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Sechstes Kapitel.

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu,
Und wem sie just passieret, dem bricht sie das Herz entzwei.

(Heine.)

Der Professor weilte erst zwei Tage wieder bei den Seinen, als er dem Oberförster einen Besuch abstattete. Seine gedrückte Stimmung entging dem Freunde nicht.

»Du bist auffallend wortkarg, Feldern,« sagte er. »Hast du mir nichts zu erzählen von deiner Reise?«

»Leider mehr als genug!«

»Du weißt, wie sehr ich an Magdalenens Schicksal Anteil nehme.«

»Vor allem erlaube mir eine Bemerkung, Kurt. Es ist eine schöne Sache um die Großmut der Gesinnung, aber, sobald sie über eine gewisse Grenze hinaus geht, kommt sie in Gefahr, für Schwäche gehalten zu werden. Ich habe es aus Haralds eigenem Munde erfahren, daß er eine beträchtliche Summe von dir erhalten hat.«

»Das ist allerdings richtig. Aber es geschah weder aus Schwäche, noch weil ich meinem Bruder verziehen habe. Zwischen ihm und mir giebt es kein gemeinsames Band mehr, denn wenn ich auch verzeihen könnte, vergessen könnte ich nicht.«

»Und dennoch –«

»Ja, was hat das mit Harald zu thun? Ich gelobte in die erkaltende Hand meines Vaters, seine Stelle bei dem jüngeren Bruder zu vertreten. Die Art, wie er mein Vertrauen mißbraucht hat, überhebt mich dieses Gelöbnisses nicht. Deshalb suchte ich Harald den Anfang, der auch für einen strebsamen Arzt schwer genug ist, zu erleichtern. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ein noch unbekannter Arzt schwer festen Fuß fassen kann. Ueberdies vergißt du eines, was schwer in die Wagschale fällt: die Erinnerung an meinen kurzen Traum von Glück.«

Der Professor reichte ihm bewegt die Hand.

»Ich kenne deinen edlen Charakter zur Genüge,« entgegnete er, »um mir sagen zu müssen, daß meine Worte in den Wind gesprochen sind. Trotzdem muß ich noch einmal auf die Angelegenheit zurückkommen. Die jungen Leute sind jetzt eingerichtet und dürfen sich nicht fortgesetzt auf fremde Hilfe verlassen. Das erschlafft nur den Thätigkeitstrieb, ohne den nichts Rechtes zu stande kommt. Sie erhalten einen allerdings bescheidenen Zuschuß von mir, können aber, wenn sie sich einschränken, auch damit zur Not auskommen. Ich fürchte, wenn du es deinem Bruder gar zu leicht machst, erreichst du weiter nichts, als daß er seinem verderblichen Hange zur Bequemlichkeit nachgiebt, seinen Beruf vernachlässigt und seine Kräfte zersplittert. Es kam mir wenigstens bei meinem kurzen Aufenthalt in Haralds Haus so vor, und ich möchte dir ernstlich raten, meine gut gemeinte Warnung nicht zu mißachten.«

»Ich gestehe ihr vielmehr volle Berechtigung zu, lieber Freund, aber sie ist unnötig. Ich kam nur meiner Pflicht nach, als ich Harald bei Begründung seiner Praxis die erforderliche Summe zur Verfügung stellte. Weiter kann ich weder gehen, noch bin ich gesonnen, es zu thun. Ich habe das mir durch Erbschaft zugefallene Vermögen in zwei gleiche Teile geteilt. Ein Viertel hat mein Bruder bei seiner Verheiratung erhalten, das andere ist für einen besonderen Zweck bestimmt und bleibt vorläufig unberührt. Sei außer Sorge, daß ich es leichtfertig antaste.«

Mit warmem Händedruck verabschiedete sich Feldern von Kurt. Als er zu Hause anlangte, erwartete ihn eine freudige Ueberraschung. Major von Hillern war mit seiner jüngeren Tochter Leonore eingetroffen, um einige Wochen in der kleinen Universitätsstadt zu verbringen.

