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Auf nach Tarascon! – Der Genfer See. – Tartarin schlägt eine Fahrt nach dem Kerker Bonnivard's vor. – Kurzer Dialog unter den Rosen. – Die ganze Bande hinter Schloss und Riegel. – Der unglückliche Bonnivard. – Wo ein gewisses, in Avignon fabrizirtes Seil sich wiederfindet.
Infolge der Besteigung der Jungfrau schälte sich Tartarin's Nase, sie blühte und seine Wangen wurden rissig. Er blieb im Hotel Bellevue fünf Tage an's Zimmer gebannt. Fünf Tage lang kalte Umschläge, fade, klebrige Salben. Ueber den widerlichen Geruch derselben und die Langeweile suchte er sich durch eifriges Kartenspiel mit den Delegirten hinwegzuhelfen oder auch, indem er ihnen einen langen, eingehenden Bericht über seine Bergfahrt zum Vorlesen im Klub und zum Abdruck im «Forum» diktirte. Dann, als die Steifheit seiner Glieder gewichen war und auf dem edlen Antlitz des P. C. A. nur noch einige Bläschen, Ritzen und etwas Schorf mit dem schönen Farbenhauch etruskischen Geschirrs übriggeblieben war. begab sich die Delegation mit ihrem Präsidenten auf die Reise nach Tarascon via Genf.
Uebergehen wir die Episoden der Reise, die Verwunderung, welche die südfranzösische Gesellschaft in den engen Waggons, auf den Dampfbooten, an den Wirthstischen durch ihr Singen und Schreien, ihre überschäumende Herzlichkeit, durch das Banner und die Alpenstöcke hervorrief; denn seit der Bergfahrt ihres Freundes hatten sie sich alle mit diesen Stöcken bewaffnet, auf welche die Namen der berühmtesten Höhenpunkte der Schweiz in einer Spirallinie eingebrannt waren.
Montreux!
Hier entschlossen sich die Delegirten, auf den Vorschlag ihres Präsidenten, ein oder zwei Tage Halt zu machen, um die berühmten Ufer des Leman zu besuchen, Chillon besonders und darin den sagenhaften Kerker, in welchem der grosse, durch Byron und Delacroix zur Berühmtheit gelangte Patriot Bonnivard geschmachtet hatte. Im Grunde fühlte Tartarin kein grosses Interesse für die Geschichte Bonnivard's, er warf sie in dieselbe Kategorie wie die Tellsage; doch in Interlaken hatte er erfahren, dass Sonia mit ihrem Bruder, dessen Zustand sich verschlimmerte, nach Montreux gereist sei, und die Erfindung einer historischen Pilgerfahrt diente ihm als Vorwand, das junge Mädchen noch einmal zu sehen, sich ihr im vollen Glanz seines Ruhmes zu zeigen und, wer weiss, vielleicht sie zu bestimmen, ihm... nach Tarascon zu folgen.
Seine Gefährten waren selbstverständlich fest überzeugt, dass sie nur hierherkamen, um dem Andenken des grossen Genfer Bürgers, dessen Geschichte der P. C. A. ihnen erzählt hatte, ihre Huldigung darzubringen, ja, bei ihrer Vorliebe für theatralische Schaustellungen hätten sie sogar nichts lieber gethan, als gleich nach ihrer Ankunft in Montreux in Reih und Glied mit entfaltetem Banner und dem tausendfach wiederholten Ruf: «Es lebe Bonnivard!» nach Chillon zu marschiren. Der Präsident musste sie beruhigen: «Zuerst wollen wir frühstücken und nachher sehen...» worauf sie von dem mit vielen anderen an der Landungsbrücke wartenden Omnibus irgend einer Pension Müller Besitz nahmen.
«Vé, der Gendarm, wie er uns anstarrt!» sagte Pascalon, der mit seiner, stets nur schwer unterzubringenden Fahne zuletzt einstieg. Und Bravida fügte unruhig hinzu: «Das ist wahr.... Was will er nur von uns, der Gendarm, dass er uns so mustert?...
– Er hat mich erkannt, wahrhaftig!» sagte der gute Tartarin bescheiden; und er lächelte von Weitem dem Waadtländer Polizisten zu, der in seinem langen blauen Soldatenmantel beharrlich den sich zwischen den Pappeln entfernenden Omnibus im Auge behielt.
