprache erzählt worden war, hatte auf ihn die Wirkung eines Feenmärchens. Dieser Ersatz einer »weltlichen Erziehung« durch eine andre, das Dazwischentreten des Regisseurs, die teilweise Probe, der kleine, auf den Theaterzettel geklebte Streifen, alles erschien ihm betäubend, unwahrscheinlich, unvernünftig, und doch war es die reine Wahrheit, und anstatt Fräulein Gabri hatte er Margarete Copin da vor sich; und es handelte sich für ihn nicht mehr darum, seinen Sohn aus den Armen einer Abgefeimten zu entreißen. Margarete kannte Theodor weder, noch wollte sie ihn heiraten! Das brave Mädchen!

Und wie hübsch ... war sie! ... Die Verfasser jener satirischen Revue hatten recht, sie war entschieden hübscher als Fräulein Vernier. Woher sollte die Gabri solche glänzende Hautfarbe haben, solche Fülle von Haaren, in die Herr Thomassière versucht war, seine Finger hineinzutauchen, wie ein Geizhals in das gelbe Gold?

Mit gerötetem Antlitz und aufgerichtetem Kopfe lächelte er diesem schönen Geschöpfe zu, das diesen großen, hagern, wie ein Geistlicher aussehenden Mann erstaunt betrachtete, der plötzlich weich geworden war und sie zärtlich ansah ... Und nur dem Zufall verdankte er es, daß Fräulein Vernier ihre Rolle nicht gespielt und Fräulein Copin den Kontrakt für Nizza nicht unterzeichnet hatte! Paris hätte eine blonde Schauspielerin weniger und Herr Thomassière nicht die Freude gehabt, sich allein in einem feinen Restaurant mit einem anbetungswürdigen Mädchen zu befinden, der er in keiner Weise etwas vorzuwerfen hatte ... Wie seltsam ist doch das Leben!

In der That war Gaston Thomassière über diesen Zufall entzückt, der ihm, dem Sechziger, noch ein Abenteuer verschaffte. In diesem verteufelten Paris gibt es stets etwas Unvorhergesehenes, da findet man noch Poesie und erlebt Romane! Wie viele Jahre hatte er in St. Alvère seit dem Tode seiner Stephanie, welche die Geschichte in ihrer verknöchertsten Gestalt gewesen war, ohne den kleinsten Roman zugebracht!

Man konnte also fern von der Heimat mit ihren plumpen Frauen noch so entzückende Geschöpfe wie eine Margarete Copin finden! Und wie zu der Zeit, als er in der Cité Bergère mit der schönen Frau Chardonnet geliebäugelt hatte, fand Thomassière die Frische und die Lust zu verliebten Thorheiten wieder!

Nachdem Margarete die Geschichte mit dem Strick zu Ende erzählt hatte, machte sie sich an den Nachtisch, der aus kleinen, mit Sahne gefüllten Kuchen und kandierten Früchten bestand ... sie zeigte auch dabei ihren guten Appetit – und ihre weißen Zähne!

»Essen Sie nicht auch davon?« fragte sie.

Nein, Thomassière aß nicht, aber er verschlang sie selbst mit den Augen und sein Kopf war benebelt. Es war ihm, als käme aus längst vergangener Zeit seine entschwundene Jugend zurück, als hüpfte und summte sie eine Melodie von Desaugiers. Er vergaß Theodor, ja, er dachte nicht einmal daran, Fräulein Copin zu fragen, welche Herzensangelegenheiten denn eigentlich die Gabriele Vernier so in Wut versetzt hätten. Nein, nein, der ehemalige Notar vergaß alles: warum er von Hause fortgegangen, die alte Marion in ihrer Küche und den Freund Langlade verlassen, warum er nach Paris gekommen, warum er sich hier vor Theodor wie eine lebende Statue des Vorwurfs aufrichten wollte: »Hast du, Unglücklicher, die Tiefe ermessen?« Ach, wie war das alles schon verschwommen und fern und verblaßt! Für ihn gab es nur noch ein hübsches blondes Mädchen, das durch Zufall vor ihm saß und das, heiter und rosigen Angesichts, ihm fröhlich zulächelte, während sie einen verzuckerten Apfelsinenschnitz aß.

