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Vergnügt mit meinen Schlüsseln rasselnd, ging Tizzie davon. Ich aber warf mich in einen Lehnstuhl und verschlang die Hände hinter meinem brennendheißen Kopf. In mein Zimmer konnte ich nicht gehen, da die Ajah es gerade in Ordnung brachte, und hier war ich wenigstens allein. Ach, und von Samstag an würde ich nie mehr allein sein! ... Aber mußte es denn so weit kommen? Noch war ich frei und mein eigener Herr. O, nur ein bißchen Mut ... nein, viel, viel Mut bedurfte ich! War es nicht ganz unwürdig, wie ich jetzt dasaß, die Augen voll banger Erwartung auf die kleine silberne Uhr geheftet?
Plötzlich vernahm ich Räderrollen. Das konnte doch nicht schon Walter sein? Es war ja erst zehn Minuten nach Elf! Und doch: der Wagen kam auf das Haus zugefahren. Hoch aufgerichtet, mit heftig klopfendem Herzen starrte ich hinaus. Eine Mietsgharri, auf deren Verdeck ein abgetragener Überzieher lag, kam herangerasselt und verschwand vor der Treppe. Ich hörte lebhafte Begrüßungsrufe, dann fragte eine männliche Stimme: »Ist sie gekommen? Nun, was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«
»Auf den Eindruck, den du auf sie machen wirst, kommt es vor allem an,« lautete die mit hoher, schriller Stimme gegebene Antwort. »Zieh mal deine Krawatte gerade! Und warum hast du dir denn nicht die Haare schneiden lassen? ... Aber still, still! Sie sitzt dort drin.«
Als der Perlenvorhang des Salons klirrend auseinandergeschoben wurde, erhob ich mich, und im selben Augenblick kam ein blonder, untersetzter junger Mann in schmutzigem Flanellanzug ungestüm hereingeeilt.
»Pam!« rief er, mit ausgebreiteten Armen auf mich zustürzend ... »O wahrhaftig, Pam, du bist ja eine Schönheit geworden!«
Ja, dies war nun wirklich Walter. Wie hatte sich doch während der langen Trennung sein Bild in meinem Gedächtnis verwischt! Nun sah ich, daß er sich nur wenig, jedenfalls aber nicht zu seinem Vorteil verändert hatte. Das Gesicht war aufgedunsen und mit Pusteln bedeckt, die blauen Augen sahen verblaßt aus, das Haar war zerzaust, der Gang unsicher, die Haltung schlapp.
Mit abwehrender Hand und unfreundlicher Miene wies ich die beabsichtigte Umarmung ab.
»Pam, ich sage dir, du bist wahrhaft entzückend!« rief er, meine Hand mit Gewalt erfassend. »Mindestens einen Fuß bist du gewachsen.«
»Nur zwei Zoll,« entgegnete ich eisig.
»Jedenfalls bist du entzückend. Es tat mir fürchterlich leid, daß ich dich nicht abholen konnte. Hatte einen scheußlichen Fieberanfall. Zum Glück ging er rasch wieder vorüber!«
Er lachte nervös auf. Ach, wie ich diese schleppende, schnarrende Sprechweise wiedererkannte.
»Freust du dich denn nicht ein ganz klein wenig, deinen alten Watty wiederzusehen? Warum bist du so stolz? Was ist los? Sprich!«
»Sehr viel ist los,« antwortete ich erregt. »Wie kamen Sie dazu, mir die Photographie Ihres Vetters mit der Behauptung zu schicken, es sei die Ihrige?«
»Aha, da liegt der Hase im Pfeffer. Meine Liebe, das sollte ja nur ein Scherz sein ... oder sagen wir eine Lockspeise. Mein Vetter und ich sehen uns ja so ähnlich wie ein Ei dem andern; wir sind die reinen Zwillinge. Ich sah, wie du weißt, deine Photographie auf einem Gruppenbild und war sofort so sehr davon entzückt, daß ich dachte, ein geschmeicheltes Bild von mir müsse auf dich die gleiche Wirkung haben. Und ich täuschte mich nicht, denn hier bist du ja!«
Dabei versuchte er mich von neuem in seine Arme zu schließen. Allein ich stieß ihn zurück und setzte mich in einen Lehnstuhl. Er aber lachte nur und fuhr fort: »Alle Frauen sind von Maxwell entzückt und preisen ihn als den Ritter ohne Furcht und Tadel, das ist eine alte Geschichte. Diesmal war er aber nur der Lockvogel, ich –« (dabei schlug er sich auf die Brust) »– ich bin der wahre Jakob. Es war doch eine feine List, denn nun bist du hier und mein Eigentum.«
»Nein, nie, niemals!« rief ich heftig.
