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Wie reizend ist der Kummer im Gefolge
Der jungfräulichen Unschuld! Selbst das Glück
Muß uns an Andern häßlich dann erscheinen.
Davenant.
Wir müssen zu dem Felseninselchen und zu der traurigen Scene, die wir noch zu schildern haben, zurückkehren. Diesen Zweck werden wir jedoch ebenso gut erreichen, wenn wir mit der Zeit gleich bis zum Abende vorrücken, und Manches, was sich der Leser leicht selbst denken kann, außer Berührung lassen.
Daß Andrea Barrofaldi und Vito Viti an den blutigen Waffenthaten, die wir erzählt haben, keinen Antheil nahmen, brauchen wir wohl kaum zu sagen. Nachdem jedoch Alles vorüber war, ruderten sie näher zu dem Felsen, und betrachteten sich das traurige Schauspiel, das sich auf dem engen Raume des kleinen Eilandes ihren Blicken darbot. Während sie so in ihrem Boote saßen, entspann sich folgendes kurze Zwiegespräch zwischen den Beiden.
»Vicestatthalter,« fragte der Podesta, und deutete nach der Stelle, wo Sir Frederick als eine regungslose Leiche und Raoul in seinem Blute dalag, während Andere sich in ihren Schmerzen auf dem Boden krümmten – »nennt Ihr das Wirklichkeit oder ist es auch nur ein Theil jener verdammungswürdigen Lehre, welche allein vollkommen genügte, um auf dieser Erde Alles auf den Kopf zu stellen und die Menschen in Geier und Tiger zu verwandeln?«
»Ich fürchte, Nachbar Vito, es wird sich nur als allzu wahr erweisen. Ich sehe da Sir Dashwoods und Sir Smees' Leichen, und Gott weiß, wie viele Andere heute in das Reich der Geister hinübergegangen sind.«
»Und hier eine Welt der Schatten zurückgelassen haben,« murmelte Vito Viti, den selbst dieser trauererregende Anblick nicht ganz von einem Ideengange abbringen konnte, welchen der nun bald vierundzwanzigstündige Streit bei ihm förmlich stationär gemacht hatte.
Doch war der jetzige Augenblick nicht wohl zu einer Fortsetzung der Discussion geeignet, und die beiden Italiener zogen deßhalb vor, an's Land zu steigen. Dieß geschah eine halbe Stunde, nachdem der Kampf zu Ende war; unsere Absicht aber geht dahin, mit der Erzählung bis zu dem im Eingange dieses Kapitels erwähnten Augenblicke vorauszueilen. Zuvor jedoch müssen wir dem Leser die Ereignisse, welche der nun folgenden Scene vorangingen, in leichter Skizze vor Augen führen.
Sobald Winchester Zeit dazu fand, suchte er einen Ueberblick über das Schlachtfeld zu gewinnen. Er fand von seinen eigenen Leuten viele getödtet, noch mehrere verwundet. Von den auf der Insel postirten Franzosen war gerade die Hälfte blessirt; doch der Schlag, den Alle am meisten beklagten, war die tödtliche Wunde, welche ihr Führer erhalten hatte. Der Arzt erklärte Raouls Zustand nach kurzer Zeit für hoffnungslos – eine Erklärung, welche selbst die Edleren unter seinen Feinden mit Bedauern vernahmen. Die Vertheidigung war verzweifelt gewesen, und hätte wohl gelingen mögen, wenn es überhaupt im Reiche der Möglichkeit gelegen wäre, daß wenige beherzte Männer die doppelte Anzahl ebenso muthiger Feinde zurückschlagen konnten. Beide Theile hatten für ihre Ehre gefochten, und wo dieß einmal der Fall ist, da wird der Sieg gewöhnlich dem Stärksten zu Theil.
Sobald man bemerkte, daß alle drei Schiffe in der Verfolgung des Feindes wahrscheinlich weit leewärts geführt werden würden, fühlten die englischen Offiziere die Nothwendigkeit, in ihrer Lage für sich allein zu handeln. Das ärztliche Personal war von Anfang an thätig gewesen, und nach Verlauf weniger Stunden war für die Verwundeten Alles geschehen, was die jetzigen Umstände nur immer gestatten wollten. Amputationen waren nur wenige nöthig, und da jedes Schiff einen Arzt mitgeschickt hatte, so konnten sie auch alle vorgenommen werden, während in andern Fällen der Verband großenteils mit Erfolg angelegt worden war. Der Tag ging seinem Ende entgegen, und die Entfernung von der Flotte war so bedeutend, daß man keine Zeit mehr zu verlieren hatte.
Kaum hatten also die Nichtverwundeten einige Erfrischungen genossen und für ihre weniger glücklichen Kameraden Sorge getragen, als Letztere, so gut es gehen wollte, auf den größeren Booten untergebracht und diese von den Kuttern in's Schlepptau genommen wurden. Jedes der drei Langboote brach augenblicklich, so wie es seine traurige Ladung eingenommen hatte, nach dem Hospitalschiffe der Flotte auf, wobei die Gesunden unter den Franzosen sich mit Freuden erboten, in Erfüllung dieser frommen Pflicht ihren Beistand zu leisten.
Endlich blieben nur noch drei Boote übrig: das eine war Sir Fredericks Gig, welches Winchester zu seinem eigenen Gebrauche zurückbehalten hatte, das zweite Andrea Barrofaldi's Barke, und das dritte der kleine Nachen, in welchem Carlo Giuntotardi vom Lande herübergekommen war. Von den Franzosen blieb außer Raoul, seinem Proviantmeister und Diener und dem Arzte des Luggers sonst Niemand zurück. Zu Diesen kamen die beiden Italiener mit ihren Ruderern, Carlo und seine Nichte nebst Winchester und dessen Bootsmannschaft, womit wir denn alle Anwesenden aufgezählt hätten.
Die Sonne war eben hinter die naheliegenden Hügel hinabgesunken, und man mußte sich jetzt nothwendig zu irgend einem Plane entschließen. Winchester befragte den Arzt, ob es wohl rathsam sei; den Patienten weiter zu schaffen: konnte dieß geschehen, so war es jedenfalls besser, wenn es bald geschah.