Feldern hatte seine Schwägerin nur flüchtig kennen gelernt, als er die Bekanntschaft des Majors und Alexandras, seiner nachmaligen Gattin, machte. Leonore, einige Jahre jünger als ihre Schwester, war eine jener blonden Schönheiten, deren Reiz sich erst zeigt, wenn man sie näher kennen lernt. Etwas wie Schüchternheit lag über ihrem ganzen Wesen. Hatte sie aber Vertrauen gefaßt, dann war man überrascht, wie lebhaft sie sein konnte und wie verständnisvoll sie Menschen und Dinge beurteilte.

Mit aufrichtiger Freude bot Feldern den Gästen die Hand. Seinem liebenswürdigen Wesen gegenüber streifte sie schnell ihre Verlegenheit ab und offenbarte einen so reizenden, kindlichen Frohsinn, daß nicht nur die Kinder, sondern auch die Aelteren davon fortgerissen wurden.

Feldern erzählte, wie wundervoll der Wald in seinem jungen Frühlingsschmuck aussehe, und Alexandra schlug vor, am folgenden Tage dem Oberförster einen gemeinschaftlichen Besuch zu machen.

»Einverstanden!« rief der Major, »wenigstens soweit meine Person dabei in Frage kommt. Wie denkst du darüber, Lore?«

»Du weißt ja, Papa, wie sehr ich das Land und den Wald liebe!« antwortete Leonore etwas verlegen.

»Da will ich nur gleich einige Zeilen an Kurt richten, damit er und seine Babette frühzeitig die Vorbereitungen treffen,« sagte der Professor, während die Kinder, vergnügt in die Hände klatschend, im Zimmer umhersprangen.

Kurt erhielt die Nachricht zeitig genug, um seinen Gästen entgegenreiten zu können. Leonore war durch Alexandra flüchtig über das schwere Leid, das ihn getroffen, unterrichtet worden, und als sie nun dem ernsten Manne mit den treuen, ehrlichen Augen vorgestellt wurde, da zog ein unnennbares Mitleid für ihn in ihre junge Seele. Scheu streiften ihre Blicke immer wieder seine männlichen Züge, und fast unbewußt regte sich in ihr der Wunsch, ihm sein schweres Geschick tragen zu helfen.

Inzwischen waren die Kinder jubelnd aus dem Wagen gesprungen. Sie hatten ein Eichhörnchenpaar bemerkt, das lustig und behende an den hochstämmigen Buchen und Eichen entlang kletterte, und baten nun auch Leonore, sie möchte den Wagen verlassen und den Rest des Weges mit ihnen zu Fuß zurücklegen.

»Thue ihnen doch den Gefallen,« sagte Alexandra, »ich würde selbst gern gehen, aber es ist besser, wenn wir drei Alten fahren.«

»Dann muß ich wohl über die Jugend wachen!« meinte Kurt, auf den Scherz eingehend. Ehe noch Leonore Zeit hatte, einen Einwand zu erheben, war er bereits vom Pferde gesprungen und schritt, das Tier am Zügel führend, neben ihr her.

Sie hatte den breitrandigen Strohhut abgenommen, und die durch das goldgrüne Blätterdach lugenden Sonnenstrahlen warfen helle Lichter auf ihr Haar. Ihre elastische, biegsame Gestalt gab der ihres Begleiters nur wenig an Größe nach und kam besonders vorteilhaft zur Geltung, so oft sie sich bückte, um ein am Wegrand stehendes Blümchen zu pflücken.

Als das Forsthaus in Sicht kam, hielt sie in ihrer Hand einen Strauß, den die zarten Finger kaum zu umspannen vermochten, und selbst ihr Hut war mit Blumen gefüllt. Ihr Lachen klang so frisch und melodisch, ihr blaues Auge strahlte eine solche Fülle von Lebenslust aus, daß Kurt meinte, der verkörperte Frühling schreite ihm zur Seite. Der Gang durch den Wald hatte etwas eigenartig Erfrischendes und Belebendes für ihn gehabt.