*

Fünftes Kapitel.

Als Herr Thomassière am folgenden Morgen sehr spät in dem Zimmer seines Hotels erwachte, fragte er sich, ob er geträumt habe. Wohl sah er wie durch einen Nebel hindurch im Geiste das Kabinett eines Restaurants in strahlendem Gaslicht und vor sich eine blonde Frau ... Aber wie war er in die Cité Bergère gekommen, und wie war das Ende des Traumes gewesen?

Ach ja! Jetzt kam ihm die Erinnerung wieder! ... In sehr prosaischer Weise hatte der Traum mit einer Nachtfahrt durch verlassene Straßen geendet, und Herr Thomassière hatte Fräulein Copin bis zu ihrer Wohnung in der Rue Pigalle begleitet; dort hatte sie ihm vor der Thüre ihre Stirn wie einem Vater zum Kusse gereicht und ihn versichert, sie könne allein und ohne Furcht ihre Treppe hinaufgehen ... Nur hatte sie, als der Notar enttäuscht einen schweren Seufzer ausgestoßen, ihn ausgefordert, sie morgen zu besuchen, ja ihn selbst darum gebeten ... Und dann war nach einem letzten Händedruck die Thür schwer zugefallen und hatte sie beide getrennt ... Herr Thomassière war darauf allein in den Wagen gestiegen, der noch ganz nach dem Parfüm seiner Begleiterin duftete, hatte dem Kutscher die Adresse seines Hotels in der Rue Bergère zugerufen und war ganz versunken in diesen unerwarteten Liebesroman in seiner Wohnung angekommen ...

Liebesroman? War es denn möglich? Konnte er nach so vielen Jahren trüber Einsamkeit in St. Alvère also doch noch lieben? Nun, wenn auch vertrocknet und bestäubt, so leben die Rosen von Jericho von einigen Tropfen Wassers doch wieder auf, obwohl sie verdorrten Wurzeln gleichen! Sollte sich also das verschlossene und verhärtete Herz des Notars nicht wieder öffnen können? Das helle Lachen schöner Mädchen ist ganz dazu angethan, solche Wunder zu wirken.

Fest steht, daß Herr Thomassière verwirrt aufstand und sich in fieberhaftem Zustand ankleidete. Wohl versuchte er bei seiner Toilette, sich sein Programm, als Moralprediger und Richter aufzutreten, ins Gedächtnis zurückzurufen; aber vergebens! Er vergaß es ebenso, wie man die politischen Programme vergißt ...

»Aber, ich habe meine Aufgabe nicht durchgeführt ..., ja, nicht einmal begonnen ... Ich wollte erfahren, ob Theodor die Dummheit, die Thorheit begehen würde ... Ach, wenn man liebt, so ist man vieler Dummheiten fähig! ... Ich muß Theodor sprechen, ebenso jene Gabri, die ich noch gar nicht kenne ... Ich habe ja nur Fräulein Margarete Copin kennen gelernt ...«

Wie klang ihm der Name Margarete so süß!

»Nur sie kenne ich ..., die andre ›weltliche Erziehung‹, die echte, die aus der Rolle alles gemacht hat. Fräulein Vernier könnte sie höchstens darin vertreten, wenn es nötig wäre.«

Wieder erschien sie ihm im Geiste im Lampenschimmer und ihrem enganliegenden schwarzen Kostüm, das die Weiße ihrer Haut so recht hervortreten ließ. Und dann nachher, das aufregende Beisammensein im Café Anglais!

