Joseph Conrad
Weihe
Joseph Conrad

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II

Die Liebe zum Schiff ist grundverschieden von der Liebe, die ein Mann für alle anderen Werke seiner Hände empfindet – der Liebe zum Beispiel, die er für sein Haus hegt-, weil sie rein ist vom Stolz des Besitzern. Sie ist ein selbstloses Gefühl, mag es auch nicht frei sein von Stolz auf das eigene Können, auf die persönliche Verantwortung und Standhaftigkeit. Kein Seemann hat jemals ein Schiff, selbst wenn es ihm gehörte, nur des Profits wegen, den es ihm einbrachte, geschätzt und in Ehren gehalten. Das hat, glaube ich, noch keiner getan; denn der Reeder, und sei es der beste, stand immer schon außerhalb der vertrauten Gemeinschaft, die Schiff und Mann gegen die unerbittliche, wenn auch zuweilen versteckte Feindseligkeit ihrer Welt der Gewässer verbindet. Die See kennt keine Großmut – diese Wahrheit kann nicht geleugnet werden. Ihr skrupelloses Machtbewußtsein hat noch keine der vielen guten männlichen Eigenschaften, wie Mut, Kühnheit, Ausdauer und Treue, zu rühren vermocht. Der Ozean gleicht einem gewissenlosen, grausamen Despoten, den ständige Schmeichelei verdorben hat. Er kann nicht den geringsten Widerstand vertragen und ist der unversöhnliche Feind aller Schiffe und Männer geblieben seit dem Tage, da sie die unerhörte Kühnheit hatten, sich trotz seiner mißbilligenden Blicke gemeinsam hinaus aufs Meer zu wagen. Von diesem Tage an hat er Flotten und Menschen verschlungen, ohne daß die vielen Opfer – die zahllosen zerstörten Schiffe und vernichteten Menschenleben – seinen Grimm gestillt hätten. Er ist heute wie je bereit, die Menschen mit ihrem unverbesserlichen Optimismus zu verführen und zu verraten, sie zu zerschmettern und zu ertränken, wenn sie im Vertrauen auf ihre Schiffe versuchen, ihm ihr häusliches Glück, die Herrschaft über diese Welt oder nur ihr karges tägliches Brot abzuringen, um ihren Hunger zu stillen. Und wenn er auch nicht immer voller Zerstörungslust ist, so wartet er doch stets auf die Gelegenheit, heimtückisch alles in die Tiefe zu reißen. Das erstaunlichste Wunder der Tiefe ist ihre unergründliche Grausamkeit.

Dieses Grauen überfiel mich zum erstenmal an einem Tage, als wir vor vielen Jahren mitten im Atlantik die Mannschaft einer dänischen Brigg retteten, die auf der Heimreise von Westindien war. Ein leichter, silberheller Dunst verschleierte den stillen, erhabenen Glanz des schattenlosen Lichts und schien dem Himmel die Ferne und der See die Unendlichkeit zu nehmen. Es war einer der Tage, an denen sich der mächtige Ozean wirklich liebenswert zeigt, wie ein starker Mann in den Augenblicken vertraulichen Umgangs. Bei Sonnenaufgang hatten wir im Westen einen dunklen Fleck ausgemacht, der scheinbar hoch oben im leeren Raum hinter einem schimmernden Schleier silberblauen, leichten Nebels schwebte. Und dieser Dunstschleier schien im schwachen Wind, der uns langsam vorwärtstrieb, mit uns hin und her zu wogen. Der Friede dieses bezaubernden Vormittags war so tief und ungetrübt, daß wir das Gefühl hatten, jedes laute Wort an Deck würde bis ins Herz jenes unergründlichen Mysteriums dringen, das aus der Verschmelzung des Meeres mit dem Himmel geboren wird. Wir wagten nicht, laut zu sprechen. »Ein sinkendes Wrack, glaube ich, Kapitän«, sagte der Zweite Offizier gelassen, als er mit dem Fernglas, das in einem Etui über seiner Schulter hing, von oben kam. Und ohne ein Wort zu verlieren, gab unser Kapitän dem Rudersmann ein Zeichen, auf den dunklen Fleck zuzuhalten. Kurz darauf machten wir einen niedrigen zersplitterten Maststumpf aus, der vorn auf dem Wrack aufragte – das war alles, was von den verlorenen Masten übriggeblieben war.

