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(1855)
Es war ein duftiger Frühlingsabend in der grünen, buschigen Vendée; die Sonne tauchte hinter die Waldhügel, die, den Ausblick nach dem Kanal von England hemmend, die Loire begleiten, bis sie in den Ocean mündet. Der Clairon, ein silberhelles Flüßchen, durchschneidet hier das enge Thal, das von den Ausläufern des Küstengebirges umschlossen wird.
Der Tag war feucht, zum Teil regnicht gewesen und die erst im Erlöschen siegende Abendsonne weckte aus tausend Waldblumen jenen jungfräulichen süßen Duft, der nur der Maienabende flüchtige Gabe ist. –
Da stiegen von den südöstlichen Gebirgen auf den Pässen, die aus dem innern Frankreich führen, die Vortruppen des siegreichen republikanischen Heeres herab, das zwei Tage zuvor eine Abteilung der kühnen Chouans geschlagen und zerstreut hatte, die von George Cadoudal, dem begabtesten und mächtigsten Parteigänger des Königtums in dieser Landschaft, zum Schutz der Eingänge in die Vendée aufgestellt war. Es war ein wilder, unregelmäßiger Zug, einem einheitlichen, zuchtstrengen Heer ebenso unähnlich als die aus Edelleuten, Priestern, Bauern und Jägern gemischten Haufen der Chouans, die ihre waldgrüne Heimat und ihre altererbten Gesinnungen gegen die gleichmachenden Dekrete der Einen und unteilbaren Republik verteidigten.
Der Zug, etwa 400 Mann stark, wurde eröffnet durch eine aus Schützen bestehende Vorhut, die, der Hauptmacht vorausrückend, rechts und links die verwachsenen Waldhöhen rings um den schmalen Pfad beobachtete, jeden Hinterhalt der listigen Feinde zu erspähen, ehe die Hauptmacht, die sich auf dem engen Wegraum nicht ausbreiten konnte, in das Bereich der Gefahr geriete.
Ohne Widerstand erreichte die Schar den Gipfel der Hügel und stieg ohne Hindernis in das grüne Thal des Clairon hernieder, das im Abendlichte vor ihnen lag. Die Hauptmacht folgte; den Schluß bildete ein Haufe von Sansculotten und Marodeurs, deren kriegerische Haltung der Fahne der Republik wenig Ehre machte.
Drei Offiziere ritten langsam vor der Hauptmacht. Der älteste und höchste unter ihnen, ein Oberst, trug den damals gewöhnlichen schwarzen Civilanzug des mittleren Bürgerstandes und eine Jagdkappe von schwarzem Tuch. Nur der Degen an der breiten dreifarbigen Binde bezeichnete den Soldaten, den Offizier. Seine Züge, in denen mehr Betrachtung und Gedanke als Leidenschaft lag, stimmten zu dem Eindruck seiner Kleidung. Haar und Bart hatte er, nach Sitte der damaligen Freiheitsmänner, kurz geschoren, gleich den Republikanern Roms; aber sein blaues Auge ließ nicht auf romanische Abkunft schließen.
Der Offizier zu seiner Linken war ein Mann nur mittleren Wuchses, doch von nervigem, straffem Bau. Er trug eine verschossene blaue Soldatenjacke, lederne Hosen bis ans Knie, indes die Beine unbeschuht und unbestrumpft an den Weichen des Pferdes baumelten, dessen ganzes Reitzeug in einer über den Rücken geworfenen Wolldecke und einem Stricke statt des Zügels bestand. Über die Brust hatte er eine zerfetzte dreifarbige Schärpe geschlungen, die ihm ein langes Messer ohne Scheide trug. Den Kopf und einen Teil des Gesichts bedeckte eine rote Feldmütze, aber doch nicht tief genug, eine frischgeschlagene Schramme zu bergen, welche sich vom linken Auge über die Nase nach der rechten Wange zog. Es lag etwas Theatralisches in der absichtlichen Wüstheit, in der Vernachlässigung seines Anzugs und seines Gebahrens.
Der dritte Reiter stach bedeutend von seinen Kameraden ab. Er ritt einen edlen Araber mit jenen schlanken Fesseln und dem feingebogenen Hals, durch welche die Rasse als die Aristokratie unter den Pferden erscheint. Er trug die volle Uniform der Revolutionstruppen; doch hatte er an dem dreieckigen Hut die Federnverbrämung des ancien régime beibehalten und der feine Kavalierdegen mit dem goldenen Griff mochte sich wundern, daß die Farben einer seidenen Trikolore freundnachbarlich ihn berührten; mehr noch als diese äußeren Zeichen verrieten das vornehm geschnittene Profil und die weiße Hautfarbe die adelige Abkunft. Das Stutzbärtchen, das gewiß früher diese schmalen Lippen bedeckte, war als ein Opfer der Sitte der Republik gefallen, aber das schöne kurzlockige dunkelbraune Haar schmückte noch immer sein edel gebildetes Haupt.
Die Sauberkeit der ganzen Erscheinung mochte besonders der Sorgfalt des alten Dieners zu danken sein, der dicht hinter ihm schritt und dessen Auge oft wie mit väterlicher Liebe und mit einem gewissen Stolz auf der feinen, höfischen Gestalt ruhte. Jetzt, als der Weg beim Herabsteigen von den Höhen besonders steil und schwierig ward, trat er vor, schob das Pferd des Sansculotten ziemlich rücksichtslos auf die Seite, ergriff den Zaum des Arabers und leitete so seinen jungen Herrn auf die gangbarste Fährte des Reitpfades. »Laß, Bertrand; du weißt, Oriel geht sicher wie eine Gemse und du bist dem Bürger Froissard im Wege.« – »Ah, Monsieur le Vicomte – Monsieur Hektor, wollte ich sagen« – verbesserte der Diener rasch mit einem verlegenen Blick auf den Oberst. »Thu' dir keinen Zwang an, Bertrand,« lächelte dieser. »Du kannst es nicht über das Herz bringen, das ›Bürger Chatillon‹, also bring' es auch nicht über die Lippen.« – »Du mußt ihn entschuldigen, Gracchus, er ist zu alt geworden in der alten Form, um sich so leicht der neuen zu gewöhnen. Treue ist seine Haupteigenschaft: – Treue gegen die Menschen und gegen die Dinge.« »Ja, die Treue,« rief Froissard mit spöttischem Ton, »ist ein gut Ding, Bürger Papillon. Bewahrt sie nur der Republik fester als dem Königtum.« »Froissard!« fuhr Hektor auf. »Euresgleichen könnte mir diese Treue schwer machen, wenn Ihr etwas anderes in mir erwecken könntet als Verachtung.« »Hoho, junger Kavalier, das forderte Blut, wär' ich eine Adelspuppe wie Ihr. Aber wartet nur! Die Canaille hat auch ihre Waffen: wir sind Euch wie die Guillotine: Ihr verachtet uns, aber wir bringen Euch um.