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Bäwele stand am Fenster des Frühstückszimmers und sah zwischen den Blumenstöcken hinaus auf die regennasse Straße. Es goß, was vom Himmel herunterging, und kein Mensch war unterwegs. Auf der obersten Sandsteinstufe des gegenüberliegenden Hauses saß der Pudel Holischkas und sah unverwandt zu ihr hinüber. Von Zeit zu Zeit hob er den Schweif und schlug zuerst schnell und freudig, dann immer langsamer und zuletzt hoffnungslos damit auf die nasse Treppe los. Man ließ ihn nicht ein, und Bäwele, auf das er seine Hoffnung gesetzt hatte, und das er fortwährend anflehte, verstand ihn nicht. Warum schaute sie denn immer herüber, wenn es ihr nicht einfiel, herauszukommen und anzuläuten, damit man ihn ins Haus ließ? Sah sie denn nicht, wie das Wasser an ihm herunterlief, und wie er vor Kälte zitterte? Böse Tage lagen hinter ihm. Die neue Hausfrau schaute ihn mit scheelen Augen an, und heute, wo er schmutzig und naß war, ließ sie ihn überhaupt nicht ein; die freute sich ja, daß er vor dem Hause saß und fror. Und sein Herr konnte ihm nicht aufmachen, der lag oben im Bett mit dem Gesicht gegen die Wand und sprach kein Wort. Gestern hatte er ihm sogar Fußtritte gegeben, das war noch nie geschehen, und heute bekam er nichts zu fressen. Wollte er ins Schiff abschwenken zu Bäwele – er war's doch gewöhnt! – rief ihn sein Herr mit einem scharfen Pfiff zurück, 88 und folgte er nicht, bekam er sogar Schläge. Und nun saß er da und schaute trotzdem zu Bäwele hinüber und bettelte, denn wenn er den Schwanz so unmerklich rührte, so hin und her, hin und her, meinte er nichts weiter, als sie solle ihm zu fressen geben. Von Zeit zu Zeit stieß er ein lautes Winseln aus, das konnte sie aber nicht hören, denn die Fenster waren geschlossen. Um laut zu bellen oder zu heulen, war Karo zu wohl erzogen. So hätte dies stumme Ansehen, in das sich von seiten Bäweles eine gewisse Schadenfreude, von seiten des Hundes eine sich immer steigernde Unruhe mischte, noch eine Zeitlang fortgedauert, wenn nicht durch die halbgeöffnete Tür des Zimmers der lange, schmale Pferdekopf von Bäweles Mutter sichtbar geworden wäre.
Etwas unsicher im Ton rief die Alte: »Awer Bawettche, mer hen doch noch ze dhuñ, was schteschde dann alsfort am Fenschder? Mach! Schaff!«
Bäwele drehte sich gleichgültig um: »Wie kammer nor so en unpraktische Hund hawwe, der alles so voll Näss' macht!« sagte es verächtlich mit einer allzusehr zur Schau getragenen Gleichgültigkeit, die nicht dem Pudel allein galt. Die Alte trat ganz in die Stube herein und sah über Bäweles Schulter weg. Sie mußte sich dabei strecken, so viel kleiner war sie als die schlanke, großgewachsene Tochter.
»Guck, der Karo!« sagte sie, »un so naß! Ruf doch des arm Vieh herüwer, wann se'm nit ufmachen.«
»Sunscht nix?« sagte das Bäwele und begann auf dem langen, weiß gedeckten Tische die Tassen zu stellen und dann zu rücken und zu schieben.
»Kind! Bawettche! Was machschte dann? Du hoscht jo e Tass' zu viel.«
»Heesen mich doch nit alsfort Bawettche, Mamme. Ehr wissen, ich kann's nit leide, und wann ich was dhu, dhu ich's nit 89 umsunscht. Die alt Armhartn hat sage lasse, sie käm heut auch in de Kranz.«
»Die Armhartn?« Bäweles »Mamme« legte ihr Gesicht wieder einmal in bekümmerte Falten; sie wagte die Tochter nur behutsam von der Seite anzusehen. »Die kummt doch schun zwee Johr nimmeh. Warum dann heut?«
»Warum? Warum werd die kumme? Doch wege der Verlobung!« sagte Bäwele höhnisch und begann die Stühle zu rücken, daß es dröhnte.
»Sachte! Sachte!« mahnte die Mutter.
»Ach was, sachte! Mit mir werd aa nit sachte umgange!«
»Bawettche!« bat die Alte, »wer dann? Ich geh doch gewiß sachte mit dir um.«
»Wer redd dann von Euch? 's wär besser, Ehr wären als weniger sachte mit m'r umgange, no hätt ich jemand, vor dem ich Respekt hätt! M'r hot jo niemand.«
»Bawettche!« flehte die Mutter.
»Sagen doch Bäwele!« rief die Tochter in heller Wut, »un bringen doch die Kuche, do unne kummen schun Schirm. Des is die Zahlmeischdern un die Kaserninschpektern. Die sin jo immer die erschde.«
Die »Zahlmeischdern« und die »Kaserninschpektern« kamen in lebhaftestem Gespräch herein, begrüßten das Bäwele besonders freundlich; beide benahmen sich wie zwei unruhige Hennen, die, durch irgend etwas im Gackern gestört, nun gespannt warten, bis die Störung vorbei, und sie wieder weiter gackern können. Nachdem sie die nassen Mäntel und Schirme abgelegt, wurde vor dem Spiegel die Frisur zurechtgezupft, was die spitznasige Zahlmeisterin mit gespreiztem kleinen Finger und die dicke Kaserninspektorin mit ein paar robusten Griffen in das hochgetollte Haar bewerkstelligte.