Der Kapitän unterhielt sich leise mit dem Ersten Offizier und ließ sich gerade weitläufig über die Gefährlichkeit solcher treibenden Wracks aus und über seine Furcht, nachts auf sie zu stoßen, als plötzlich ein Mann vorne ausrief: »Da sind Leute an Bord, Kapitän! Ich kann sie sehen!« Es war eine ungewöhnliche Stimme, die das schrie, eine Stimme, die auf unserm Schiff noch nie gehört worden war, die überraschende Stimme eines Fremden. Sie gab das Signal für ein Durcheinander von lauten Rufen. Die ganze Freiwache lief geschlossen auf die Back, der Koch stürzte aus der Kombüse – alle sahen jetzt die armen Kerle. Da waren sie! Und auf einmal schien unser Schiff, das den wohlverdienten Ruf hatte, bei leichtem Wind jedem ändern an Schnelligkeit überlegen zu sein, alle Bewegungsfähigkeit verloren zu haben, als ob die See zähflüssig geworden wäre und an der Bordwand klebte. Und doch bewegte es sich fort. Die Unendlichkeit, der unzertrennliche Gefährte alles Lebens an Bord, hatte gerade diesen Tag gewählt, um uns wie ein schlafendes Kind anzuhauchen. Der aufgeregte Lärm war verstummt, und unser lebensvolles Schiff, das dafür bekannt war, niemals ganz die Fahrt zu verlieren, solange der Wind noch eine Feder hinwegtrug, schlich, ohne das Wasser auch nur ein bißchen zu kräuseln, lautlos wie ein weißes Gespenst auf seinen im Sterben liegenden, verletzten und verstümmelten Gefährten zu, auf den es in diesem sonnendurchfluteten Dunst eines windstillen Tages auf See in der Todesstunde gestoßen war.

Das Glas an die Augen gepreßt, sagte der Kapitän – und seine Stimme schwankte etwas dabei –: »Dort achtern winken sie uns mit etwas zu.« Er setzte das Glas brüsk ab, legte es aufs Oberlicht und begann auf der Poop hin und her zu gehen. »Ein Hemd oder eine Flagge«, stieß er gereizt hervor. »Kann es nicht ausmachen... irgend so ein verdammter Lappen!« Er lief noch ein paarmal auf der Poop hin und her, blickte ab und zu über die Reling, um zu sehen, was für Fahrt das Schiff machte. Seine unruhigen Schritte hallten in der Stille laut wider, während die Männer in Gedanken verloren unbeweglich alle in dieselbe Richtung starrten. »So schaffen wir das nicht!« rief er plötzlich laut aus. »Los, fier die Boote weg! Zu Wasser damit!«

Ehe ich in mein Boot sprang, nahm er mich als zwar erfahrenen, aber doch noch sehr jungen Offizier auf ein ermahnendes Wort beiseite:

»Passen Sie auf, wenn Sie längsseits kommen, daß Sie nicht mit nach unten gerissen werden. Ist das klar?«

Er sagte das in vertraulichem Ton und so leise, daß die Leute an den Bootsläufern es nicht hören konnten. Ich war schockiert. »Mein Gott!« ereiferte ich mich innerlich voller Verachtung über soviel kaltblütige Vorsicht. »Als ob man in einer solchen Situation noch an Gefahr dächte.«

Es kostet viel Lehrgeld, bis man ein richtiger Seemann wird, und schon hatte ich meinen Verweis weg. Mein erfahrener Kommandant schien mit einem einzigen forschenden Blick alle Gedanken von meinem arglosen Gesicht zu lesen.