Es war an jenem Morgen Markt in Montreux. Lange Reihen kleiner Buden, längs des Sees dem vollen Wind ausgesetzt, Verkaufsstände mit Früchten, Gemüsen, billigen Spitzen und mit jenen durchsichtigen Schmucksachen, Ketten, Nadeln, Spangen, die wie verarbeiteter Schnee oder zu Perlen gedrehtes Eis das Nationalkostüm der Schweizerinnen zieren. Dazu kam das lebendige Treiben in dem kleinen Hafen, eine ganze Flotte sich kreuzender, buntbemalter Boote, das Abladen der Säcke und Tonnen von den grossen Lastkähnen mit ihren wie Fühlhörner sich ausstreckenden Segelstangen, das schrille Pfeifen, das Läuten auf den Dampfern, das rege Leben in den am Quai liegenden Kaffees, den Brauereien, Blumen- und Antiquitäten-Läden. Ueber diesem bewegten Bild die helle Sonne, und man hätte sich in einen Seehafen versezt glauben können, an irgend einen mittelländischen Hafenplatz zwischen Mentone und Bordigliera. Doch die Sonne fehlte, und die Tarasconnesen sahen die reizende Gegend nur durch einen Wasserdunst, der von dem blauen See aufstieg, die Abhänge und die engen gepflasterten Strassen hinankletterte, über den Häusern und höher gelegenen Villen hinweg bis in die schwarzen Wolken hineinreichte, die, voll unerschöpflichen Regens, sich zwischen dem dunklen Gebüsch der Berge zusammenballten.
«Vermaledeites Loos! Ich bin kein Freund der Seen, sagte Spiridion Excourbaniès, die Scheibe abtrocknend, um die Umrisse von Gletschern, von weissen Nebelbildern zu erspähen, welche den Horizont begrenzten....
– Ich auch nicht, seufzte Pascalon... der ewige Nebel... das stehende Wasser... ich möchte am liebsten weinen.»
Bravida auch beklagte sich und fürchtete für seinen Rheumatismus.
Tartarin machte ihnen ernstliche Vorwürfe. Galt es ihnen denn gar nichts, bei ihrer Rückkehr erzählen zu können, sie hätten den Kerker Bonnivard's gesehen, ihren Namen auf die denkwürdigen Mauern neben die Unterschriften von Rousseau, Byron, Victor Hugo, George Sand, Eugène Sue eingegraben! Auf einmal hielt der wackre Präsident mitten in seiner Rede inne und wechselte die Farbe.... Er hatte ein kleines Barett über blonden, in die Höhe gewundenen Haaren vorüber gehen sehen.... Ohne nur den auf der ansteigenden Strasse langsamer fahrenden Omnibus anzuhalten, sprang er hinaus, den verdutzten Alpenklubisten ein hastiges «Fahrt in's Hotel» zurufend.
Er fürchtete, sie nicht einholen zu können, so eilig schritt sie dahin.
Sie wandte sich um und wartete auf ihn: «Ach, Sie sind es....» Und sobald sie ihm die Hand gedrückt hatte, schritt sie weiter. Er blieb ihr zur Seite, ausser Athem, sich bei ihr entschuldigend, sie so plötzlich verlassen zu haben.... Die Ankunft seiner Freunde.... Die unaufschiebbare Bergfahrt, deren Spuren noch auf seinem Gesicht zu sehen waren.... Sie hörte ihm zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne ihn anzublicken, mit starrem Auge und den Schritt beschleunigend. Von der Seite gesehen, erschien sie ihm blässer, die Züge hatten die weiche kindliche Offenheit verloren und jetzt etwas Hartes, Entschlossenes angenommen, das sich bisher nur in ihrer Stimme, ihrem unbeugsamen Willen bemerkbar gemacht; doch dabei noch immer der jugendliche Liebreiz, das goldblonde Kraushaar.
«Und Boris, wie geht es ihm? fragte Tartarin, etwas bedrückt durch ihr Schweigen und ihre Kälte, die sich ihm mittheilte.
– Boris?...» Sie erbebte: «Ach! ja, es ist wahr, Sie wissen es nicht.... Kommen Sie nur, kommen Sie....»