»So schlecht Wetter heut, Fräulein Bäwele,« meinte die 90 magere Zahlmeisterin und versuchte ihrer scharfen und neugierigen Stimme einen sanften, teilnehmenden Klang zu geben, als sei die erwähnte Tatsache besonders schmerzlich für Bäwele. »Und wissen Sie denn schon die große Neuigkeit: Leutnant Röder hat sich mit Jutta von Armhart und Holischka mit Eva von Armhart verlobt!«
Bäwele zuckte mit keiner Wimper. »Warum soll ich das nicht wissen, Stadtgespräch,« sagte es kühl, »mir kann's recht sein, ich brauch die Kaution nit zu stelle! Wollen die Damen den Kaffee gleich oder noch warten?«
»Warten, Fräulein Bäwele, warten natürlich! Bis mehr Damen da sind. Und so gleichgültig tut das Fräulein! Ich hab doch immer gemeint . . .« dabei drohte sie schalkhaft mit dem Zeigefinger und machte lüsterne Augen dazu.
»Was gemeint?« gab Bäwele zurück und spielte die Harmlose.
»Stellen Sie sich doch nicht so an,« sagte etwas geärgert und in ziemlich lautem Ton die Kaserninspektorin, »man weiß doch, daß der Leutnant Holischka immer hier hockte.«
»In einer Wirtschaft hocken gar viel,« erwiderte prompt das Bäwele, das »hocken« stark betonend, »und Wirtstöchter haben immer Courmacher, das werden Sie selbst am beste wisse,« schlug es den Angriff siegreich zurück. Nun hatte es die grobe Kaserninspektorin, die es nie wahr haben wollte, daß sie eine Wirtstochter sei, und nie zugegeben hätte, daß ihr Mann, der feiste Bayer, in allen Wirtschaften herumfuhr und dort viel eher zu treffen war als zu Hause.
»Schauen's, jetzt sind Sie doch ärgerlich!« triumphierte die Dicke, die einen roten Kopf bekommen hatte, »und grob können's auch sein.«
»Ja, die Bayere können das nit allein,« erwiderte Bäwele lachend. »Übrigens entschuldigen mich die Damen, ich muß der Mutter noch ein bißche helfe.«
91 »So werden die Mädeln, wenn sie die Herren Offiziere hofieren und verwöhnen,« schimpfte die Kaserninspektorin hinter Bäwele drein, »in einer andern kleinen Stadt kräht kein alter Hahn nach ihnen. Aber hier natürlich – das Fräulein hinten und vorn – bilden sie sich Gott wer weiß was ein.«
»Und geärgert hat sie sich doch,« kicherte die magere Zahlmeisterin, die dafür bekannt war, daß sie sich noch sehr gerne den Hof machen ließ, wenn es nur irgendeine Gelegenheit gab und sie es heimlich haben konnte.
»Unbegreiflich!« setzte die Zahlmeisterin mit ihrem hurtigen Zünglein die vorher unterbrochne Rede fort. »Unbegreiflich, daß zwei so anständige Offiziere sich so plump fangen lassen! Der Röder . . .«
»Ach, gehen's mir,« sagte die Kaserninspektorin deutlich, »der Röder wohnt doch net umsonst im Haus.«
»Frau Kaserninspektor!« rief die magere Zahlmeisterin und faltete die Hände. »Ich bitte Sie, sagen Sie das nicht laut. Man muß hier so vorsichtig sein, so vorsichtig. Sie sind noch zu kurz hier. Man würde sagen, die weiß es, die ist selbst hinter dem Herd gesessen!« Dabei schillerten die Augen der kleinen Person vor Vergnügen, daß sie das bei so guter Gelegenheit angebracht hatte, denn akurat eben das sagte man von der dicken Kaserninspektorin.
»Meinetwegen,« erwiderte die, »können's sagen, was sie wollen, ich bin verheirat't, und Kind hab ich auch keins g'habt, aber die is noch nicht verheirat't und kriegt vielleicht ein Kind.«
»Pfui! Pfui!« quietschte die Zahlmeisterin heraus, »wie bös Sie sind! Ich hätte Ihnen das garnicht zugetraut!« Sie lächelte anerkennend, denn so gefiel ihr die Kaserninspektorin besser.
Die beiden Damen standen nebeneinander am Fenster und sahen gespannt die Straße hinab, die leer, regenfeucht und langweilig sich kerzengerade gegen den Paradeplatz erstreckte. 92 Vor der gegenüberliegenden Haustür saß noch immer Karo, triefend und noch unglücklicher als vorher. Er hatte ein paarmal herübergesehen, doch als er die fremden Gesichter erblickt, mutlos und zitternd weiter gewartet. Einmal hob er den Kopf, als wolle er in ein langes Heulen ausbrechen, senkte ihn aber gleich wieder und versuchte, was er schon so oft heute versucht, an der schweren, zweiflügeligen Türe zu kratzen, worauf er gespannt mit schief gesenktem Kopfe horchte. Im »Spion« am Fenster neben dem Tore erschien jedesmal das ärgerliche Gesicht einer ältlichen Frau, das sofort wieder verschwand.