»Ha, endlich finde ich die alte Pam wieder! In allem andern bist du so verändert, daß ich dich schwerlich wiedererkannt hätte. Auch dachte ich mir's wohl, du werdest in eine schöne Wut geraten, wenn du meine List entdecktest. Allein, auch ein Zorn geht im Leben vorüber.«
»Dieser nicht. Ich werde niemals Ihre Frau.«
»Aber mein liebes Kind, was bleibt dir denn andres übrig?« Und mit gespreizten Beinen stellte er sich vor mich hin. »Beruhige dich doch jetzt endlich und laß ein vernünftiges Wort mit dir reden.«
»Ich bin vollständig ruhig.«
»Tizzie hat nämlich nicht gern junge Mädchen als Gäste in ihrem Haus, besonders nicht, wenn sie hübsch sind, und auch jetzt ließ sie sich nur herbei, dich eine Woche lang zu beherbergen. Wohin willst du dann gehen, wenn du dich sträubst, Mrs. Walter zu werden? Noch einmal: sei vernünftig; ich verspreche, daß ich dir ein guter Gatte sein will. Ich schwöre dir, mich zu bessern.«
»Bessern?«
Er wurde rot. »Aha, die Alte hat dichtgehalten! Ei, wie du aussiehst mit diesem Blick! Wie eine Königin, sage ich dir. Aber ich merke schon, ich muß dir lieber gleich die Wahrheit sagen, denn wenn ich es nicht tue, so besorgt es irgend ein guter Freund. Nun also: ich bin nämlich nicht immer ganz nüchtern gewesen.«
Er betrachtete mich dabei mit einem halb beschämten, halb verschlagenen Blicke. Da ich jedoch schwieg, was ihn übrigens durchaus nicht aus der Fassung brachte, fuhr er fort: »Es ist ein verwünscht durstiges Land, dieses Indien, und da fand die Alte, daß ich unbedingt eine Frau haben müsse.«
Ich wurde von dieser Offenherzigkeit tatsächlich nicht im geringsten erregt. Dies war ganz der alte, gutmütige, die eigenen Fehler stets entschuldigende Watty, mit dem einzigen Unterschied, daß sich die kleinen Schwächen des Knaben beim Manne zu niedrigen Charakterfehlern entwickelt hatten. Welch andre Empfindung als Verachtung hätte ich für diesen Mann hegen können?
»Die Alte schlug mir nun vor, sie wolle mir ein nettes, hübsches, lustiges Mädchen ausfindig machen, das weder an Geselligkeit noch Luxus gewöhnt wäre. Ihre Wahl fiel auf dich ... und hier bist du!«
»Ja, hier bin ich allerdings.«
»Du wirst schon sehen, was für ein famoses Leben wir miteinander führen werden. Millionenmal hübscher bist du, als ich erwartet hatte; du wirst alle andern Frauen in den Schatten stellen. Was werden die Leute sich wundern, daß ich zu einem solchen Juwel komme! Wie werden sie staunen, wenn sie dich sehen!«
»Ja, und besonders, wenn sie mich nicht mehr sehen,« murmelte ich halblaut.
»Unsre nächsten Nachbarn sind nur eine Viertelstunde von uns entfernt. Ich werde dir ein Pony halten; ein guter Kerl bin ich ja immer gewesen. Auch das Geld sollst du in Verwahr bekommen und hübsch die Hausfrau spielen dürfen.«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Dann aber huschte mir ein andrer Gedanke durch den Kopf.
»Und Ihre Briefe? Wie kommen Sie dazu, mir solche Briefe zu schreiben? Sie erwähnten das Trinken ja mit keiner Silbe.«
»Ach, die Briefe!« – Er lachte wieder. – »Waren die nicht pyramidal? Da ich nun schon einmal Geständnisse mache, will ich dich auch darüber aufklären. Soll ich?«
»Ja, ich bitte darum.«
»Die Briefe waren allerdings pikfein!« sagte er, entzückt die Hände reibend. »Rutherford hat sie geschrieben. Der Bursche teilte das Zimmer mit mir; er war verlobt, aber das Mädchen ließ ihn sitzen und schickte ihm alle seine Liebesbriefe zurück. Die Geschichte ging ihm fürchterlich nahe. Rutnagherry ist nämlich ein gottverlassener, trostloser Ort, besonders zur Regenzeit, und als ich eines Morgens auf die Veranda trat, sah ich, daß er sich an einem Steigbügelriemen aufgehängt hatte.«
»Der arme Mensch! Ich kann es begreifen.«
»Als ich dann später seine Sachen durchsuchte,« fuhr Watty geschwätzig fort, »entdeckte ich seine Liebesbriefe. Er hatte all die Gefühle seines heißen, verliebten Herzens dem Papier anvertraut, und ich suchte mir nun die hübschesten Stellen aus, schrieb sie ab und sandte sie dir. Ich bin nun mal kein Briefschreiber, die schönen Worte aber drückten genau meine Empfindungen aus. Verstehst du nun?«
»Ja, allerdings, ich verstehe ... endlich verstehe ich!« rief ich leidenschaftlich. »Aber besser spät als nie!«
»Ah, das war wieder die alte Pam! Aber wozu dich in Zorn reden? Schon sind die Eheketten um dich geschlungen, da gibt es kein Entrinnen mehr,« sagte er mit häßlichem Lachen.
»O doch!« rief ich aufspringend und ungestüm hin und her gehend.