Sie schritten einen Feldweg entlang, zwischen Weinbergen, die sich bis zum See abstuften, zwischen Villen, eleganten, von Kieswegen durchzogenen Gärten mit Terrassen voll wilden Weinlaubes, Blumen, Rosen und in Kübeln gepflanzten Betunia- und Myrthenstöcken. Von Zeit zu Zeit begegnete ihnen ein fremdländisches Gesicht mit hohlen Wangen, erloschenem Blick, schleichendem, krankhaftem Gang, wie man sie in Mentone oder Monaco sieht; dort unten nur ergiesst sich über Alles, überfluthet Alles das helle Sonnenlicht, während hier unter dem bewölkten, niederen Himmel das Leiden deutlicher hervortritt, die Blumen aber frischer blühen.
«Treten Sie ein...» sagte Sonia, das Gitter unter dem weissen Giebeldach aufstossend, das eine russische Inschrift in goldenen Lettern trug.
Tartarin begriff nicht, wo er sich befand. Ein kleiner Garten mit gepflegten Kieswegen, Kletterrosen zwischen grünen Bäumen, grosse Bosquets weisser und gelber Rosen, welche den engen Raum mit ihrem Duft und ihrer Pracht erfüllten. Unter den Rosenguirlanden, in der wundervollsten Blüthenfülle einige Leichensteine, flach liegend oder aufrecht stehend, mit Daten und Namen. Auf einem der kürzlich erst gesetzten Steine die Inschrift:
BORIS WASSILIEW,
22 JAHRE ALT.
Er lag dort seit einigen Tagen; fast unmittelbar nach ihrer Ankunft in Montreux war er gestorben; und hier auf dem Kirchhof fand er gewissermassen die Heimath wieder zwischen den unter Blumen ruhenden Russen, Polen, Schweden, den Brustleidenden jener kalten Länder, die man in dieses Nizza des Nordens schickt, weil die südliche Sonne zu glühend und der Uebergang zu plötzlich für sie wäre.
Sie standen einen Augenblick regungslos, stumm vor dem Leichenstein, dessen makelloses Weiss sich abhob von der schwarzen, frisch aufgeworfenen Erde; das junge Mädchen athmete mit gesenktem Kopf den Duft der überwuchernden Rosen ein, die gerötheten Augen darin kühlend.
«Arme Kleine!...» sagte Tartarin bewegt, die Fingerspitzen Sonia's in seine plumpen, rauhen Hände nehmend: «Und Sie, was wird nun aus Ihnen werden?»
Sie blickte ihm grade in's Gesicht mit glänzenden, trocknen Augen, in denen keine Thräne mehr zitterte.
«Ich? Ich reise in einer Stunde ab.
– Sie reisen ab?
– Bolibin ist schon in Petersburg.... Manilow erwartet mich an der Grenze.... Ich kehre in den Glühofen zurück. Man wird von uns reden hören.» Ganz leise, mit halbem Lächeln, fügte sie hinzu, den blauen Blick in die Augen Tartarin's versenkend, die ihr scheu auswichen:
«Wer mich liebt, folge mir!»
Ach, ihr folgen! Ihr überspanntes Wesen flösste ihm zu grosse Angst ein; auch hatte die Kirchhofsstimmung um ihn her seine Liebe abgekühlt.
Für ihn handelte es sich nur noch darum, nicht wie ein armseliger Tropf die Flucht zu ergreifen. Und die Hand auf's Herz legend, mit einer Geberde, die des letzten Abencerragen würdig gewesen wäre, begann der Held: «Sie kennen mich. Sonia....»
Sie verlangte nichts weiter zu hören.
«Schwätzer!...» sagte sie, die Achseln zuckend. Und sie entfernte sich, hoch aufgerichtet und stolz zwischen den Rosengebüschen, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden.... Schwätzer!... nicht ein Wort mehr, aber der Ton war so verächtlich, dass der gute Tartarin bis unter den Bart roth wurde und sich vergewisserte, ob sie auch wirklich allein in dem Garten waren und Niemand sie gehört hatte.