»Es ist doch eigentlich ein Skandal,« begann die bewegliche Zahlmeisterin wieder, die keinen Augenblick ruhig sein konnte, wenn keine Offiziersdamen oder höhere Beamtendamen zugegen waren, »man hat nie gehört, daß Holischka bei den Armharts verkehrt hätte; das erstemal, ich bitte Sie! das erstemal!«
»Ja, kann denn das sein?« Der Bayerin kam das nicht gar so ungeheuerlich vor, doch verwunderte sie sich aus Höflichkeit.
»Ich bring's heraus, verlassen Sie sich darauf! Ich habe meine Quellen! Oh! Die Burschen und die Mädchen!«
»Jessas na!« Die Bayerin war aufrichtig erstaunt, auf welchem Wege man die Intimitäten der Familien erfahren konnte. Gewiß war, daß die Zahlmeisterin alles wußte, sie fürchtete ihre böse Zunge und hielt sich deshalb so viel wie möglich freundschaftlich mit ihr.
»Da kommen ja endlich ein paar Damen!« rief sie aus. »Ach, es ist nur die Bergern! Und die Frau Apotheker und die Doktorin. Wo nur heute unsere Offiziersdamen bleiben?« Eine steigende Unruhe befiel die spitznasige Zahlmeisterin, auf einmal fuhr sie herum, wie von der Tarantel gestochen: »Sie kommen! Sie kommen! Acht, neun, zehn Schirme.« Ihr Gesicht entspannte sich nach dem langen auf die 93 Offiziersdamen-Warten, und weil sie nun ganz im Stil war, sagte sie: »enfin!« Das hatte sie von der Frau Bezirksamtmann aufgeschnappt. Sofort strebte sie auch zur Begrüßung der Damen nach der Tür, sagte der Bergern, der Doktorin und der Frau Apotheker süß, aber flüchtig guten Tag und eilte, den Damen zu öffnen, noch ehe diese im Flur die Schirme und Mäntel ausgeschüttelt hatten. Unschlüssig stand die Kaserninspektorin da. Ihrer derben Natur lag das Scherwenzeln nicht, und doch mochte sie nicht hinter der andern zurückbleiben.
»Ach, tragen Sie doch auch die Schlepp' e bißche, Frau Ebert!« Lachend klopfte ihr die Bergern auf die Schulter. »Stehn wird's Ihne nit, aber probiere dät ich's, es g'hört, scheint's, zum gute Ton!« Und lachend hängte sie das graue »Mäntelche«, das schon zehn Jahre diente, aus grauem Lüster verfertigt ist und nur im Winter durch »en schwarze Tuchmantel« ersetzt wird, an die Wand und hängte »de Kapotthut« dazu. So präsentierte sie sich nun in einer spiegelnd glatten Frisur, Scheitel in der Mitte und zwei falsche Zöpfe zu einem dicken »Nest« gedreht, in einem grauen Mixkleide und kleinem weißen Stärkkragen, mit einer »Brosch« vorne.
»Des is mein Uniform, un wem se nit g'fallt, der soll weggucke,« erklärt sie jeder neuen Dame, die in den Kranz eintritt.
»Sonntagshut und Sonntagskleid, des gibt's nit.« Sie spielte sich als kleinen Freigeist auf, obwohl sie weiter nichts als trostlos nüchtern war und mit bornierter Verstocktheit alles rügte und verfolgte, was sie nicht erklären und verstehen konnte. Alle Kunst war für sie »Posse«, nur lustige Musik liebte sie, die klassische konnte ihr »gestohlen werden«. Ordnung halten und den ganzen Tag putzen war aber das wichtigste in ihrem Leben, alle, die in ihrer Umgebung waren, mußten sich ihrem naiven Putzegoismus fügen. Wer sie nicht näher kannte, hätte den alten Berger glücklich gepriesen, der nicht nur ein großes 94 Tabakgeschäft »en große Schopp« hatte, sondern auch, als er heiratete, eine ideale Frau bekommen zu haben schien. Mit ihrem rosigen, freundlichen Gesicht mit den schneeweißen Zähnen sah sie aus, als sei sie die gutmütigste und treuherzigste Person der Welt, besonders weil sie nie mit ihren Meinungen, die sie oft recht drollig vorbrachte, hinterm Berg hielt. Eingeweihte wußten sich zu erzählen, wie der Mann und später auch der Sohn unter der Tyrannei der Mutter gelitten. Wie sie aus Pedanterie und Kleinlichkeit ihren Mann an allen größeren Unternehmungen hinderte, und den Jungen, nachdem er ihre hochfliegenden Pläne nicht erfüllte, sklavisch unter der Knute hielt. So wurde er ein Haltloser, Schwankender, denkfaul, weil sie ihm alles vordachte, weil er nach ihrer Schablone denken mußte, unbrauchbar im Geschäft und zuletzt sogar von ihr selbst verachtet. Von jeher hatte sie offen, ja schamlos über ihre Familienverhältnisse geredet, besonders im »Kranz« – manche empfanden das als Aufrichtigkeit – und nahm sich deshalb auch heraus, über die Familienverhältnisse der andern in demselben etwas rüden Ton zu sprechen, obwohl sie schlau genug war, zu wissen, wie weit sie gehen konnte. Nie ließ sie sich ducken; Respekt hatte sie vor niemand und nichts, weder vor einer Leistung noch vor einer Persönlichkeit, und Leute wie die schmächtige Zahlmeisterin waren ihr besonderes Ergötzen: »Das Puddelche« hieß sie das Frauchen mit den vielen kleinen Löckchen.