»Sie sollen jetzt Menschenleben retten und nicht Ihre Bootsbesatzung unnütz aufs Spiel setzen«, knurrte er mir streng ins Ohr. Aber als wir ablegten, beugte er sich über die Reling und rief: »Alles hängt jetzt von euch ab, Leute. Holt aus und pullt, was ihr könnt! Es geht um Menschenleben!«

Es wurde ein richtiges Wettrennen, und ich hätte nie geglaubt, daß die gewöhnliche Bootsbesatzung eines Handelsschiffes mit soviel verbissener Entschlossenheit den gleichmäßigen Schlag ihrer Riemen durchhalten könnte. Was unser Kapitän schon deutlich erkannt hatte, ehe wir ablegten, war uns jetzt allen klar geworden. Der Ausgang unseres Unternehmens hing an einem Haar über dem Abgrund der Wasser, die ihre Toten nicht vor dem Jüngsten Tag herausgeben. Es war ein Wettrennen, das zwei Schiffsboote mit dem Tod um den Preis von neun Menschenleben austrugen, und der Tod hatte einen großen Vorsprung. Wir sahen von weitem die Mannschaft der Brigg an den Pumpen arbeiten – sie pumpte noch auf diesem Wrack, das schon so weit abgesackt war, daß die sanfte Dünung, über die unsere Boote, ohne Fahrt zu verlieren, leicht hinwegglitten, fast schon Relingshöhe erreicht hatte und nach den Enden des gebrochenen Vorgeschirrs griff, das in Fetzen unter dem kahlen Bugspriet hin und her schwang.

Wir hätten uns wahrhaftig keinen besseren Tag für unsere Wettfahrt aussuchen können, selbst wenn wir freie Wahl unter allen Tagen gehabt hätten, die je über einsame, mit dem Tode ringende Schiffe heraufgedämmert sind, seitdem die Wikinger zum erstenmal gegen den Ansturm der Atlantikseen westwärts steuerten. Es war ein sehr gutes Rennen. Im Endkampf lagen die beiden Boote keine Riemenlänge auseinander, und der Tod kam, wenn nicht aller Anschein trog, als guter Dritter auf der nächsten Dünungswelle ein. Die Speigatten der Brigg gurgelten leise im Chor, wenn das Wasser an den Bordwänden hochleckte und träge mit leisem Rauschen wieder ablief, als umspielte es einen unbeweglichen Felsen. Das Schanzkleid war der Länge nach weggeschlagen, wir konnten das kahle Deck so niedrig wie ein Floß über dem Wasser daliegen sehen, vollkommen leergefegt von seinen Booten, Spieren, seinen Deckshäusern, leergefegt von allem außer den Augbolzen und den Pumpenaufsätzen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf dieses traurige Bild, während ich alle Muskeln anspannte, um an meiner Brust den letzten Mann aufzufangen, der die Brigg verließ. Es war der Kapitän, der sich buchstäblich in meine Arme fallen ließ.

Es war eine unheimlich stille Rettung gewesen – eine Rettung ohne einen Laut, ohne ein einziges gesprochenes Wort, ohne eine Geste oder ein Zeichen, ja sogar ohne einen bewußten Blickwechsel. Bis zum allerletzten Augenblick blieben sie an Bord an den Pumpen, die zwei Ströme klaren Wassers über die nackten Füße der Leute ergossen. Durch die Risse ihrer Hemden war ihre braune Haut zu sehen, und die beiden kleinen Bündel halbnackter, zerlumpter Männer verbeugten sich in ihrer aufzehrenden Arbeit tief voreinander, immer auf und ab, ganz ihrem Tun hingegeben, so daß sie keine Zeit hatten, auch nur mit einem kurzen Blick über die Schulter nach der Hilfe zu sehen, die ihnen nahte. Als wir unbeachtet längsseits der Brigg schoren, brüllte eine heisere Stimme einen einzigen Befehl, worauf die Männer stumpf aus roten Augenlidern flüchtig aufblickten. Dann stürzten sie schwankend und gegeneinanderstoßend von den Pumpen fort und ließen sich, so wie sie dastanden, ohne Mützen, graues Salz in den Runzeln und Falten ihrer hageren, bärtigen Gesichter, gerade auf unsere Köpfe fallen. Das Getöse, mit dem sie in unsere Boote stürzten, hatte eine merkwürdig vernichtende Wirkung auf jenes Wahnbild tragischer Würde, mit dem unsere Selbstachtung die Kämpfe der Menschheit mit der See verklärt. An diesem ausgesucht herrlichen Tag sanft atmenden Friedens und leicht verschleierten Sonnenlichts erlosch meine romantische Liebe zu dem, was in der menschlichen Vorstellung zum erhabensten Teil der Natur gehört.

