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In wenig beneidenswerter Stimmung war Dolf, nachdem er seinen Vater verlassen hatte, ziellos umhergelaufen. Zuletzt suchte er ein ihm bekanntes Weinlokal auf. Um seinen Arger zu betäuben, trank er hastig ein Glas schweren Weines nach dem andern. Stundenlang zechte er in dieser Art, so daß er erst spät am Nachmittag in ziemlich angetrunkenem Zustand nach Hause kam. Nita war nicht daheim. Er suchte sie in allen Zimmern. Sein Blut stürmte, vom Wein erregt, heiß durch seine Adern und ein wildes Verlangen nach Nita tobte in seiner Brust.
Heute sollte sie ihm nicht entweichen, heute wollte er sein Herrenrecht geltend machen. Länger sollte sie nun nicht mehr in ihrem Trotz verharren.
Nachdem er Hut und Paletot abgelegt hatte, ging er wieder in Nitas Zimmer. Dort machte er sich eine Weile mit den Türschlössern zu schaffen, und als er sein Werk getan hatte, warf er sich in dem Vorzimmer zu Nitas Gemächern in einen Sessel.
»So, mein Täubchen -- nun schließe dich ein, soviel du willst«, sagte er vor sich hin.
Bald darauf kam Nita nach Hause. Die Dämmerung war bereits niedergesunken. Als die junge Frau in das Vorzimmer trat, erschrak sie, wie sie Dolf in der matten Beleuchtung sitzen sah.
»Du bist zu Hause?« fragte sie erstaunt.
»Wie du siehst -- ja.«
»Ich habe dich jetzt nicht hier vermutet. Du warst auch nicht zu Tisch gekommen. Heute vormittag war ich bei Papa, er hatte mich bestellt. Du warst kurze Zeit vorher bei ihm gewesen, wie mir der Diener sagte. Papa hat mich nicht empfangen. Der Diener sagte mir, er sei krank und liege zu Bett. Hast du ihn schon krank vorgefunden, als du bei ihm warst?«
»Jedenfalls war ihm nicht ganz wohl -- wir mußten unsere Unterredung abbrechen«, sagte Dolf unsicher.
»Hoffentlich wird Papa nicht ernstlich krank«, bemerkte Nita besorgt.
Er sah sie an, wie sie in der matten Beleuchtung vor ihm stand. Von ihrer Erscheinung wehte es ihn an wie Frühlingsduft. Sie hatte Hut und Mantel bereits abgelegt und nur ein Spitzentuch lose um ihre Schultern geschlungen, weil es ihr nach dem raschen Gang in der lauen Luft im Zimmer zu kühl schien.
Er erhob sich und trat vor sie hin.
»Nita -- mein Vater hat mir heute gesagt, daß er auf Gütertrennung zwischen uns besteht«, sagte er mit seltsamer Betonung.
Sie sah ihn unsicher an. Und da merkte sie, daß er sehr erregt war. Sein Atem verriet ihr, daß er wieder getrunken hatte.
Erschrocken wich sie zurück
Er hob bittend die Hand.
»Bleib doch, Nita -- und sei nun endlich wieder gut zu mir. Du siehst ja -- es läßt mich ganz kalt und ruhig, daß Vater mir dein Vermögen nicht ausliefern will. Mag's drum sein, ich werde ruhig in die Gütertrennung einwilligen. Es soll dir ein Beweis sein, daß mir an deinem Geld nichts liegt. Nur dich will ich wiederhaben, Nita, ich liebe dich, und du sollst es wieder lernen, daran zu glauben. Nun komm endlich wieder einmal in meine Arme.«
Sie merkte, daß er sich nur mühsam bändigte und sich zu diesem ruhigen Ton zwang. Seine Augen leuchteten unheimlich in der herabsinkenden Dämmerung und sein nach Wein duftender Atem ging schwer und erregt.
In Nita stieg wieder die Furcht und das Grauen empor. Es war ihr nicht möglich, ihm nur ein Wort zu erwidern. Gerade weil sie jetzt merkte, daß seine Leidenschaft ungekünstelt war, fühlte sie Entsetzen davor in sich aufsteigen. Instinktiv wandte sie sich zur Flucht und betrat hastig ihr Zimmer. Als sie aber wie sonst die Tür hinter sich abschließen wollte, merkte sie, daß der Schlüssel fehlte und daß sich der Riegel nicht vorschieben ließ.