»Das Puddelche hat's awer heut notwendig, ei, ei! bis es all die Schirm im Gang aufgeschpannt und die Mäntel all abgenomme hat! Alla, Frau Ebert, schwänzeln Se doch auch, die Frau Oberst is ja da!«
Dazu konnte die Bergern so laut und herzlich lachen, daß die andern mitlachen mußten. Breit und behäbig saß sie auf ihrem angestammten Platz, den sie sich nie streitig machen ließ. Gerade in der Mitte saß sie, die höheren und die niederen 95 Chargen trennend. Sofort war es ihr aufgefallen, daß ihre Tasse etwas nach links gerückt war, und sofort begann sie auch zu zählen.
»Einundzwanzig? Ja, wer kommt denn heut noch? Beehrt uns am End gar die Madamm Gouverneur?«
Es war der stete Ärger der Damen des Kränzchens, daß die Frau des Gouverneurs, Frau von Bellwitz, so liebenswürdig sie sich auch gegen jede der einzelnen Damen erwies, den Besuch des Kränzchen dauernd vermied. Das verletzte doppelt, da die Frau des früheren Gouverneurs, eine lustige Wienerin, keinen »Kranz« versäumt hatte. Sie war zwar nicht wie die andern Damen mit dem Arbeitsbeutel angerückt und hatte gestickt, gehäkelt oder gestrickt, denn sie fand das »fad«; dafür spielte sie entweder Klavier und sang ganz leidlich dazu, besonders die neuesten Schlager aus den Operetten, oder sie wußte immer ein paar Damen zu beschwatzen, daß sie sich zu einem Spielchen herbeiließen. Das war zwar gegen die Tradition und wurde im Anfang mit scheelen Augen angesehen. Doch was wollten die jungen Leutnantsfrauen denn machen? Alle konnten sie doch nicht tun, als hätten sie niemals eine Karte in der Hand gehabt, und da die Gouverneurin eine leidenschaftliche Patiencelegerin war, und die Bergern in ihrer brüsken Art lebhaft Partei für die musikalische Exzellenz nahm, löste sich alles in Wohlgefallen auf.
Die neue »Madamm Gouverneur«, wie die Bergern sie betitulierte, ließ sich überhaupt so wenig als möglich sehen. Ihre repräsentativen Pflichten erledigte sie mit großer Anmut und Liebenswürdigkeit, erwiderte die notwendigen Besuche, trat aber keiner der Damen näher. Mit Schadenfreude konstatierten diese übereinstimmend, daß sie im Umgang mit Männern durchaus nicht dieselbe Zurückhaltung bewahrte, sondern ganz offen den oder jenen jungen Offizier, auch ältere Herren zu einem 96 intimen Abend ins Gouvernement entbot. Da war vor allem Hertwig, den sie gern beizog, und der auch bei dem Gouverneur in Gnaden stand, hie und da ein junger Musiklehrer, Professor Wasner, der Lehrer an der Lateinschule war, und Major Vierling.
»Früher war ewe e Dam' im Gouvernement, jetz is e hoher Geischt dort!« Auf diesen Ausspruch bildete sich die Bergern nicht wenig ein, er wurde auch nach allen Seiten hin besprochen, von den Männern auf seine Seichtheit hin festgenagelt, von den Damen aber leidenschaftlich verteidigt.
Oh nein! Die Exzellenz kam nicht. Die jüngste Leutnantsfrau wußte, wer kam . . . die Baronin von Armhart hatte sich für heute ansagen lassen.
»Was?« Zehn Stimmen riefen es zu gleicher Zeit, und zwanzig Augen richteten sich auf das schüchterne Frauchen, das gar nicht mehr wußte, was tun.
»Was?« schrie die Bergern. »Des is gut! Seit wann hammer dann nit die Ehr gehabt? Sin's nit schon zwei Jahr? Noñ, ich freu mich, des kann gut werre. Die will sich sonne in ihrem Glanz! Der arm, kleiñ Holischka, der muß eim daure! Heu se 'n doch drañ kriegt. Was werd dann do des Bäwele sage? Noñ scheußlich hat se'n als behandelt, die wüschd Krott. Und die Amélie Horler, die hat doch auch g'schpitzt? Wie sagen Sie als, Frau Ebert, wie is se aufgeputzt? Wie e ›Osterbetzerl‹.« Sie bemühte sich lachend das derbe Bayerisch der Kaserninspektorin nachzuahmen. Es gehörte auch zu ihren Witzen, wenn die Kaserninspektorin nicht da war, ihre derbe bayerische Sprache nachzumachen, immer mit den gleichen Ausdrücken: »Der Anton, der Kaserninspektor, mei Mo, der Rudolf, der Bua, mei Sohn, die Resi, des Madl, mei Tochter, wos Wosch, wos Wosch!« Wenn sie gut gelaunt war und die Stimmung animiert, sagte sie's auch laut und schäkernd zur 97 Kaserninspektorin selbst, worauf diese halb gekränkt und vorwurfsvoll, jedoch gutmütig, wie sie war, erwiderte: »No ja, des is ja wahr.« Etwas Treffendes daraufzu sagen, war ihr bis jetzt nie eingefallen, aber es schmeichelte sie sehr, daß die Bergern Spaß an dem »Osterbetzerl« hatte.
Die Bezirksamtmännin war eben eingetreten, mit ihr die Frau Oberst von Demharter und mehrere Damen, zuletzt die Baronin von Armhart.