« »Friede, Kameraden!« sprach der Oberst. »Zwist unter den Offizieren wäre unser sicheres Verderben in diesem Lande, wo nur wachsames Ineinandergreifen uns schützen kann vor einem allgegenwärtigen Feinde. Ihr wißt, wie schwierig unsere Aufgabe. Nach unserem Sieg an der Charente hat sich der Rest der Chouans, etwa dreitausend Mann, unter Charette und andern bedeutenden Führern geflüchtet und zwar vermutlich in das Thal des Clairon, auf Schloß Sombreuil. Wir wissen noch nicht, ob sie sich von da ins Gebirge werfen und mit George Cadoudal vereinen oder ob sie nach der Küste sich wenden wollen, nach England zu fliehen. Beides muß verhindert werden. Denn nur durch ausnahmlose Zerstörung jedes kleinen Schößlings läßt sich der verderbliche Stamm brechen, der seine zähen Wurzeln nach allen Provinzen Frankreichs ausbreitet. General Hoche mit der Hauptmacht wird die Flüchtlinge von der Verbindung mit Cadoudal abdrängen und gegen das linke Ufer des Clairon, wo Schloß Sombreuil liegt, vorrücken, indes wir sie umgangen und das rechte Ufer gewonnen haben, ihnen den Weg nach der Küste zu verlegen. Wir müssen sie verhindern, auf das rechte Ufer des Flusses überzusetzen und sie auf dem linken so lange festhalten, bis General Hoche sie erreichen und vernichten kann.«
»Freilich schwer genug,« rief Froissard, »den Fuchs im eigenen Bau zu fangen. Sie kennen jeden Busch dieser Wälder, jeden Fels dieser Berge. Aber mich sollt' es freuen, den Grafen Alfons de Sombreuil auf den Zinnen seines eigenen Schlosses zu hängen.«
»Ihr könnt ihm die Schmarre von der Charente nicht verzeihen,« lachte der alte Bertrand. »Aber es geschah Euch recht. Ihr habt seinen schönen Rappen erstochen, das machte ihn wütend. Das edle Tier that mir leid.« »Weiß Gott – oder vielmehr wüßte Gott, wenn's einen gäbe – die Rosse dieser Aristokraten sind so stolz wie ihre Reiter. Es ist mir immer, als ob solche Bestie mich verachtet. Als ich den Rappen mit der hochmütigen Fußbewegung einhergaloppieren sah, hätte ich das Roß wie den Reiter zur Guillotine schicken mögen. Da sprang ich hin und stieß der Märe die Pike in den Bauch und der Schurke hieb mir den Degen übers Gesicht. – Aber wir sind am Ziel!«
Der Zug war im Flußthal angekommen; die sechs oder sieben Hütten, sonst von Bauern und Fischern bewohnt, waren verlassen. Jenseit des Flusses, eine viertel Stunde etwa entfernt, auf einem Hügel lag Schloß Sombreuil. Die Brücke war abgebrochen, die Kähne, die sonst den Übergang vermittelten, verschwunden und ebenso die Stangen, die dazu dienten, die Furten des kleinen, aber tiefen und reißenden Flusses zu bezeichnen. Die Mannschaft verteilte sich längs dem Ufer und in dem verlassenen Dörflein. Froissard traf die Wache; der Oberst und Hektor quartierten sich in dem wohnlichsten der Häuser ein, das von einem Blumengärtchen umgeben war und überall die Spuren eines fleißigen Wirts zeigte, ja die unverkennbaren Spuren einer Frauenhand trug.
Hektor überließ es der Sorge Bertrands, der überall im Hause umherwirtschaftete, Quartier zu machen, und legte sich, in seinen Mantel gewickelt, auf die schlichten Bretterstufen, die von dem Garten an die Hausthür emporführten und von wo er das kleine Thal überschauen konnte. Es war nun dunkel geworden: die ersten Sterne gingen auf: die Stimmen der Tiere in Baum und Wiese verstummten und über der Landschaft lag tiefe Stille, die nur selten von einem Ruf der Wachen am Fluß, von dem fernen Klirren einer Waffe unterbrochen wurde. Hektor versank in sinnende Betrachtung, die seinem Gesicht einen wehmütigen Ausdruck lieh. Eine Hand legte sich traulich auf seine Schulter. »Du träumst, Hektor,« sprach eine milde Stimme, »wovon träumst du?« Er sah auf; der Oberst stand bei ihm. »O Guillaume, wovon als von ihr!« – »Von der Freiheit?« – »Nein, von Hortense, der weißen Rose von Vaucluse. Du glaubst nicht, wie mächtig diese grünen Waldhügel, diese Thäler und Schluchten mich mahnen an die Auen meiner Jugend, wo das Schloß meiner Väter stand, in der blühenden Provence, und an sie, welche die Rose jenes Gartens, die Blüte meines Lebens war.« – »Das sind gefährliche Erinnerungen, Hektor. – Überhaupt ist dein Sinn nicht mehr derselbe, seit wir Paris verlassen und diese Vendée betreten haben. Ich fürchte, dein bewegliches Herz ist nicht tief genug vom Golde der Freiheit befrachtet: es treibt auf den Wellen neuer Eindrücke.«
»Neuer Eindrücke? nein, Guillaume. Die Empfindungen, welche diese Wälder in mir wecken, sind die ältesten meiner Seele. Wie jetzt dort das alte Schloß, so habe ich alle Abende meiner Knabenzeit das graue Chatillon im Sternenschimmer liegen sehen, wann ich heimkehrte von der Jagd, aus den Wein- und Olivenhügeln von Carcassonne. Dann ritt Bertrand neben mir und sang mir die alten Lieder der Provence und erzählte mir von meinen Ahnen, den ritterlichen Chatillons, die den weißen Falken im blauen Schild in den Schlachten der Capets schon und der Valois getragen. Diese schilfigen Ufer mahnen mich an die Niederungen der Durance, wo ich mit Hortense de Bellaflor den scheuen Reiher beizte. Wie zierlich trug sie den Sperber auf der kleinen Hand! – Es war ein Maiabend wie heute – sie war schöner und freundlicher als je – ich hatte ihr nie von Liebe gesprochen, ich scheute mich, – sie war ja ein Jahr älter als ich –; sie hatte eine spanische Romanze gesungen vom Cid Campeador – da fiel ich ihr zu Füßen und bat sie, mir eine Gefahr, eine Heldenthat für sie aufzugeben, ich könne nicht unverdient ihre Schönheit schauen, ihre süße Stimme hören. Da lächelte sie und löste mit spielender Hand eine weiße Schleife von meinem Mantel und sprach: ›Wohlan, ich nehme Ihren Ritterdienst an, Hektor! Von nun an vollbringt, was die Dame von der weißen Schleife von Euch begehrt.‹«
»Schwärmende Kinder!« lächelte der Oberst.