Bei unserem Tarasconnesen waren die Eindrücke glücklicherweise nicht von langer Dauer. Fünf Minuten darauf erstieg er behenden Schrittes die Terrassen von Montreux, Umschau haltend nach der Pension Müller, in der seine Alpenklubisten bei einem guten Frühstück vermuthlich schon auf ihn warteten; seiner ganzen Person merkte man eine wirkliche Erleichterung und die Freude an, einem so gefährlichen Liebesverhältniss ein Ende gemacht zu haben. Während des Gehens gab er durch energisches Kopfschütteln den beredten Auseinandersetzungen Nachdruck, welche Sonia nicht hatte anhören wollen und die er jetzt innerlich an sich selber richtete: Bé, ja, gewiss, der Despotismus.... Ich sage nicht nein... aber den Gedanken zur That machen.... boufre! Und dann, ein schönes Gewerbe, auf Despoten zu schiessen! Aber wenn alle unterdrückten Völker sich an mich wenden wollten, wie die Araber an Bombonnel, sobald ein Panther den Douar umschleicht, ich könnte sie nimmer befriedigen, allons!
Eine im Galopp daherkommende Miethkutsche unterbrach plötzlich seinen Monolog. Er hatte nur noch Zeit, auf das Trottoir zu springen. «So gieb doch Achtung» Dummkopf!» Aber sein zorniger Ausruf verwandelte sich bald in ein verdutztes «Quès aco!... Boudiou!... Nicht möglich!...» Und der Tausendste würde nicht errathen, was er in jenem alten Landauer erblickte. Die Delegation, ganz vollzählig, Bravida, Pascalon, Excourbaniès, auf dem Vordersitz zusammengedrängt, blass, entstellt, verstört, die frischen Spuren eines Handgemenges an sich, und ihnen gegenüber zwei Gendarmen, den Karabiner in der Faust. Diese regungslosen, stummen Gestalten in dem engen Rahmen des Kutschenfensters! Es sah einem bösen Traum gleich, und Tartarin, stehen bleibend, angenagelt, wie damals auf dem Gletscher durch seine Whymper'schen Eissporen, sah das fantastische Fuhrwerk im Galopp davonrollen, verfolgt von einer Schaar Buben, die mit dem Ranzen auf dem Rücken aus der Schule kamen, als ihm Jemand in's Ohr schrie: «Und hier der Vierte!...» In demselben Augenblick gepackt, gebunden, wird er seinerseits in einen «Locati» geschoben. Neben ihm nehmen mehrere Gendarmen Platz, unter ihnen ein Offizier mit einem riesenhaften Säbel, den er aufrecht zwischen den Beinen hielt, so dass der Griff fast die Wagendecke berührte.
Tartarin wollte reden, Aufklärungen geben. Es lag augenscheinlich ein Irrthum vor.... Er gab seinen Namen, seinen Geburtsort an, berief sich auf seinen Konsul, auf einen schweizerischen Honighändler Namens Ichener, den er auf der Messe in Beaucaire kennen gelernt hatte. Nun glaubte er dem beharrlichen Schweigen seiner Wächter gegenüber an eine neue Finte aus dem Zauberreich Bompard's, und sich an den Offizier wendend, sagte er mit schlauer Miene: «Es ist nur zum Spass, qué!... ah'. vaï, Sie Schäker, ich weiss ja, dass es nur zum Spass ist.
– Kein Wort weiter, oder ich lasse Sie knebeln...! sagte der Offizier mit so wildrollenden Augen, dass man glauben konnte, er wolle den Gefangenen auf die Spitze seines Degens spiessen.
Tartarin verhielt sich jetzt ruhig, rührte sich nicht mehr und blickte vom Fenster aus auf das sich vor ihm entrollende Bild: da und dort der Wasserspiegel des Sees, das feuchte Grün der Berge, Hotels mit den verschiedensten Dächern und vergoldeten, auf eine Meile weit sichtbaren Schildern, auf den Abhängen ein sich Hin- und Herbewegen von Butten und Tragkörben, gerade wie auf dem Rigi; und auch wie auf dem Rigi eine lächerliche kleine Eisenbahn, ein gefährliches Spielzeug der Mechanik, das bis Glion steil aufwärtsklomm, und um die Aehnlichkeit mit Regina Montium vollständig zu machen, ein senkrecht herniederströmender Regen, ein wechselseitiger Austausch von Wasser und Nebel zwischen Himmel und See, zwischen See und Himmel, dessen Wolken sich mit den Wellen zu verschmelzen schienen.
Der Wagen rollte über eine Zugbrücke zwischen kleinen Buden mit Holzschnitzereien, Federmessern, Korkziehern, Taschenkämmchen, fuhr durch einen niedrigen Thorweg und hielt im Hof eines alten Schlosses, das mit Gras überwuchert und von runden, schilderhausförmigen Thürmen mit schwarzen, von kleinen Balken getragenen Zinnen flankirt war. Wo war er? Tartarin wurde darüber aufgeklärt, als er den Gendarmerieoffizier sich mit dem Schlosspförtner streiten hörte, einem dicken Mann in griechischer Mütze, der mit einem Bund verrosteter Schlüssel rasselte.