Der Major, Feldern und Alexandra standen auf dem mit Hirschgeweihen geschmückten Balkon, eilten aber jetzt den Ankommenden entgegen.

»Wir haben uns einstweilen an der herrlichen Aussicht gelabt,« rief Hillern lachend, »hätten aber nun nichts dagegen, wenn uns jetzt ein stärkender Imbiß vorgesetzt würde. Frau Babette hat in der Laube gedeckt, und ich fühle mich sehr geneigt, ihrer Kochkunst alle Ehre anzuthun.«

Lange hatte in der Oberförsterei kein so fröhliches Mahl mehr stattgefunden. Auch Kurt konnte sich dem Reiz der liebenswürdigen Unterhaltung nicht entziehen und lachte herzlich mit über die mit köstlichem Humor vorgetragenen Schnurren des Majors.

Die Kinder waren natürlich kaum zu halten und warteten mit Ungeduld auf das Ende des Mahles. Dann stürmten sie davon. Max, um sich sofort mit den Jagdhunden zu befreunden, und Lise, um sich von Babette den großen Hühnerhof zeigen zu lassen, auf dem eine Henne mit einer Schar Küchlein umherstolzierte und zwei junge, noch ganz kleine Ziegen lustig hin und her sprangen.

»Ich werde auch einmal Oberförster, Onkel Kroneck!« rief Max mit strahlenden Augen und heißen Wangen. »Aber jetzt will ich noch die Rehe und die Hirsche sehen.«

»Dazu ist es heute schon zu spät, mein Junge,« entgegnete Kurt. »Morgen in aller Frühe wäre es möglich, aber du mußt ja heute abend schon wieder fort, um morgen rechtzeitig zur Schule zu kommen.«

»Aber Onkel, morgen ist ja Sonntag!« rief Max lachend. »Da ist doch keine Schule!«

»Du hast recht, Junge,« erwiderte der Oberförster, »das ist ja prächtig! Meine Damen und Herren, was meinen Sie zu dem Vorschlage, Ihren Besuch bis morgen abend auszudehnen? Raum genug ist vorhanden!«

»Leider kann ich deine liebenswürdige Einladung nicht annehmen,« wandte der Professor ein. »Ich habe noch eine sehr wichtige schriftliche Arbeit fertig zu stellen, bevor ich meine Vorlesungen wieder aufnehme.«

»Das thut mir herzlich leid! Aber deine Familie kannst du doch hier lassen!«

»Mich nicht!« rief Alexandra. »Ich bilde mir ein, Theo unentbehrlich zu sein, und bin stolz darauf. Aber Papa, Lore und die Kinder könnten bleiben.«

»Na, ich –« wollte der Major einwenden, aber Alexandra hielt ihm lachend den Mund zu und sagte:

»Dir ist ein Tag in der herrlichen, kräftigen Waldluft sehr dienlich, und du solltest unseres Freundes Anerbieten annehmen.«

»Sie würden mir eine aufrichtige Freude damit bereiten,« versicherte Kurt. »Was hindert Sie denn überhaupt, eine Woche oder noch länger hier zu bleiben? Die Kinder lasse ich morgen abend nach Hause fahren, und Sie, Herr Major, bleiben mit Ihrem Fräulein Tochter hier.«

»Der Vorschlag ist freilich sehr verlockend, und wenn wir Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, so wäre ich gern bereit, darauf einzugehen. Was meinst du dazu, Lore?«

»Ich meine, daß wir nichts zu versäumen haben und das freundliche Anerbieten des Herrn Oberförsters wohl annehmen dürfen,« entgegnete Leonore in freudiger Erregung.

Am folgenden Morgen, pünktlich um vier Uhr, trat Kurt ans Fenster, um nach dem Wetter zu schauen. Feuerrote Wolken zogen leicht und langsam über das tiefe Blau des Himmels, nur am Waldsaume flatterten dünne Nebelschleier dahin. Der junge Tag versprach wunderbar schön zu werden. Plötzlich stutzte Kurt. Sein Blick war auf eine schlanke Frauengestalt gefallen, die leichtfüßig durch den Garten schritt. Keine andere als Leonore von Hillern konnte es sein. Jetzt blieb sie bei einem Strauche voll taufeuchter Rosen stehen und näherte das Näschen einem vollerblühten Kelch, um gleich darauf ihren Weg fortzusetzen und hinter einigen großen Fliederbüschen zu verschwinden.