Die schamlose Gleichgültigkeit der See gegen menschliches Leid und menschliche Tapferkeit offenbarte sich in dieser lächerlichen, panikerfüllten Szene, zu der sie neun tüchtige und ehrenwerte Seeleute in grauenhafter, äußerster Not getrieben hatte, und das empörte mich. Ich erkannte, daß die See selbst in ihrer zärtlichsten Stimmung nicht ohne Falsch ist. Sie war nun einmal so, weil sie sich nicht ändern konnte, aber meine scheue Ehrfurcht von einst war dahin. Ich war jetzt so weit, daß ich über ihre bezaubernde Anmut bitter lächeln und mit einem starren Blick boshaft ihren Rasereien zusehen konnte. In einem Augenblick, bevor wir ablegten, überblickte ich leidenschaftslos das Leben meiner Wahl. Seine Illusionen waren verschwunden, aber sein Reiz blieb. Ich war endlich Seemann geworden.

Wir pullten eine Viertelstunde lang angestrengt und nahmen dann die Riemen ein, um auf unser Schiff zu warten. Es kam mit vollstehenden Segeln auf uns zu und sah durch den Dunstschleier ungewöhnlich groß und stattlich aus. Der Kapitän der Brigg saß neben mir achtern im Boot und hatte das Gesicht in beide Hände vergraben. Jetzt hob er den Kopf und begann mit einer gewissen schwermütigen Gesprächigkeit zu reden. In einem Orkan hatten sie die Masten verloren, und ihr Schiff war leck gesprungen; wochenlang trieben sie, immer an den Pumpen; gerieten wieder in schlechtes Wetter; von den Schiffen, die sie in Sicht bekamen, wurden sie nicht bemerkt, das Leck wurde langsam immer größer, und die See hatte ihnen nichts gelassen, um ein Floß zu bauen. Es war sehr hart, ein Schiff nach dem ändern in der Ferne vorbeisegeln zu sehen, »als ob sich alle verschworen hätten, uns dem Tod auf See zu überlassen«, fügte er hinzu. Aber sie versuchten weiter, die Brigg so lange wie möglich flott zu halten, und pumpten unentwegt bei ungenügender, meist roher Kost »bis gestern abend«, fuhr er monoton fort, »als die Sonne unterging, den Leuten das Herz brach«.

Hier machte er eine kaum merkliche Pause und sprach dann mit derselben monotonen Stimme weiter:

»Sie sagten mir, die Brigg sei nicht mehr zu retten, und meinten, sie hätten nun genug auch für ihre eigene Rettung getan. Ich sagte nichts dazu. Es war alles richtig, und es war keine Meuterei. Ich hatte ihnen nichts mehr zu sagen. Sie lagen die ganze Nacht achtern herum, regungslos und still wie Tote. Ich legte mich nicht hin und hielt Ausschau. Als der Tag anbrach, sah ich sogleich Ihr Schiff. Ich wartete, bis es heller wurde. Der leichte Windzug begann noch schwächer zu werden, ich spürte ihn nicht mehr auf meinem Gesicht. Dann rief ich so laut ich konnte: ›Seht das Schiff dort!‹ Aber nur zwei Mann erhoben sich ganz langsam und kamen zu mir. Zuerst standen wir drei eine ganze Zeitlang alleine da und beobachteten, wie Sie auf uns zusteuerten, dabei fühlten wir deutlich, wie der Wind fast einschlief. Aber nachdem standen auch andere nacheinander auf, und bald hatte ich die ganze Mannschaft hinter mir. Ich drehte mich um und sagte zu ihnen, sie könnten ja selbst sehen, daß das Schiff auf uns zuhält, aber bei dieser Flaute könnte es am Ende doch zu spät kommen, wenn wir nicht wieder an die Arbeit gingen und versuchten, unser Schiff so lange flott zu halten, bis wir alle abgeborgen sind. So habe ich mit ihnen gesprochen, und dann gab ich Order, an die Pumpen zu gehen.«

Er gab den Befehl, und er gab ihnen auch ein Beispiel, indem er selbst an die Pumpen ging; aber die Leute scheinen tatsächlich einen Augenblick gezögert zu haben, indem sie einander unschlüssig anblickten, ehe sie ihm folgten. »Hi, hi, hi!« Ganz unerwartet brach er in ein einfältiges, erschütterndes, nervöses Kichern aus. »Es waren gebrochene Männer«, erklärte er entschuldigend. »Zu lange war mit ihnen gespielt worden.« Darauf ließ er den Kopf sinken und verstummte.

Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit – ein Vierteljahrhundert ist schon ferne graue Vergangenheit-, aber bis auf den heutigen Tag erinnere ich mich der dunkelbraunen Füße, Hände und Gesichter zweier dieser Männer, deren Lebenswille die See gebrochen hatte. Sie lagen ganz still wie Hunde zusammengerollt auf den Bodenbrettern zwischen den Duchten. Meine Bootsbesatzung saß über die Riemen gebeugt, horchte und starrte sie mit großen Augen wie im Theater an. Plötzlich sah der Kapitän der Brigg auf und fragte mich, welchen Tag wir hätten.

Jeder Zeitbegriff war ihnen abhanden gekommen. Als ich ihm sagte, daß es Sonntag der 22. sei, zog er die Stirn in Falten und rechnete im Geiste nach, dann nickte er zweimal traurig vor sich hin und starrte ins Leere.

Er sah erbärmlich mitgenommen, elend und trübselig aus. Man hätte ihn für geistesgestört halten können, wäre nicht dieser unauslöschliche Ausdruck der Biederkeit in seinen blauen Augen gewesen, deren unglücklicher, müder Blick immer wieder die aufgegebene, sinkende Brigg suchte, als könne er keinen ändern Ruhepunkt finden. Dieser Kapitän hatte ein viel zu einfältiges Gemüt, um den Verstand zu verlieren, er hatte jene männliche Einfalt, die allein imstande ist, einen Mann unversehrt an Geist und Körper den Zweikampf mit dem tödlichen Mutwillen der See oder ihrer weniger boshaften Raserei bestehen zu lassen.

Die See war an diesem Tage weder zornig noch mutwillig noch heiter. Wie in einem Traum von unendlich zärtlicher Güte umfing sie, halb verborgen im lichten Dunst, unser fernes Schiff, das im Näherkommen immer größer wurde, unsere Boote mit den geretteten Leuten und den entmasteten Rumpf der Brigg, den wir hinter uns ließen, in einer einzigen sanften Umarmung friedlicher Stille. Auf ihrem Antlitz war keine Runzel und keine Falte und nicht die leiseste Kräuselung zu sehen. Und die leichte Dünung verlief so glatt wie ein anmutig wogendes Stück schimmernder grauer Seide, das mit grün glitzerndem Glanz durchsetzt ist. Wir pullten im gemächlichen Schlag weiter, aber als der Kapitän der Brigg nach einem kurzen Blick über die Schulter mit einem leisen Ausruf aufstand, hörten meine Leute ohne Befehl unwillkürlich auf zu pullen, und das Boot verlor seine Fahrt.

Er stützte sich mit einem harten Griff auf meine Schulter, während sein anderer Arm starr ausgestreckt anklagend in die unermeßliche Stille des Ozeans wies. Nach seinem ersten Ausruf, der den Schwung unserer Riemen abstoppte, gab er keinen Laut mehr von sich, aber seine ganze Haltung war ein empörter Aufschrei: »Seht dort!«... Ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine Vision des Bösen über ihn gekommen war. Ich war erschrocken, und die bestürzende Kraft, die aus seiner unbewegten Gebärde sprach, ließ mein Herz in der Ahnung, daß uns etwas Ungeheuerliches und Unerwartetes bevorstand, schneller schlagen. Die Stille um uns wurde erdrückend.

Einen Augenblick lang glitten die seidenglatten Dünungswellen arglos weiter. Ich sah jede einzelne von ihnen am dunstigen Horizont weit, weit jenseits der verlassenen Brigg heraufkommen und im nächsten Augenblick mit einem leichten, freundlichen Stoß gegen das Boot unter uns durchlaufen und weiterziehen. Der einschläfernde Rhythmus des Steigens und Fallens, die gleichbleibende Sanftheit dieser unwiderstehlichen Kraft, der großartige Zauber der unergründlichen See erfüllten mich, wie das feine Gift eines Liebestranks, mit einem herrlichen Gefühl. Aber es hielt nur wenige beruhigende Sekunden an, dann sprang auch ich auf und brachte das Boot wie die reinste Landratte ins Schlingern.