«Strenge Haft... eine besondere Zelle?... Aber ich habe keinen Platz mehr, die Anderen haben Alles besetzt.... Ich müsste ihn denn in Bonnivard's Kerker bringen.
– So bringen Sie ihn in Bonnivard's Kerker, der ist gut genug für ihn....» befahl der Offizier, und so geschah es.
Das Schloss Chillon, von dem der P. C. A. seit zwei Tagen unausgesetzt mit seinen lieben Alpenklubisten gesprochen hatte, und in dem er sich, durch eine Ironie des Schicksals, plötzlich, ohne zu wissen warum, eingekerkert sah, ist eines der besuchtesten historischen Denkmäler der Schweiz. Nachdem es zuerst als Sommerresidenz der Grafen von Savoyen, darauf als Staatsgefängniss und Zeughaus gedient hatte, ist es jetzt nur noch ein Zielpunkt für Ausflüge, wie Rigi-Kulm und die Tellsplatte. Man hat jedoch einen Gendarmerieposten dort gelassen und ein «Loch» für Trunkenbolde und Missethäter; sie sind aber so selten in dem gesegneten Kanton Waadt, dass das «Loch» immer leer ist, und der Pförtner seinen Holzvorrath für den Winter dort aufbewahrt. Auch hatte ihn die Ankunft all' dieser Gefangenen in die böseste Laune versetzt, hauptsächlich aber der Gedanke, den berühmten Kerker nicht mehr zeigen zu dürfen, um diese Jahreszeit die einträglichste Geldquelle des Schlosses.
Voller Wuth zeigte er Tartarin den Weg, der ihm folgte, ohne den geringsten Muth zum Widerstand zu finden. Einige wacklige Stufen, ein modriger Gang, in dem eine wahre Kellerluft herrschte, eine mauerdicke Thür in ungeheuren Angeln, und sie befanden sich in einem geräumigen, gewölbten, unterirdischen Verliess mit gepflastertem Fussboden, schweren, romanischen Pfeilern, in welche noch die Eisenringe gefügt waren, an die man ehemals die Staatsgefangenen kettete. Ein dämmriges Licht und das Blinken und Glitzern des Wasserspiegels fiel durch die engen Kellerlöcher, die nur ein Stückchen Himmel sehen liessen.
«Das ist jetzt Ihre Wohnung, sagte der Gefangenwärter.... Aber vor Allem, gehen Sie nicht nach hinten, dort stürzen Sie in den See!»
Tartarin wich erschrocken zurück.
«In den See!... Boudiou!...
– Was wollen Sie, mein Guter?... man hat mir befohlen, Sie in Bonnivard's Kerker zu stecken.... ich stecke Sie in Bonnivard's Kerker.... Jetzt, wenn Sie die Mittel dazu haben, kann man Ihnen einige Annehmlichkeiten verschaffen, etwa eine Decke und eine Matratze für die Nacht.
– Zunächst zu essen!» sagte Tartarin, dem man zu seinem Glück die Börse nicht genommen hatte.
Der Schliesser kam mit einem frischen Brod, mit Bier und einer Cervelatwurst zurück; Alles wurde begierig vertilgt von dem neuen Gefangenen in Chillon, der seit dem vorigen Tage gefastet, und dem die eben erlebten Anstrengungen und Gemüthsbewegungen arg zugesetzt hatten. Während er auf seiner Steinbank unter dem schwach hereinschimmernden Tageslicht des Kellerloches ass, musterte ihn der Gefangenwärter mit gutmüthigen Blicken.
«Meiner Seel, sagte er, ich weiss nicht, was Sie verbrochen haben und warum man so streng gegen Sie verfährt.
– Eh, verwünschtes Loos; das weiss ich eben so wenig, sagte Tartarin mit vollem Munde.
– Es steht fest, dass Sie nicht aussehen wie ein Bösewicht, und gewiss wollen Sie auch einen armen Familienvater nicht hindern, etwas zu verdienen. Nicht wahr?... Nun sehen Sie.... Ich habe da oben eine ganze Gesellschaft, die den Kerker Bonnivard's besuchen will....Wenn Sie mir versprechen wollten, sich ganz still zu verhalten und keinen Versuch zur Flucht zu machen....»