»Das sind nun fünf Jahre. Mein Vater schickte mich in die Pagerie nach Paris. Da lernte ich dich kennen, du lehrtest Philosophie und Geschichte: mein Lehrer ward bald mein Freund. Du legtest den Schatz deiner großen Gedanken, deiner Freiheitsbegeisterung in meine Brust und erwecktest mir eine neue Welt in Rousseau, in den großen Philosophen. Du wecktest in mir die Liebe zur Menschheit, den Drang, Glück und Freiheit von Frankreich aus über alle Länder zu verbreiten, das natürliche Recht der Gleichheit allen Menschen wiederzugeben. In dem Weltmeere dieser Ideen versank alles, was mir früher teuer gewesen, mein Stand, das Schloß meiner Väter, selbst meine Liebe. Als ich aus der Pagerie trat, war der Kampf mit der Tyrannei begonnen; mein Vater war tot. Ich sah die Genossen in Scharen dem wankenden Thron zu Hilfe eilen: aber ich war dein Schüler geworden und das Schwert von Chatillon ward gegen die Bourbons gezückt. Man zerbrach mir mein altes Wappen, man nahm mir alles, bis auf dies Schwert: – aber ich wankte nicht, ich folgte dir und der Freiheit blind durch alle Gefahren, ja durch Ströme von Blut. Deine starke Logik baute mir Brücken über alle Abgründe; ich begriff, daß nur das Blut der Tyrannen die Schuld der Tyrannei sühnen, die Wurzeln der Freiheit tränken könne. Und in Paris, wo jeder Tag neue Gefahr, neue Aufregung brachte, wo die Republik stündlich ihr junges Leben gegen Gewalt und Verrat schützen mußte, – da ertrug ich alles, selbst die Roheit unserer eigenen Partei, selbst die dumpfe Bestialität eines Froissard. Aber hier in diesen Wäldern ist alles anders. Hier ruht der langgequälte Verstand, die Seele tritt wieder in ihre Rechte, das Gemüt wird beredt; die Vergangenheit, meine Vergangenheit redet zu mir aus diesen grünen Bergen. Die Begeisterung dieser Jäger und Fischer für ihr Recht macht mich irre an unserm Recht und ich muß oft denken: die Chouans sind Helden und wir sind Henker.«
Der Oberst faßte bewegt die Hand des jungen Mannes, »Nein, Hektor, werde nicht irre, wanke nicht! Es wäre mein Unglück, es wäre mehr: es wäre der Sturz meiner Idee. Du weißt nicht, was du mir bist; dein Haupt trägt mir die Weihe des Symbols. Ja, denn ich ringe um deine Seele mit dem Geist der Vergangenheit und der Ausgang des Kampfes ist mir ein Gottesurteil. Du weißt, wie ich geworden, was ich bin. Mein Vater war Kaufmann in Straßburg, ich sollte die Firma fortführen: – ich fügte mich. Des Tages habe ich Conti gezogen und in den Büchern gerechnet, aber nachts habe ich studiert. Und als mein Vater Bankerott machte und sich erschoß, habe ich mit vierundzwanzig Jahren die Mutter, die Schwester erhalten als Professor an der Pagerie. Ich habe nie eine Jugend gehabt, nie eine Liebe: die Logik Rousseaus war mein Genuß, die Freiheit meine Verlobte; ich hatte entdeckt, daß die Menschheit geirrt hatte, daß sie alle Wurzeln des Geschichtlichen ausrotten, daß sie neu beginnen muß, soll sie nicht verfaulen in Laster und Tyrannei. Ich habe an mir erfahren, was der Wille kann: er muß es in allen können. Mit Grundsätzen kann man eine Welt in Gedanken, warum nicht auch eine Welt in Wirklichkeit bauen? Die Vergangenheit oder der Wahn, die Heilighaltung der Vergangenheit ist ein gefährlicherer Feind unserer Republik als der feindliche Bund aller Könige Europas. Aber jeder Mensch kann seine Vergangenheit Lügen strafen, wenn er nur will. Meine Gegner in Philosophie und Geschichte, die Engländer, die Deutschen bestreiten dies: – aber es ist die Frage nicht meines Lebens nur, es ist die Lebensfrage Frankreichs. Da fand ich dich: dein aufopfernder edler Geist, dein freier Sinn hat mich entzückt; in dir will ich den Verehrern der toten Vergangenheit einen lebendigen Gegenbeweis aufstellen; du, der geborene Edelmann, sollst durch die verwandelnde Kraft deines bloßen Willens, deines kühlen Verstandes der glühendste Republikaner werden. Ich selbst habe ein kleineres Beispiel davon geliefert, meine Natur neigt zu theoretischer Arbeit, zur Wissenschaft: – aber ich sah, das Vaterland hat Überfluß an Philosophen und Mangel an Soldaten: wohlan, ich bezwang die Natur und ward, meiner Vergangenheit zum Trotz, Soldat, Offizier.«
»Und ein tüchtiger Offizier.«
»Den größern, glänzenderen Beweis sollst du liefern, Hektor; laß mich nicht zu Schanden werden.«
»Nein, Guillaume, gewiß nicht. Führe mich gegen meine ausgewanderten Genossen, die Vaterlandsverräter, die sich von preußischen Bajonetten wollen zurückführen lassen: – meines Vetters, meines Bruders Blut will ich vergießen in solchem Krieg. Aber es geht mir gegen das Herz, diese Bauern und Jäger hier mit überlegener Macht zu fangen und zu erschießen, die in ihren Bergen und Wäldern für ihren alten Gott, für ihren König und ihre Grundherren mit rührender Treue kämpfen und sterben.«
»Glaubst du, Hektor, mir wird es leicht? Ich bin kein Froissard! Aber dem Heil der Menschheit muß auch dies Opfer fallen. Diese Thäler haben jahrhundertelang das Glück gehabt, unter einer milden und tüchtigen Adelsherrschaft zu stehen: kein Steuerpächter hat sie ausgesaugt, kein verdorbener Hof vergiftet. Sie haben den Fluch der Tyrannei nicht hassen gelernt, wie sollten sie die Freiheit lieben? Sie kämpfen für ein patriarchalisches Glück, das einzige, das sie kennen. Wir aber bringen ihnen ein höheres, ein politisches Glück: Geist, Bildung, Freiheit und zwar, wenn es sein muß, mit Gewalt. Denn wie wir alle Menschen sind, Ein Begriff, so soll auch die ganze Menschheit nur Ein Glück haben: die Freiheit!«
»Brav, Oberst!« schrie Froissard, der unbemerkt herangetreten war. »Ja, wir bringen die Freiheit! Wir wollen es ihnen austreiben, Unterschiede zu machen, die die Natur nicht kennt. Wird der eine als Bauer geboren aus seiner Mutter Leib, der andere als Edelmann, der reich, jener arm? Nein, beim Teufel, als Mensch wird jeder geboren, und Menschen sollen wir alle sein, nichts weiter. Die Natur hat Eine gerade Linie gezogen, gleich für alle: was um einen Kopf darüber hinausragen will, muß um eben diesen Kopf kürzer gemacht werden. Übrigens ist meine Nachtzeit um, an Euch ist die Reihe, Bürger Chatillon. Denn Bürger Gracchus ist Oberst und hält nicht mit im Dienste, dieser Unterschied muß sein. Merkt die Parole: France und fraternité.«
Hector stand schweigend auf und ging mit Bertrand auf seinen Posten an dem Ufer, wo die Wachtfeuer brannten.
Schloß Sombreuil lag einige hundert Schritte weit von dem linken Ufer des Clairon auf einem buschigen Hügel. Es war in der frühen Gotik des XII. Jahrhunderts gebaut mit der einfachen, wenig belebten Schönheit dieses Stiles; der Spitzbogen wiederholte sich an allen Fenstern und Thüren und zwar in der älteren, dem Romanischen noch näheren Form mit der mehr runden als keilförmigen Spitze: ebenso kehrte das Achteck wieder bei allen Türmen, Erkern und Zinnen. Nur die oberen Gemächer des östlichen Turmes waren, weil zum Wohnraum der Grafenfamilie bestimmt, in wohnlichem Stand erhalten und daher auch mit einzelnen Neuerungen versehen worden. Die unteren Geschosse aber, für das Gesinde und weiland für die reisige Besatzung bestimmt, mochten jahrhundertelang keine große Änderung erfahren haben.
In der weiten Halle des Erdgeschosses waren am Abend unserer Erzählung einige der flüchtigen Royalisten versammelt. Man brannte kein Licht, um nicht die Aufmerksamkeit der Feinde zu wecken. Auf einer Erhöhung im Hintergrunde der Halle – dem sogenannten »dais«, von welchem herab dereinst der Burgherr die Wahrzeichen der Lehen an seine Vasallen vergeben hatte – saß auf einem Armstuhle mit hohem, gotisch geschnitztem Rücken ein stattlicher Greis, dessen graue Locken bis auf die Schultern seines Wamses von veilchenfarbenem Sammet herunterflossen. Die Linke hing matt von der Seitenlehne des Stuhles, indes seine Rechte auf dem Haupt eines schönen, in Trauer gekleideten, jungen Weibes ruhte, das zu seinen Füßen kniete und mit unendlich wehevollem Ausdruck ihre großen dunklen Augen zu ihm aufschlug; zu seiner Rechten stand ein Mann, den Tonsur und Cingulum als katholischen Priester bezeichneten. Ein Mann von etwa dreißig Jahren in der Offiziersuniform der bourbonischen Edelgarde, der den linken Arm in der Binde trug, maß mit ungeduldigen Schritten den Saal. Auf dem Boden lagen Büchsen, Pistolen, Säbel, Pulverhörner und Waffen aller Art zerstreut. In der Nische des großen Bogenfensters standen mehrere Männer in der grünen Jägertracht der Chouans. Alle waren – leichter oder schwerer – verwundet und blickten schweigend nach dem fernen Ufer, wo die roten Wachtfeuer der Feinde glühten.