Doch abermals schüttelte er diese Vision ab und versuchte, wieder der Sittenrichter zu werden, der er bei seiner Abreise von St. Alvère gewesen war: »Was geht mich Margarete an? Fräulein Vernier beunruhigt mich; ihr will ich Theodor entreißen. Aber wenn sie Margarete ähnelt und nur halb so hübsch ist wie diese, dann wird das wahrlich keine leichte Aufgabe sein!«

Indessen das war gerade ein Grund mehr, um jetzt schnell zu handeln. Nach dem Frühstück wollte er Theodor in der Rue Fontaine-St. Georges überraschen. Sein Frühstück nahm er übrigens nur der Form wegen, da sein Kopf eingenommen und sein Magen verstimmt war. Ja, dieses Souper! Und doch hatte er es gar nicht angerührt. Er tauchte ein Stückchen Brot in ein weiches Ei und aß einige Weintrauben dazu. Als der Kellner ihm die Morgenzeitungen brachte, blätterte er mechanisch darin, bis er plötzlich die Kritiken des neuen Werkes Ote-toi de là que je m'y mette darin fand und nun eine nach der andern aufmerksam durchlas. Ueberall fand er ein liebenswürdiges Wort über Fräulein Copin. Die eine meinte, das Publikum habe durchaus nichts verloren, als es Fräulein Copin ohne weiteres eine Rolle habe spielen sehen, die ursprünglich für eine Schauspielerin bestimmt war, die sich geweigert, sie zu übernehmen; eine andre Kritik verglich Margarete Copin mit einem schönen Rubens ... kurz, alle waren galant.

»Und da schreit man immer über die Kritik,« dachte Herr Thomassière bei sich, »während sie doch nur Gerechtigkeit übt und viel Geschmack hat!«

Ein andrer Berichterstatter erzählte in der Soiree Parisienne in heiterster Weise die Geschichte von dem Strick, dem Kontraktbruch Fräulein Gabris, aber wie es Thomassière vorkam, mit weniger Frische und Geist, als es Margarete Copin am Abend zuvor in jenem Kabinett des Restaurants gethan hatte.

»Was verschlägt es den glücklichen Direktoren,« fuhr der Journalist fort, »daß Fräulein Vernier das Band zerrissen hat! Fräulein Copin hat ihnen so viel Glück gebracht, als wenn sie ihnen ein Stück vom Strick eines Gehängten verehrt hätte!«

»Das ist geistreich,« meinte heiter Herr Thomassière.

Beim Weiterlesen wurde er ganz aufgeregt, als er in der Soiree Parisienne wieder dem Namen des Fräulein Vernier begegnete: »Was Fräulein Vernier anbetrifft, so vermutet man, daß sie ganz plötzlich von einem jungen Manne aus sehr guter Familie, dem Grafen Theodor von T..., der sie heiraten sollte, verlassen worden ist und daher ebenso plötzlich ihre Theaterlaufbahn verlassen hat, um sich aus Verzweiflung der Silbermannschen Tournee anzuschließen, die in vier Tagen nach Buenos Aires unternommen wird. Sie würde also unsre Atheniensische Republik mit einer mehr Argentinischen vertauschen!«

Dem ehemaligen Notar schwirrte der Kopf. Die Gabri verließ Paris, und zwar, weil sie, um mit der Zeitung zu reden, von einem jungen Manne aus sehr guter Familie verlassen worden war! »Dem Grafen Theodor von T...« Das war ein Irrtum des Journalisten, Theodor war ja gar kein Graf. Aber dieser Theodor von T... war entschieden sein Theodor! Und er hatte die Gabri aufgegeben, während die Verzweiflung diese dazu getrieben hatte, den Direktor, die Verfasser und die Rolle der weltlichen Erziehung zum Teufel zu wünschen!

Was blieb ihm, Gaston Thomassière, denn jetzt noch in Paris zu thun übrig, nachdem Theodor es zu einem jähen Bruch mit der Gabri hatte kommen lassen?

»Dieser Theodor hat doch Charakter,« dachte der Vater bei sich.