Ehe sie das noch ganz begriff, war Dolf schon hinter ihr in das Zimmer eingedrungen. Entsetzt wich sie vor ihm zurück bis an die Wand und sah ihm wie gelähmt entgegen. Er trat schnell auf sie zu.
»Das hilft dir alles nichts, Nita. Ich habe nicht länger Lust, vor verschlossenen Türen haltzumachen, wenn ich meine Frau umarmen und küssen will«, sagte er mit erregt flackernden Augen, und ehe sie es verhindern konnte, riß er sie in seine Arme und preßte sie ungestüm an sich.
»Lass mich!« schrie sie entsetzt auf und stemmte die Hände gegen seine Schulter.
Mit eisernem Griff hielt er sie fest und schob ihre Arme empor, so daß sie über seine Schultern glitten.
»So, mein süßer kleiner Trotzkopf, jetzt habe ich dich und halte dich, und kein Engel und Teufel sollen dich mir entreißen, bevor ich deine spröden Lippen nicht weich und warm geküßt habe. Du sollst es wieder lernen, wie süß es ist, zu lieben und geliebt zu werden. Sträube dich doch nicht, meine törichte kleine Frau, es nützt dir nichts -- du bist machtlos und mußt dich mir fügen.«
So flüsterte er, sie immer fester an sich ziehend. Näher und näher kam sein Mund dem ihren. Der Weindunst, der von ihm ausströmte, machte sie fast bewußtlos vor Ekel. Und dann fühlte sie seine Lippen auf den ihren, er küßte sie wie von Sinnen und hielt sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte. Sie konnte auch nicht schreien, weil er seine Lippen fest auf die ihren drückte.
Ihre Kraft erlahmte. Vor Grauen und Entsetzen war sie wie gelähmt, und er spürte, wie ihr Widerstand nachließ. Schon glaubte er, gewonnenes Spiel zu haben. Das qualvolle Wimmern, das ihrer Brust entquoll, verstummte, wie Bewußtlosigkeit kam es über sie. Da lachte er zärtlich, siegessicher.
»Siehst du, meine süße kleine Frau, nun ergibst du dich. Nicht wahr, es ist doch süßer, zu küssen und geküßt zu werden, als zu schmollen«, sagte er, tief Atem holend, und mit einem Ruck hob er sie empor, so daß sie wie ein Kind auf seinen Armen lag, und wollte sie von neuem an sich pressen und küssen. Nita fühlte jedoch kaum, daß sich sein Griff lockerte, als ihre erschlafften Lebensgeister wieder erwachten. Zorn, Grauen und Entsetzen gaben ihr neue Kraft. Mit aller Macht schnellte sie empor und schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht.
»Elender!« rief sie zitternd vor Empörung und entwand sich seinen Armen.
Durch den Faustschlag war Dolf einen Augenblick fassungslos geworden. Er hatte ihn aus seiner Siegesstimmung gerissen.
Momentan verlor er die Gewalt über sie. Sie stieß ihn zurück, daß er taumelte, und fühlte sich befreit. Er wollte wieder nach ihr fassen, aber sie entkam seinen zufassenden Händen und lief aus dem Zimmer. Ohne zu wissen, was sie tat, rannte sie wie ein gehetztes Wild durch das Haus, die Treppe hinab, durch den Garten auf die Straße. Es war inzwischen dunkel geworden. Instinktiv zog sie das Spitzentuch, das zerrissen um ihre Schultern hing, um den Kopf und lief und lief, ohne sich umzusehen, wie verfolgt weiter.
Erst wollte sie zu ihrem Schwiegervater flüchten -- aber der war krank -- und ihre Schwiegermutter würde sie Dolf ausliefern. Dieser Gedanke schreckte sie. In ihrem eigenen Haus war sie nicht mehr sicher vor Dolf -- wo sollte sie hin? Planlos war sie in ihrer Angst und Aufregung weitergelaufen durch die stillen Straßen. Und nun stand sie plötzlich auf dem Promenadenplatz. Wie ein Blitz kam ihr da ein Hoffnungsstrahl. Gerd!
Zu ihm wollte sie flüchten. Er war ihr bester, treuester Freund.