Etwas Erschreckendes, Geheimnisvolles, bestürzend Verwirrendes spielte sich jetzt ab. Ich beobachtete es voll Unglauben und von Entsetzen gepackt, wie man die undeutlichen, flüchtigen Bewegungen einer Gewalttat im Dunkeln verfolgt. Wie auf ein verabredetes Zeichen kam plötzlich die Dünung rund um die Brigg zum Stillstand. Durch eine seltsame optische Täuschung schien sich der ganze Ozean mit einem einzigen überwältigenden Anschwellen seiner seidenglatten Oberfläche über die Brigg zu erheben, worauf sich an dieser Stelle wildschäumende Gischt verbreitete. Dann verebbte der Aufruhr wieder. Alles war vorbei, und die glatten Dünungswellen kamen wie vorher in ununterbrochenem Rhythmus vom fernen Horizont auf und liefen mit einem leichten freundlichen Schütteln unseres Bootes unter u« vorbei. Weitab, dort wo die Brigg gelegen hatte, war auf dem stahlgrauen, mit grünen Strahlen durchsetzten Wasser nur noch ein aufgewühlter, weißer Fleck zu sehen, der, allmählich kleiner werdend, wie ein Rest reinen Schnees lautlos in der Sonne schmolz. Und die große Stille nach dieser ersten Einführung in den unversöhnlichen Haß der See war wie geschwängert mit entsetzten Gedanken und den Schatten kommender Katastrophen.

»Weg ist sie!« stieß mein Bugmann aufstöhnend aus, das Ende bestätigend. Er spuckte in die Hände und faßte seinen Riemen fester. Der Kapitän der Brigg ließ seinen starr ausgestreckten Arm sinken und sah ans in nachdenklich-schwermütigem Schweigen an. Seine feierliche Miene war für uns gleichsam die Aufforderung, an dem unfaßbaren Schrecken seines einfältigen Gemüts teilzunehmen. Jäh setzte er sich an meine Seite und beugte sich mit ernster Miene gegen meine Bootsbesatzung vor, die gemächlich, mit langen Schlägen weiterpullte und ihn dabei treuherzig ansah.

»Kein Schiff hätte sich so gut gehalten«, begann er seine Ansprache mit fester Stimme, nachdem er einen Augenblick krampfhaft geschwiegen und mit bebenden Lippen offenbar nach den passenden Worten für sein stolzes Bekenntnis gesucht hatte.

»Die Brigg war klein, aber sie war gut. Ich hatte keine Angst um sie. Sie war stark. Letzte Reise hatte ich meine Frau und meine beiden Kinder an Bord. Kein anderes Schiff hätte so lange das Wetter ausgehalten, das sie Tag für Tag durchstehen mußte, bis vor vierzehn Tagen die Masten über Bord gingen. Sie war einfach am Ende ihrer Kraft. Ihr könnt es mir glauben. Tage und Tage hat sie für uns ausgehalten, doch sie konnte nicht ewig aushalten. Es war lange genug. Ich bin froh, daß es vorbei ist. Noch nie ist ein besseres Schiff an einem solchen Tage auf See aufgegeben worden und gesunken.«

Er war der rechte Mann, einem Schiff die feierliche Grabrede zu halten, dieser Sohn eines alten Volkes von Seefahrern, dessen nationale Existenz so wenig durch die Exzesse männlicher Kraft befleckt worden ist. Ein Volk, das nichts weiter als einen festen Halt auf der Erde verlangte. Die Verdienste seiner seefahrenden Ahnen und die Arglosigkeit seines Herzens befähigten ihn, diese vortreffliche Rede zu halten. Nichts von dem, was eine gute Rede ausmacht, fehlte darin – weder Gottvertrauen noch Pflichttreue, weder die Lobpreisung der Toten noch die erbauliche Darstellung ihrer großen Taten. Sie hatte gelebt, und er hatte sie geliebt; sie hatte gelitten, und er war froh, daß sie ihren Frieden gefunden hatte. Es war eine ausgezeichnete Rede und rechtgläubig dazu in ihrer Treue zum Kern des Seemannsglaubens, zu dem sie sich so entschieden bekannte. »Schiffe sind gut.« Ja, sie sind es. Wer mit der See leben will, muß sich vor allen Dingen an dieses Glaubensbekenntnis halten, und ich verstand jetzt, als ich den Kapitän von der Seite ansah, daß manche Männer der Ehre würdig sind, mit gutem Gewissen die letzte Lobrede auf die Standhaftigkeit eines Schiffes im Leben und im Tode zu halten.

