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Elftes Kapitel.

In seinem Arbeitszimmer, wohin Harald sich begab, fand er unter anderen Briefen auch ein Schreiben des Professors.

»Ich habe mich mittlerweile zwar daran gewöhnt,« schrieb Feldern, »von Euch nur spärliche Nachrichten zu erhalten, aber jetzt dauert mir die Pause doch etwas zu lange. Seit Monaten bitte ich Euch, mir mitzuteilen, wie es Euch geht, ohne auch nur eine Zeile von Euch als Antwort erhalten zu haben. Ich fürchte, daß Eurem fortgesetzten Schweigen eine tiefere Ursache zu Grunde liegt. Wäre es mir möglich, mich von meinen Arbeiten frei zu machen, so würde ich schon bei Euch sein, um nach den Gründen Eures Verhaltens zu forschen. Ich bin aber leider nicht Herr meiner Zeit. Alexandras Besuch verbietet sich von selbst. Ich bitte Euch daher nochmals dringend um ausführliche Mitteilung, da ich mir sonst auf irgend einem andern Wege Aufklärung verschaffen müßte.«

Harald warf einige Zeilen aufs Papier, die Magdalenens Erkrankung meldeten und ihn selbst als mit Arbeit überhäuft entschuldigten, und gab das flüchtige Schreiben zur Post. Feldern erhielt es, als er gegen abend im Begriff war, nach dem Forsthause zu fahren, wo Alexandra mit Leonore und den Kindern ihn erwarteten.

Die Mitteilung erschreckte ihn. Trotz allem, was vorgefallen war, hing er mit hingebender Liebe an seiner ältesten Tochter, und daß sie sich ihm so sehr entfremdet hatte, warf trübe Schatten auf den stillen, sonnigen Lebensabend des Gelehrten.

»Harald versichert ja, sie sei schon wieder auf dem Wege der Besserung,« tröstete ihn Alexandra, nachdem er den Brief vorgelesen hatte.

»Wenn ich mich nur mit eigenen Augen davon überzeugen könnte, daß dem so ist,« entgegnete er. »Aber gerade jetzt –«

»Wenn es dir recht ist, so reise ich hin.«

»Auf keinen Fall, Alexandra! Das würde ich nun und nimmermehr zugeben.«

Leonore, die am Fenster saß und an einem Hauskäppchen für den Major arbeitete, warf einen verstohlenen Blick auf Kurt. Es fiel ihr auf, daß er kein Wort äußerte.

Der Oberförster hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und sah ernst und nachdenklich vor sich hin. Erst als Feldern sich mit der Frage an ihn wandte, wie er über die Sache denke, brach er sein Schweigen und meinte zögernd:

»Ich hoffe, daß mein Bruder in diesem Falle die Wahrheit sagt. Da du dich jedoch beunruhigt fühlst, ohne daß du dir persönlich Beruhigung schaffen kannst, so möchte ich dir einen Vorschlag machen.«

Gespannt sah der Professor ihn an, während Kurt fortfuhr:

»Geschäftliche Angelegenheiten führen mich in den nächsten Tagen in die Nähe von H. Ich würde es vermieden haben, die Stadt selbst zu berühren, aber unter den augenblicklichen Verhältnissen wird es das beste sein, wenn ich mich persönlich nach dem Befinden deiner Tochter erkundige.«

»Ja, wenn du das thun wolltest,« rief der Professor erfreut, »so würde ich dir diesen Freundschaftsdienst ewig danken. Aber darf ich ein solches Opfer auch von dir annehmen, Kurt?«

Eine heiße Röte stieg in des Oberförsters Wangen auf.

»Es ist kein Opfer,« sagte er leise, einen scheuen Blick auf Leonore werfend, die gerade ihre Arbeit zusammenrollte und sich erhob.

»Bist du mit dem Käppchen schon fertig?« fragte sie Alexandra.

»Nein, doch die Hitze ist so lästig, daß mir alles vor den Augen verschwimmt. Ich will den Garten aufsuchen.«

»Ich gehe mit, Tante Lore!« rief Max.

»Nein, bleibe nur hier!« erwiderte sie kurz und eilte leichtfüßig hinaus.

So schroff hatte ihre Abweisung geklungen, daß der jugendliche Neffe ein ganz bestürztes Gesicht machte. Alexandra schaute der Schwester erstaunt nach.

Leonore fühlte, daß sie sich von der Erregung des Augenblicks hatte hinreißen lassen.