Er würde sie Dolf nicht ausliefern, wenn sie ihn darum bat.
Ohne sich zu besinnen, stürmte sie über den Platz auf Gerds Wohnung zu.
Gerd Falkner stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah auf den Platz hinaus. Da erblickte er plötzlich eine auf sein Haus zueilende Frauengestalt. Die Laterne dicht vor seinem Haus beschien ihr bleiches, verstörtes Gesicht.
»Juanita!« rief er erschrocken vor sich hin.
Betroffen sah er, daß sie das Haus betrat, ohne ihn zu bemerken. Es wurde ihm sofort klar, daß irgend etwas geschehen war.
Seine Haushälterin war, wie er wußte, ausgegangen, und sein Diener war in einem Hinterzimmer beschäftigt, eine Kiste mit interessanten Versteinerungen für ihn auszupacken. Ganz instinktiv eilte er hinaus, um Nita selbst die Flurtür zu öffnen.
Es war nicht nötig, daß sie von dem Diener gesehen wurde.
In demselben Augenblick, als er die Tür öffnete, kam Nita atemlos die Treppe herauf, und als sie ihn erblickte, streckte sie hilfeflehend die Hände nach ihm aus.
»Gerd!« stieß sie hervor.
Einen Blick nur warf er in ihr verstörtes Gesicht, auf ihren seltsamen Aufzug. Dann faßte er ihre ausgestreckten Hände und zog sie herein. Da er merkte, daß sie sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, legte er den Arm um ihre Schulter und führte sie so, ohne ein Wort zu sprechen, in sein Arbeitszimmer. Da war sie vorläufig in Sicherheit. Ungerufen durfte niemand dies Zimmer betreten. Als er die Tür hinter sich schloß, lehnte sie bleich und zitternd an der Wand und sah um sich, als ob sie aus einer Bewußtlosigkeit erwache. Nun stand er vor ihr und sah sie mit blassem, besorgtem Gesicht an.
»Nita, was ist geschehen?« fragte er leise.
Da umschlang sie ihn plötzlich, als könne es gar nicht anders sein. Hilfesuchend und außer sich hing sie an seinem Hals und barg ihr verstörtes Gesicht an seiner Brust.
»Hilf mir, Gerd! Du hast mir gesagt, wenn ich eines treuen Freundes bedarf, soll ich zu dir kommen. Da bin ich. Du bist so stark, so klug und so gut! Ich habe so großes Vertrauen zu dir. Hilf mir, daß ich das Leben ertragen kann. Ich kann nicht zu Dolf zurück -- lieber gehe ich in den Tod. Aber ich fürchte den Tod, Gerd -- noch mehr fürchte ich mich vor dem Leben an Dolfs Seite. Ich kann nicht mehr! Ich fürchte mich so -- wo finde ich Ruhe? Hilf mir doch, Gerd, ich habe sonst keinen Menschen, zu dem ich flüchten kann, nur dich allein.«
So stieß sie zitternd und klagend hervor.
Ihr Jammer, ihre Hilflosigkeit zerrissen ihm das Herz, und als sie sich so zitternd und außer sich an ihn schmiegte, schwand ihm fast die Besinnung. Aber er biß die Zähne zusammen, er sah die Gefahr und er wollte ihr nicht unterliegen, um ihretwillen und um seinetwillen. Starr und fast schroff sah er auf sie herab. Nur das Herz erzitterte ihm, als sich der schlanke, zitternde Frauenkörper an ihn schmiegte. Er vernahm das rasende Klopfen ihres Herzens durch den feinen, dünnen Stoff ihres Kleides.
Das Blut stieg ihm zu Kopf und flutete in heißen Wellen auf und nieder. Aber er wollte nicht unterliegen. Seine Muskeln strafften sich, als wären sie von Eisen, und um seinen Mund grub sich der herbe, eherne Zug strenger Selbstzucht.
»Deines Bruders Weib! Deines Bruders Weib!«
So klang es mahnend in ihm.
Wie ein Held kämpfte er gegen die lockende Versuchung, sie an sich zu pressen und den feinen, blassen Mund, der in Erregung zuckte, mit Küssen zu bedecken. Stark mußte er sein, damit diese gefährliche Stunde sie nicht beide schuldig fand.