»Aber du hast ja kein Geld, mein Schätzchen, überdies keine einzige bekannte Seele im ganzen Land!« wandte er ein, indem er immer hinter mir herging. »Dutzende von Mädchen würden mit Freuden an deine Stelle treten. Bedenke es doch nur! Und wenn du Tizzie einen Strich durch die Rechnung machst, so wird sie höllisch unangenehm, meine Liebe! Du hast die Brücken hinter dir abgebrochen, du kannst nicht mehr zurück und zwei Familien trotzen. Hier in Indien ist erst recht kein Ort für ein hübsches, mittel- und obdachloses Mädchen; du mußt dich nun schon wohl oder übel in mich zu finden suchen.«
»Nein, das muß ich nicht!« entgegnete ich heftig.
»Wohin wolltest du denn dann deine Zuflucht nehmen?« Etwas wie Hohn klang durch seine Stimme.
»Zum Steigbügelriemen,« versetzte ich höhnisch.
»Um Gottes willen, Pam, so sei doch nur vernünftig!«
»Außerdem bin ich in Indien nicht ganz ohne Freunde.«
Eine lange Pause folgte. Diese Mitteilung kam ihm offenbar unerwartet, und voll ungläubigen Staunens starrte er mich an, bis er endlich weinerlich begann: »Stoße mich doch um Gottes willen nicht von dir. Heirate mich und rette mich vor mir selbst.«
»Mir liegt weit mehr daran, mich vor Ihnen zu retten!«
»O höre auf mich, Pam! Und schau mich doch an! Du weißt ja doch, daß du mich von jeher um den Finger wickeln konntest. Du allein bist im stande, mich von meiner schrecklichen Leidenschaft zu befreien. Als ich dein liebes, reizendes Gesichtchen auf dem Gruppenbild sah, da sagte ich mir: Das soll mein Schutzengel werden. Du warst von jeher so bestimmt und entschieden. O Pam, Pam, du wirst mich doch nicht im Stich lassen wollen?«
Tränen stürzten ihm aus den Augen, aber ich antwortete fest: »Ja, das will ich. Warum treten Sie nicht den Temperenzlern bei?«
»Ach, weil es doch keinen Wert hätte. Wenn ich des Abends allein in meiner Stube sitze und höre, wie der Regen auf das Zinkdach niederfällt, oder wenn ich zum Fenster hinausschaue und nichts sehe als einen dichten, weißen Nebel, dann fühle ich, daß allein der Branntwein mich vor der Verzweiflung retten kann. Ein bloßes Versprechen ist nicht mächtig genug, die Versuchung von mir fernzuhalten. Die Hand einer hübschen Frau allein ... deine Hand könnte mir helfen.«
»Nein, ich kann es nicht,« erwiderte ich kalt. Mir waren verschiedene Fälle aus der Kinderzeit, wo er mich in ähnlicher Weise angefleht und dann betrogen hatte, plötzlich eingefallen.
»Liebe, gute Pam,« – er schluchzte laut – »du hast mir doch früher auch schon geholfen ... es ist deine Pflicht, mich zu retten. Du bist meine letzte Hoffnung ... Maxwell will mir dreitausend Rupien geben, damit ich meine Schulden bezahlen kann, und so wollen wir jetzt ein schönes neues Leben beginnen. Wenn du mich aber verläßt, bin ich dem Unheil verfallen ... ich weiß es.«
Er ließ sich aufs Sofa fallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Weinen aus wie ein Weib, nur tausendmal schlimmer. Es war ein peinlicher Anblick.
»Du kannst mich nicht verlassen ... mein ganzes Leben steht auf dem Spiel,« stammelte er endlich.
»Und hat mein Leben keinen Wert? Was für ein Recht haben Sie an mich? Nicht einmal das der Liebe, denn Sie lieben mich nicht. Ich aber will noch eher für Tagelohn auf dem Feld arbeiten, als Ihre Frau werden.«
»O Pam, das kann dein Ernst nicht sein! Sage so etwas doch nicht ... Daß ich Vorwürfe verdiene, weiß ich ja wohl ...«
»Ja, Sie und Ihre Mutter; in erster Linie aber mache ich mir selbst Vorwürfe,« unterbrach ich ihn. »In meinem romantischen Sinn habe ich Ihr Bild verschönert, Sie mit allerlei guten Eigenschaften ausgestattet und die Erinnerung an Ihre frühere Trägheit und Ihren Leichtsinn erstickt. Ihre falsche Photographie und Ihre falschen Briefe haben das Übrige getan. Mit dem Gesicht des einen Mannes und dem Gefühl eines andern lockten Sie mich her. Beides haben Sie gestohlen und als Ihr Eigentum ausgegeben. Sie sind ja ein Dieb!«
»Dieb!« Er sprang auf. »Doch heiße mich, wie du willst! In der Liebe ist wie im Krieg jede List erlaubt. Um deinetwillen habe ich es getan. Als deine Briefe ihren kühlen, freundschaftlichen Ton beibehielten und ich zu keinem Ende mit dir kam, da schickte ich dir Maxwells Photographie. Ich dachte mir wahrhaftig nichts Schlimmes dabei. Er sieht mir ja so ähnlich, nur ein wenig hübscher ist er, und so hoffte ich, ein etwas geschmeicheltes Bild von mir werde vielleicht die Wagschale zu meinen Gunsten sinken lassen und dich zum Jasagen bewegen. Du hast auch ja gesagt, und ich verlange jetzt, daß du dein Wort hältst. Am Samstag lassen wir uns trauen. Bedenke doch nur den Skandal und Tizzies Vorbereitungen! Du kennst Tizzie noch nicht, sie läßt dich nicht mehr los.«
»Das wollen wir doch sehen!« rief ich nachdrücklich.