»Ich werde den armen Burschen dafür entschädigen müssen,« sagte sie leise zu sich selbst, als sie in den Garten trat, und ein mattes Lächeln spielte um ihre Lippen. Doch gleich darauf legte sich ein herber Ernst auf ihr liebliches Gesicht, und die tiefen Seufzer verrieten, daß ein schwerer Kummer sie drückte. An den Rosen, die der Oberförster in der glücklichsten Zeit seines Lebens gepflanzt hatte, blieb sie stehen. Sie dufteten so betäubend, als wüßten sie, daß der nahe Herbst ihre Pracht bald vernichten würde und als müßten sie deshalb den ganzen Zauber ihres kurzen Blumenlebens berauschend wirken lassen.

Sinnend ruhte Leonorens Blick auf einer vollerschlossenen Theerose, in deren Kelch sich ein kleiner goldgrüner Käfer behaglich niedergelassen hatte. Des jungen Mädchens Herz war gut und weich. Keinem Bettler hätte es eine Gabe verweigern, keinen Wurm, der im Staube kroch, zertreten können. Aber wenn sie an Kurts ehemalige Braut dachte, so geschah es mit unüberwindlichem Groll. Waren doch gerade die beiden Menschen, die sie nächst dem Vater am meisten liebte, Alexandra und Kurt, von Magdalene tief verletzt worden.

Ja, sie liebte Kurt, sie konnte und wollte sich's nicht länger verhehlen. Von Tag zu Tag hatte sich sein Bild ihrem Herzen tiefer eingeprägt, und wenn sie bisher geglaubt hatte, daß es mehr Mitleid wäre, was sie zu ihm hinzöge, von heute an wußte sie's, daß sie ihn liebte, daß sie an ihm hing mit der ganzen Innigkeit, deren ihr junges Herz fähig war. Wie ein Stich war es ihr durch die Brust gegangen, als er die Absicht aussprach, Magdalene zu besuchen, und auch jetzt noch wühlte ein dumpfer Schmerz in ihr.

Und war ihre Angst nicht berechtigt? In der letzten Zeit hatte es ihr scheinen wollen, als sei Kurt nicht mehr so ernst und verschlossen wie früher, als weiche die stille Trauer, die auf seinem Wesen lag, mehr und mehr von ihm. Bestand nicht die Gefahr, daß jetzt, da er Magdalene wiedersehen sollte, von neuem in ihm die Erkenntnis des begrabenen Glückes lebendig würde?

Leonore setzte sich auf ein verstecktes Bänkchen und preßte die Hände auf die stürmisch wogende Brust. Sie hätte jetzt nicht mit den anderen zusammen sein mögen. Sie hätte fürchten müssen, daß etwas von der schmerzlichen Bitterkeit, die ihre Seele erfüllte, den Weg über die in hilfloser Angst zuckenden Lippen finden würde.

Allmählich aber ward sie ruhiger. War es die traumhafte, nur ab und zu durch das verlorene Zwitschern eines Vogels unterbrochene Stille der Natur ringsumher, die ihren Frieden in des jungen Mädchens Herz trug? Leonore hätte es selbst nicht zu sagen vermocht. Sie wußte nur, daß sie ihn liebte. Nach und nach atmete sie freier, das beklemmende Angstgefühl schwand mehr und mehr und ihre Augen leuchteten wie sonst in heiterem Frohsinn.

Plötzlich schrak sie empor. Ein leises Rauschen hinter ihrem Rücken und das Geräusch knackender Zweige hatte sie belehrt, daß sie nicht allein war, und als sie den Kopf wandte, sah sie sich Kurt gegenüber, der mit herzlichem Lächeln auf sie niederblickte.

Verwirrt und beklommen stand sie vor ihm, und die Sorge, daß er in ihren Augen die Spuren der vergossenen Thränen entdecken könnte, war so stark in ihr, daß sie einen Augenblick daran dachte, sich seinem Anblick durch die Flucht zu entziehen. Aber ehe sie noch dem Gedanken die That folgen lassen konnte, trat Kurt näher, und ihre kleine Hand in die seine nehmend, sagte er mit liebevoller Stimme:

»Also hier muß man Sie suchen, Fräulein Lorchen? Warum verstecken Sie sich in dieser Einsamkeit, da Sie doch wissen, daß uns der Sonnenschein fehlt, wenn Sie nicht bei uns sind?«

Sie zog leicht errötend ihre Hand aus der seinen und sagte unsicher und zögernd:

»Ich wollte – ich habe – es war so schwül in den Zimmern, und die Schönheit des Sommerabends hielt mich hier fest.«

»So sind Sie mir gewiß böse, daß ich Sie gestört habe?«

»Nein, Herr Oberförster, ich bin Ihnen nicht böse. Es ist wohl auch Zeit, daß ich wieder zurückkehre.«

»So kommen Sie, Fräulein Lorchen!«

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Ihr Herz pochte fast hörbar. Aber noch lebte die Liebe zu Magdalene in ihm. War's Liebe? War's Mitleid? Die alten Träume fingen wieder an, ihn zu umgaukeln. Nicht Leonore sah er neben sich her schreiten, sondern Magdalene, nicht jener galt sein Blick, sondern dieser. Erst die duftenden Rosen, an denen sie jetzt vorübergingen, lösten den Bann, in dem seine Gedanken befangen waren, und riefen ihn in die Gegenwart zurück.

Leonore wollte den Weg nach der Freitreppe einschlagen, aber Kurt hielt sie zurück.

»Darf ich Sie bitten, mir eine Frage zu beantworten, Fräulein Lorchen?«

Sie nickte stumm.

»Warum verließen Sie so plötzlich das Zimmer? Habe ich Ihnen wehe gethan?«

Sie blickte hilflos zur Seite.

»Müssen Sie die Reise machen?« kam es endlich schüchtern von ihren Lippen.

»Ja.«

Leonoren war es, als ob eine eisige Hand an ihr Herz griff. Ein Gefühl unsagbaren Wehs erfüllte sie. Sie hätte nicht die Kraft gehabt, es zu verbergen, wäre nicht in diesem Augenblick Alexandra die Freitreppe herabgekommen und auf sie zugeeilt.

»Wo seid ihr nur so lange geblieben?« sagte die junge Frau. »Es ist ja Zeit, daß wir nach Hause fahren.«

Kurt ließ den Jagdwagen anspannen.

»Wann gedenkst du zu fahren?« fragte Feldern einsteigend.

»Spätestens übermorgen!« erwiderte der Oberförster und half Alexandra in den Wagen.

Er wandte sich in der gleichen Absicht zu Leonore. Aber sie schien die Hand, die er ihr entgegenstreckte, nicht zu sehen. Leicht, ohne seine Unterstützung in Anspruch zu nehmen, schwang sie sich in den Wagen. Nach wenigen Sekunden war das Gefährt im Dunkel des Waldes verschwunden.

*

In flammender Pracht tauchte die Sonne hinter den Bergen empor, als der Oberförster den ziemlich weiten Weg nach dem Bahnhofe antrat. Er hatte es vorgezogen, den Weg zu Fuß zurückzulegen, um sich in der Ruhe des Waldes zu sammeln und sich klar zu machen, in welcher Weise er Magdalenen oder Harald gegenübertreten sollte.

In den letzten Monaten – das fühlte er selbst – hatte sich in seinem Innern eine seltsame Wandlung vollzogen. Während er früher an Magdalene nicht denken konnte, ohne daß sein Herz sich krampfte und bitterer Schmerz um sein verlorenes Glück in ihm wühlte, bereitete ihm die Erinnerung an sie jetzt keine Qual mehr. Er vermochte jetzt ruhig und gefaßt an sie zu denken. Wie er jetzt so einsam durch den Wald schritt, sah er im Geiste Magdalene vor sich, halb Kind, halb Weib, in jener jungfräulichen Schönheit, die für jeden etwas so unendlich Anziehendes hat. So war sie gewesen, als sie sich ihm verlobte, so lebte sie in seiner Erinnerung. Ging es nicht über seine Kraft, was er sich jetzt zumutete?

Ein müdes Lächeln irrte um seine Lippen, aber energisch warf er den Kopf zurück. Nein, es ging nicht über seine Kraft, er fühlte sich stark genug, ihr gegenüberzutreten. Er liebte sie wohl noch, aber seine Liebe war frei von allen persönlichen Wünschen. In schwerem Kampfe hatte er Jahre lang mit seinen Hoffnungen gerungen, doch er war als Sieger aus diesem Kampfe hervorgegangen.