Kurt von Kroneck blickte noch immer nach dem Rosenstrauch hin. Leonore hatte nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem Mädchen, das er einst so heiß geliebt, und das er heute noch liebte. Und doch hatte sie vor seine Seele ein Bild gezaubert, dessen Mittelpunkt die eigenartige Schönheit Magdalenens bildete. Wie bleiche Schatten standen die alten Wünsche, die gestorbenen Hoffnungen aus ihrem Grabe wieder auf. Wenn das blühende Geschöpf dort unten Magdalene, wenn sie sein eigen wäre, wenn er hinabstürmen könnte, um sie an seine Brust zu drücken und dann Seite an Seite mit ihr durch den Garten zu wandeln! Welch ein Gedanke! Welch ein wonnesames Bild!

Vorbei, vorbei! – Vorbei für immer!

In seinen Betrachtungen wurde er durch Babette gestört, die mit der Meldung eintrat, daß sie den Frühstückstisch auf dem Balkon gedeckt habe. Als er sich dorthin begab, glänzten ihm Leonorens freundliche Augen wie zwei Sonnen entgegen, während der Major ihm entgegenrief:

»Was sagen Sie zu unserer Pünktlichkeit, Herr Oberförster! Die Kinder schliefen noch vor einer Viertelstunde, und wenn ich sie nicht aus den Federn geholt hätte, sie wären sicherlich noch darin. Aber meine Lore, ja, auf die kann man sich verlassen. Steht immer mit der Sonne auf, das Mädel! Ein echtes Soldatenkind!«

»Ich habe bereits Ihren Garten ein wenig geplündert, um Papas Neigung für Blumen gerecht zu werden,« sagte Leonore, auf ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen deutend, das neben des Majors Tasse lag.

»Warum brachen Sie nicht auch einige Rosen?« erwiderte der Oberförster. »Freilich sind viele noch nicht erblüht, aber für ein bescheidenes Sträußchen hätten Sie doch wohl die genügende Zahl gefunden.«

»Aber, Herr Oberförster! Blumen, die mit solcher Sorgfalt gepflegt werden und offenbar zu den edelsten ihrer Art gehören, hätte ich pflücken sollen?«

»Warum denn nicht, liebes Fräulein? Sie hätten es um so eher thun können, als die Rosen mir keine Freude mehr machen. Trage ich mich doch sogar mit der Absicht, sie zu entfernen und Obstbäumchen dafür anzupflanzen.«

»Das wäre ja aber außerordentlich grausam, Herr Oberförster! Blumen – –«

Sie vollendete nicht, ein verstohlenes Zeichen ihres Vaters bemerkend. Als Kurt gleich darauf sich erhob und das Zimmer verließ, sagte der Major:

»Berühre diese Angelegenheit nicht wieder, mein Kind! Solche Erinnerungen sind wie eine Wunde, die nicht heilen will!«

Das Köpfchen traurig gesenkt, sann Lore über das eben Gehörte nach, als plötzlich der Oberförster zurückkehrte und einen Strauß dunkelroter Rosen in ihren Schoß legte. Befangen stammelte sie einige Worte des Dankes und befestigte zwei der schönsten Centifolien an ihrem Gürtel, während sie die übrigen in ein großes Spitzglas stellte. Dabei konnte sie sich einer wehmütigen Empfindung nicht erwehren. Wie viele einsame Menschen giebt es nicht, die mit einem Herzen voller Liebe doch ungeliebt durch die Welt gehen, und wieviel andere, die für das Geringste dankbar sein würden, aber endlich selbst kalt, hart und verschlossen werden, weil sie stets vergebens die Hände nach einem Fünkchen Liebe ausgestreckt haben. War es nicht eigentlich ein Wunder, daß der Oberförster trotz seiner herben Enttäuschungen ein warmes, gütiges Gemüt sich bewahrt hatte; wäre es nicht ganz natürlich gewesen, wenn er sich von der Menschheit zurückgezogen und kalt und unzugänglich geworden wäre?