»Warte nur, bis sie die Schleusen ihrer Beredsamkeit vor dir öffnet!« Und etwas wie höhnischer Triumph funkelte aus seinen Augen.
»Sie wird mich niemals zu einer Heirat mit Ihnen überreden können,« antwortete ich stolz.
»Nein, das will ich schon selbst besorgen!« sagte er, sich plötzlich näher zu mir herandrängend. »Komm, sei meine liebe, gute Pam und gib den Eigensinn auf. Die Heirat ist für dich ebenso von Vorteil wie für mich ...« Und ehe ich es mich versah, lag er mir zu Füßen und hielt mich am Kleide fest. »Hier auf den Knieen bitte ich dich um Vergebung. Was kann ich noch mehr tun? Komm, hör' auf zu zürnen ... sprich doch etwas, Pam, ich flehe dich an.«
»Ja, ich will sprechen, und zwar mein letztes Wort: leben Sie wohl!«
Damit riß ich mein Kleid aus seinen Händen und verließ hastig das Zimmer. Ich sah nur noch, wie er sich schwerfällig und mit einem leisen Fluche erhob. Mit diesem Eindruck schied ich für immer von Watty Thorold.
Unverzüglich eilte ich in mein Zimmer. Aber, welcher Anblick bot sich mir da! Lang auf dem Bette ausgebreitet – gleich einer toten Braut – lag mein weißes Atlaskleid mit Kranz und Schleier, während von den vier Pfosten des Moskitonetzes vier grün und weiße Toiletten, die meiner Brautjungfern, herabhingen. Aber die Braut war tot, und die Brautjungfern mußten ihres Amtes entsetzt werden. Auf einem der Tische lagen die schönsten Hochzeitsgeschenke meiner Verwandten und Bekannten, die ich mitgebracht hatte, Chaiselongue und Stühle aber hatten zur Ausstellung meiner Hüte und Kleider herhalten müssen.
Endlich gelang es mir, einen Stuhl freizumachen, auf den ich mich niederließ. Vor kurzem hatte es zwölf Uhr geschlagen, Dulia war also beim Mittagessen und ich zum Glück allein. Wie würde der nächste Auftritt verlaufen? Eine kurze Frist blieb mir wenigstens noch zum Atemholen. Wie hatte ich nur annehmen können, der schwache, schlaffe Watty würde sich binnen sechs Jahren von Grund aus verändern? Nicht nur keine Liebe, sondern einen wahren Abscheu empfand ich jetzt gegen ihn. Nein, er hatte den Erwartungen, die ich auf ihn gesetzt, in keiner Weise entsprochen. Einem schweren Irrtum war ich zum Opfer gefallen, der seinen Schatten vielleicht auf meine ganze Zukunft warf. Jetzt aber hieß es vor allem Verstand und Ruhe bewahren, um mutig einem neuen Leben entgegengehen zu können.
Plötzlich wurde hastig die Tür geöffnet, und sichtlich erregt trat Tizzie ein. Der mir von Watty angedrohte Augenblick war also gekommen; sie beabsichtigte, mit mir zu reden!
»Was hat all diese Aufregung zu bedeuten?« fragte sie scharf. »Watty ist in mein Privatzimmer eingedrungen, nachdem er vorher ein großes Glas puren Whisky hinuntergestürzt hatte. Er ist seiner Sinne kaum mehr mächtig und behauptet, Sie hätten sich rundweg geweigert, ihn zu heiraten.«
Atemlos hielt sie inne und wartete auf eine Antwort.
»Ja, ich weigere mich, ihn zu heiraten!« Und dann kamen gleich einem wild dahinstürzenden glühenden Lavastrome die Worte der Empörung und Anklage von meinen Lippen.
Unbeweglich, mit einem eigentümlich ernsten Gesichte stand Tizzie vor mir und hörte mir bis zu Ende zu. Dann setzte sie sich und sagte in überraschend freundlichem Tone: »Noch niemals in meinem Leben war ich so verblüfft, als wie ich Sie zum ersten Male sah. Ich sagte mir sofort, daß da irgend ein Mißverständnis obwalten müsse. Klein, unbedeutend, anspruchslos und schüchtern hatte ich mir Wattys Braut vorgestellt. Sie aber sehen aus wie eine Aristokratin und sind ein gebildetes, begabtes, tatkräftiges Mädchen. Da hatte Tante Gussie natürlich wieder die Hand im Spiel.«
»Tante Gussie? Wieso?«
»Weil ... Ich will Ihnen nur die Wahrheit sagen,« fuhr sie in aufrichtigem Tone fort. »Watty ist nämlich schon vor längerer Zeit auf Abwege geraten. Wir alle müssen uns seines Betragens schämen. Nachdem er dann aus mehreren Stellungen entlassen war, sind seine Streiche schließlich auch Tante Gussie zu Ohren gekommen.«
»Welche Streiche?« fragte ich, obwohl mir dies alles ja jetzt gleichgültig sein konnte.