» Monsieur le lieutenant,« gab diese Person etwas trocken zur Antwort, » mon brave capitaine hat nur noch kurze Zeit vor sich. Er hat darum gebeten, hier auf dem Schauplatze seines Ruhms und in Gesellschaft jenes Mädchens, das er so von Herzen liebt, gelassen zu werden: mais, Ihr seid die Sieger« – dabei zuckte er die Achseln – »und könnt nach Eurem Belieben verfügen.«
Winchester erröthete und biß sich in die Lippen. Ein Mann von seiner menschenfreundlichen Gesinnung war doch gewiß weit entfernt von dem Gedanken, Raoul jetzt noch körperlich oder geistig quälen zu wollen, und er fühlte sich deßhalb über den geäußerten Verdacht höchlich empört. Gleichwohl bezwang er sich, und gab mit höflicher Verbeugung zu verstehen, daß er so lange bei dem Gefangenen bleiben wolle, bis Alles vorüber sein würde.
Der Franzose war überrascht, und als er in der Miene des Andern so viel Mitleid und Theilnahme gewahrte, fühlte er wirklich Reue über sein Mißtrauen, und noch mehr darüber, daß er es geäußert hatte.
» Mais, Monsieur,« antwortete er, »die Nacht wird bald hereinbrechen; es könnte sich leicht fügen, daß Ihr sie hier auf dem Felsen zubringen müßtet.«
»Und wenn auch, Doktor, so ist dieß jedenfalls nicht mehr, als wir Seeleute schon gewöhnt sind. Ein solcher Bootsdienst kommt bei uns gar häufig vor. Ich darf mich nur in meinen Mantel hüllen, um alle Behaglichkeit, die ein Seemann braucht, zu genießen.«
Damit war die Sache abgemacht, und es wurde nichts weiter darüber gesprochen. Der Arzt, der an solche Auftritte gewöhnt war, hatte bald alle für Raouls Ende nöthigen Anstalten getroffen. Als man den Lugger von seinem Ballaste erleichtert hatte, waren hunderterlei kleine Artikel, unter anderen auch einige rohe Seemannsmatratzen – auf die Insel ausgeladen worden. Zwei oder drei derselben wurden gesammelt, auf dem weichsten Theile der Felsoberfläche ausgebreitet und zum Bett für Raoul hergerichtet. Der Doktor wollte mit Hilfe der Seeleute ein Segel als Zelt darüber aufstellen, doch der Verwundete hatte sich dieß verbeten.
»Laßt mich die freie Luft einathmen,« sagte er; »ich werde nur noch wenig bedürfen; dieses Wenige mindestens laßt mich frei genießen.«
Es wäre umsonst gewesen, sich einem solchen Wunsche zu widersetzen, da überdieß gar kein Grund dazu vorhanden war. Die Luft war rein, und auch für Ghita war in einer solchen Umgebung von der Nacht Nichts zu befürchten. Die Kälte, die bei dem Eintritte des Tramontana fühlbar wurde, war nicht unangenehm, da die Inselchen durch die benachbarten Hügel vor dessen allzu rauhem Andrange geschützt waren.
Die englischen Matrosen sammelten die herumschwimmenden Spieren des Luggers zum Brennmaterial, und zündeten ein Feuer auf dem Felsen an. Lebensmittel aller Art waren im Ueberflusse vorhanden; auch einige volle Wasserfässer waren für den Fall einer längeren Belagerung an's Land geschafft worden. So wurde also Kaffee gekocht, und für alle Anwesenden hinreichend Speise bereitet.
Bei der Entfernung der Schmausenden war für die um Raoul Beschäftigten keine Störung zu besorgen; der Glanz des Feuers, das immer lustig brennend erhalten wurde, warf, sobald die Nacht vollends eingebrochen war, einen malerischen Schimmer auf die um das Sterbebette versammelte Gruppe, so daß selbst Lampen oder Fackeln dadurch unnöthig wurden.
Wir wollen die ersten stürmischen Ausbrüche der Herzensangst, welche Ghita bei der Nachricht von Raouls tödtlicher Verwundung empfand, übergehen; ebenso wollen wir die Glut, mit der sie unaufhörlich ihr Gebet gen Himmel schickte, so wie die Scenen, welche zu der Zeit, da die Insel noch von Kämpfern wimmelte, Statt hatten – zu schildern unterlassen. Als diese Letzteren abgezogen waren, hatte das Mädchen ruhigere Stunden, und je weiter die Nacht vorrückte, desto mehr begann bei ihr an die Stelle der anfänglichen Erschütterung die starre Ruhe hoffnungsloser Verzweiflung zu treten. Erst mit der zehnten Abendstunde war der Augenblick gekommen, wo wir den Vorhang noch einmal zu lüften wünschen, um unseren Lesern die Hauptpersonen der Erzählung zum Schlusse vor Augen zu führen.
Raoul lag auf dem Gipfel der Insel, wo sein Auge über die sanften Wogen, welche den Felsen bespülten, hinstreifen und sein Ohr dem Murmeln seines Lieblingselementes zuhören konnte. Der Tramontana hatte wie gewöhnlich die Atmosphäre von jeder Spur von Dünsten gereinigt; über ihm dehnte sich das Himmelsgewölbe in seinem tiefen Blau, mit Tausenden von Sternen besä't – für Einen, der mit Hoffnung im Herzen stirbt, ein glorreicher Vorbote der Zukunft. Ghita's, so wie der anderen Wärter Sorgfalt hatte um diesen Raum eine solche Masse kleiner Bequemlichkeiten zusammengehäuft, daß man beinahe in einem Zimmer zu sein glaubte, in welchem Seitenwände und Täfelwerk entfernt worden waren – so wohnlich und behaglich nahm sich das Ganze aus.