Trotzdem machte sich Herr Thomassière fertig, um in die Rue Fontaine St. Georges zu gehen, zwar nicht mehr, um Theodor den Kopf zurechtzusetzen, sondern um ihn zu beglückwünschen. Er ließ sich den Weg dorthin bezeichnen und stieg den Hügel hinan. Unterwegs dachte er an den großen Maler Rubens; es befand sich ein Gemälde von ihm im Museum zu Perigueux, und wirklich glich Margarete Copin diesem!

»Immer finden diese Journalisten das richtige Wort; und dabei wissen und kennen sie alles! Rubens!«

In der Rue Fontaine-St. Georges blieb Herr Thomassière vor dem hohen Hause stehen, in dem Theodor wohnte. Dann fragte er einen Mann mit einem grauen Soldatenschnurrbart nach ihm, der gerade mit einem Leder die messingene Treppenkugel putzte. Es war der Portier.

»Herr Theodor Thomassière?« antwortete dieser. »Er ist nicht mehr in Paris!«

»Ei was! Wo ist er denn sonst?«

»In St. Alvère!«,

»Bei seinem Vater?«

»Gewiß. Sie wissen also, daß St. Alvère ...?«

»Ich bin sein Vater!« erwiderte der ehemalige Notar. »Warum hat Theodor mich denn nicht benachrichtigt?«

»Ach, Herr Notar, das ist kein Wunder!« meinte der Portier. »Das ging so schnell ... Morgens noch dachte er ebensowenig daran, nach Perigord zurückzukehren, als nach Indien zu fahren – und abends packte er seinen Koffer auf eine Droschke und fuhr zur Bahn! Es ist ein großes Glück für ihn!«

»Warum?« fragte Gaston Thomassière.

Der Portier nahm eine schlaue Miene an und sagte: »Nun, mein Herr, wegen des Fräuleins!«

»Sehr gut, Sie meinen Fräulein Gabri?«

»Jawohl. Er war ihrer überdrüssig, wußte aber nicht, wie er mit ihr brechen sollte. Er hatte die Tiefe des Abgrundes ermessen.«

»Wie sagen Sie?« unterbrach ihn plötzlich der ehemalige Notar, starr vor Erstaunen.

Mit militärischem Ernste wiederholte der Portier: »Er hatte die Tiefe des Abgrundes ermessen, in den er sich stürzen wollte.«

Unwillkürlich stützte sich Herr Thomassière auf das Geländer, um nicht umzusinken.

Er verließ St. Alvère, durchfuhr ganz Frankreich, kam nach Paris, um mit strengen Miene eines Heldenvaters Theodor zu fragen, ob er die Tiefe des Abgrundes ermessen habe ..., und in demselben Augenblick ermaß und sondierte Theodor diese Tiefe und riß sich durch seine Abreise nach St. Alvère von dem Abgrunde los!

Jedenfalls hatte ein Bote in der Heimat ein blaues Telegramm, unterzeichnet Theodor, gebracht, das dem Notar die Ankunft seines Sohnes aus Paris anzeigen sollte! Wer hat es wohl dort in Empfang genommen? Die alte Marion mit Zittern und Zagen über die Gesundheit des Herrn! Vielleicht hatte sie es auch zu dem Friedensrichter, Herrn Langlade, gebracht!

Dem alten Notar drehte sich alles im Kopfe herum, und er brauchte seinen ganzen Verstand, um klar zu werden. Theodor war also nicht mehr in Paris? Nein, seit gestern nicht mehr. Und Fräulein Vernier? Der Portier antwortete, sie sei tags zuvor wütend in die Probe gegangen und habe mitten auf der Treppe erklärt, sie würde eher an den Congo, jawohl an den Congo, gehen als zu Herrn Thomassière zurückkehren!