Der Greis unterbrach die Stille: »Was ist beschlossen?« fragte er den Offizier. »Sprich, Alfons; dieses Schweigen ist schrecklicher als das ausgesprochene Verderben.« – »Wir können nichts beschließen, Graf Bellaflor, bis Martinet zurück ist. Ist es General Hoche selbst, der dort am Flusse lagert, so müssen wir zu Cadoudal in die Sümpfe fliehen. Ist es nur ein zufälliger Streifzug, so müssen wir seine Entfernung abwarten und dann über den Fluß und nach England eilen.«
Er verschwieg die dritte gefährlichste Möglichkeit, die er besorgte, daß jener Streifzug kein zufälliger, sondern absichtlich ausgeschickt sei, um ihre Flucht nach England abzuschneiden, bis General Hoche sie auf dem linken Ufer des Clairon erreichen und vernichten würde. Nur eine Erwägung bewog ihn, dies Schlimmste noch nicht anzunehmen, nämlich die, daß ein absichtlich gegen sie gerichteter Streifzug doch wohl geradeswegs das Schloß überfallen haben würde. Er setzte seine unruhigen Gänge fort, bis rasche Schritte auf der Außenflur die Spannung aller erregten. Da eilte zur Saalthür herein, die gewichtigen Eichenflügel offen lassend, eine hübsche Bäuerin in der schmucken Tracht der Vendée. »O gnädige Herrschaft,« rief sie in lauter Freude, »er ist da! Er ist gesund wieder da, mein lieber kleiner Mann, mein Martinet.« Und ihr auf dem Fuße folgte der lang erwartete Späher, das Wasser aus seinen triefenden Kleidern schüttelnd. Es war eines jener köstlichen Bauerngesichter, die mit größter Treuherzigkeit einen Zug schalkhafter Schlauheit vereinen.
»Ah Monseigneur, ah Comtesse, ah meine kleine Frau! Das war der beste, aber der gefährlichste Spaß meines Lebens. Jeannetton, gieb mir einen Schluck Wein und eine trockene Jacke, – ich bin halbtot vor Kälte und Hunger, – wenn es die gnädige Herrschaft erlaubt. Wisset vor allem: es ist nicht General Hoche, sondern Oberst le Gray, den sie Gracchus nennen, Mit etwa vierhundert Mann.« »Also zu Cadoudal können wir nicht mehr!« riefen einige der Chouans. »Nein,« fuhr Martinet fort, »denn zwischen ihm und uns steht General Hoche und rückt in Eilmärschen gegen uns. Sie glauben nämlich, alles, was nach dem Tage an der Charente von uns übrig gewesen, habe sich hierher geworfen. Sie wissen nicht, daß sich, was noch rüstig war, unter Charette über die Berge zu Cadoudal gewendet hat. Das ist auch der Grund, weshalb sie nicht sofort das Schloß anzugreifen wagten.« »Und unsertwegen«, rief der Greis, »seid ihr mit uns ins Verderben gegangen, anstatt mit den anderen in Sicherheit.« – »Ah, Monseigneur, wir durften Euch doch nicht allein lassen mit der Comtesse und dem verwundeten Herrn. Aber mit dem Verderben hat's noch gute Wege. Wenn Charette zu Cadoudal entrinnt und ihn von unserer bösen Lage unterrichtet, so werden sie gewiß das Äußerste wagen, uns herauszuhauen.« »Unmöglich!« sagte der alte Graf. »Hoche ist ihnen dreifach überlegen.« »So müssen wir nach England!« rief der Kaplan. »Freilich, freilich,« meinte Martinet mit einem verlegenen Lächeln. »Hat Oberst Gray fest Quartier gemacht längs dem Fluß?« fragte Alfons rasch. »Ja, allerdings ziemlich fest!« erwiderte Martinet verhalten. – Alfons biß auf die Lippen; er sah geschehen, was er fürchtete: jener Streifzug galt ausdrücklich dem Schloß Sombreuil: – sie waren im Netz. Niemand bemerkte seine Miene als Martinet, der allein außer ihm die Situation ganz überschaute. »Doch deshalb,« rief er mit verstellter Munterkeit, »den Mut nicht verlieren! Ich habe einen köstlichen Plan, ich schaffe die gnädige Herrschaft doch noch über den Fluß und nach der Küste.« »Laß hören,« sagte Alfons hoffnungslos. »Nämlich so. Die Sansculotten glauben, wir sind ein Haufe von ein paar Hundert. Nun haben wir noch zwei alte Böller auf dem Schloß, die bei Todesfällen und anderen Freudenfesten losgebrannt werden. Diese schleppen wir Chouans an die untere Furt, unterhalb des Dorfes, und feuern sie gegen die dortigen Posten am Engpaß ab, als ob wir dort mit Macht und Kraft den Übergang erzwingen wollten; der ganze Streifzug wird sich auf diesen Punkt werfen und die Wachen vom oberen Teile des Flusses abziehen; aber oberhalb des Dorfes, am Brombeerhügel, ist die seichteste Furt, und indes wir unten am Engpaß die Feinde beschäftigen, watet die Herrschaft oben gemächlich über den Fluß und hat einen Vorsprung von ein paar Stunden gewonnen.« »Indes am Engpaß soviel treue Herzen für uns verbluten!« rief der alte Graf. »Pfui über uns, wenn wir das duldeten.« »Nun, was ist's denn weiter?« rief Martinet, fast ärgerlich, das Aufopfernde in seinem Plan entdeckt zu sehen. »Hat nicht die Herrschaft und die frühere Herrschaft von jeher für und mit uns gelebt, und sollen wir nicht einmal ein wenig sterben dürfen für die Herrschaft? Sie sind nicht nach Paris gezogen, Sie nicht und ihre Väter nicht, und haben nicht am Hof das Blutgeld unserer Grundzinse verbraust, wie Sie's wohl gekonnt hätten, gleich den anderen, sondern hier, im grünen Land, im alten Pays, sind Sie geblieben, haben sich mit uns gefreut über ein gutes Jahr und uns fortgeholfen über ein schlechtes: – wir gehören zusammen, die Herrschaft und wir, wenn's erlaubt ist, sozusagen, und darum . . . –«
»Darum gehören wir auch im Tode zusammen, treuer Martinet,« rief der alte Graf Bellaflor und erhob sich vom Stuhl. Hortense sah mit Bewunderung an ihrem greisen Vater empor: – sein langes weißes Haar wallte auf seine Schultern und sein sonst mildes Auge sprühte kriegerisches Feuer. Er trat vorwärts und ergriff ein zerfetztes Banner, das in einer Eisenröhre an dem Pfeiler steckte: »Ich sehe, Alfons, an deinem finstern Blicke, daß jenes Streifkorps unsertwegen gekommen ist. Wohlan, wir wollen sie erwarten. Noch einmal soll das Panier von Sombreuil im Kampfe wehen und der Heldengeist deines Gatten, Hortense, deines Bruders, Alfons, wird uns umrauschen. Wir wollen dieses Schloß verteidigen bis auf den letzten Herzschlag.« »Und die beiden Frauen?« mahnte der Kaplan. Da faßte Hortense, fortgerissen von der Begeisterung ihres Vaters, seine Hand. »Sorge nicht um uns, Vater: es liegt ein Centner Pulver im Keller.« »Heldenmütige Tochter!« rief der Greis. »Ja, ein Donnerschlag soll von Schloß Sombreuil her erdröhnen in allen Bergen der Vendée und Rache, Rache wird das Echo sein.« »Ich weihe eure Waffen mit dem Segen der Kirche,« sprach der Kaplan. »Seid ihr bereit, Freunde, mit uns zu sterben?« rief Alfons, indem er die Fahne aus der Hand des Greises nahm und entfaltete.