Hiernach sprach er kein Wort mehr. Die lose gefalteten Hände zwischen den Knien, saß er regungslos neben mir, bis der Schatten der Segel unseres Schiffes über das Boot fiel. Erst bei den lauten Begrüßungsrufen zur Rückkehr der Sieger mit ihrem Siegespreis hob er sein verstörtes Gesicht mit einem Lächeln ergreifender Nachsicht. Das Lächeln dieses würdigen Nachkommen des ältesten Volkes von Seefahrern, deren Kühnheit und Ausdauer keinerlei Spuren von Größe und Ruhm auf dem Wasser hinterlassen hat, vollendete meine Weihe zum Seemann. In der rührenden Trauer des Kapitäns der Brigg kam die unermeßliche Tiefe vererbter Weisheit zum Ausdruck. Daneben klangen die herzhaften Begrüßungsrufe wie kindliches Triumphgeschrei. Unsere Mannschaft war hell begeistert – die braven Kerle! Als ob sich irgend jemand damit brüsten könnte, gegen die See sich behauptet zu haben, die so viele Schiffe mit großen »Namen«, so viele stolze Männer, so viele hochfliegende, ehrgeizige Pläne von Ruhm, Macht, Reichtum und Größe verraten hat!

Als ich das Boot unter die Taljen brachte, beugte sich mein Kapitän in strahlender Laune über die Reling. Er hatte seine roten, sommersprossigen Ellbogen aufgestützt und rief aus der Tiefe seines zynischen Philosophenbartes sarkastisch zu mir herunter:

»Na, haben Sie das Boot also doch wieder heil zurückgebracht?«

Sarkasmus war »seine Art«, und sie paßte zu ihm; nichts Besseres könnte ich dazu sagen. Das macht den Sarkasmus zwar nicht liebenswerter, aber es geziemt sich und ist auch ratsam, auf die Art seines Kapitäns einzugehen. »Ja, ich habe das Boot heil zurückgebracht«, antwortete ich. Und der gute Mann glaubte es mir. Er konnte die Zeichen meiner jüngsten Weihe nicht wahrnehmen. Und doch war ich nicht mehr derselbe junge Mann, der mit dem Boot fortgefahren war voller Ungeduld auf das Rennen gegen den Tod um den Preis von neun Menschenleben.

Ich sah die See schon mit anderen Augen an. Ich wußte, daß sie in ihrer Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse imstande war, die großmütige Begeisterung der Jugend ebenso unbarmherzig zu verraten wie die allerniedrigste Habgier oder das edelste Heldentum. Mein Glaube an ihre hochherzige Güte war dahin, und ich sah die See jetzt, wie sie in Wirklichkeit ist – die See, die mit Männern ihr Spiel treibt, bis ihnen das Herz bricht, und die starke Schiffe zu Tode hetzt. Nichts vermag die unheilbrütende Grausamkeit ihrer Seele zu rühren. Sie steht allen offen und ist keinem treu. So übt sie ihren Zauber aus, um die Besten zugrunde zu richten. Es ist nicht gut, sie zu lieben. Sie kennt kein Gelöbnis und kein Versprechen, keine Treue im Unglück und keinen Lohn für langwährende Gemeinschaft und Hingabe. Es ist sehr viel, was sie immerfort verspricht; aber das ganze Geheimnis, die Herrschaft aber sie zu gewinnen, besteht in der Kraft, in der argwöhnischen, nimmerruhenden Kraft eines Mannes, der innerhalb der Schranken, die ihm gesetzt sind, einen begehrten Schatz bewahrt.


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