Der Schrei eines Falken klang aus hoher Luft an sein Ohr. Kurt folgte dem Vogel mit den Augen, bis er in nebelhafter Höhe seinem Blicke entschwand. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. Stolz und frei wie der Falk, so fühlte auch er sich – frei von jener verzehrenden Sehnsucht, die er all die Jahre mit sich herumgetragen hatte. Tauchte da nicht plötzlich ein blondes Köpfchen mit sonnig heiteren Augen vor ihm auf? Und träumerisch löste sich von seinem Munde die Frage:

»Ob auch meinem sehnenden Herzen das Glück noch kommen wird?« – –

Kurt stand vor dem Hause, in dem sein Bruder wohnte. Einen Augenblick zögerte er noch. Dann aber zog er energisch an dem gelben Metallknopf.

Der Diener öffnete.

»Ist der Herr Doktor zu sprechen?«

»Augenblicklich nicht, er wird jedoch bald zurückerwartet.«

Er folgte dem Diener in das Wartezimmer. Eine Frage nach dem Befinden Magdalenens schwebte ihm auf den Lippen, aber er unterdrückte sie. Wozu brauchte der Mensch zu wissen, wer er war und was ihn herführte.

Zerstreut musterte er die vornehme Einrichtung des Raumes, blätterte in den goldschnittgebundenen Büchern, die auf dem Tische lagen, und betrachtete die wertvollen Oelgemälde, die an den Wänden hingen. Plötzlich wandte er den Kopf. Er glaubte gehört zu haben, daß jemand leise die Klinke der zum Nebenzimmer führenden Thür niederdrückte, und jetzt sah er, daß thatsächlich die Thür geöffnet war. Ein halberstickter Schrei veranlaßte ihn, näher heranzutreten und die Thür ganz zu öffnen. Aber fast entsetzt taumelte er zurück. War dieses blasse Weib, das da wie gelähmt vor ihm stand, war das wirklich jenes holde, blühende Geschöpf, das ihm das Teuerste auf Erden gewesen?

Aber ihm blieb keine Zeit, sich Betrachtungen hinzugeben. Magdalene griff wie geistesabwesend mit den Händen in die Luft, und als er, befürchtend, sie könne zu Boden stürzen, den Arm stützend um sie legte, rang es sich fast röchelnd aus ihrer Kehle:

»Ich bitte dich – laß mich, Kurt! Niemals hätten wir beide uns wieder begegnen sollen.«

Kurt vermochte nicht zu antworten.

»Ich habe schlecht an dir gehandelt. Du mußt mich hassen.«

Mit einem Blick unsagbarer Wehmut sah er ihr in die Augen.

»Lasse, was einst gewesen ist, ruhen,« preßte er leise hervor, »beantworte mir eine einzige Frage: Hast du an Haralds Seite das erhoffte Glück gefunden?«

Immer größer wurden ihre Augen, in die sich alles Leben geflüchtet zu haben schien. Wie zwei leuchtende Kugeln starrten sie ihm entgegen, und dann kam die Antwort, langsam – leise:

»Ich bin unglücklicher, als du es jemals um meinetwillen werden konntest. Dein Leid war unverschuldet, das meinige ist verdient.«

»Verdient? Magdalene, Gott weiß, daß ich dir alles vergeben habe und nichts inniger wünsche als dein Glück.«

»Kannst du mir denn verzeihen, Kurt? Ich bin solcher Ergebung, solchen Edelmutes nicht fähig,« murmelte sie, mit einem scheuen, unsteten Blick.

Kurt vermochte es nicht, ihr zu antworten, doch in seinen Augen las sie, daß er ihr verziehen habe.

Vor seiner Herzensgüte schmolz der starre Trotz, wie das Eis unter dem warmen Sonnenstrahl. In heiße Thränen ausbrechend, reichte sie ihm die Hand, um ihm dann in hastigen, abgerissenen Worten ihr kurzes Glück an Haralds Seite zu schildern.

Den Kopf in die kleine Hand gestützt, vergaß sie fast, zu wem sie sprach, daß sie überhaupt zu einem andern sprach. Sie schrie eben ihren Jammer, ihr unsägliches Herzeleid in die Welt hinaus, weil sie sonst daran zu Grunde gegangen wäre.