Von der Anstrengung des Tages ermüdet, hatte sich Winchester mit dem Befehle, ihn sobald es nöthig wäre zu rufen, etwas abseits von Raoul auf einer Matratze niedergelegt, da er sich recht wohl denken konnte, daß Letzterer mit Ghita allein zu bleiben wünschen würde; der Arzt war in dem Bewußtsein, daß er keine Hilfe mehr zu leisten vermöge, mit einer ähnlichen Bitte dem Beispiele des Lieutenants gefolgt. Carlo Giuntotardi schlief nur selten: er war in den Ruinen mit seiner Andacht beschäftigt. Andrea ging mit dem Podesta auf dem Felsen auf und ab, um sich warm zu erhalten; Beide konnten manchmal einen leichten Anflug von Reue nicht unterdrücken, daß sie sich durch einen plötzlichen Anfall von Menschlichkeit zum Bleiben hatten verleiten lassen.
Raoul und Ghita waren allein. Ersterer lag auf dem Rücken, der Kopf war mit Polstern unterstützt, das Gesicht der Himmelsdecke über ihm zugewendet. Aller Schmerz war vorüber, und das Leben ging rasch seinem Ende entgegen; der Geist aber schien noch unerschüttert und geschäftig wie früher. Sein Herz war noch immer voll von Ghita; doch hatte seine außergewöhnliche Lage, und besonders der prachtvolle Anblick vor seinen Augen, in seine Gefühle allerhand Bilder der Zukunft gemengt, welche ihm ebenso neu waren, als sie ihn mächtig ergreifen mußten.
Ghita aber befand sich in ganz anderer Lage. Als Weib hatte sie das Gewicht dieses plötzlichen Schlages in einer Stärke gefühlt, welche sie ihr Unglück nur mit Mühe ertragen ließ. Doch dankte sie Gott auch jetzt noch dafür, daß das, was vorgefallen war, sich wenigstens vor ihren Augen ereignet hatte, so daß sie ihren Geliebten wenigstens in seinen letzten Stunden pflegen und ihn durch ihr Gebet aufrichten konnte. Wir würden eine Unwahrheit sagen, wenn wir behaupteten, sie habe jetzt nicht die vollste Liebe, ja alle die Zärtlichkeit für Raoul gefühlt, welche den Hauptbestandtheil in dem Wesen eines Weibes bildet; aber ihr Geist war jetzt auf das Schlimmste gefaßt, und ihre Gedanken nur noch auf das Leben Jenseits gerichtet.
Eine lange Pause war vorhergegangen: Raoul hatte fortwährend mit starrem Blick die Sternendecke über ihm betrachtet.
»Es ist doch eigen, Ghita,« begann er endlich, »daß ich, Raoul Yvard – der Kaper – der Mann der Kriege und Stürme – heftiger Kämpfe und haarscharfer Todesgefahren – hier auf diesem Felsen sterben soll, während alle diese Sterne gleichsam auf mich herabschauen und aus deinem Himmel auf mich herniederzulächeln scheinen.«
»Warum sollte er nicht dein Himmel so gut wie der meinige sein, Raoul?« erwiederte Ghita zitternd. »Er ist eben so groß wie Der, der darin wohnt – dessen Thron er ist – und vermag Alle in sich zu fassen, die Ihn lieben und Seine Gnade suchen.«
»Glaubst du, ein Mann meines Gleichen werde vor Seinem Angesichte Zutritt finden, Ghita?«
»O zweifle nicht daran: Er selbst ist ja frei von Irrthum und Schwäche, und Sein heiliger Geist erbarmt sich der Reuigen und Bekümmerten. O theuerster, theuerster Raoul, wenn du nur beten wolltest!«
Ein Strahl, fast wie Triumph, zuckte über das Antlitz des Verwundeten; Ghita erhob sich in dem Drange ihrer Erwartung und stand über ihn hingebeugt, während sich in ihren Zügen eine augenblickliche Hoffnung aussprach.
» Mon Feu-Follet!« rief Raoul, indem seine Zunge den vorüber blitzenden Gedanken aussprach, der jenes Lächeln des Triumphs auf seinem Antlitz hervorgerufen hatte – »du wenigstens bist entronnen. Diese Engländer werden dich nicht unter ihren Schlachtopfern aufzählen und ihre Augen an deinen reizenden Verhältnissen weiden!«
Ghita fuhr es eiskalt durch's Herz. Sie sank auf ihren Sitz zurück und bewachte die Züge ihres Geliebten fortwährend mit einem Gefühle der Verzweiflung, obwohl unauslöschliche Zärtlichkeit noch immer ihre Seele erfüllte.
Raoul hörte diese Bewegung; das Haupt nach dem Mädchen hinwendend, schaute er ihr eine volle Minute mit einem Theile jener innigen Bewunderung in's Antlitz, welche in glücklicheren Augenblicken so oft aus seinen Augen geleuchtet hatte.
»Es ist besser so, wie es ist, Ghita,« sprach er, »besser, als wenn ich ohne dich leben sollte. Das Schicksal hat sich gütig gezeigt, indem es mein Elend auf diese Art endete.«
»O Raoul! nicht das Schicksal, sondern nur Gottes heiliger Wille ist's, der über uns waltet. Täusche dich nicht selbst in diesem furchtbaren Augenblick, sondern beuge deinen stolzen Geist in Demuth, und wende dich zu Ihm um Seine Hilfe!«
»Arme Ghita! – Nun, du bist nicht die einzige unschuldvolle Seele unter all' den Millionen, welche von den Priestern in's Garn gelockt wurde, und ich denke, was mit dem Anfange begonnen hat, wird auch bis zum Ende ausdauern.«
»Anfang und Ende – beides ist Gott, Raoul. Seit dem Beginne der Welt hat Er Gesetze verordnet, welche die Prüfungen deines Lebens – ja sogar alle Trauer dieser Stunde herbeigeführt haben.«
»Und glaubst du, Er werde dir alle die Mühe verzeihen, die du dir um einen Unwürdigen, wie mich, gegeben hast?«
Ghita beugte ihr Haupt auf die Matratze, über welcher sie lehnte, und begrub das Antlitz in ihre Hände. Eine Minute lang lag sie so in Gebet versunken, dann erhob sie wieder ihr Haupt, und die Röthe der Unschuld, wie des Gefühls, leuchtete in ihren Zügen.