»Aber das bedeutete nicht viel, Herr Notar, und es war auch nicht das erste Mal, daß sie drohte, sie würde nicht mehr zurückkehren ... Dieses Mal aber hat Herr Theodor gut daran gethan, die günstige Gelegenheit zu ergreifen und zur Eisenbahn zu fahren. Noch einmal muß ich wiederholen, er war ihrer überdrüssig!«

»Ja, ja,« antwortete Thomassière, »er hatte die Tiefe ermessen ...«

»Und sich auf die Eisenbahn gesetzt, was sicherer war!«

Sich auf die Eisenbahn gesetzt! Sollte er, Thomassière, das nicht auch thun? Was hatte er jetzt noch in Paris zu suchen, nachdem Theodor nicht mehr da war? Nichts als wieder abzufahren, St. Alvère wiederzusehen, Theodor zu umarmen und ihm zu sagen: »Wie freue ich mich, mein Junge, daß du ohne mich die Tiefe ermessen hast! ...«

»Ja, ich will abreisen. Warum auch nicht? Was hält mich hier zurück? Theodor ist gerettet; er hat die Tiefe ...«

Nachdem er dem braven Portier gedankt hatte, ging Herr Thomassière auf gut Glück vor sich hin – und befand sich bald unbewußt vor einer kleinen Thür, an deren Schwelle er noch vor wenigen Stunden beim Sternenlicht ein großes, hübsches Mädchen gesprochen hatte: – ein entschwundenes Wesen, eine Art blonder Fee, der er mit väterlichem, sanftem Händedruck einen Kuß auf die Stirn gedrückt hatte, den er noch immer auf seinen Lippen fühlte ...

Mechanisch blieb Herr Thomassière stehen. Ja, hier in der Rue Pigalle, in diesem Hause wohnte Margarete Copin ..., der echte Rubens, von dem die Zeitung sprach ... Ach, was für ein schönes Geschöpf! Und wie gut sie war und wie drollig sie die Geschichte von dem Strick erzählte! Zwar hatte sie nicht gewünscht, daß er mit ihr ginge, aber sie erlaubte ihm, sie zu besuchen; und diese Thür, die sich in vergangener Nacht so gefühllos vor ihm geschlossen hatte, stand jetzt weit auf, nicht mehr feindselig, sondern einladend.

»Soll ich sie wiedersehen? Oder vielmehr soll ich ihr adieu sagen? Denn wenn ich abreise – und ich thue es – so muß ich Margarete noch einmal sehen, und wäre es nur aus Höflichkeit!

»Ja, ja, adieu sagen! Adieu!« dachte er bei sich, als er langsam die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. »Nachher verschwinde ich und nehme das Andenken an diese flüchtige Vision einer Pariserin mit in mein liebes Perigord! Ich will mich satt sehen an dieser blonden Vision ... für meine alten Tage!«

Beim Klingeln war er so erregt wie ehemals, als er wegen der Buchhändlerin aus der Leihbibliothek jenes Duell mit dem kleinen Offizier des dritten Regiments gehabt hatte ... Die Klingel schlug an ...

Ein hübsches, brünettes, blühendes Mädchen öffnete lächelnd ...

»Ist Fräulein Copin zu sprechen?«

»Wen darf ich melden?« fragte die Brünette.

»Herrn Thomassière!«

»Ei!« sagte das hübsche Mädchen lachend. »Wollen Sie gütigst eintreten, Herr Gaston! ... Meine Herrin erwartet Sie!«

*

Sechstes Kapitel.

»Herrn Leo Langlade,
Friedensrichter in St. Alvère (Dordogne).

Seit lange habe ich Dir, mein lieber Freund, nicht geschrieben, weil ich nicht wußte, wie ich Dir mitteilen soll, was sich in mir und um mich in den zwölf Wochen, die ich nun schon in Paris bin, zugetragen hat. Es ist ein wirkliches Abenteuer, mein guter Langlade, und wahrhaftig haben die recht, die behaupten, alles sei möglich.

Gott ist mein Zeuge, daß ich mein Leben für abgeschlossen und beendigt hielt, als wir plaudernd in St. Alvère beim Wein von Costo-Rasto die Vergangenheit an uns vorüberziehen ließen! Du sprachst von Deinem Neffen Gustav, ich von meinem Sohn Theodor, und wir bauten für die Zukunft unsrer Jungen eine Menge Luftschlösser! ...