»Ach, Sie wissen ja, wie die Männer sind,« lautete die verächtliche Antwort.
»Nein, das weiß ich wirklich nicht.«
»Nun, er hatte sich mit einer Kutschertochter eingelassen, einer gemeinen, frechen Person, die ihn so sehr in ihre Gewalt bekam, daß er drauf und dran war, sie zu heiraten. Tante Gussie erfuhr es noch bei Zeiten, war aber natürlich rasend und legte sofort einen Hemmschuh an. Ja, sie hatte eine Zeitlang sogar die Absicht, selbst hierher zu reisen, statt dessen aber schickte sie nun Sie.«
»Eine rechte Ehre für mich, das muß ich gestehen!«
»Watty bedarf einer festen Hand. Ihm fehlt jegliche Selbstbeherrschung, und eine brave, tatkräftige Frau allein konnte ihn noch vom Untergange retten. Ein hübsches, alleinstehendes Mädchen sollte es sein. Voll Verzweiflung schaute Tante Gussie nach einem solchen aus, bis sie ihrem Sohne endlich in Gestalt Pamela Ferrars' eine Rettungsplanke zuwerfen konnte. Sie erschien ihr als die richtige Frau für Watty, um ihn aus dem Schmutz zu ziehen und in bessere Bahnen zu lenken.«
»Betrogen, schmählich betrogen hat man mich!«
»Ich gebe es zu,« erklärte Tizzie ruhig. »Tante Gussie hat Sie hintergangen und Ihnen Sand in die Augen gestreut – das war unrecht. Aber nun sind Sie einmal hier und müssen ihn natürlich heiraten. Alle Vorbereitungen sind getroffen, die Gäste haben zugesagt, und schließlich ist eine Vernunftheirat noch lange nicht das Schlimmste. Daß Sie Watty umbilden und lenken können, wie Sie wollen, wissen Sie. Seien Sie also vernünftig und nehmen Sie die Sache von ihrer besten Seite.«
»Es gibt keine beste und keine gute Seite daran! Ich bin ein schwaches, albernes, rührseliges Ding gewesen. Ich habe mich von meinen Verwandten, die mich gern los sein wollten, und von Mrs. Thorold, die ihre eigenen Zwecke befolgte, beeinflussen lassen. Sie sehen, wohin es mich geführt hat. Nie wieder soll mich jemand beeinflussen!«
»Sie wollen also meinen Rat, den einer älteren Schwester, nicht annehmen?« fragte Tizzie mit bebender Stimme.
»Nein, niemals. Sie selbst haben gesagt, daß Watty schwach, hinterlistig und feig ist. Ich bitte Sie, wie könnte ich ihn achten?«
»Ach so!« rief Tizzie höhnisch. »Ihnen schwebt ja ein andres Ideal vor, aber das ist unmöglich!«
»Auch Watty ist unmöglich!« Meine Wangen brannten.
»Nun, meine liebe Miß Ferrars, ich will nur hoffen, daß Sie wenigstens keinen übereilten Entschluß fassen. Kann ich vielleicht Ihre Pläne erfahren?«
Ja, hatte ich denn überhaupt schon Pläne gemacht? Noch lag meine Zukunft in undurchdringlichem Dunkel vor mir.
»Auf der einen Seite,« fuhr sie mit Aufbietung großer Überredungskunst fort, »steht Ihnen ein Gatte aus guter Familie in Aussicht, der ein sicheres Einkommen hat und Ihnen ein eigenes, hübsch eingerichtetes Heim bieten kann. Es liegt dabei in Ihrer Hand, ihn zu einem besseren Menschen zu erziehen. Was aber bietet sich Ihnen auf der andern Seite? Nichts als das gewöhnliche Schicksal eines armen, heimatlosen Mädchens in Indien.«
»Ich werde mich sofort nach einer Stellung umsehen.«
»Das ist leichter gesagt, als getan. Wenn es gut geht, werden Sie vielleicht irgendwo als Kindermädchen mit zwanzig Rupien Monatslohn unterkommen.«
»Nun, ich werde jedenfalls den Versuch machen,« antwortete ich tapfer.