»Ja, wir wollen sterben mit Euch!« riefen die Chouans einstimmig.
Martinet aber brummte: »Ja! Meinetwegen! – Aber zuvor soll mir noch mancher der Vernunftanbeter von unserm Schloßberg herunterpurzeln. Zwar, zu halten ist es nicht lange, das gute alte Haus: denn die Eisenbeschläge des Burgthores habe ich für die Stallthüre verwenden müssen, im Schloßgraben stehen, statt des Wassers, die Nelkenbeete der Frau Comtesse und in den Ringmauern sind Löcher, daß Mond und Sonne durchscheinen und die Dorfkinder darin Verstecken spielen. Aber François und Collin und ich, wir haben noch selten gefehlt mit der Büchse: die ersten, die heraufkommen, sollen nicht wieder hinunter.«
Und er begann, die Gewehre zu laden, die auf dem Estrich lagen, indes die Chouans im Vordergrund und die Grafenfamilie auf der Erhöhung der Halle zu einem kurzen Mahle, dem letzten, das sie zu halten gedachten, sich niederließen und dann, nachdem sie Wachen ausgestellt, Schlaf zu gewinnen suchten.
Jeannetton brachte, nachdem sie die Herrschaft bedient, auch ihrem Manne zu essen: »Aber sage, Herzens-Martinet, wie hast du denn all die schönen Neuigkeiten erfahren, die du uns gebracht, und bist doch mit heiler Haut davongekommen?«
»Das will ich dir sagen, Schatz. Als wir neulich von der bösen Schlappe an der Charente zu Euch Frauen zurückgekommen waren, eilte ich gleich wieder in die Berge, um zu sehen, in welcher Richtung uns der Feind bedrohe. Bald bemerkte ich von weitem den Streifzug und erfuhr von den Nachzüglern, denen ich Tabak und Branntwein verkaufte, allerhand; unter andern: auch, daß sie das rechte Ufer des Clairon besetzen wollten. ›Da bekommen wir Gäste!‹ dachte ich, und als aufmerksamer Wirt eilte ich voraus in unser Dorf, in unser kleines Haus: – denn, dachte ich, Jeannetton ist eine gar saubere Hausfrau und gewiß gefällt es den Herren am besten bei uns. Ich versteckte mich also im Keller zwischen den Fensterbalken, weißt du, die unter der Hausthürtreppe münden. Richtig! Bald kam ein junger Offizier mit einem alten Diener – du, der rumorte weiter nicht im Hause umher! Er erwischte glücklich unser letztes Huhn und drehte ihm den Hals um – dann kam gar Oberst Oray selbst und sie redeten auf der Treppe eine Masse Zeug, was ich teils nicht verstand, teils aber gut brauchen konnte. Aber hör' –: Eins ist schnurrig – der junge Offizier kennt Madame la Comtesse und ist sterblich in sie verliebt.« »Was, der Sansculotte?« rief Jeanneton entrüstet. »Nein, beruhige dich, Schatz! Er hat Hosen an: und ganz feine; er ist so ein abtrünniger Graf: sie trauen ihm darum nicht recht drüben.« – »Ein Graf? Wie heißt er? Nannte er denn die Frau Gräfin beim Namen?« – »Ja freilich nannte er sie: aber nicht bei ihrem Witwennamen, sondern er nannte sie, wie sie als Fräulein hieß, in der Zeit, da du ihre Zofe warst in der Vaucluse: – er nannte sie Hortense, die weiße Rose von Bellaflor.« »Und er?« rief Jeannetton hastig, »hieß er nicht Hektor, Vicomte de Chatillon?« »Ja, Hektor heißt er: – aber sieh, kleine Frau, du kennst ihn ja auch, den schmucken Offizier? Muß ich auch noch die letzten sechs Stunden meines Lebens eifersüchtig sein?« »Ach, sei still, du dummer kleiner Mann, das muß die Comtesse wissen.« Und sie eilte zu Hortense, die an der Seite ihres Vaters ruhte. Sie schlief nicht und war im Augenblick bei Martinet, der ihr alles noch einmal ausführlich erzählen und beschreiben mußte.
»Es ist kein Zweifel,« rief sie zuletzt, und drückte die Hand aufs pochende Herz, »es ist Hektor! Was sagte er weiter? Sprich!« – »Weiter hörte ich nichts. Ein dritter Offizier kam dazu, da schwiegen sie. Aber es war sehr gut, daß der kam: sonst hätte ich aus meinem Versteck nicht herausgekonnt, wie die Maus nicht aus dem Loch, solang die Katze davorsitzt.« »Wieso?« fragte Jeanneton. »Ei nun, ich wußte das Losungswort nicht für die Nacht, ohne das sie niemand passieren lassen. Monsieur Froissard hatte die Güte, es mir, d. h. eigentlich dem Vicomte zu sagen. Da schlich ich zur Hinterthür aus unserm Haus und kam unangefochten an die Furt am Brombeerhügel oberhalb des Dorfes. Dort hatte der alte Bertrand Wache, weißt du, der Ceremonienmeister in unserm Hause; er ließ mich auf die Parole hin passieren und als er sich umwandte, tauchte ich ins Wasser, schwamm still wie eine Otter herüber et me voilà.« »Freunde,« flüsterte Hortense, von einem Gedanken ergriffen, der ihre bleichen Wangen erglühen machte, – »ich sehe eine Hoffnung, die uns alle retten kann. – Ihr müßt mir beistehen, aber schweigt vor meinem Vater, vor meinem Schwager, bis alles gelungen: sie würden nie einwilligen.«
»Auf uns könnt Ihr zählen,« antworteten beide.
Die Mitternacht fand Hektor nicht mehr auf dem rechten Ufer des Clairon, bei dem Lager der Republikaner, sondern auf dem linken. Oriel war an einen Baum des Brombeerhügels gebunden, Hektor ging in seinen Mantel gehüllt, den bloßen Degen in der Faust, vorsichtig spähend, um den buschigen Hügel; der Mond brach manchmal durch die ziehenden Wolken.
»Noch niemand da? War es ein Traum? Aber nein, ich wache: ich halte die weiße Schleife in der Hand, sie zerfließt nicht bei meinem Kuß! Hätte ich nur Bertrand hier, ihn noch einmal zu befragen. Wie war es doch? Er stand auf Posten, als plötzlich ein Bauer, aus dem Wasser auftauchend, auf ihn zuschritt; er wußte die Parole, winkte ihm zu schweigen und flüsterte: ›Sage deinem Herrn, dem Vicomte Hektor de Chatillon, die weiße Rose von Vaucluse erwarte ihn um Mitternacht jenseit des Flusses am Brombeerhügel, es gelte Tod und Leben‹; und er reichte ihm die weiße Schleife und war wieder im Wasser verschwunden. – Und Bertrand brachte mir Botschaft und Pfand: – ich kann nicht zweifeln, es ist Hortense, nur Hortense kann es sein! Aber wie käme sie hierher aus der fernen Provence? Ist es eine Falle der Chouans? Sie sollen ihren Mann finden. Aber Verrat und Hortense kommen nicht zusammen, wie die Hölle nicht zum Himmel. Doch horch, ein Geräusch! Wer da?«
Eine dunkle Gestalt tauchte aus dem Gebüsch am Wege: – es war eine Frau, ein schwarzer Seidenmantel mit Kapuze und Schleier bedeckte die Erscheinung: – sie schlug den Schleier auf und Hektor erkannte im bleichen Mondlicht Hortense.