Raoul lag wieder auf dem Rücken und hatte die Augen auf das Himmelsgewölbe geheftet. Die seemännischen Studien hatten ihn tiefer in die Astronomie eingeführt, als seine sonstige Erziehung hätte vermuthen lassen, und bei seinem lebhaften Drange zur Speculation hatten die Resultate dieser Wissenschaft die Phantasie des jungen Mannes gar oft ergriffen, wenn sie auch sein Herz niemals zu rühren vermochten. Bis daher war auch er in den allgemeinen Irrthum jeder beschränkten Forschung verfallen – er hätte nämlich in dem willkürlich gesteckten Bereiche seiner Vernunft eine Bestätigung seiner sonstigen Vermuthungen gefunden. Der furchtbare Augenblick aber, der ihm jetzt so nahe stand, konnte auch bei ihm seinen Einfluß nicht verfehlen, und jener unbekannte Abgrund der Zukunft, über welchem er gleichsam nur noch am Haare schwebte, führte seinen Geist unfehlbar zu einem Sehnen nach dem unbekannten Gotte.
»Weißt du wohl, Ghita,« fragte er, »daß in Frankreich die Gelehrten behaupten, jene glänzenden Sterne seien lauter Welten, welche höchst wahrscheinlich, wie unsere Erde hier, bevölkert sind und denen gegenüber letztere selbst nur wie ein Stern, und zwar nicht einmal als einer von den größten, erscheint?«
»Und was ist das Alles, Raoul, verglichen mit der Macht und Majestät Dessen, der das Weltall erschuf? Ach! denke nicht an die Geschöpfe Seiner Hand, denke lieber an Ihn, der sie geschaffen hat!«
»Hast du jemals davon gehört, meine arme Ghita, daß des Menschen Geist im Stande war, Instrumente zu erfinden, um die Bewegungen aller dieser Welten zu erforschen, und daß er selbst die Macht besitzt, ihre Wanderungen mit Genauigkeit selbst auf Jahrhunderte voraus zu berechnen?«
»Und weißt du vielleicht, mein armer Raoul, was dieser Menschen Geist eigentlich ist?«
»Ein Theil seiner Natur – sein höchster Vorzug, – der ihn zum Herrn der Erde erhebt.«
»Sein höchster Vorzug, der ihn zum Herrn der Erde erhebt – in einer Beziehung allerdings – ja; im Ganzen genommen aber doch nur ein Punkt in dem Umfange des Weltraums – ein Bruchstück von dem Geiste Gottes. In diesem Sinne wurde er nach dem Ebenbilde seines Schöpfers gebildet.«
»So glaubst du also eigentlich, Ghita, der Mensch selbst sei Gott?«
»Raoul, Raoul! wenn du mich nicht neben dir sterben sehen willst, so lege meine Worte nicht auf diese Art aus.«
»Wäre es denn so hart, Ghita, das Leben in meiner Gesellschaft zu verlassen? Mir erschiene es als das höchste Glück, wenn ich meinen Platz mit dem deinigen vertauschen könnte!«
»Um zu gehen – wohin? Hast du dich auch schon darüber befragt, mein Geliebter?«
Raoul schwieg eine Zeitlang; seine Augen waren auf einen glänzenden Stern geheftet, und ein wahrer Gedankensturm schien über ihn hereinzubrechen. In dem Leben jedes Menschen gibt es Augenblicke, wo die geistige Sehkraft eine deutlichere Ansicht ferner Bilder aus Vergangenheit und Zukunft gestattet, gerade wie es Tage gibt, wo die Atmosphäre, reiner als gewöhnlich, den physischen Organen alle ihre Gegenstände williger überläßt, und den Geist fast ohne alle Schranken für den Augenblick allein schalten läßt. Einer dieser lichten Momente war jetzt auch für den Sterbenden angebrochen, und er konnte nicht ganz ohne Früchte für ihn bleiben. Raouls Seele fühlte sich von neuen Eindrücken bewegt.
»Glauben deine Priester nicht auch,« fragte er, »daß, wer sich in diesem Leben gekannt und geliebet hat, auch in jenem, welches sie als das künftige anpreisen, sich wieder kennen und lieben werde?«
»Das Leben, das uns dort erwartet, Raoul, ist nur Liebe oder nur Haß. Daß wir uns wieder kennen werden, das möchte ich so gerne hoffen; auch sehe ich keinen Grund, warum ich es nicht glauben sollte. Mein Oheim ist der Meinung, es müsse so sein.«
»Dein Oheim, Ghita? – wie – Carlo Giuntotardi – der an die Dinge in seiner nächsten Nähe niemals zu denken scheint? – Kann ein Geist, wie der seinige, bei so fernen und erhabenen Gedanken verweilen?«
»Du kennst und verstehst ihn nur schlecht, Raoul. Sein Geist hört sogar nur selten auf, über solche Gedanken nachzusinnen – das ist ja gerade der Grund, warum ihm die Erde mit Allem, was sie enthält, so gleichgültig erscheint.«
Raoul gab keine Antwort; seine Wunde schien ihm wieder Schmerzen zu bereiten, und das weibliche Gefühl gewann in Ghita's zarter Natur die Oberhand, so daß sie nicht den Muth hatte, ihn, wenn es auch sein Seelenheil galt, in einem solchen Augenblicke zu bedrängen. Sie bot ihm niederschlagende Tropfen und pflegte ihn mit nie ermüdender Sorgfalt: als die Schmerzen wieder gestillt schienen, lag sie wieder Minuten lang auf den Knieen, und ihre ganze Seele schien von dem Gedanken an sein künftiges Wohlergehen erfüllt.
Eine volle Stunde verstrich auf diese Weise. Alles, was Leben hatte, schlief, von Ermattung überwältigt – nur Ghita und der Sterbende waren noch wach.