»Nit gratulieren, sie soll erst selber reden; dhûn, als ob mir nichts wüßten,« gab die Bergern die Parole aus, »zu mir, da runner kommt m'r der Schote nit.« Sie winkte ihre Freundinnen, die Doktorin und die Apothekerin herbei und sah vergnügt zwinkernd zu, wie die Damen ablegten und eine nach der andern vor den Spiegel trat. Eine junge Leutnantsfrau drängte die Baronin von Armhart zurück und stellte sich knapp vor ihr zuerst hin. Die Baronin war in ihrem Schwarzseidenen erschienen und sah mit ihrem markanten Kopf aus der George Sand-Zeit, ihrem an den Wangen aufgetollten Haar, den klugen, dunklen Augen und dem breitgezeichneten Munde bedeutender aus, als all die Dutzendgesichter ringsum, die Bezirksamtmännin vielleicht ausgenommen. Frau von Armhart, die die junge Frau nicht kannte, trat mit der Würde der Bäuerin, die sie haben konnte, ohne ein Wort neben die junge Frau, die sie frech musterte und schnippische Mienen zog, als sie das seidene Kleid eingehend studiert hatte; nach der Mode war es nicht. Aber als die beiden Frauen vor dem Spiegel standen, zog die jüngere mit dem Puppengesicht den Kürzeren: wie eine steife Marionette, zierlich angetan und behängt, wirkte sie neben der kantigen, etwas grobschlächtigen Partnerin. Die Augen der Damen, die schon am Tische saßen, hingen an den zwei weiblichen Wesen, die so recht, die eine als Verkörperung einer vergangenen, ihnen etwas komischen, schwerblütigen, 98 wenn auch würdigen Zeit, die andere als die einer gewandten, raschen, oberflächlichen und respektlosen Zeit neben einander standen. Bewußt war das keiner, aber die Mehrzahl der Anwesenden nahm auch ohne die Parole, die die Bergern in der Mitte des Tisches ausgegeben hatte, Partei für die Junge, und als sich Frau von Armhart umdrehte, begegnete sie nur abweisenden, spöttischen Blicken. Sie hätte das Gefühl der Isoliertheit haben müssen, wenn sie nicht zu befangen gewesen wäre aus dem Trieb heraus, sich mit den Verlobungen zu brüsten und ihr Triumphgefühl zu genießen. Ein bißchen schlaue Spekulation, vom Bauerneinschlag her, war auch dabei, sie wollte hinhorchen, um etwaiger Klatschsucht und Gerüchten die Spitze abzubrechen. Auch fühlte sie sich jetzt mehr »dazu«gehörig, denn wenn ihre Töchter Offiziersfrauen wurden, konnte man sie doch nicht mehr so abfallen lassen . . . Sie war entfremdet. Und mit einem Ruck zog sie den nächst besten Stuhl an sich und ließ sich mit allem Selbstbewußtsein nieder, ganz in den höheren Regionen, die ihr am nächsten waren. In den Gesichtern der beiden nebensitzenden Damen prägte sich deutlich die allgemeine Stimmung aus, sie waren nur Abwehr. Beinahe spreizten sie die Ellenbogen aus, damit Frau von Armhart keinen Platz hatte. Sie saßen bocksteif und wie angenagelt, so daß die Baronin mit aller Energie ihre Stuhlfüße mit denen der Nachbarinnen zusammenstoßen mußte, ehe diese Miene machten, nur einigermaßen Platz frei zu lassen.
Gerade dieser heimliche Kampf schien Frau von Armhart Freude zu machen. Keine Spur von Unbehagen oder Entrüstung, von Befangensein oder Gekränktheit! Sie machte sich so breit wie möglich und war auch nicht weiter überrascht, als ihr die Frau Bezirksamtmann Horler über den Tisch herüber die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, dem eine laute und geräuschvolle Gratulation folgte.
99 »Meine liebe Baronin! Welche Seltenheit! Warum sieht man Sie gar nicht mehr? Ich vermißte Sie schon oft. Und wie reizend, daß Sie uns hier Gelegenheit zur Gratulation geben. Ich beglückwünsche Sie herzlich zur Zwillingsverlobung, das ist ein seltenes Fest.« Und lächelnd, daß man die ganze Reihe ihrer in einem ersten Atelier verfertigten Zähne sah, drückte sie und schüttelte sie der Baronin die Hand.
Frau Oberst konnte nun nichts anderes als das gleiche mit dürren Worten und süßsaurem Lächeln tun; die daneben sitzenden Damen befolgten das Beispiel, das von oben gegeben war, wenn auch mit einer ziemlich wortkargen Zurückhaltung. Dann flaute es ab, wie ein Echo erwacht, sich etwas hebt, leiser und leiser wird und zuletzt erstirbt. Die beiden neben der Baronin sitzenden Damen hielten immer noch die Arme fest an den Körper gepreßt und sahen starr auf ihre Tassen nieder, beide hatten heiratsfähige Töchter.
Eine beängstigende Stille folgte, und wäre nicht das Bäwele mit den Kannen gekommen, hätte die Stille, etwas ungewohntes an diesem Ort, der ein kriegerisches Räuspern der Bergern folgte, selbst die wetterfeste Baronin übermannt. Nun brach auf einmal und von allen Seiten das Gespräch los, ein krampfhaft heiteres und lautes Gespräch, das sich geflissentlich um anderes drehte als um die Verlobung, das sich auf Dinge ausdehnte, die Frau von Armhart unmöglich wissen konnte, und das an ihr vorbei und von ihr weg auf- und abschwankte; auch die liebenswürdige Frau Bezirksamtmann schien die Anwesenheit der Baronin vollständig vergessen zu haben: sie hatte ihre Pflicht getan und sich eifrig in ein halblautes Gespräch mit Frau Oberst von Demharter so vertieft, daß ihre Tasse noch unberührt vor ihr stand.