»Hortense – Sie hier – welch ein Wiedersehen!« – »Ja, Vicomte, ein unselig Wiedersehen! Wir sind verwandelt, beide verwandelt seit den Tagen von Carcassonne!« – »Verwandelt? Sie vielleicht, Hortense: – nicht ich, mein Herz schlägt für Sie jetzt, wie damals, wie immer! Ich frage nicht, wie, warum Sie mir hier erscheinen: ich weiß, die Engel sind allgegenwärtig und ich liebe dich, Hortense, wie ich dich stets . . .« – »Schweigen Sie, Vicomte, ich darf diese Sprache von Ihnen nicht hören.« – »Nicht hören, weil Sie Gräfin geblieben und ich Offizier der Republik geworden? O, Hortense, Sie thun mir unrecht mit Ihrer Verachtung. Es war nicht Zwang, nicht Todesfurcht, was mich zu dieser Fahne führte: es war der freie Wille meiner Begeisterung; ich bin edler als da ich von Adel war, ich bin deiner würdiger als damals, Hortense. Ich beschwöre dich, höre mich an.« – »Ich darf nicht, Hektor, ich bin Gattin, ach nein, ich bin Witwe, und der Geist meines gemordeten Gemahls schwebt zürnend in dieser Stunde über unserm Haupte.« – »Vermählt? Verwitwet? Wie konnten Sie . . .? – – Doch ich habe kein Recht zu dieser Frage: – Sie haben mich nie geliebt! – Ich konnte Ihr Herz nicht verlieren, ich habe es nie besessen!« – »Halt ein, Hektor! Vermehren Sie nicht grausam die Qual dieser Stunde. Glauben Sie, Hortense hätte damals ohne Zürnen das Geständnis Ihrer Liebe angehört, wenn sie nicht leise sie erwidert? Sie hätte jetzt Zuflucht bei ihrem Feinde gesucht, wenn sie ihn nicht einst geliebt hätte?« – »Sie machen mich selig, Hortense, und elend in einem Augenblick! Sie liebten mich und Sie haben einem andern angehört und Sie sind meine Feindin?« – »Gott, die köstlichen Minuten verrinnen, an denen so viele Leben hangen! Hören Sie denn: ja, ich habe Sie geliebt in dem Thal unserer Jugend. – Sie gingen nach Paris – die Revolution brach los: wir hörten bald, daß Vicomte de Chatillon bei den Feinden des Thrones stand – oh, Hektor, wie konnten Sie so sich, und ach! wie konnten Sie meiner so ganz vergessen! Sie kennen die Grundsätze meines Vaters: – nie hätte er sein Kind dem Republikaner gegeben. Da kam der Graf Castor de Sombreuil aus der Vendée: – er war einer der ersten Helden des Königtums: – er warb um mich – er war zwanzig Jahre älter als ich, aber mein Vater wünschte die Verbindung – und Sie, Hektor, hatten mich vergessen, mich aufgegeben, – ich ward die Seine. – Im ersten Jahre unserer Ehe wurde er gefangen: die Guillotine war sein Los!« »Unselige!« rief Hektor. »Ich war ihm mit meinem Vater hierher gefolgt. – Mein Schwager führte den thränenvollen Krieg mutig fort: – da wurden sie kürzlich an der Charente geschlagen, wir sind umzingelt auf Schloß Sombreuil und uns alle erwartet der Tod. Da entdeckte ich Sie durch einen Zufall im feindlichen Lager: – und hier flehe ich Ihre Großmut an: – retten Sie mich.« – »Hortense, Geliebte! Du bist schon gerettet. Folge mir ins Lager und ich schütze meine Braut gegen die Welt.« – »Nicht so, Hektor! Nie kann ich die Ihre werden, nie mein Schicksal von meinem Vater trennen und den Meinen.« »So sprechen Sie!« rief er gereizt: »Was verlangt die Gesandtin der Chouans?« »Lassen Sie morgen Mitternacht den Posten an dieser Furt unbesetzt, lassen Sie uns den Fluß passieren und nach England fliehen!« – »Unmöglich! Hortense, was verlangen Sie von mir? Ich habe der Republik geschworen: soll ich ihr meinen Eid brechen, soll ich, als Offizier ausgeschickt gegen die Chouans, deren Flucht unterstützen?« – »O Männerherz, das sich rühmt, ein Weib zu lieben und aus gereizter Eifersucht dies Weib sterben, verzweifeln läßt! Hektor, geben Sie mir die Schleife zurück! Sie sind nicht der Ritter, dem sie gebührt; muß ich Sie mahnen an Ihr Versprechen, alles zu thun und zu opfern für Ihre Dame?« – »Alles thun, Hortense, außer: das Verbrechen, alles opfern, ausgenommen: die Ehre. Ich kann nicht das Heer der Feinde der Republik entrinnen lassen: ich kann nicht retten, was ich verderben soll.« – »Das Heer der Feinde der Republik! Schnöde Ausflucht Ihres Hasses! Sind Sie wirklich ausgesandt, zwei Frauen, einen Greis, einen Priester und ein paar zu Krüppeln geschossene Helden zu vernichten, so vollenden Sie Ihr Werk und halten Sie Ihren Schwur der Guillotine.« Sie wandte sich zum Gehen. »Bleiben Sie, Hortense, bleiben Sie! Es ist also nicht der Heerhaufe des Charette, der mit dreitausend Mann von der Charente entfloh, was dort in Schloß Sombreuil liegt und dessen Rettung Sie von mir verlangen?« – »Charette hat sich längst zu Cadoudal gewandt; wir sind vier wehrlose Menschen mit wenigen Dienern.« – »Und Sie wollen nicht die Meine werden, Hortense?« – »Niemals, Hektor! Ich kaufe mein Leben, selbst das meines Vaters nicht um eine Lüge. Die Witwe Castors, der auf der Guillotine fiel, wird nie das Weib eines Republikaners.« – »Ist das Ihr letztes Wort, Hortense?« – »Mein letztes.« – Hektor preßte beide Hände auf das Gesicht; seine Brust hob sich in gewaltigem Kampf. Endlich rief er: »Wohlan, Gräfin Sombreuil: wer morgen um Mitternacht die Furt passiert, findet keinen Posten, aber einen Beschützer.« »Dank, Hektor,« rief sie, »Dank und Segen.« Sie schieden ohne Abschied. Hektor stieg aufs Pferd und hatte bald das andere Ufer erreicht. Die Gräfin wandte sich, um nach dem Schloß zu eilen; da rief ihr aus dem Gebüsch eine Stimme zu: »Halt, Frau Gräfin, nicht so rasch! Nehmen Sie mich mit!« Erschrocken wandte sie sich um: doch es war Martinet mit seiner treuen Büchse. »Du hier, Martinet? Ich verbot dir, mir zu folgen.« – »Ja, Frau Gräfin, ich bin Ihnen auch eigentlich nicht gefolgt: – ich bin Ihnen vorausgeeilt und war vor Ihnen hier, um zu sehen, ob alles sauber sei. Verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich hätte Monsieur le Vicomte totgeschossen auf dem Fleck, wenn er nicht so galant gewesen wäre, schließlich nachzugeben.« Und er geleitete sie nach dem Schloß, das alte Liedchen summend:
»Vergeblich all das Droh'n und Müh'n,
Ihr zwingt und fangt uns nie:
Solang im Land ein Busch noch grün,
Lebt die Chouanerie.«
Am andern Morgen wurde von ausgeschickten Streifwachen dem Oberst Gracchus gemeldet, was wir schon wissen, daß nämlich Charette mit den Seinen die Aufstellung des General Hoche umgangen und sich zu Cadoudal gewandt habe und daß nur Frauen und wenige Verwundete, die den höchst gefährlichen und erschöpfenden Eilmarsch über die unwegsamen Bergspitzen nicht hätten mitmachen können, im Schloß Sombreuil verweilen könnten.