»Dieser Stern läßt mir keine Ruhe, Ghita!« murmelte Raoul endlich. »Wenn er wirklich eine Welt ist, so muß eine allmächtige Hand ihn geschaffen haben; der Zufall schuf noch nie eine Welt, so wenig er ein Schiff zu schaffen vermag. Nachdenken, Verstand, Kenntnisse müssen bei der Bildung von beiden vorgewaltet haben.«
Seit Monaten hatte Ghita keinen so glücklichen Augenblick erlebt. Es schien, als ob Raouls Geist sich selbst aus jener seichten Modephilosophie herauswinden wolle, welche bisher sein freundliches Gemüth und seinen sonst so klaren Verstand umnebelt hatte. Wenn seine Gedanken nur einmal die wahre Richtung gewinnen konnten, so hegte sie das festeste Vertrauen zu der Klarheit ihrer Ansichten, ein noch größeres aber zu der Güte ihres Schöpfers.
»Raoul,« flüsterte sie, »Gott ist dort, wie er auch hier auf diesem Felsen bei uns ist: Sein Geist waltet überall. Preise Ihn – preise Ihn in deinem Geiste, mein Geliebter, und sei glücklich für immer!«
Raoul antwortete nicht. Sein Antlitz war aufwärts gewendet, sein Auge haftete immer noch an jenem einzelnen Sterne. Ghita wollte ihn nicht stören, sondern schloß seine Hand in die ihrigen, und kniete wieder, in Andacht versunken, an seiner Seite nieder.
So verstrich eine Minute nach der andern: Keines von Beiden schien zum Sprechen geneigt. Endlich ward Ghita wieder das sorgsame Weib, das sich an die leiblichen Bedürfnisse ihres Patienten erinnerte. Es war Zeit, ihm den Trank des Arztes zu reichen, und sie näherte sich, um ihm das Glas an die Lippen zu halten.
Sein Auge war noch immer auf den Stern geheftet, die Lippen aber begegneten ihr nicht mit dem gewöhnlichen, liebevollen Lächeln. Sie waren zusammengepreßt, wie wenn der Körper sich eben in das Gewühl der Schlacht stürzen wollte: eine Art finsterer Entschlossenheit hatte auf ihnen Platz genommen. – Raoul Yvard war nicht mehr.
Die Entdeckung der Wahrheit war für Ghita ein furchtbarer Augenblick: nirgends ein lebendes Wesen in der Runde, das mit ihr das Bewußtsein ihrer Lage theilte – Alle schliefen den Schlummer der Ermattung.
Ihr erstes Gefühl war das ihres Geschlechtes: sie warf sich auf den Leichnam, umarmte ihn in wildem Schmerz, und gab allen den geheimen Regungen Raum, welche ihr Geliebter in Augenblicken der Unzufriedenheit ihr gänzlich abgesprochen hatte. Sie küßte Stirne, Wangen und die bleichen, ernsten Lippen des Todten, und eine Zeitlang schien sogar ihr eigener Geist in Gefahr – es war, als ob er in der Fieberglut des Schmerzes dem Vorangegangenen folgen wollte.
Doch war es Ghita moralisch unmöglich, lange unter dem Einflusse dieser Verzweiflung zu verharren. Ihre weiche Seele hatte zu oft und zu innig mit ihrem himmlischen Vater verkehrt, um nicht in allen entscheidenden Augenblicken ihres Lebens zu Ihm ihre Zuflucht zu nehmen. Sie betete – heute Nacht wohl schon zum zehnten Male – und erhob sich ruhig, wenn nicht völlig gefaßt, von ihren Knieen.
Ghita's äußere Lage war nun eben so wild und düster, als ihr Geist innerlich tief bewegt war. Alles rings um sie her schlief, und, für's Auge wenigstens, eben so fest wie er, der erst dann wieder auferstehen sollte, wenn Land und Meer die Todten wieder von sich gäben. Die Aufregung und Anstrengung des vorangegangenen Tages brachte ihre naturgemäße Rückwirkung mit sich, und selten hatte sie so dringend das Bedürfniß des Schlummers empfunden. Das Feuer brannte noch hell in der Nähe der englischen Bootsleute, und warf seine Strahlen quer über die Ruinen, über die verschiedenen Schläfer und den regungslosen Körper des Verstorbenen. Von Zeit zu Zeit ließen sich auch einige Stöße des heftig wehenden Tramontana in der Niederung verspüren und fächelten die Flammen, so daß der Glanz, der diesen Augenblicken folgte, der ganzen Umgebung des Ortes eine auffallende Wirklichkeit verlieh.
Ghita war übrigens noch immer zu tief bewegt, um etwas Anderes als ihren Verlust und die ruhelose Besorgniß um den Geist des Abgeschiedenen zu empfinden. Sie sah, wie selbst ihr Oheim schlief und sie mit Raoul gänzlich allein ließ. Einmal überkam sie das Gefühl ihrer Verlassenheit, und sie war im Begriff, einige der Schläfer zu erwecken. Sie näherte sich dem Orte, wo der Arzt ruhte, und schon war ihre Hand ausgestreckt, um diesen aufzurütteln – da schoß ein Lichtstrahl über Raouls bleiche Züge, und sie bemerkte, daß seine Augen noch immer geöffnet waren.
Dem Todten näher tretend, beugte sie sich über seinen Körper hin und blickte lange und traurig in jene Fenster der Seele, welche so oft von männlicher Zärtlichkeit für sie geleuchtet hatten: ihr war dabei zu Muthe, wie einem Geizhalse, der sein zusammengescharrtes Gold mit keinem Andern theilen will.
Die ganze ewig lange Nacht hindurch wachte Ghita bei der Leiche ihres Geliebten: bald beugte sie sich über sie hin mit einer Zärtlichkeit, welche kein irdischer Wechsel zu vertilgen vermochte, bald bestürmte sie den Himmel mit ihrem Flehen um die Rettung seiner Seele. Nicht Einer erwachte, um sie in dem stillen Glücke zu stören, das die Erfüllung dieser frommen Pflicht ihr bereitete, oder ihr Gefühl durch die Verwunderung und den Spott gemeiner Menschen zu verletzen.
Ehe der Tag anbrach, schloß sie Raouls Augen mit ihren eigenen Händen, bedeckte seinen Körper mit der französischen Flagge, welche sie auf dem Felsen liegen sah, und erwartete geduldig und voll Resignation den Augenblick, wo ihr die Andern helfen würden, die letzte fromme Pflicht an dem Todten zu vollziehen. Als Katholikin fand sie einen heiligen Trost in jenem schönen Glauben ihrer Kirche, der uns selbst bis zu dem letzten Augenblicke unseres Daseins das unaufhörliche Gebet für die Seelen der Dahingeschiedenen gestattet.