Und er blieb Sieger über sich selbst. Nach einer Weile löste sich der starre Ausdruck seiner Züge. Sie wurden weich und erbarmend, und in seinen Augen erlosch der heiße Strahl. Seine Stimme klang beruhigend, wie wenn er zu einem furchtsamen, erschreckten Kind spräche, als er sagte:
»Sei ruhig, meine arme kleine Nita, sei ruhig. Komm, setz dich nieder und sage mir, was geschehen ist. Ich will versuchen, dir zu helfen, und jedenfalls bist du unter meinem Schutz und in Sicherheit.«
Sanft löste er ihre Hände von seinem Hals und küßte dieselben verehrungsvoll. Aber sie drängte sich wieder an ihn wie in Angst und Not und sah zu ihm auf wie zu ihrem Erlöser. Und er mußte in ihre Augen sehen. Ihre Blicke ruhten ineinander, und in diesem einen Moment flammte es unbeherrscht in seinen Augen auf. Juanita sah diesen jäh aufflammenden Blick und erschauerte plötzlich. Wie ein Blitz leuchtete die Erkenntnis in ihr auf, was dieser Mann für sie fühlte und was sie für ihn empfand. Es war, als würde ein verhüllender Schleier fortgezogen vor ihren Augen. Und da trat sie zitternd zurück bis zur Tür und schlug in hilfloser Bangigkeit die Hände vor das erglühende Gesicht. Ihr war, als würde plötzlich der Boden unter ihren Füßen fortgezogen. Sie erkannte erschauernd, daß sie gerade zu ihm nicht hätte fliehen dürfen mit ihrem Leid und ihrer Angst vor Dolf.
Er sah ihre Erregung und biß die Zähne wie im Krampf aufeinander. Jetzt nur sich um Gottes willen nicht selbst verlieren. Er fühlte, daß ihr jetzt in diesem Augenblick die Erkenntnis gekommen war, was sie beide zueinander zog.
So trat er weit fort von ihr.
»Sprich, Nita -- was ist geschehen?«fragte er heiser und rauh vor unterdrückter Erregung.
Sie ließ die Hände herabsinken und sah ihn bang und beklommen in die Augen, die sich mühten, ruhig zu blicken.
»Ich -- ach -- ich hätte wohl nicht zu dir kommen sollen, Gerd! Das sehe ich erst jetzt. -- Aber Papa ist krank -- und in seinem Haus ist Dolfs Mutter. Sie hätte mich ihm wohl ausgeliefert. Und ich kann doch nicht mehr zu ihm zurück -- nie mehr. Ich kann nicht. Aber dir -- nein, dir kann ich nun auch nicht sagen, was geschehen ist -- jetzt nicht mehr. Ich dachte nur, du könntest mir helfen, daß ich nicht zu ihm zurückmuß. Schon lange fürchte ich mich vor ihm. Ja -- und heute hatte er getrunken. Und -- ach, mein Gott -- wo soll ich nun hin in meiner Not?«
Die letzten Worte brachen wie ein qualvoller Schrei aus ihrer Brust. Er umklammerte die Lehne eines Sessels, als müsse er einen Halt haben. Und dann sagte er, so ruhig er konnte:
»Verstehe ich dich recht, Nita -- du willst dich trennen von deinem Mann, für immer?«
Sie seufzte tief auf.
»Ich weiß ja nicht, ob es möglich ist, das ich mich von ihm scheiden lassen kann. Ich habe da keine Erfahrung, habe nur zuweilen gehört, daß sich Eheleute scheiden lassen. Aber ob es möglich ist oder nicht -- mit Dolf zusammen kann ich nicht mehr leben nach allem, was heute geschehen ist. Ach Gerd, wenn du mit ihm sprechen würdest! Biete ihm all mein Geld -- vielleicht gibt er mich dann frei. Und -- wenn du mir nur jetzt helfen könntest, daß ich mich vor ihm verbergen kann, daß ich ihn nicht wiedersehen muß. Ich kann nicht zu ihm zurück -- lieber sterbe ich.«
Er richtete sich plötzlich entschlossen auf.