Sofort entspann sich unter den Offizieren lebhafter Streit, indem Froissard darauf drang, über den Fluß zu gehen und die Bewohner des Schlosses abzufangen, während Hektor dem Obersten vorstellte, wie ihre Aufgabe gewesen sei, das Entwischen eines großen Chouanhaufens zu verhindern, nicht ein paar Wehrlose zu verderben, und daß es daher jetzt viel wichtiger sei, Charette mit aller Macht zu verfolgen und vor seiner Vereinigung mit Cadoudal zu vernichten, als hier kostbare Zeit zu verlieren mit einer ruhm- und nutzlosen Unternehmung. Als sie allein waren, erinnerte er ihn auch, daß die Gefangenen unfehlbar der Guillotine verfallen seien und daß man nicht auch noch dies Blut unnötigerweise auf das junge Haupt der Republik laden dürfe, das genug zu tragen habe an den notwendigen Todesurteilen.
Guillaume schwankte. Aber einerseits der Eifer, die Scharen des Charette aufzureiben, und andererseits die Einsicht, daß er ohne Gegenbefehl die Stellung am Clairon nicht aufgeben dürfe, die er auf Weisung seines Feldherrn eingenommen, bestimmten ihn endlich, einen dritten Plan zu verfolgen, wodurch er beide Zwecke zu erreichen hoffte. Er selbst mit etwa dreihundert Mann brach auf, den flüchtigen Charette zu verfolgen, und ließ den Rest unter den beiden Kapitäns am Clairon zurück mit dem Auftrag, ruhig in der alten Stellung zu bleiben, bis er ihnen von General Hoche Ordre senden werde, Schloß Sombreuil liegen zu lassen oder zu nehmen. Beim Abschied bat sich Hektor den oberen Teil des Flusses als sein Wachgebiet aus, Froissard erhielt den unteren Teil nebst dem Dorfe. – Kaum aber war der Oberst abgezogen und Hektor auf sein Gebiet gegangen, wo er, die Soldaten nach seinem Plane verteilend, den Posten bei der Furt am Brombeerhügel an Bertrand übertrug, als Froissard sowohl seine eigenen Leute als, unter der Hand, die Abteilung Hektors für seine Absichten zu bearbeiten begann, was ihm um so leichter gelang, als der beste Kern der Truppen mit dem Oberst abgezogen, nur die sansculottische Hefe zurückgeblieben und Hektor viel zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt war, um auf die Katzenschritte Froissards zu achten. Dieser beschied alle Soldaten, die nicht auf Posten standen, auf den Abend zu sich in das Haus, das die Offiziere bewohnten, zu einem Gelage: – Hektor und Bertrand fehlten. Froissard, der sich ohnehin bei den Zurückgebliebenen großer Beliebtheit erfreute, weil er ihre Gesinnung teilte und ihre Sprache meisterlich zu reden verstand, bewirtete sie mit Branntwein bis tief in die Nacht, und als sie endlich alle und er selbst zur Hälfte berauscht waren, stellte er sich auf das leergetrunkene Faß und hob an: »Kameraden, ihr wißt, wie ich dazu gekommen, euer Offizier zu sein: – nicht, weil ich mehr wüßte und könnte als ihr, bewahre! – Sondern weil ich vor andern Gelegenheit gehabt, meine Liebe zur Republik zu bewähren. Ihr wißt, ich bin der Sohn von armen Handwerkern aus der Nähe von Marseille. – Eines Abends kam ich nach Hause von der Arbeit: da jammerte meine alte Mutter, meine Schwester Fleurette sei von dem Diener des Gerichtsherrn verhaftet worden, ohne Grund, ohne Angabe eines Grundes! Kameraden, ich hatte nicht viel gelernt: aber ich wußte, daß alle großen Herren Schurken sind – und meine Schwester war achtzehn Jahre und hübsch. Kameraden, ich lief auf das Schloß des Gerichtsherrn – ich fragte nach meiner Schwester – die Bedienten lachten und sagten, sie sei eine Diebin: – sie habe das Herz des Präfekten gestohlen. – Da rannte ich zum Oberpräfekten und verklagte den Präfekten: – aber der Oberpräfekt war der Onkel des Präfekten und der Oberpräfekt ließ mich einsperren – acht Monate lang! – Da, im Kerker, hab' ich die glühende Liebe zur Freiheit gelernt. – Plötzlich ging der Teufel los in Marseille: – das Volk erschoß die Großen, die Reichen, und half den Kleinen, den Armen. – Mein Kerker flog auf, ich wußte nicht wie: – Ich eilte heraus, durch die brennenden Straßen, einen Brand in der Linken, in der Rechten ein Messer, da: dies Messer, – es ist dasselbe – ich führte das Volk, weil ich den Präfekten am wütendsten haßte. – Kameraden, sein Schloß lag auf einem Hügel: wie dort Schloß Sombreuil– wir überfielen, wir erstürmten das Schloß – ich warf den Brand in die seidenen Vorhänge – meine Schwester fand ich nicht mehr, aber den Präfekten fand ich und schnitt ihm den Hals ab: – und wir fanden seine schönen Töchter und den süßen Wein von Burgund in seinem Keller und Gold und Schätze und Freude die Fülle – und das Volk von Marseille machte mich zum Offizier auf den rauchenden Trümmern des Schlosses.« »Vive Kapitän Froissard!« brüllten hundert Stimmen. – »So hätten wir's auch gemacht, wären wir dabei gewesen! – So ein Schloß möcht' ich auch verbrennen.« – »Nun seht, Kameraden, wie ich's gut meine mit euch: – heut früh im Kriegsrat hab' ich euch dasselbe Pläsir verschaffen wollen.« »Wie so, wie das?« schrieen die Trunkenen. – »Nun, das alte Grafenschloß da drüben, das reiche Sombreuil hätte ich euch gegönnt! – Der aristokratische Raub von Jahrhunderten ist darin aufgehäuft und Wein und Weiber von der Provence sind dort versteckt und diese elenden Chouans, die uns an der Charente entkommen sind. Ich riet dem Obersten, euch zum Plündern hinüberzuführen: – aber der verkappte Vicomte verhinderte es und nun will der Oberst erst noch einmal anfragen beim General, ob er auch thun dürfe, was ihm längst befohlen ist. Das verdankt ihr dem Herrn Vicomte!« »Nieder mit Chatillon, nieder mit dem Verräter!« rief der Haufe. – »Ich sehe alles, wie es kommen wird. Der General wird befehlen, die paar Flüchtlinge laufen zu lassen und dem Cadoudal, diesem Teufel, wieder nachzusetzen durch alle seine Berge und Sümpfe und die tapfere Armee hat nicht einmal eine kleine Erholung. Schloß Sombreuil mit seinen Schätzen wird im Namen der Republik von den Financeschreibern versiegelt und ihr geht leer aus.« – »Nein! – Das wollen wir nicht! – Wir warten die Rückkunft des Obersten nicht ab! – Führe du uns, Froissard! – Führe uns gleich gegen das Schloß! – Wir wollen's plündern: – vive Froissard!« – »Nun, ihr zwingt mich, Kameraden? Drauf denn in Teufels Namen!«
Und der wilde Schwarm stürzte wütend gegen den Fluß unterhalb des Dorfes; Froissards Pferd entdeckte die Furt, bald stürmten sie eilig, aber in aller Stille, um ihre Opfer nicht zu warnen und zu verscheuchen, auf dem untern Wege nach dem alten Schloß. –
Hektor aber hatte einen schweren Tag verbracht. Er führte einen harten Kampf in sich; das Angeborene und das Angenommene befehdeten sich auf Tod und Leben in seinem Herzen. Und er sah wie die Republik und Guillaume Schritt für Schritt den Boden verloren, wie die Vergangenheit und Hortense immer siegreicher in den Vordergrund drängten. Was war die kalte Logik Guillaumes gegenüber der süßen Sprache der Geliebten, was der Enthusiasmus für die Menschheit, zu dem ihn des Freundes überlegener Geist fortgerissen, gegenüber den wiedererwachten Erinnerungen seiner Jugend! Und doch wollte er sich durch süße Selbstsucht nicht einen Augenblick von seiner herben Pflicht abbringen lassen. »Ich will nicht der Fahne meiner Wahl treulos werden, wie der Fahne meiner Geburt: ich falle, wo ich stehe.« – Nach diesem Sieg über sich selbst konnte er um so leichter die Rettung der Geliebten und ihrer Freunde vor seinem Gewissen entschuldigen: er erwartete nun die Stunde der Gefahr mit jenem begeisterten Mut, den aufopfernde Selbstüberwindung gewährt.