Von uns alten Knaben selbst war nie die Rede. Lebt man denn noch wirklich, wenn man einmal die Sechzig hinter sich hat? In aller Aufrichtigkeit dachte ich daran, mich eines schönen Morgens zur Reise in die Ewigkeit fertig zu machen! Oft, oft kamen mir wirklich diese Gedanken, mein lieber Langlade ... Und doch war das nicht recht; denn man ist nie am Ende seines Lebens, mein lieber Freund, solange man noch einen festen Fuß, gesunde Zähne und einen guten Magen hat.

Diese Erfahrung habe ich an mir gemacht, als ich mich wieder in diesem Paris befand, das der Jugend so gefährlich ist und meinen armen, guten Theodor vollständig berauschte ... Denn es schien mir merkwürdigerweise, als fände ich mich bei meiner Ankunft dort wieder in meinem Elemente. Du kennst ja jene Bäume, die bisweilen, wenn man sie für abgestorben hält, aufs neue treiben und Blätter ansetzen? Sie kannst Du mit mir vergleichen, denn ich fühlte wahrhaftig ein neues Gären der Säfte in mir. Du würdest ähnliches durchgemacht haben, mein lieber Freund, wenn Du die kennen, schätzen und lieben gelernt hättest, die ich zu meiner Frau machen will. Denn das ist die große Neuigkeit, die ich Dich bitte, später – noch nicht jetzt – Theodor allmählich und schonend beibringen zu wollen – denn sie wird ihn nicht wenig überraschen. Ich verheirate mich, mein guter Langlade, und zwar mit einer Frau, der man weder Schönheit noch Talent absprechen wird – ich werde Dir ein Paket Zeitungen zusenden, die von ihr sprechen –, und die trotz eines scheinbar unabhängigen Lebens stets die hervorragendsten Tugenden der Hingebung und des Herzens treu gepflegt hat.

Sie ist eine Schauspielerin, will ich Dir gleich sagen, aber eine Schauspielerin von seltenem Werte, welche die Umstände allein verhindert haben, das Höchste in ihrer Kunst zu erreichen. Nirgends genügt Arbeit allein, man muß auch Glück haben. Fräulein Copin (so heißt sie) hat gearbeitet, aber das Glück ist ihr nicht immer hold gewesen. Eine Tochter armer, aber achtbarer Eltern, hätte sie das Konservatorium besuchen können, wenn ihre Familie die Mittel besessen hätte, sie für die Jahre des Studiums sicherzustellen. Da dem aber nicht so war, so zog es Fräulein Copin vor, sich tapfer ins Gewühl des Lebens zu stürzen, und trat mit einem bewunderungswürdigen Mute in der Scala (nicht der Mailänder, sondern in der Pariser) auf. Das arme Mädchen sang dort Lieder von einer glühenden Phantasie, die ihrem von Natur sehr reinen Geschmack widerstrebten. Aber wenn die große Rachel damit angefangen hatte, daß sie in den Höfen, auf den Straßen sang, warum sollte Fräulein Copin nicht mit leichten Liedchen beginnen? Wenn Du sie, wie ich, von jenen traurigen Prüfungsjahren hättest erzählen hören, so wäre Dir die Zuneigung ins Herz gezogen wie mir aus Mitleid die Liebe! Zuerst war diese Liebe eine ganz väterliche, trotz der Schönheit des Fräulein Copin (aus den Zeitungen wirst Du ersehen, daß sie schön wie ein Rubens ist; aber die Zeitungen könnten hinzufügen: wie ein Rubens, der eine Seele hat); dann nahm diese Väterlichkeit in mir eine andre Gestalt, einen andern Namen an in dem Maße, wie die vertraulichen Mitteilungen der Künstlerin mir zeigten, daß sie sich allmählich durch hartnäckige Arbeit vom Café chantant zur Bühne der Folies dramatiques und sogar bis zu der des Montansiertheaters hinaufgearbeitet hatte, wo ich sie zum erstenmal sehen sollte; und als ich Margareten – sie heißt Margarete – die Gefühle erklärte, die sie in mir erregt hatte, da hättest Du die Verwirrung, die Unruhe, die Scheu dieses Mädchens sehen sollen, die doch mit allen Wechselfällen des Pariser Lebens vertraut ist ...