Während Leonore solchen Gedanken nachhing, empfand sie einen gewissen Haß gegen Magdalene. Wie klein, wie engherzig erschien sie ihr heute! Kurt war kein schöner Mann und hatte auch die erste Jugend hinter sich; aber welche Manneskraft sprach aus seiner Erscheinung, welch treues Gemüt aus seinen Augen, welch starker Sinn aus allem, was er sagte und that!

Während der Fahrt, die nach einem entfernten Waldgebiete unternommen wurde, blieb Leonore immer noch im Banne dieser Betrachtungen, so daß der Major sein Erstaunen über das veränderte Wesen seiner Tochter nicht unterdrücken konnte.

»Was in aller Welt hast du denn heute, Mädel?« fragte er. »Hast wohl gar noch nicht ganz ausgeschlafen?«

»Wo denkst du hin, Papa!« erwiderte sie, den Strohhut abnehmend und mit der freien Hand durch das blonde Haar gleitend. »Ich sehe und höre hier nur so manches, was mir neu ist und mich vollständig gefangen nimmt. Wenn eine Stadtpflanze wie ich plötzlich aus den engen Gassen hinauskommt in den herrlichen, majestätischen Wald, so wird sie ganz eigentümlich berührt. Es wirkt wie junger, berauschender Wein. Mir ist's, als müßte jeden Augenblick ein Feenschlößchen aus dem Waldesgrün hervortauchen, in das wir einzögen.«

Der Oberförster lachte und sah Leonoren freundlich ins Auge.

»Leider muß ich Sie Ihren romantischen Gedanken entziehen,« sagte er, dem Kutscher ein Zeichen zum Halten gebend. »Wir sind hier an Ort und Stelle und müssen aussteigen. Sehen Sie dort das kleine schilfumstandene Wasser? Dahin kommt das Wild, um seinen Durst zu stillen. Wir müssen uns nun recht ruhig verhalten, denn der Hirsch ist äußerst vorsichtig und mißtrauisch.«

Er wies während dieser Worte seinen Gästen ein stilles, schattiges Plätzchen an, wo man, hinter Gebüsch versteckt, auf einigen gefällten Baumriesen bequem Platz nehmen konnte.

Tiefes Schweigen herrschte rings herum, nur aus weiter Ferne klang das Hämmern eines Spechtes matt herüber. Plötzlich rauschte es in den Blättern des Unterholzes, und aufmerksam umherspähend trat ein Hirsch heraus, dem bald ein zweiter folgte. Nur mit Mühe vermochten die Kinder beim Anblick der schöngebauten Tiere einen Ausruf der Freude zurückzuhalten. Als jetzt aber ein ganzes Rudel Hirsche den beiden Führern folgte, darunter auch eine Hirschkuh mit zwei Jungtieren, da war es um ihre Zurückhaltung geschehen. Jubelnd klatschten sie in die Hände – im nächsten Augenblick aber war das liebliche Bild verschwunden.

Leonore fand zuerst die Worte wieder: »O wie schade!« rief sie, überwältigt von diesen Eindrücken. »Wie schön muß es sein, immer in diesem heiligen, köstlichen Waldesfrieden leben zu können!«

Schweigend wandte Kroneck sich ab. Wie glücklich hätte er sein können, wenn auch Magdalene sich zu der Ansicht dieses jungen Mädchens bekannt hätte! Aber an ihr Ohr war die Sprache des Waldes nicht gedrungen, ihr Herz hatte sein Zauber nicht berührt.

Ein herber Zug legte sich um seine Lippen und machte nur einem müden Lächeln Platz, als Max ihn fast mit Thränen in den Augen bat, die Tiere noch einmal kommen zu lassen.