»Warte einen Augenblick, Nita. Ich will dir nur mein Plaid herüberholen. Es ist kühl draußen -- und so wie du bist, kannst du nicht durch belebtere Straßen gehen. Du mußt hier fort sogleich. Bei mir darf dich niemand sehen. Zum Glück sah ich dich kommen und konnte dir selbst öffnen. Ich bringe dich zu meiner Tante Horst. Dort bist du fürs erste in guter Hut. Ich weiß, daß man dich liebevoll aufnehmen wird. Und wenn ich dich dort in Sicherheit weiß -- dann gehe ich zu meinem Vater und bespreche das Weitere mit ihm. Ist dir das recht?«
Sie nickte zaghaft.
»Ja, Gerd, alles, was du über mich beschließest. Aber sage mir nur das eine: Bist du böse, daß ich zu dir kam?
Er trat zu ihr, faßte ihre Hände und legte sie an seine Augen.
»Kind -- Kind -- mein Leben für dich, wenn es sein muß. Weiter darf ich dir nichts sagen von dem, was ich empfinde. Du sollst nicht umsonst vertrauend zu mir gekommen sein.«
Es lag eine so namenlose tiefe Zärtlichkeit in seinen Worten, daß sie erschauerte. Impulsiv beugte sie sich herab und küßte seine Hand. Erschrocken wehrte er ab.
»Was tust du, Juanita?« sagte er hastig und zog dann ihre Hand in inbrünstiger Verehrung an die Lippen.
Dann ging er schnell hinaus. Und gleich darauf kam er mit einem Plaid zurück, das er auf Reisen oft gebraucht hatte. Das legte er sorgsam um ihre Schultern.
»Ziehe dir das Spitzentuch über das Gesicht, Nita, damit dich niemand erkennt«, sagte er mahnend.
Sie tat, wie er geheißen, und er holte sich Hut und Paletot vom Korridor herein. Zugleich lauschte er draußen, ob der Diener und die Haushälterin nicht in der Nähe waren.
Es war alles still. Eilig schlüpfte er in seinen Paletot und reichte ihr den Arm.
»Nun komm, Nita.«
Sie legte ihre zitternde Hand in seinen Arm und ging neben ihm her. Und ihr war zumute, als möchte sie so mit ihm gehen bis an das Ende der Welt.
Unterwegs rief er den ersten besten Wagen an und hob sie hinein.
Bei Horsts waren nur wenige Fenster erhellt, ein Zeichen dafür, das keine Gäste anwesend waren. Das war Gerd sehr lieb. Er führte Nita ins Haus und ließ seiner Tante melden, daß er sie allein zu sprechen wünsche.
Der Diener entfernte sich mit einem etwas verwunderten Seitenblick auf die Begleiterin des »Herrn Professors«. Sie sah etwas seltsam aus, wie sie so in das große Plaid gehüllt dastand.
Die Familie Horst saß bei Tisch. Verwundert sahen sie auf, als der Diener seine Meldung machte.
Frau Gertrud erhob sich jedoch sofort.
»Sie sagen, der Herr Professor mit einer Dame?« fragte sie den Diener.
»Jawohl, gnädige Frau«, antwortete dieser und verschwand auf ihren Wink.
»Da ist irgend etwas nicht in Ordnung«, sagte Frau Gertrud zu ihren Angehörigen und eilte hinaus.
Lotti und ihr Vater blickten sich kopfschüttelnd an.
In dem Empfangszimmer, wohin sonst nur formelle Besuche geführt wurden, hatte Gerd mit Nita gewartet. Die junge Frau war erschöpft in einen Sessel gesunken und erhob sich nun, als Frau Gertrud eintrat.
»Was ist geschehen, Gerd?« fragte diese, Juanita erkennend und sofort erfassend, daß hier etwas Ungewöhnliches vorlag.
Gerd faßte ihre Hand.
»Liebe Tante, da bringe ich dir meine Schwägerin Juanita. Ich bitte dich, das du sie für einige Zeit in deinem Hause aufnimmst. Was geschehen ist, kann ich dir selbst nicht sagen. Juanita ist so erregt, so fassungslos, daß sie mir keinen klaren Bericht geben konnte. Ich weiß nur, daß sie vor meinem Bruder geflohen ist und nicht zu ihm zurückkehren will. Zu meinen Eltern kann ich sie aus besonderen Gründen nicht bringen. Sie kam zu mir in ihrer Not, und da ich sie doch nicht aufnehmen kann, bringe ich sie zu dir.«
Frau Gertrud machte eine abwehrende Bewegung.