Sie verbot mir zuerst, sie wieder zu besuchen; dann wollte sie fortgehen. Als sie endlich sah, wie schmerzlich sie einen Mann enttäuschte, der entschlossen war, ihr sein Leben, oder wie ich ihr sagte, ›den Rest seines Lebens‹, zu widmen, da willigte sie endlich in ihrer Güte ein, mich zu erhören; und ich, der ich jeden Tag in ihr eine neue Anmut, einen ungeahnten Geist und Zauber entdeckte, ich fühlte mich nicht nur wieder jung werden, mein guter Langlade, sondern wirklich leben, ja, zum erstenmal leben!

Erzähle davon Theodor nichts. Sage ihm nicht, daß ich erst seit wenigen Monaten lebe; denn ich möchte, er verehrte seine Mutter stets. Aber wie kalt und schroff ist doch Stephanie oft gegen mich gewesen, wenn ich daran denke! Wie oft hat sie mich stolz daran erinnert und es mich fühlen lassen, daß sie eine von Prunières war. Du könntest glauben, Fräulein Copin sei von anmaßendem Künstlerstolz, da man so oft von der Eitelkeit der Schauspielerinnen hört. Aber weißt Du, wie sie ihr Theater nennt? Die Bude. Alles ist an ihr schlicht, ohne Eitelkeit, ohne hohle Phrasen; sie ist die vertraulichste, einfachste, ungezierteste aller Frauen. Ich selbst zwinge sie, beim Theater zu bleiben, obwohl sie es aufgeben möchte; denn ich glaube, wenn sie später größere Erfolge haben soll, so habe ich nicht das Recht, ihre Laufbahn zu zerstören. Außerdem möchte ich sie gern in dem goldenen Schimmer sehen, den das Bühnenlicht verleiht! Falls sie meinetwegen das Theater aufgäbe, so würde es mir scheinen, als brächte ich sie um ihren Ruhm, als knickte ich die junge Blüte ihrer künstlerischen Hoffnungen. Und dabei gibt es in Paris so wenig wirkliche Talente!

Mit einem Wort, mein alter Freund, ich heirate sie. Zuerst hat sie geschwankt, ist ausgewichen, hat fast gelacht einen Augenblick – was bei ihr, wie sie mir sagte, eine Art Weinen bedeutet. Aber endlich hat sie eingewilligt, und ich schwimme in Seligkeit. Ich, der Gatte einer Schauspielerin, die bewundert, verwöhnt, angebetet wird! Ich einen zarten Rubens heiraten, um Dir mit einem Worte Margarete zu beschreiben! Gern hätte ich Dich gebeten, mein Trauzeuge zu sein, wenn die Reise nicht so lang und ermüdend wäre. So muß ich mich eben mit einigen Freunden jüngeren Datums begnügen, einem jungen, sehr unterrichteten Journalisten, den Margarete mir vorgestellt hat, und einem der Anteilhaber des Theaters, dem Baron Debinille, einem ehemaligen Präfekten.

Theodor, muß ich Dir offen gestehen, macht mir am meisten Sorge, da er vielleicht meinen könnte, ich würde zu jung; es wäre mir sehr unangenehm, wenn er nach Paris käme und mir Vorwürfe machte. Da er das richtige Gefühl gehabt hat, die Stadt zu verlassen, die ihm zu schlüpfrig geworden war, und sich jetzt in Perigord auszuruhen, so möge er nur im elterlichen Hause bleiben. Versuche Du es, ihn dort festzuhalten, und sage ihm, was ja auch wahr ist, daß die Landwirtschaft eine schöne Sache und eine edle Beschäftigung für einen jungen Menschen sei, der wirklich an seiner Heimat hängt. Mit Vergnügen würde ich es begrüßen, wenn er Landwirt würde, denn dem Landbau fehlt es nicht nur an Armen, sondern vor allen Dingen an offenen Köpfen. An Fräulein Gabri wird er hoffentlich nicht mehr denken; sie ist in Amerika und tritt dort als Operettensängerin auf; Fräulein Copin hat mir offen versichert, Fräulein Vernier finde in Buenos Aires gar keinen Anklang. Man hatte sie, wie es scheint, sehr überschätzt.