Es plätscherte und plätscherte draußen, daß man es trotz des Stimmengewirrs im Zimmer hörte. Auf einmal scholl durch 100 das laute Gespräch und das laute Regnen das durchdringende Heulen eines Hundes, setzte aus und hob sich gleich wieder so laut und kläglich über den Lärm, daß alle aufhorchten. Da war es wieder, langgezogen, schmerzlich, ohne Ende.
Erbittert drehte sich die Bergern nach dem Fenster: »Was is dann des for e Schpektakel un e Schkandal?«
»Das is dem Holischka sein Hund,« sagte das Bäwele und sah Frau von Armhart starr an. Alle drehten sich nach dem Fenster, eine allgemeine Aufregung bemächtigte sich sämtlicher Damen; nun war der Name gefallen, und nun ging's mit Reden und Vermutungen und Anspielungen und Impertinenzen drunter und drüber.
»Wie laßt m'r dann so en Hund bei so em Wetter vor der Tür sitze!« sagte die Bergern und fuhr sich mit der Stricknadel ein paarmal durch ihre dicken Zöpfe.
»Was, dem Holischka seiner?« fragte die Apothekerin recht laut. »Warum läßt er ihn nicht herein? Er trieft ja vor Nässe!«
»Ein Wunder mit den Zotteln!« tadelte die Doktorin.
»Wie kann m'r nur so en unpraktische Hund hawwe,« wiederholte das Bäwele, was es schon früher gesagt, und stellte sich ans Fenster.
»E unpraktischer Herr un e unpraktischer Hund, wann er jetzt noch e unpraktische Fraa kriegt,« gab die Bergern ihr Urteil ab, »no werd's recht.«
Frau von Armhart saß nun bolzengerade, sie war gerüstet. Hatte die Bergern die Gewohnheit bei Dingen, die sie erregten, und bei denen sie unbefangen scheinen wollte, mit der Stricknadel in den »Flechten« zu sägen, so war ein leichtes Kratzen auf dem Scheitel bei der Baronin das Zeichen einer gewissen Aufregung.
»Meine Eva ist praktisch,« sagte sie ganz laut, ganz betont, wie wenn sie der Tafelrunde etwas von ungeheuerer 101 Tragweite mitteile; jedoch niemand beachtete ihren Ausspruch weiter, nur Frau Bezirksamtmann Horler lächelte ein verlorenes, zerstreutes Lächeln, das wie ein Hauch aus der Ferne kam, und das Frau von Armhart ermutigen sollte, ohne daß es die andern sahen.
»Der Holischka soll doch emol den Hund reinlasse,« sagte die Bergern hartnäckig, mit ihrem stadtbekannten Eigensinn, dem, von ihrem Mann angefangen bis zum letzten »Bübche« im »Schopp«, alles unterliegen mußte, »des is ja nit zum anhöre! Alla Bäwele, läuten Se drüwwe an!«
»Ich wer' mich hüte, was geht dann mich dem Leutnant Holischka sein Karo an!«
»Awwer uns geht er an, ich kann des nit hawwe, der soll'n rein lasse.«
»Leutnant Holischka liegt zu Bett, er ist krank.« Als die Baronin also gesprochen, war's, als seien die zwanzig Damen Schwestern, aus zwanzig Gesichtern sprach ein Familienzug, der in dem roten, runden Apfelgesicht der Bergern sich geradezu impertinent deutlich aussprach.
»Isch 'm scheint's die Verlobung schlecht bekomme,« platzte sie heraus, diesmal mit der unverkennbaren Absicht, die Baronin anzurempeln.