Bertrand, von allem unterrichtet, zeigte den höchsten Eifer, das schöne Fräulein von Vaucluse, wie er sie noch immer nannte, zu retten. Er machte seinen Herrn auf die Umtriebe Froissards und die böse Stimmung der Soldaten merksam, aber der Aristokrat verachtete den dumpfen Gegner viel zu sehr, um ihn zu fürchten. Es war ihm sogar lieb, daß jene Einladung die Soldaten nach dem Dorfe gelockt und von der obern Furt entfernt hatte. Es fiel ihm nicht ein, daß Froissard im Sinne des Hasses die Grenze des Gehorsams ebensowohl überschreiten könne, wie er selbst das im Sinne der Liebe thun wollte.
Endlich kam die ersehnte Stunde heran; die Nacht war dunkel, aber heiter und windstill: das Schilf am Ufer stand regungslos, wie in banger Erwartung. Gegen Mitternacht setzte Hektor zu Pferd durch die Furt, um die Flüchtigen am jenseitigen Ufer zu empfangen; Bertrand sollte das rechte Ufer beobachten. Hektors Herz schlug hoch in Schmerz und Spannung. Endlich entdeckte er einen Zug von schwarzen Gestalten, die sich leise auf dem buschigen Wege dem Brombeerhügel näherten. »Eure Losung?« fragte er leise, »Hortense und Hektor«, erwiderte Martinet, der den Zug führte. Ihm folgten Alfons und ein Chouan: der alte Graf, die beiden Frauen und der Kaplan bildeten die Mitte: drei Chouans schlossen den Zug; alle Männer waren wohl bewaffnet.
»Monsieur Hektor,« flüsterte Alfons, »wir danken Ihnen das Leben: aber ich wüßte keinen Menschen, dem ich es weniger gern dankte.« Hektor fuhr auf, die Faust am Degen. – Da fühlte er den Druck einer weichen Hand auf der seinen: – »Hektor, – bezwingen Sie sich – Ruhe! – Ich fordere auch das noch! – Sie aber, mein Schwager, – halten Sie ein: – Sie wissen nicht, wie hohen Edelsinn Sie beleidigen.« Alfons schwieg, Hektor neigte sich und küßte ihre Hand. »Hektor,« sprach der Greis, »Ihr Wappen hat man zerbrochen, aber Ihr Herz blieb unversehrt. Sie sühnen Ihre Schuld am Adel Frankreichs, indem Sie seine Perle retten: – meine Tochter.« »Eilen wir!« unterbrach Martinet. »Zeit verloren – Leben verloren!« »In Gottes Namen denn!« mahnte der Kaplan. Hektor hob die Gräfin auf den Rücken des treuen Oriel und führte diesen am Zügel sicher durch die Furt: – die anderen folgten schweigend; – kaum aber hatten sie, von Bertrand empfangen, das Ufer betreten, als Alfons, rückwärts zeigend, rief: »Ha, was ist das?« Eine rote Feuersäule stieg glühend in den nächtigen Himmel. »Das ist Schloß Sombreuil!« rief Martinet, »es steht in hellen Flammen.« »Unvorsichtige,« fragte Hektor, »habt ihr es angezündet, ehe ihr es verlassen? Das weckt die Aufmerksamkeit.« »Nein, wir nicht!« antworteten die Flüchtlinge einstimmig. »Dann ist es Froissard mit den Sansculotten!« rief Bertrand. »O, Monseigneur, ich habe Sie gewarnt!«
»Still!« rief Martinet und warf sich lauschend mit dem Ohr auf die Erde. – »Sie eilen vom Schlosse hierher: – es sind wohl hundert: – ein Pferd galoppiert voran.« »Flieht,« rief Hektor, »ehe es zu spät ist. Wir decken euch den Rücken.« »Weh dir, Frankreich,« rief Alfons grimmig, den wunden Arm erhebend, »wenn wir wieder kommen!« »Leb wohl, Vendée, wir kehren wieder,« rief Martinet. »Dank, Hektor!« rief Hortense, die auf Oriels Rücken davonsprengte. »Leb' wohl, Hortense, auf Nimmerwiedersehen!« rief Hektor; und die Chouans waren verschwunden.
Hektor und Bertrand stellten sich nebeneinander, so daß sie den ganzen Raum des schmalen Weges ausfüllten. »Bertrand – jetzt gilt's!« rief Hektor und drückte die Hand aufs Herz: auf dem Herzen aber trug er die weiße Schleife. »Soll gelten, junger Herr!« antwortete Bertrand, »hoch der weiße Falke von Chatillon!« Da bogen Fackeln um den Brombeerhügel: – Froissard, zu Pferd, voraus, die Sansculotten hinter ihm setzten durch den Fluß und eilten gegen die Straße. »Halt!« – rief ihnen Hektor entgegen: – »das ist mein Posten: – was wollt ihr?« »Hier sind sie, die Verräter!« brüllte die Schar und es fielen gegen die beiden einige schlecht gezielte Schüsse, die nicht trafen. Da ritt Froissard dicht heran, die Pistole in der Hand. »Zurück! – Was sucht Ihr?« fragte Hektor. »Die Chouans suchen wir, Monsieur le Vicomte!« schrie Froissard. – »Das Nest haben wir verbrannt, die Vögel waren zwar ausgeflogen, doch die frische Spur im feuchten Grase führt deutlich bis hierher: – wißt Ihr, wo sie sind?« – »Hoffentlich in Sicherheit!« »Gebt sie heraus! Laßt uns durch! Ihr habt keine Ordre, sie zu schützen.« »Und Ihr keine, sie zu morden.« »Verdammter Aristokrat!« schrie Froissard und schoß: – Hektor wankte und fiel. Aber auch Bertrands Büchse blitzte und Froissard stürzte tot vom Pferde: – im nächsten Augenblick fielen zehn Schüsse zugleich und Bertrand sank sterbend über seinen Herrn.
Mit gellendem Geschrei stürmten die Sansculotten vorwärts, die Flüchtigen zu verfolgen: – da plötzlich hörten sie von der rechten Flanke her Trommeln und Hornsignale: – Fackeln zeigten sich auf den Hügeln und gleich darauf sprengte Oberst Gracchus unter sie: »Halt,« rief er, »halt ein! Die Chouans von Sombreuil sind frei: – General Hoche giebt sie frei. – Doch was seh' ich – Froissard? Und du Hektor, du stirbst!« Hektor richtete sich auf den linken Arm: »Sie sind frei, sagst du, frei?« »Ja! General Hoche ward am Tag, ehe ich bei seinem Heer eintraf, von Cadoudal und Charette, die sich vereinigt hatten, überfallen und geschlagen: – er selbst ist gefangen: – Cadoudal giebt ihn nur frei, wenn die Chouans von Sombreuil sicher den Boden von England erreicht haben: – niemand wage, sie zu verfolgen! Aber du, Hektor, du stirbst, – und stirbst für das Königtum!« »Still,« – rief Hektor – »still – siehst du nicht, wie meine Seele gen Himmel fliegt? Der weiße Falke im blauen Feld! Hortense!« Und er war tot und Oberst Gracchus weinte über seiner Leiche.