»Das geht nun nicht, mein guter Junge,« sagte er mild. »Wir würden stundenlang auf ihr Wiedererscheinen warten müssen. Aber,« fuhr er fort, sich zu dem Major wendend, »wenn es Ihnen recht ist, führe ich Sie jetzt an einen Punkt, von dem aus man einen prachtvollen Blick auf die Stadt hat.«

»Eine ganz ausgezeichnete Idee!« rief der Major. »Aber wie wär's, wenn wir erst ein wenig frühstückten? Die Waldluft, finde ich, reizt den Appetit, und wenn man seit fünf Uhr nichts genossen hat, als – –«

»So hat man allen Anspruch auf eine kleine Magenstärkung,« fiel ihm Leonore lächelnd ins Wort, »zumal wenn man solch gesegneten Appetit hat wie du.«

Leichtfüßig eilte sie zum Wagen und kam bald mit einer blütenweißen Serviette zurück, die sie über den Stumpf einer Riesenbuche breitete, während der Diener einen mächtigen Proviantkorb heranschleppte, den sie fürsorglich gefüllt hatte.

Fröhlich lagerte sich die kleine Gesellschaft zu Füßen des improvisierten Tisches, und so heiter und ungezwungen floß ihre Unterhaltung, daß sie gar nicht merkten, wie die Zeit dahinflog, und höchst erstaunt waren, als der Major plötzlich rief:

»Na, meine Herrschaften, Frau Babette wird uns wohl einen netten Empfang bereiten, wenn wir nach Hause kommen. Um Ein Uhr wollte sie das Mittagsessen bereit halten, und jetzt fehlen nur noch zehn Minuten daran.«

»Aber Papa,« meinte Leonore mit neckischem Lachen, »denkst du denn schon wieder ans Essen?«

»Das gerade nicht, du böses Kind, aber –«

»Ihr Herr Vater hat vollständig recht, mein Fräulein,« unterbrach ihn der Oberförster. »Mit der würdigen Frau Babette ist thatsächlich nicht gut Kirschen essen, wenn man die für die Mahlzeit festgesetzte Stunde versäumt. Darum schlage ich vor, wir brechen jetzt auf. Wenn wir die Pferde tüchtig laufen lassen, sind wir in einer halben Stunde daheim.«

Freundlich wie der erste Teil floß auch der zweite Teil des Tages dahin, und ebenso verliefen die folgenden Tage in schönster Harmonie. Kurt und seine Gäste fanden von Stunde zu Stunde mehr Gefallen aneinander, und als endlich der Major und seine Tochter das trauliche Waldidyll verließen, sah der Oberförster sie mit wehmütigem Bedauern scheiden. Hatte er doch eine Woche lang beinahe in der süßen Täuschung gelebt, ein schönes, friedevolles Familienleben zu führen. Nun war es wieder öde und einsam um ihm, und in dem alten, weitgedehnten Gebäude herrschte wie zuvor eine stille Trauer.

Allerdings war Kurt von Kroneck eine viel zu energische, thatkräftige Natur, um seinen Geist auf die Dauer von den Banden des Trübsinns in Fesseln legen zu lassen. Davor bewahrten ihn schon die Mühen und Anstrengungen seines Berufes. Aber wenn er abends durch den blühenden Garten oder durch die vielverzweigten Gänge seines Hauses schritt, kam es ihm vor, als sei er dem gespenstischen Mönch begegnet, und unwillkürlich mußte er an den Schluß jenes bekannten Gedichtes denken, der da lautet:

Die ganze Luft ist wund und weh,
Der Rappe schlendert in den See.

Aber solcher Stimmungen wurde er immer wieder Herr, denn sein starker Wille duldete sie nicht und verscheuchte sie, wie der erste Strahl der Morgensonne die krächzenden Vögel der Nacht verscheucht.

Wiederholt aufgefordert, entsprach der Oberförster nun auch des Majors Einladung. Und er bereute es nicht. Er fühlte sich wohl in der stillen, bescheidenen Häuslichkeit der beiden lieben Menschen, die in bester Eintracht miteinander lebten und gegenseitig unablässig bemüht waren, sich eine Freude zu machen.