Winchester war der Erste, welcher erwachte. Als er sich erhob, schien er erstaunt, sich in dieser Lage zu finden: doch schon der nächste Blick verkündete ihm den vollen Umfang der Wahrheit. Er näherte sich Ghita, und wollte sich eben nach Raouls Befinden erkundigen, als er, von dem Ausdrucke ihrer engelgleichen Züge betroffen, seinen Blick auf den Nebenliegenden warf und den Tod auf seinem bleichen Antlitze erkannte.
Es war jetzt nicht die Zeit, sich selbst oder Andere mit Vorwürfen zu quälen; er weckte seine Genossen nur leise und beinahe mit andächtiger Miene, so daß an dem Orte die ruhige heilige Stille einer Kapelle herrschte.
Carlo Giuntotardi erbat sich bald darauf den Leichnam von den Händen der Sieger. Es war kein Grund vorhanden, ihm diese Bitte abzuschlagen: er wurde auf ein Boot gebracht und nach der Küste gerudert, begleitet von Allen, die bei ihm zurückgeblieben waren.
Der heftige Sirocco, der sich bald nachher erhob, schleuderte die Wogen über Insel und Ruinen, und die See verwischte die Blutflecken, so wie jede Spur des Irrwisches und der neulichen Ereignisse.
Am Fuße des Scaricatojo errichteten die Matrosen eine rohe Bahre, und trugen den Körper jenen wilden und doch lieblichen Abhang hinan; nicht eher hörten sie in ihrem frommen Werke auf, als bis sie die Wohnung von Carlo Giuntotardi's Schwester erreicht hatten. Von Anfang an hatte ihn eine kleine Procession begleitet, und da Ghita unter den einfachen Bewohnern dieser Höhen allgemein gekannt und geachtet wurde, so war dieselbe bereits zu einer Reihe von hundert Gläubigen angewachsen, als man endlich die Straße von St. Agata betrat.
Das Kloster, dessen verlassene Mauern noch jetzt den Gipfel eines der benachbarten Hügel krönen, existirte damals noch als eine fromme Stiftung, und Carlo Giuntotardi's Einfluß genügte, um dem Todten die Dienste dieser Frommen zuzuwenden. Drei Tage und Nächte lag Raoul Yvards, des Ungläubigen, Leiche in der Kapelle dieser heiligen Brüderschaft, und für seine Seele wurden eifrig Messen gelesen: dann ward er auf heiligem Grunde beerdigt, um den Ruf der letzten Posaune abzuwarten.
Es herrscht eine eigenthümliche Neigung in der Menschenbrust, dem Manne bei Lebzeiten all' das Lob vorzuenthalten, das man ihm nach seinem Tode in vollem Maaße spendet. Obgleich man den Neid und seinen schlimmen Begleiter – die Verkleinerungssucht ausschließlich für demokratische Laster hält, indem man die Demokratie als das fruchtbarste Feld ansieht, auf welchem alle diese menschlichen Schwächen wuchern, so ist doch viel Grund zu dem Glauben vorhanden, daß unser eigentliches Stammvolk in Darlegung der oben erwähnten Eigenheit vor allen Andern excellire. Was Napoleon später, nach dessen Gefangenschaft und Tode begegnete, traf nun auch bei Raoul Yvard, natürlich in einem Maße ein, wie es für seine Lage und seinen Ruf passen mochte. War er zuvor auf der englischen Flotte verabscheut worden, so wurde er jetzt allenthalben geehrt und gepriesen. Jetzt, da er todt und unschädlich war, durfte man wohl seine Seemannsgeschicklichkeit anerkennen, seinen Muth erheben und mit seiner Ritterlichkeit wetteifern.
Winchester, O'Leary, M'Bean und Clinch geleiteten ihn zu Grab – ein Liebesdienst, der sich nach ihren jetzigen Empfindungen ganz von selbst verstand. Sie hatten sich der Ehre würdig bewiesen, ihm das Geleite zu geben, aber auch noch viele Andere bestanden darauf, an dem Gefolge Theil zu nehmen. Manche kamen, um noch sogar an seinem Sarge einen letzten Blick auf einen so gepriesenen Abenteurer zu werfen; Andere, um wenigstens sagen zu können, sie seien dabei gewesen; nicht Wenige auch, um das Mädchen zu sehen, dessen romantische, unschuldige Liebe in der neueren Zeit so häufig der Gegenstand des Gesprächs auf den Schiffen gewesen war.
So kam eine so große, prachtvolle Procession zu Stande, die den sonst so ruhigen Weiler von St. Agata in große Bewegung brachte. Alle merkten sich die Einzelheiten des Leichenzuges – Alle schienen darüber erfreut – nur Ghita nicht. Bei ihr hatten diese späten Ehrenbezeigungen ihre Wirkung verloren; in ihrer Seele lebte nur die eine große Sorge – den Himmel um Gnade für den Verewigten anzuflehen.
Auch Andrea Barrofaldi und Vito Viti figurirten bei dieser Gelegenheit; Letzterer war nach Kräften bemüht, Jeden, der es hören wollte, wissen zu lassen, auf welch' intimem Fuße er mit ›Sir Smees‹ gestanden – denn nun wurde dieser ja nicht mehr für einen Betrüger angesehen, sondern laut als Held gepriesen. Er erhob sogar einige Schwierigkeiten in Betreff des Vortritts, der seiner Ansicht nach bei dieser Gelegenheit der Toga vor den Waffen gebührte, da er wohl wußte, daß wenn der Vicestatthalter eine hervorragende Stelle bei der Ceremonie einnahm, der Podesta auch nicht weit zurückbleiben durfte. Die Sache wurde ganz zu Andrea's Beruhigung beigelegt, wenn gleich sein Freund dabei etwas weniger befriedigt schien.