Im selben Ort geboren, waren sie bis zu ihrer Mädchenzeit Kameradinnen, sogar Freundinnen. In der Schule war die Bergern, die trotz ihrem »praktische Kopp« schlecht begriff, immer hinter Binchen Möller her, damit diese ihr helfe. Nachdem die Bergern sich verheiratet, und Binchen Möller sich mit dem Baron verlobt hatte, war eine Spannung eingetreten, die sich steigerte, je mehr sich das Wesen der Baronin ins Wunderliche wandelte, je mehr sie Würde und Standesbewußtsein bekam. Vor allem verübelte die Bergern es der ehemaligen Freundin, daß sie nicht blindlings ihrer, der Bergern, besseren Einsicht 102 folgte, als sie beide sich wieder in derselben Stadt trafen. Sie sah immer nur Binchen Möller, die Tochter der alten Bäuerin, und Binchen Möller fühlte sich nur Baronin Armhart und war viel zu sehr von sich überzeugt, um der Bergern Raum in ihrem Leben zu gewähren. Zuerst gab es Plänkeleien, dann Szenen und zuletzt Streit und Zank, besonders über Kindererziehung, denn die Baronin, genial wie sie war, ließ ihre Kinder »frei« aufwachsen, während der einzige Sohn der Bergern von ihr zum verzärtelten, peinlich gehüteten Muttersöhnchen erzogen wurde. Daß der Junge trotz aller Versuche der Bergern, ihn zum Phänomen zu machen, trotz ihrer hochfliegenden Pläne nichts anders wurde als ein kleiner Tunichtgut, war für die Bergern eine neue Quelle des Hasses gegen die Baronin, die ihr das vorausgesagt hatte. Er war gleichaltrig mit Jutta von Armhart, und die Bergern wollte ihn mit allen Mitteln dazu stempeln, mehr, gescheiter, begabter zu sein als »all die Armharts«. Sie verlangte Unmögliches von ihm, hielt ihm Lehrer, drängte ihn an seine Bücher, ließ ihm kaum freie Zeit, redete ihm von seinen Talenten und seiner Zukunft vor, bis der Junge nicht mehr an noch aus wußte und zuletzt gar keine weiteren Anstrengungen machte, die Flinte ins Korn warf und verstockt und verbohrt, die Mutter zetern, den Vater reden und die ganze Verwandtschaft sich wundern ließ, und ein Faulenzer wurde. Er lernte die Mutter hassen, die Unmögliches von ihm verlangte, und liebte den Vater nicht, der ihm grollte, weil er sich stets mehr an die Mutter gehalten. Als er zuletzt, trotz des von der Mutter ausgeschrieenen Genies doch in den »Schopp« gesteckt wurde, konnte die Baronin nicht umhin, ihre Genugtuung darüber deutlich auszudrücken und zu prophezeien, daß es auch hier ein schlechtes Ende nehmen werde. Das schlug dem Faß den Boden aus. Und je mehr die Bergern wirklich einsah, daß Binchen recht gehabt hatte, desto 103 wütender wurde sie, und desto mehr wollte sie hinter dem Sohn suchen. Sie steckte ihm heimlich Geld zu und fand ihren Ehrgeiz befriedigt, als er eine große Runde von Freunden um sich sah, die mit ihm in den Kneipen herumzogen und sich willig seinen verrückten Ideen unterwarfen, weil er zahlte.
So manche Nacht brachte er nicht etwa in den anständigen Lokalen der Stadt, sondern in verrufenen Schifferkneipen unten am Rhein zu, und als die Baronin das der Bergern mitteilte, wies die ihr einfach die Tür, denn so etwas durfte nicht wahr sein. Seit dieser Zeit war bittere Feindschaft zwischen den beiden, und auch der Tod des alten Berger hatte nichts an dem unerquicklichen Verhältnis geändert, denn als die Baronin kam, der alten Schulkameradin ein Wort des Trostes zu sagen, ließ diese sie kurzerhand stehen.
Der Tod des Mannes ging ziemlich spurlos an der Bergern vorüber. In ihrem rosigen Gesichte mit den Säuglingsaugen von unbestimmter Farbe und unbestimmtem Ausdruck sah man weder Erregung noch Schmerz. Sie trug sich schwarz, weil es sich so gehörte, aber jetzt im Herbst, nach einem guten halben Jahre, schlüpfte sie wieder in ihr »grau Mäntelche« und »grau Kleidche«, und tat sich noch wunder was darauf zugut, so vorurteilslos, ein Freigeist zu sein.
In ihrem nüchternen, praktischen Sinn vereinfachte sie das Geschäft, wo sie konnte, und da sie eben wollte, daß der Sohn ordentlich, leistungsfähig und dem Geschäft gewachsen sei, durfte es nicht anders sein; sie verschloß sich hartnäckig allem, das ihr gegenteilig hätte erscheinen können, und geriet in maßlosen Zorn, wenn einer der Angestellten eine leise, warnende Bemerkung zu machen wagte. Der hoffnungsvolle Sohn war durch die unerwartete Selbständigkeit in ein bedenkliches Fahrwasser geraten und trieb sich auch am Tage ganz offen mit seinen Kumpanen herum, verjubelte, verspielte und verwürfelte nicht nur 104 alles, was ihm die Alte zugesteckt, er machte auch noch Schulden obendrein. Da konnte es wohl passieren, daß die Bergern auf Augenblicke klar sah, daß sie in eine maßlose Wut geriet und des Nachts mit einem derben Stock auf des »Genies« Heimkehr wartete, um den Ahnungslosen wortlos zu überfallen und durchzuwalken. Am nächsten Tage war alles wieder im Geleise, Mutter und Sohn sprachen nicht über die bewegte nächtliche Szene, und es ging alles seinen gewohnt »harmonischen Gang« weiter.
Die Verlobungen im Hause Armhart hatten die Bergern sehr abgelenkt, hämisch, boshaft gestimmt. Allerdings hätte sie sich nie träumen lassen, daß es ihr vergönnt werde, Rache zu nehmen, und sie schleuderte ihr: »Isch 'm scheint's die Verlobung schlecht bekomme«, wie eine Triumphrakete unter die Anwesenden, mit dem Endziel Binchen Baronin Armhart.
Diese wurde blaßgrünlich vor Erregung, ihre Stimme zitterte, und sie sah Frau Bezirksamtmann Horler an, als sie sagte: »Der Punsch ist Leutnant Holischka leider schlecht bekommen.«
»Ham Sie epper keinen Weinpunsch gemacht und eine Punschessenz kauft?« fragte die Kaserninspektorin in gutmütig unbefangener Teilnahme.