Theodor braucht sich wegen der materiellen Interessen durchaus keine Sorgen zu machen; diese werden sichergestellt werden. Fräulein Copin hat diese Frage gleich von Anfang an berührt. Von mir (und warum soll ich es Dir nicht sagen, da Du ja wohl weißt, mein lieber Langlade, daß ich nicht eitel bin?), von mir will sie nichts als mein eigenes Ich. Das hat sie mir in einem Ton erklärt, der unmöglich trügen kann. Das liebe Kind hat kein Geschäft abgeschlossen, es will einen Roman zu zweien durchleben.

Alles in allem genommen, mein alter Freund, bin ich der glücklichste Mensch. Ich besorge jetzt die Aussteuer mit meiner Braut! Wie schön klingt dieses Wort! Es rührt mich fast zu Thränen! Wir richten uns ein kleines Haus in der Rue Viète, Avenue Villiers, ein, einem neu entstandenen Stadtviertel, das Du noch nicht kennst. Den Winter über will ich dort bleiben, und im Sommer wollen wir nach Schluß des Theaters vielleicht einige Wochen in St. Alvère zubringen, falls wir nicht nach Trouville gehen. Was wirst Du sagen, Langlade, wenn ich mit meinem Rubens am Arm zu Dir komme!

Aber sprich nicht davon, namentlich nicht zu Theodor ... In drei Tagen heiraten wir ..., das Aufgebot ist schon erfolgt ... Wenn nur erst unser Nestchen in der Rue Viète fertig wäre! Die Tapeziere, die darin arbeiten, sind die reinen Schildkröten, wie Margarete sie nennt.

Nachschrift.

Es ist geschehen, mein guter Langlade; ich nehme den unterbrochenen Brief wieder auf, um Dir zu sagen, daß ich in Seligkeit schwimme. Margarete Copin ist meine Frau! ...

Heiter ist sie in den Stand der Ehe getreten! Als ich sie nach Ablauf des kurzen Urlaubs, den die Direktion ihr für unsre Hochzeit bewilligt hatte, wieder zum Theater begleitete, wo sie ihre Rolle in dem neuen Stück übernehmen soll, zeigte sie mich ernst dem Schließer und sagte: ›Chevandier, sehen Sie sich diesen Herrn genau an; wenn er wieder kommen sollte, so lassen Sie ihn nicht hinauf in meine Loge, er ist mein Mann!‹

Und dabei brach der Schelm in ein lautes Lachen aus!

Für alles hat sie ein reizendes Wort, eine pikante Natürlichkeit, die bisweilen herausfordernd sein könnte, wenn sie nicht so einschmeichelnd wäre.

Als sie mir gestern in ihrer zierlichen Weise den Krawattenknoten knüpfte, sah sie mich mit ihren schönen blauen Augen, die tief wie die Vezère sind, an und erinnerte mich an den Zufall, der sie eines Abends Fräulein Vernier ersetzen ließ (wovon ich Dir bald einmal erzählen werde): ›Denkst du noch an den Strick, den berühmten Strick, der die Gabri in Strafe und mich auf den Zettel brachte?‹

Dabei zog sie mir das Halstuch enge zu und sagte: ›Nun, dies ist der wahre Strick, mein lieber Gaston!‹

So reizend sah sie bei den Worten aus, daß ich sie küssen mußte ...

Die Geschichte mit dem Strick werde ich Dir erzählen, aber nur unter der Bedingung, daß Du sie nie, nie Theodor wiedererzählst ...

Der arme Theodor!

Dein alter Freund
Gaston Thomassière.«

*


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