»So sind Sie also fest entschlossen, Ihre Verlobung aufzulösen?«
»Ja, unwiderruflich entschlossen.«
»Gut,« rief sie, sich erhebend, mit einer Stimme, aus der deutlich der verhaltene Zorn klang, »dann sind wir beide miteinander fertig! Da kommen Sie nun einfach in mein Haus hereingeschneit, vereiteln mir meine Pläne, setzen mich dem allgemeinen Spott aus, veranlassen mich zu ungeheuren Ausgaben ... o, es ist abscheulich! Was soll ich nun zu den Leuten sagen?« schrie sie mich an. »Sehen Sie doch die Kleider hier! Wie soll ich mich entschuldigen?«
»Sagen Sie, was Sie wollen. Werfen Sie alle Schuld auf mich.«
»Das werde ich natürlich tun. Heute ist Donnerstag. Es bleibt meinem Mann und mir also nichts andres übrig, als sofort auf einige Wochen zu verreisen, um dem Klatsch aus dem Wege zu gehen. Deshalb kann ich Sie auch nicht um längeres Bleiben bitten.«
»Es war ungeheuer freundlich von Ihnen, mich überhaupt beherbergt zu haben, und ich werde Ihre Gastfreundschaft ganz gewiß nicht länger als bis morgen mißbrauchen. Ich habe eine Bekannte, mit der ich die Reise hierher gemacht habe. Zu ihr werde ich gehen, und mit ihrer Hilfe wird es mir hoffentlich gelingen, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Wer ist diese Frau?« fragte Tizzie rasch.
»Eine Mrs. Evans. Ihr Mann ist Forstmeister in Lohara.«
»Hunderte von Meilen von hier entfernt! Ein Ort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. Es ist am besten, Sie telegraphieren sofort dahin. Ich werde Ihnen die Ajah zum Packen schicken.«
Damit verließ sie mich.
Nach kaum fünf Minuten erschien auch wirklich die Ajah mit ziemlich mürrischer Miene, da sie von ihrer Mahlzeit abgerufen worden war. Ihren klugen, alten Augen sah ich es an, daß sie von allem unterrichtet war. In der einen Hand hielt sie ein Telegrammformular und eine Feder, in der andern einen aufgeschlagenen Fahrplan. Ja, es war Tatsache, wenn Tizzie einmal etwas in die Hand nahm, so tat sie es nicht halb! Diese rasche Abfertigung eines lästigen Gastes war ein schlagender Beweis dafür.
*
Ich hatte also meinen Marschbefehl bekommen. Bald war ein passender Zug herausgesucht, der um sieben Uhr morgens abging, dann setzte ich eine kurze Depesche an Mrs. Evans auf und händigte sie mit einigen Rupien der Ajah ein, die sofort damit hinauseilte. Wer weiß, ob draußen nicht sogar ein Bote schon darauf wartete! Ein fieberhafter Schaffensdrang hatte sich meiner bemächtigt – nur handeln so rasch als möglich, darin gipfelte mein ganzes Streben. Zum kühlen Überlegen blieb mir ja auf meiner sechsunddreißig Stunden langen Reise noch mehr als genügend Zeit.
So begann ich denn mit Hilfe der Ajah all die Sachen wieder einzupacken, die vor kaum einer Stunde erst aus den Koffern genommen worden waren. Nach zweistündiger gemeinschaftlicher Arbeit waren wir fertig, und wieder stand mein Gepäck verschlossen und zusammengeschnürt zur Weiterreise bereit, diesmal mit der Adresse: Station Mirpur. Dulias höfliches Anerbieten, mir das Gabelfrühstück hereinzubringen, lehnte ich ab. Dagegen nahm ich dankbar ein Glas Milch an, das mir mit dem noch in meiner Reisetasche befindlichen Zwieback das angenehme Gefühl gab, die widerwillig gewährte Gastfreundschaft so wenig als möglich in Anspruch zu nehmen.
Sobald die Ajah dann mit den Resten der kleinen Mahlzeit verschwunden war, setzte ich mich an den Schreibtisch und verfaßte einen empörten Brief an Mrs. Thorold. Ja, nun war auch ich endlich, und zwar zu meinem eigenen Schaden, zu der Überzeugung gelangt, daß diese Frau niemals etwas ohne eigennützige Beweggründe tat. Mit List und Überredung hatte sie mir meinen Entschluß abgerungen, um mich ihrem Sohne zum Opfer zu bringen. Zum Glück war aber die gestellte Falle noch rechtzeitig entdeckt worden.
Auch an meine Tante richtete ich mit fliegender Hast ein scharfes Schreiben und entwarf ihr ein getreues Bild meines Exbräutigams. Ich sagte ihr, daß nichts mich dazu bewegen könne, seine Frau zu werden, daß ich ihrer Güte aber auch niemals mehr zur Last fallen, sondern mir meinen Unterhalt als Erzieherin oder Gesellschafterin selbst verdienen wolle. Indien sei für Leute mit bescheidenen Ansprüchen ein billiges Land, und zum Glück sei ich noch im Besitze von dreißig Pfund an barem Gelde, außerdem hätte ich in Mrs. Evans doch wenigstens eine befreundete Seele. Die mitgebrachten Hochzeitsgeschenke waren bereits zusammengepackt und an meine Tante adressiert. Ich fügte meinem Briefe deshalb die Bitte bei, die betreffenden Gaben zurückzuerstatten, indem ich meiner Tante versicherte, daß dies die letzte Gefälligkeit sei, die ich von ihr verlangen werde.