»Pure Punschessenz muß m'r do gewwe,« prustete die Bergern heraus, »die hat mehr Wirkung, m'r kann nit genug nehme, wammers uf e Doppelverlobung abg'sehe hat.«
Nun war's um die gewaltsam bewahrte Würde der Baronin geschehen. »Du!« schrie sie, direkt zum Angriff übergehend, »du darfst ganz still sein! Kümmer dich um dein Bu! Guck, wo der sich rumtreibt, mit was für Gesindel un in was für Spelunke!«
»Was? Des trauscht du dir zu sage?« Die Bergern war fassungslos. Die vielbewunderten roten Bäckchen spielten ins Blauviolette, die runden, etwas platten und zerflossenen 105 Säuglingsaugen verwandelten sich in harte, dunkle Augen, in die eines bösen, tückischen Tieres. Die Stricknadel wie zum Angriff von sich gestreckt, ging sie direkt auf die alte Freundin Binchen los. Diese bebte am ganzen Leibe, ihre fahle, ungewaschen aussehende Haut wurde noch fahler, schien noch ungewaschener. Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt, alle Kränkungen, die ihr die Bergern zugefügt, stürzten über sie ein.
»Wenn sich's niemand traut, ich trau mir's zu sage: Dei Bu wird e Spitzbu, ins Zuchthaus kommt er, und daran is niemand schuld als du!«
Ehe sie noch zu Ende gesprochen hatte, stand Frau Bezirksamtmann Horler neben ihr, noch einige Damen folgten, während die andern Frau Berger umringten und zu beschwichtigen suchten. Der Kreis um diese und das Stimmengewirr wurden immer dichter, man hörte trotzdem die schrille Stimme der Bergern durch: »Lassen mich, oder 's gebt e Unglück.« Doch alles wurde übertönt von dem Heulen des Hundes, der, als ob er etwas von dem Streite drüben ahne, lauter und lauter zu klagen begann.
»Ich bitte Sie, Baronin, gehen Sie sofort, möglichst unauffällig nach Hause, diese Frau Berger ist zu allem fähig, dieses unheimliche enfant terrible,« flüstert Frau Bezirksamtmann Frau von Armhart zu, winkt mit den Augen, nickt ihr beschwörend zu . . . endlich, nach einem kurzen, inneren Kampfe verläßt die Baronin in guter Haltung, nach einem kurzen Gruße, gedeckt von den Damen des oberen Tisches, das Schlachtfeld.
Unten tobt das Gemurmel weiter und drüben das Geheul. Plötzlich rief die kleine Leutnantsfrau, die Frau von Armhart zurückgedrängt hatte, und die dem Fenster gegenüber saß, laut und wie ein Kind, das etwas Schönes vor den andern voraus hat: »Da will ja Hertwig zu Holischka. Sehen Sie? Und was? Er wird nicht eingelassen! Die alte Anathan schüttelt ihre 106 weiße Haube. Aber der Karo ist drin, endlich!« rief sie und klatschte kindlich in die Hände. Dann machte sie wieder einen langen Hals und verkündete weiter: »Hertwig will durchaus hinein. Er stampft auf. Nein! Wie komisch! Und wen hat er denn dabei? Wer ist denn das? Jetzt hat die alte Anathan ihnen gar die Tür vor der Nase zugeschlagen, und sie stehen im Regen heraußen. Wer ist denn der andere?«
»Der neue Bezirksamtsassessor,« antwortete eine Stimme unten am Tisch.
»Was? Wo?« rief alles durcheinander und stand auf, sogar die Bergern, die, fortwährend schmähend, ihrer Umgebung die Versicherung gab, sie würde den »Schote« verklagen, und die Baronin müsse ins Zuchthaus, drehte den Kopf nach dem Fenster und sprang zuletzt wie alle auf, um, hinter den Blumenstöcken versteckt, nach dem neuen Assessor zu schielen. Nur Frau Bezirksamtmann Horler und Frau Oberst von Demharter blieben sitzen. Die beiden Herrn standen immer unschlüssiger vor der Tür.
Frau Berger, noch in sehr gereizter Stimmung, sah nach Frau Bezirksamtmann und höhnte über die Achsel: »Kunststück! Sie hawen natürlich das Vergnüge. Ihr Herr Assessor wird sein Aufwartung schon gemacht hawwe.«
»Aber ich bitte Sie, Frau Berger,« wehrte die Bezirksamtmännin mit einem gewinnenden Lächeln und beleidigender Nachsicht ab, »er ist vorgestern angekommen! Wie kann er da Besuch bei uns gemacht haben!«
»Dann kennen Se ihn, oder Ihr Resa-Rosa kennt'n schon,« beharrt eigensinnig die Bergern. Resa-Rosas Mutter lächelt wieder nachsichtig, obwohl sie innerlich vor Wut kocht über die Art der Bergern . . . Sie lacht, wie man lacht, wenn ein ungezogenes Kind etwas Drolliges sagt, das man eigentlich nicht dulden sollte, das man aber hingehen läßt, eben der Drolligheit halber.
107 »Sie sind einzig, Frau Berger,« sagte sie und schüttelte den Kopf, daß alle Stopselzieherlocken bebten, warf dann einen vielsagenden Blick auf die zierliche Frau Oberst von Demharter, und stand auf.
»Ein Adonis ist der Assessor aber ganz gewiß nicht,« meinte die Frau Oberst so nebenbei zur Frau Bezirksamtmann.
»Finden Sie? Er hat einen interessanten Kopf, er ist rassig.«
»E Partie is er,« schrie die Bergern fröhlich, »un is er krumm oder schepp, des macht nix, er is intressant, do kammer alles drunner verstehn.«
Alle lachten durcheinander und begaben sich an die Plätze zurück, während sich die beiden Herrn in lebhaftem Gespräch entfernten und man nur noch die weiße Haube der alten Anathan gewahrte, die den beiden durch den Spion feindselig nachschaute.
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