»Er ist deiner nicht wert,« sagte der Oberförster kurz, und als sie in ihrem Schweigen verharrte, fuhr er fort: »Ich denke gewiß nicht leichtfertig über die Ehe, aber wäre es nicht besser, wenn diese Ehe gelöst würde?«

»Nein, denn ich liebe ihn.«

»Du klagst Harald der Herz- und Gewissenlosigkeit an.«

»Ja, aber ich liebe ihn.«

»Du liebst ihn, trotzdem er dir diese Liebe so wenig lohnt?«

»Ich kann nicht anders, Kurt. Meine Liebe gehört ihm, und so lange ich lebe, muß ich ihn in meiner Nähe haben, muß ich wissen, daß ich ihn morgen sehen kann, wie ich ihn heute sehe.«

Kurt antwortete nicht. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Hier war alles vergeblich! Ja, er fühlte, daß sie seinen tröstenden Zuspruch ebenso zurückgewiesen haben würde, wie seinen Vorschlag, sich von Harald zu trennen. So mußte denn das Schicksal seinen Lauf nehmen!

Zum ersten Male zog er einen Vergleich zwischen Magdalene und Leonore. So verschieden beide in ihrem Aeußeren waren, so verschieden war auch ihr Inneres. Hier eine verzehrende Liebe, um so schwerer verständlich, als sie einem Unwürdigen galt – dort eine Reinheit des Gemüts und ein Seelenadel, die etwas ungemein Friedliches und Beruhigendes hatten.

Ein plötzliches Gefühl des Heimwehs kam über ihn, und er zögerte nicht, ihm zu folgen. Noch einmal umfaßte er das unglückliche Weib mit einem Blick unsagbaren Mitleids, dann erhob er sich und sagte:

»Meine dienstlichen Verpflichtungen rufen mich leider zurück, Magdalene. Ich kann Harald nicht erwarten, und vielleicht ist es auch besser, wenn ich gehe, ohne ihm begegnet zu sein. Was soll ich deinem Vater sagen?«

»Nichts von dem, was ich dir erzählte.«

»Hat er nicht das erste Anrecht auf volle Aufrichtigkeit?«

»Vielleicht. Aber trotzdem bitte ich dich – kein Wort zu ihm!«

»Wenn du es wünschest! Aber vergiß nie, daß du noch eine Heimat hast.«

»Ich habe keine, seit der Platz meiner Mutter von einer Fremden besetzt ist.«

Da war es wieder, das eigentümliche, stechende Funkeln der schwarzen Augen.

»Du thust ihr bitteres Unrecht!«

Betrübt reichte Kurt ihr die Hand zum Abschied.

»Wenn du eines Freundes bedarfst, Magdalene, so erinnere dich, daß ich neben deinem Vater dir jetzt der Nächste bin. Es drängt die Zeit. Aber eins möchte ich dir noch sagen, ehe ich gehe: Wenn du dich gar zu elend fühlst, so klammere dich an die Liebe deines Söhnchens. In ihr ruht ein Schatz, den niemand dir entreißen kann.«

»Wer weiß!« sagte sie ängstlich. »Kinder sind oft undankbar – ich sah es ja an Max und Lise. Auch ich selbst bin dem Vater nicht gewesen, was er von mir erhoffte und verlangen durfte. Geh', Kurt, die Welt ist voller Widersprüche. Je mehr man nachdenkt, desto mehr verwirrt man sich. Und das Denken fällt mir seit einiger Zeit so schwer und macht mich unsäglich müde. Keine Gedanken, keine Erinnerungen und kein Herz mehr haben – das wäre das beste. Lebe wohl!«

Tief erschüttert trat der Oberförster die Heimreise an. Feldern erwartete ihn auf dem Bahnhof und erhielt die beruhigende Antwort, seine Tochter befinde sich bereits auf dem Wege der Besserung.

»Sie hat mir viele Grüße an dich aufgetragen, Theo.«

»Und sonst?«

»Was meinst du?«

»Ist sie glücklich?«

»Ich hoffe es.«

»Das klingt zweifelhaft.«

»Lieber Freund, kann man denn bei einem kaum halbstündigen Aufenthalt – und ein längerer war mir nicht vergönnt – darüber ein klares Urteil gewinnen? Jedenfalls schied ich mit der Ueberzeugung, daß sie Harald immer noch liebt und daß, wenn ihr noch einmal die Wahl frei stände, ob sie ihm folgen solle, sie unzweifelhaft denselben Weg gehen würde, den sie vor Jahren gegangen ist.«

Mit tiefem Ernst ruhten Felderns Augen auf dem Freunde. So zurückhaltend dieser, dem gegebenen Versprechen gemäß, sich über Magdalene ausließ, das Vaterherz verstand es doch, was da ungesagt blieb. Und als Kurt sich von ihm verabschiedet hatte, stand Feldern noch lange wie festgewurzelt da, und seine Lippen murmelten leise ein heißes Gebet für das Glück seines Kindes.


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