Das Freundschaftsverhältnis zwischen dem Oberförster und von Hillerns nahm noch festere Formen an, als der Major nach Verlauf eines Jahres den Bitten Alexandras nachgab und in der kleinen Universitätsstadt dauernd Aufenthalt nahm. Hier hatte der Oberförster so recht Gelegenheit, das freundliche Walten Leonorens kennen zu lernen. Denn so einfach und bescheiden es in dem Hause des lediglich auf seine Pension und die Zinsen eines kleinen Kapitals angewiesenen Majors zuging, so verstand es Leonore doch, ihrem Vater ein äußerst behagliches Heim zu schaffen. In allem, was ihre eigene Person betraf, von seltener Anspruchslosigkeit, wußte sie mit den geringen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, nicht nur vortrefflich zu wirtschaften, sondern auch noch Ersparnisse zu machen, um des Vaters bescheidenen Neigungen Rechnung zu tragen. So machte das ganze Hauswesen den Eindruck der Wohlhabenheit, und der Major kam niemals in die Lage, auf einen seiner Wünsche verzichten zu müssen. Nachdem sein Leben von mannigfachen Schicksalen bewegt gewesen, glich sein Alter einem sonnigen, ruhigen und ungetrübten Herbsttage.

In mancher Hinsicht war der alte Soldat von einer fast kindlichen Naivetät. Er fragte nie, wie Leonore es anfing, mit den geringen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln das Hauswesen so behaglich zu gestalten, sondern verließ sich ganz auf den praktischen Sinn seiner Tochter, die stets dafür sorgte, daß des Majors Gewohnheiten kein Abbruch geschah. Kurt hingegen bemerkte sehr bald, daß Leonore um des Vaters willen sich selbst Einschränkungen auferlegen mußte. Ihre Kleider waren so einfach wie nur möglich, und ihre schlanken Finger trugen die Spuren der Nähnadel deutlich an sich, so daß es keinem Zweifel unterlag, daß sie die Herstellung ihrer Toiletten zum größten Teile selbst besorgte.

Ihre selbstlose, opferwillige Kindesliebe hatte für Kurt etwas ungemein Rührendes. Eine so gute Tochter muß auch eine gute Frau sein, sagte er sich häufig, dachte dabei aber nie daran, etwa selbst um Leonore zu werben. Er kam sich ihr gegenüber wie ein alter Mann vor, hinter dem alles weit, endlos weit zurückliegt, wie ein abgestorbener Baum, dessen Zweige nie wieder Blätter und Blüten treiben.

Des Majors Tochter empfand und urteilte allerdings ganz anders. Wenn der Oberförster erwartet wurde, flog sie wie ein kleiner, unruhiger Vogel im Hause umher und suchte den bescheidenen Räumen ein fast festliches Aussehen zu verleihen. Gegen ihre sonstige Gewohnheit stand sie an solchen Tagen auch länger vor dem Spiegel und schmückte das schlicht gescheitelte Haar mit einer Blume oder einer bunten Bandschleife, nur weil, ihr selbst fast unbewußt, der Wunsch in ihr lebte, ihm zu gefallen.

Einem andern Manne wäre das schwerlich entgangen. Kurt aber war noch so sehr von den Erinnerungen an seinen kurzen Liebestraum umfangen, daß er kein Ange dafür hatte. Er sah Leonore gern, aber auch ihre heitere Nähe scheuchte nicht den stillen, grüblerischen Ernst, dem die frühere Schwermut gewichen war. Leonore war tiefbetrübt, daß es ihr nicht gelingen wollte, ihm die gleichmäßige Ruhe des Herzens wiederzugeben. Oftmals, wenn sie allein war, führte sie das Taschentuch an die feucht werdenden Augen, natürlich nur weil es – wie sie sich selbst einredete – jedem fühlenden Herzen weh thun mußte, wenn ein guter, braver Mensch über seine rücksichtslos niedergetretenen Wünsche nicht hinwegzukommen vermochte und für die ganze schöne Gotteswelt und alles, was sie zu geben im stande war, unempfänglich schien.


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