Die Wahrheit zu sagen, so hatte Nelson angefangen, die neulichen Vorfälle nicht so ganz mißfällig zu betrachten. Als er Raouls verzweifelte Vertheidigung und so manche Züge des Edelmuths, den er bei verschiedenen Gelegenheiten bewiesen, vernahm, fühlte er zwar über seinen Tod ein großherziges Bedauern, mußte diesen aber doch noch lieber sehen, als wenn sein Feind vollends glücklich entronnen wäre. Als daher Cuffe mit der Meldung von dem Schicksale des Luggers eintrat, sprachen Beide, wenn sie auch dessen Gefangennehmung vorgezogen hätten, ihre Meinung dahin aus, der Lugger wie sein Kommandant hätten beide das Loos gefunden, das ein Kaperschiff und Kapersleute in der Regel verdienten.
Wer bei der Gefangennehmung betheiligt gewesen war, und die Affaire überhaupt überlebt hatte, erntete natürlich manche Vortheile von dem gewonnenen Siege. England vergißt besonders bei seiner Marine selten die Pflicht, nach Verdienst Belohnungen auszutheilen. Als Cook von seiner berühmten Entdeckungsreise zurückkehrte, ward ihm nicht Verfolgung und Vernachlässigung, sondern Ehre und Gerechtigkeit als Lohn zu Theil.
Nelson wußte jenen Muth und Unternehmungsgeist, den er selbst so oft an den Tag legte, auch an Andern gebührend zu schätzen. Für Sir Frederick Dashwood ließ sich nicht wohl etwas Anderes thun, als daß man seinem Namen auf der Liste der in der Schlacht Gefallenen eine ehrenvolle Stelle anwies. Sein Erbe trauerte um ihn mit allen äußeren Zeichen des Kummers, war aber innerlich voll Freude über die Baronetswürde, welche ihm zugleich ein jährliches Einkommen von mehreren tausend Pfunden sicherte.
Lyon erhielt Dashwoods Fregatte, und von diesem Augenblicke an hörte er auf, die Jagd auf den Irrwisch und Alles, was damit in Verbindung stand, als eine gewinnlose Geschichte zu betrachten. Airchy folgte ihm auf die Terpsichore voll süßer Träume über die zu erwartenden Prisengelder – Träume, welche im Laufe der nächsten fünf Jahre auch ziemlich zu seiner Zufriedenheit in Erfüllung gingen. Winchester wurde zum Kommandanten der Ringeltaube befördert; Griffin rückte zum Premier- und Yelverton natürlich zum Secondelieutenant vor, wodurch also die Stelle des dritten Lieutenants erledigt wurde. So weit waren die betreffenden Befehle bereits ausgefertigt, als Cuffe auf des Admirals Einladung mit diesem tête-à-tête zu Mittag speiste.
»Einer der Zwecke, warum ich Euch heute bei mir habe, Cuffe,« bemerkte Nelson, als der Tisch abgeräumt war und Beide bei ihrem Weine saßen – »ist der, daß ich wegen der vakanten Stelle in Eurer Konstablerkammer ein Wörtchen mit Euch sprechen möchte; ein zweiter aber wäre, Euch für Berry um einen Untersteuermann zu bitten. Ihr erinnert Euch doch, daß vor Eurer dießmaligen Ankunft einige Eurer Leute an Bord des Admiralschiffes aufgenommen wurden?«
»Ja wohl, Mylord; ich wollte Euch eben meinen verbindlichen Dank für diese Gnade bezeigen. Die armen Bursche haben auf jenen Klippen ziemlich warm bekommen, und verdienen nach einer solchen Action wohl eine behagliche Unterkunft.«
»Ich glaube, die haben wir ihnen auch bereitet, wenigstens wüßte ich Wenige, denen es auf diesem Schiffe schlimm ginge. Nun – unter Diesen war auch ein Mate, in Jahren ziemlich vorgerückt, der nach dem, was ich höre, in seiner jetzigen Stelle abzusterben bestimmt scheint. Wir brauchen eben einen solchen Mann in unserem Kielraum, und ich habe meinem Kapitän versprochen, seinetwegen mit Euch zu sprechen. Ihr braucht ihn nicht fortzulassen, wenn Ihr irgend Grund habt, ihn behalten zu wollen; wir haben aber drei Matrosen, die wir gegen ihn auszutauschen bereit wären – lauter gute Bursche, wie man mir sagte.«
Cuffe pickte einige Nüsse auf, und schien einigermaßen um eine Antwort verlegen. Nelson bemerkte dieß, und dachte sich, Cuffe wolle den Mate nicht gerne weggeben.
»Nun, ich sehe schon, wie's steht,« fuhr er lächelnd fort. »Wir müssen uns eben ohne ihn behelfen, und Ihr werdet Euren Mr. Clinch bei Euch behalten. Ein tüchtiger Offizier im Schiffsraum ist ein Vortheil, den man nicht wegwerfen darf, und ich glaube, wenn Hotham vom alten Agamemnon eine solche Gefälligkeit verlangt hätte – der würde ihm Etwas dafür gepfiffen haben. Da soll's aber doch der Teufel holen, wenn wir nicht sonst woher einen eben so guten Mate bekommen könnten.«
»Das ist es nicht, Mylord; der Mann steht Euch zu Diensten, obwohl für diese Stelle nirgends ein besserer zu finden ist. Ich hatte mich aber der Hoffnung überlassen, sein neuliches braves Benehmen und seine lange Dienstzeit möchten ihm einen Anspruch auf die erledigte Lieutenantsstelle gewähren.«
Der Admiral schien überrascht und nicht sonderlich erfreut über diese Andeutung.