»Du brauchst nicht soviel zu erklären, Gerd. Natürlich nehmen wir deine Frau Schwägerin bei uns auf«, sagte sie herzlich.
»Verzeihen Sie, wenn ich störe, verehrte gnädige Frau -- aber ich wußte nicht, wohin«, sagte Nita ängstlich und bittend.
Frau Gertrud sah mitleidig in das blasse, junge Gesicht und trat rasch an ihre Seite. Sie mütterlich in ihre Arme ziehend und ihr tröstend über den Scheitel streichelnd, sagte sie warm:
»Nur ruhig, mein armes Kind, nur ruhig! Vertrauen Sie sich uns unbesorgt an, bei uns sind Sie in Sicherheit. Und wen uns Gerd ins Haus bringt, der kann einer herzlichen Aufnahme sicher sein.«
Juanita schmiegte sich wie erlöst von namenloser Pein in ihre Arme und küßte ihr die Hand.
»Ich danke Ihnen -- ach, ich danke Ihnen tausendmal. Es ist so kühn von mir, Ihnen lästig zu fallen, ich bin Ihnen fremd.«
Frau Gertrud lächelte.
»Nicht doch, Sie sind mir gar nicht fremd, das weiß Gerd ganz genau. Ich kannte Sie schon, als Sie als Kind in das Falknersche Haus kamen, wenn wir uns auch nie gesprochen haben. Gerd hat mir immer von Ihnen erzählt. Und ich habe Ihren Vater einst gekannt -- vor langer, langer Zeit.«
Nita sah, schon halb getröstet, zu ihr auf. So geborgen fühlte sie sich, als hätte sie sich in die Arme einer Mutter geflüchtet. Die Spannung ihrer Nerven löste sich in befreiende Tränen. Frau Gertrud streichelte sie beruhigend.
»Also, jetzt bringe ich die arme Frau in eines unserer Gastzimmer, damit sie vor allen Dingen Ruhe bekommt. Du, lieber Gerd, kannst inzwischen Albert und Lotti begrüßen. Sie, mein liebes Kind, sollen heute von niemand mehr belästigt werden. Meinem Mann und meiner Tochter stelle ich Sie erst morgen als Hausgenossin vor«, sagte sie klar und bestimmt.
Gerd atmete auf, da er Nita in Sicherheit wußte. Ehe sie mit Frau Horst aus dem Zimmer ging, wandte sie sich noch einmal zu Gerd und reichte ihm die Hand. Sprechen konnte sie nicht, und in ihren Augen lag eine heiße Bangigkeit. Sie hatte ihm gegenüber ihre Unbefangenheit verloren.
Er fühlte das, und in seiner Seele regten sich die widerstreitendsten Empfindungen. Trotz allem war ein tiefes Glücksgefühl in ihm, weil Juanita sich bewußt geworden war, welcher Art ihre Zuneigung zu ihm war. Aber zugleich wurde es ihm klar, das nun ihr ganzes Benehmen ihm gegenüber eine Änderung erfahren würde. Und über alledem quälte ihn die Frage, was nun werden, wie sich Nitas Schicksal gestalten würde. Daß ihr Dolf etwas angetan haben mußte, was sie bis ins Innerste erschreckt hatte, war ihm klar. Ein heißer Zorn auf den Bruder gärte in ihm. Und doch fühlte er sich gerade ihm gegenüber machtlos. Mit jedem andern hätte er um Nitas Freiheit gekämpft, jedem andern hätte er ihren Besitz streitig machen können kraft seiner Liebe. Aber gegen Dolf konnte er nicht auf den Plan treten -- er war sein Bruder.
Nitas banger, hilfloser Blick drang ihm in die Seele. Zart und ehrerbietig küßte er ihr die Hand zum Abschied.
»Auf Wiedersehen, Nita! Und sei unbesorgt. Morgen schon, hoffe ich dir günstigen Bescheid zu bringen. Ich werde tun, was ich kann, um deine Sache zu führen.«
Sie neigte das Haupt und ließ sich von Frau Gertrud hinausführen.
Gerd ging hinüber ins Eßzimmer zu Albert Horst und Lotti.