Ein tiefes Gefühl der Erleichterung erfüllte mich, nachdem diese Dinge erledigt, die Depesche abgeschickt, die Koffer gepackt und die Briefe geschrieben waren. Ich zog nun ein leichtes Morgenkleid an, rückte einen bequemen Lehnstuhl dicht an die offene, mit einem Rollladen versehene Tür, von wo aus ich hinaussehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden, und begann meine Lage zu überdenken. Eine schwierige, wenig versprechende Lage war es gewiß! Trotzdem wollte ich alles eher ertragen, als Watty Thorold heiraten. Lieber Hungers sterben, als die Frau eines solch erbärmlichen Wichtes zu werden, der alle Selbstachtung eingebüßt hatte. Und doch – als ich den um Rettung flehenden Mann unbarmherzig hatte zu meinen Füßen liegen lassen, da war ich mir trotz aller Verachtung fast ebenso kalt und hartherzig vorgekommen, als wenn ich einem in reißendem Wasser dahintreibenden Menschen meine Hilfe versagt hätte.
Tizzie freilich ließ mich nur zu gern ziehen, seitdem ich das schwarze Schaf der Familie von mir gestoßen und dadurch ihr Fest unmöglich gemacht hatte. Zum Glück gingen unsre Lebenswege weit auseinander, ein nochmaliges Zusammentreffen mit ihr war also nicht anzunehmen. Und der Vetter Thorold? Er würde hoffentlich nie, niemals etwas von dem eigentlichen Grund des Bruches zwischen Watty und mir erfahren. In seinem eigenen Interesse würde Watty mein Geheimnis wahren.
Es mochte jetzt zwischen vier und fünf Uhr sein. Die Luft war warm und erschlaffend; und von dem langen Hinausstarren nach den gelben Rosen und den hin und her jagenden Eichhörnchen schlossen sich allmählich meine Augen. So erschöpft war ich von all den Aufregungen und der anstrengenden körperlichen Arbeit, daß ich schließlich einschlief. Mir war es, als träumte ich, Tizzie und Maxwell Thorold säßen draußen auf der Veranda im Gespräch über Watty, mich und die neuesten Ereignisse.
»Das ist eine schöne Geschichte, die Watty wieder einmal recht ähnlich sieht,« sagte Tizzie.
»Ich kann aus der Sache gar nicht klug werden,« antwortete der »Stolz der Familie«. »Entsetzlich nach Branntwein duftend, kam Watty zu mir herübergestürzt und tobte wie wahnsinnig über seine schöne Pam. Er schien tatsächlich nicht recht bei Sinnen, und so ließ ich ihn mit einem Eisbeutel auf dem Kopf zu Bett bringen, wo er jetzt noch liegt.«
»So weißt du also noch gar nicht, daß seine schöne Pam sich entschieden weigert, ihn zu heiraten?«
Ein Ausruf des Erstaunens ertönte. »Das ist es also! Ich dachte mir gleich, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse.«
»Etwas Besonderes? Sage offen, Maxwell: sieht sie wie ein Mädchen aus, das einen Menschen wie Watty zum Manne nimmt?«
»Der Geschmack der Frauen ist unberechenbar,« erwiderte der andre kühl. »Und was veranlaßte das Mädchen dann zu der Reise?«
»Tante Gussie und seine bezaubernden Briefe ...«
Ein schallendes Gelächter brachte mich plötzlich zu mir selbst. Entsetzt sprang ich auf – so war es also kein Traum, sondern schreckliche Wirklichkeit! Eine wirkliche Unterhaltung hatte ich mit angehört, die nur wenige Meter von meiner offenen Tür entfernt geführt wurde! Hinter meinen Rollladen versteckt, konnte ich Tizzie, in einen bequemen Stuhl zurückgelehnt, und ihr gegenüber, ebenfalls behaglich auf einem Lehnstuhl sitzend, den vielgepriesenen Adonis sehen. Sein Lachen war es, das mich aufgeweckt hatte. Mein Herzschlag stockte, um dann mit um so heftigeren Schlägen wieder einzusetzen.
»Ist es denn möglich!« rief er endlich.
»Jawohl, die Briefe und eine Photographie; im Verein mit Jugenderinnerungen weckten sie schlummernde Gefühle. Erst bei ihrer Ankunft erfuhr sie, daß Watty sie mit den Briefen und der Photographie andrer Leute angelockt hatte.«
»Aha, und er glaubte wohl, daß sie, erst einmal hier angelangt, auf ihn angewiesen sein würde, und daß Armut und Angst vor Aufsehen sie an ihn binden würde?« rief Thorold entrüstet. »O der Schurke!«
»Ja, und wie schändlich, auch mich so zu hintergehen!« wimmerte Tizzie.