»Es ist allerdings ein hartes Loos, Cuffe – das will ich zugeben – wenn ein armer Teufel zehn bis fünfzehn Jahre in derselben Stellung stecken bleibt, nachdem er noch dazu lange genug gedient hat, um auf ein Lieutenantspatent Anspruch zu haben. Ich war zehn Jahre jünger, als dieser Mr. Clinch jetzt sein muß, da ich Kapitän wurde, und es scheint allerdings hart – dennoch kann ich es nicht anders als für gerecht ansehen. Ich habe es noch nie erlebt, daß ein Midshipman oder Mate auf diese Art übergangen wurde, ohne daß seinerseits irgend ein großer Fehler die Ursache gewesen wäre. Wir müssen ebensowohl auf den Dienst wie auf Aeußerungen der Großmuth bedacht sein.«
»Ich gebe das Alles zu, Mylord, und dennoch hoffte ich, des armen Clinchs Vergehen würden endlich noch vergessen werden.«
»Wenn besondere Gründe hiezu vorhanden sind, will ich sie recht gerne anhören.«
Cuffe erzählte nun Alles, was zwischen ihm und dem Steuermannsmate vorgegangen war, wobei er Sorge trug, Johannen in seiner Erzählung die gebührende Stelle anzuweisen. Nelson begann, mit seinem Armstumpfe zu zucken, und kaum hatte Cuffe die Geschichte zu Ende erzählt, als Clinchs Beförderung auch bereits entschieden war. Der Sekretär erhielt Befehl, die Ordre auszufertigen, und Cuffe brachte sie noch in derselben Nacht, sobald er nach seinem Schiffe zurückkehrte, mit sich auf die Proserpina.
Nelsons Beförderungen wurden – was sich so ziemlich von selbst verstand – von dem Admiralitätsamte sammt und sonders bestätigt. Dabei war auch Clinch mit inbegriffen, der auf diese Art zum dritten Lieutenant auf der Proserpina vorrückte.
Diese Beförderung rief plötzlich ganz neue Gefühle in ihm hervor. Er kleidete sich besser, hütete sich sorgfältig vor der Flasche, hatte mehr auf sich selber Acht, bekam durch besseren Umgang auch feinere Sitten, und hatte im Lauf der nächsten zwölf Monate rasche Fortschritte in seiner Umwandlung gemacht. Nach Ablauf dieser Zeit wurde sein Schiff nach Haus geschickt; Johanna wurde sein Weib, und empfing dadurch – in ihrer Meinung wenigstens – den Lohn für all' ihre tugendhafte Standhaftigkeit.
Cuffe ließ hiemit seine freundlichen Bemühungen für Clinch nicht enden. Er brachte es dahin, daß Letzterer das Kommando eines Kutters bekam, mit welchem er innerhalb Monatsfrist einen Kaper eroberte. Dieser Erfolg verschaffte ihm eine Kanonierbrigg, und mit dieser war er noch glücklicher, denn in einem Bootsgefechte nahm er eine französische Kriegsschaluppe gefangen, welche zwar nur halb bemannt war, aber immerhin als eine hübsche Prise betrachtet wurde. Für diese Eroberung erhielt er die Schaluppe – als neuen Beweis für die Launenhaftigkeit des Glücks, das ihn drei Jahre, nachdem er Mate gewesen war, bereits zum Kommandanten erhoben hatte. Hiebei blieb er jedoch lange Zeit stehen, bis er eine zweite Schaluppe in tapferem Kampfe eroberte, worauf er eine Fregatte zur Belohnung erhielt. Von diesem Augenblicke an haben wir ihn für immer aus dem Gesichte verloren.
Cuffe wurde bald darauf in den Golf von Genua geschickt, und benützte diese Gelegenheit, um den Vicestatthalter und dessen Freund nach ihrer Heimathinsel zu führen. Der Ruf war ihren Thaten vorangeeilt, durch das Gerücht natürlich noch bedeutend übertrieben. Es hieß, die beiden Elbaneser hätten an der Schlacht, in welcher Raoul Yvard fiel, thätigen Antheil genommen, und da Niemand widersprach, so glaubten sogar Manche, Vito Viti insbesondere habe den Kapersmann mit eigener Hand getödtet. Die kluge Zurückhaltung des Podesta ließ die Sache so vollständig in Dunkel gehüllt, daß wir mit Recht zweifeln, ob ein Reisender auf der Insel selbst heutiges Tages mehr davon erfahren würde, als wir dem Leser eben jetzt mittheilen. Kurz – der Podesta galt von da an sein Leben lang für einen Helden – ein Ruhm, welchen er, wie so manche Andere, auf höchst räthselhafte Weise, und vielleicht ebensosehr zu seinem eigenen Erstaunen als zur Verwunderung aller Uebrigen – erlangt hatte.
Ithuel erschien erst viele Jahre später wieder in Amerika. Bei seiner Rückkehr brachte er mehrere tausend Dollars mit sich: wie er diese erlangt hatte, wußte Niemand, und er selbst ließ sich darüber in keine Einzelheiten ein. Er heirathete bald darauf eine Wittfrau und ließ sich häuslich nieder. Sobald er es für zeitgemäß hielt, »experimentirte er Religion«
D. h. nach einem nordamerikanischen Küstenausdrucke – er trat in den geistlichen Stand über.
D. U., und ist in diesem Augenblick, unter dem Namen – ›Diakonus Bolt‹ – ein thätiger Abolitionist, Beschützer der Mäßigkeitssache, des Theetotalismus und ein gefürchteter Popanz aller Uebelthäter.
Ganz anders erging es der sanften, frommen und nicht so weltlich gesinnten Ghita; obwohl sie zu der römischkatholischen Kirche gehörte, während Jener ein Protestant und zwar aus der puritanischen Schule war. Unsere Heldin besaß nur noch wenig auf der Welt, um dessenwillen sie zu leben wünschen konnte: gleichwohl blieb sie bei ihrem Oheim, bis auch dessen Tage gezählt wurden, und zog sich dann in ein Kloster zurück, nicht sowohl um dort irgend einem religiösen Aberglauben zu fröhnen, als vielmehr um ihre Zeit ungestört im Gebet für Raouls Seele hinbringen zu können. Bis zu ihrer letzten Stunde – und sie lebte fast bis in die neueste Zeit – widmete sich dieses reine, fleckenlose Wesen dem gehofften ewigen Seelenheile des Mannes, der sich mit ihren jungfräulichen Neigungen so innig verwoben hatte, daß er seiner Zeit sogar die gerechte Oberherrschaft, welche ihrem erhabenen Schöpfer gebührte, zu stören drohte.
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Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.