»Hallo, Gerd! Da bist du ja! Wo hast du meine Frau gelassen?« Habt ihr gar Verschwörergeheimnisse miteinander?« rief Albert Horst launig.
Und Lotti machte ihm geschäftig Platz.
»Du ißt doch mit uns, Gerd?« fragte sie lächelnd.
Er wehrte ab.
»Nein, nein, Lotti, laß nur, ich habe weder Hunger noch Appetit«, sagte er ernst und klärte dann Vater und Tochter über die Ursache seines Besuchs auf.
Lotti lauschte mit großen Augen. Die reizende, bildschöne Juanita Falkner, die sie immer von weitem angeschwärmt hatte, als Flüchtling im Haus ihrer Eltern -- das war sehr traurig und doch sehr interessant.
»Die arme süße junge Frau!« sagte sie mitleidig.
Und Albert Horst stieß einen nicht gerade sehr schmeichelhaften Zornesruf über Dolf Falkner aus.
Unruhig wartete Gerd auf das Wiedererscheinen seiner Tante. Als sie endlich eintrat, sprang er auf und sah sie erwartungsvoll an.
»Wie steht es mit Nita? Ist sie etwas ruhiger geworden, Tante Gertrud?«
Sie nickte.
»Ich habe sie gleich zu Bett gebracht. Essen und Trinken mochte sie nicht. Das arme junge Ding ist ganz erschöpft und wird hoffentlich bald einschlafen. Dein Herr Bruder scheint ja ein rechter Gentleman zu sein. Soviel ich aus ihren zusammenhanglosen Worten erraten konnte, ist er angetrunken gewesen und hat sich so benommen, daß sie in wilder Hast das Haus verlassen hat. Das liegt aber alles noch viel tiefer, als man so beurteilen kann. So viel steht jedoch fest, daß sie um keinen Preis zurückkehren zu ihm will.«
Gerd atmete gepreßt auf.
»Das hat sie mir auch versichert, sie will lieber sterben, als noch länger in Gemeinschaft mit ihm leben. In einem unbeschreiblichen Zustand kam sie zu mir und flehte mich um Hilfe an. Mein Vater soll krank sein; sie hat sich nicht in sein Haus gewagt, weil sie sich vor meiner Stiefmutter fürchtet.«
»Ich habe es immer gesagt, man hat sich an dem armen Kind versündigt, als man sie deinem Bruder zur Frau gab. Sie ist ja jetzt noch ein unerfahrenes Kind, das nichts vom Leben weiß, wieviel weniger vor drei Jahren. Aber nun sage mir, was du in der Angelegenheit tun willst, Gerd. Das wird eine sehr heikle Aufgabe für dich«, sagte Frau Gertrud ernst.
Gerd strich sich über die Stirn.
»Ich weiß es noch nicht, Tante, ich muß mir das erst einmal ruhig überlegen. Es ist für mich so überraschend gekommen. Zum Glück wußte ich gleich eine Zuflucht für Nita bei euch. Ich bürde euch damit vielleicht eine Unbequemlichkeit auf. Aber ich bin nun schon so gewöhnt, alle meine Sorgen zu dir zu tragen, Tante Gertrud. Hab herzlichen Dank für deine Bereitwilligkeit.«
Dabei küßte Gerd seiner Tante dankbar die Hand.
Sie lächelte gütig.
»Ach geh, Gerd, mach nicht so viele Worte um etwas Selbstverständliches. Und unbequem wird uns die kleine Frau sicher nicht. Ich wette, Lotti brennt schon darauf, sie ein bißchen zu verwöhnen. Sie schwärmt ja für die schöne Juanita Falkner.«
»Ja, Mutti, sie ist aber auch ein süßes Geschöpf, und jedenfalls freue ich mich, daß ich sie nun endlich einmal kennenlerne«, rief Lotti lebhaft.
Gerd verabschiedete sich gleich darauf. Ehe er ging, sagte Frau Gertrud noch:
»Auf alle Fälle sieh doch zu, ob du die alte Tina nicht sprechen kannst, damit sie dafür sorgt, daß für deine Schwägerin das Nötigste an Kleidern und dergleichen zu uns geschickt wird.«
Gerd nickte.
»Das will ich nicht vergessen. Und nun gute Nacht.«