»Aber ich bitte dich, das ist gar nichts im Vergleich dazu, wie das arme Mädchen betrogen worden ist,« versetzte Thorold entschieden. »Was beabsichtigt sie nun zu tun?«
»Sie hat eine Freundin in den Zentralprovinzen und reist morgen ab.«
»Das ist klug und weise von ihr. Ich würde mich wahrhaftig schämen, Miß Ferrars nach der Behandlung, die ihr von einem Verwandten von mir widerfahren ist, noch einmal unter die Augen zu treten.«
»Und dabei ist Watty nahe daran, über seine Abweisung vollends den Verstand zu verlieren, weil sie so viel hübscher ist, als er erwartet hatte.«
»Und er so viel schlechter, als sie erwartete.«
Die ganze Zeit über stand ich regungslos in der Mitte des Zimmers. Ein Entrinnen war unmöglich, denn zwei Türen mündeten auf die Veranda, eine dritte in den Salon. Was hätte es auch genützt, wenn ich in meinem Morgenkleide und mit gelösten Haaren zwischen die beiden Sprechenden gestürzt wäre? Und doch machte ich mich durch mein Bleiben zur heimlichen Lauscherin. Die Glastüren standen weit offen, in der Wand waren Luftlöcher angebracht, und so drang jedes Wort so deutlich zu mir, als ob ich neben den Sprechenden säße. Diese Stimmen waren überdies die einzigen hörbaren Laute in diesem ganzen großen Bungalow mit seiner lautlos einherschreitenden Dienerschaft und den mattenbelegten Gängen. Als sei ich an den Boden festgewurzelt, die Hände vors glühende Gesicht gepreßt, stand ich da.
»Wie konnte ein Mädchen ihres Schlages überhaupt daran denken, seine Frau zu werden?«
»Nun, ich sagte dir ja schon, Tante Gussies Überredungskunst, eine traurige Heimat, die Aussicht auf Befreiung und eine einnehmende Photographie.«
»Ach richtig, du erzähltest mir ja noch gar nicht, wessen Gesicht der Magnet war, der das Mädchen den weiten Weg von England hergeführt hat ...«
Ob sie es ihm wohl sagte? Ob sie so grausam, so erbärmlich war? Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, wenn ich noch länger zugehört hätte. Wie ein vom Jäger gestelltes Wild sah ich mich nach Rettung um – es gab keine. Dann rannte ich in die entfernteste Ecke des Zimmers, bedeckte die Ohren mit den Händen und lehnte, nach Atem ringend, den Kopf an die Wand.
Das war der Höhepunkt meines Jammers, meiner Demütigung. Durfte ich auch nur ganz leise hoffen, daß Tizzie die Wahrheit ungesagt ließ? Während ich so mit zugehaltenen Ohren an der Wand lehnte, hörte ich keinen Ton. Mir schien, als habe ich das Bewußtsein meiner eigenen Persönlichkeit verloren, mein Verstand war wie gelähmt.
Wie lange ich in dieser Stellung verharrte, weiß ich nicht. Eine ziemlich unsanfte Berührung meines Armes weckte mich endlich aus meiner Erstarrung. Einen halbunterdrückten Schrei ausstoßend, wandte ich mich um und stand der Ajah gegenüber. Im ersten Augenblick mußte sie mich entschieden für verrückt gehalten haben, als ich jedoch die Hände vom Gesicht nahm, aufmerksam lauschte und nach der Veranda schaute, erfaßte sie die Sachlage mit der ihrer Rasse eigenen Schlauheit.
»Alles fort,« verkündete sie mir vertraulich. »Thorold Sahib sehr böse, furchtbar böse fortgegangen. Mem Sahib schickt Ihnen dies hier.«
Sie händigte mir ein Briefchen ein, an dessen Umschlag der Gummi noch nicht trocken geworden war. Es mußte also soeben erst abgeliefert worden sein. Hastig riß ich es auf und las:
»Liebe Miß Ferrars!
Da die plötzliche Änderung Ihrer Pläne Ihnen ohne Zweifel einige Ungelegenheiten verursacht hat und das Reisen in Indien teuer ist, erlaube ich mir, Ihnen zwei Hundertrupienscheine zu übersenden.
Ihre ergebene
E. Hassall.
P.S. Ihr Zug geht morgen früh Punkt sieben Uhr ab.«
Ich hatte die niederdrückende Überzeugung, daß die zwei Hundertrupienscheine nicht von Tizzie stammten, sondern mir von deren »freigebigem Vetter« übersandt worden waren. Welch ein Glück, daß ich seines Geschenkes nicht bedurfte! Denn klugerweise hatte ich mir von dem für meine Ausstattung bestimmten Gelde eine kleine Summe zum Ankauf eines Pianinos zurückgelegt, und nun bewahrten mich diese dreißig Pfund vor jener grausamen Demütigung und vor der äußersten Not. So traurig meine Lage auch war, so hätte sie noch schlimmer sein können: Geld wenigstens brauchte ich keines aus den Händen Maxwell Thorolds anzunehmen!
Nachdem ich den Inhalt dieses aufregenden Briefes ordentlich erfaßt hatte, setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, eine Antwort niederzuschreiben, obwohl meine Hand so sehr zitterte, daß ich nach jedem Wort aussetzen mußte. Endlich aber gelang es mir doch, folgende Zeilen zu stande zu bringen:
»Geehrte Mrs. Hassall!
Hiermit erlaube ich mir, die mir gütigst übersandten Rupienscheine zurückzuschicken, da ich reichliche Mittel zum Bestreiten meiner Reisekosten besitze. Zugleich danke ich Ihnen, daß Sie mich an die Abgangszeit meines Zuges erinnern, und versichere Sie meiner Pünktlichkeit.
Ihre ergebene
Pamela Ferrars.«