Der gute Tartarin legte einen Eid darauf ab, und fünf Minuten später war sein Kerker überfüllt von seinen ehemaligen Bekannten von Rigi-Kulm und der Tellsplatte; der dreifache Esel Schwanthaler, der Ineptissimus Astier-Réhu, das Mitglied des Jockeyklubs und dessen Nichte (hm! hm!), Alle mit den Rundreisebillets Cook versehenen Touristen. Beschämt, voller Angst, erkannt zu werden, versteckte der Unglückliche sich hinter die Pfeiler, glitt immer weiter rückwärts, je näher die Touristen kamen, denen der Pförtner mit seiner in schleppendem Ton vorgebrachten Litanei voranschritt: «Hier lag der unglückliche Bonnivard....»
Sie kamen langsam heran, aufgehalten durch die Erörterungen der stets sich zankenden Gelehrten, die immer im Begriff schienen, auf einander loszustürzen; der eine seinen Feldstuhl, der andere seine Reisetasche schwenkend, in grotesken Stellungen, welche das durch die Kellerlöcher hereinfallende Dämmerlicht in langen Schatten auf die Wölbungen zeichnete.
So weit hatte Tartarin sich zurückgezogen, dass er ganz nahe an ein schwarzes Loch gelangt war, dessen Oeffnung auf gleicher Höhe mit dem Fussboden lag. Der eisige Modergeruch verschollener Jahrhunderte wehte ihm daraus entgegen. Erschrocken stand er still und kauerte sich in einen Winkel, die Mütze über die Augen gezogen, doch der feuchte Salpeterüberzug der Mauern übte seine Wirkung auf ihn und ein erschütterndes Niesen, bei welchem die Touristen entsetzt zurückfuhren, machte ihnen seine Anwesenheit bemerkbar.
«Sieh da, Bonnivard...» rief die kecke kleine Pariserin in dem Hut aus der Zeit des Direktoriums, und welche der Herr vom Jockeyklub für seine Nichte ausgab.
Der Tarasconnese liess sich nicht aus der Fassung bringen.
«Sie sind wirklich sehr interessant, vé, diese Burgverliesse,» sagte er in dem natürlichsten Ton von der Welt, als ob er auch den Kerker nur zu seinem Vergnügen besuche; und er mischte sich unter die anderen Reisenden, welche lächelnd in ihm den Alpensteiger vom Rigi-Kulm erkannten, den Anstifter des famosen Balles.
«Hé! Mossié... baller, dantser!...»
Und vor ihm stand die putzige Gestalt der kleinen Fee Schwanthaler, augenblicklich bereit, mit ihm zum Kontretanz anzutreten. Wirklich, er fühlte grosse Lust zu tanzen. Da er aber nicht wusste, wie er die tolle, kleine Frau los werden sollte, bot er ihr den Arm und zeigte ihr mit vieler Artigkeit seinen Kerker, den Ring, an welchen die Kette des Gefangenen genietet war, die ausgetretene Spur seiner Schritte rund um denselben Pfeiler, und der guten Dame, die ihn mit solcher Unbefangenheit plaudern hörte, wäre niemals die Ahnung gekommen, dass ihr Begleiter ebenfalls ein Staatsgefangener war, ein Opfer menschlicher Ungerechtigkeit und Bosheit. Schrecklich aber war es, als sie sich entfernten, als der unglückliche Bonnivard, nachdem er seine Tänzerin bis zur Thür geleitet hatte, sich bei ihr mit einem weltmännischen Lächeln verabschiedete: «Nein, ich danke, vé.... Ich bleibe noch ein Weilchen hier.» Darauf grüsste er, und der Pförtner, der ihn nicht aus den Augen gelassen, schloss und verriegelte hinter ihm die schwere Thür, zum höchsten Erstaunen Aller.
Welche Schmach! Er schwitzte vor Angst, der Unglückliche, während er die verwunderten Ausrufungen der sich entfernenden Touristen hörte.
Zu seiner Befriedigung wiederholte sich diese Marter nicht mehr; des schlechten Wetters wegen kam kein neuer Besuch. Ein furchtbarer Wind unter den alten Bohlen, klagende Laute, die aus dem finstern Loch herauftönten wie von unbeerdigten Opfern, dazu der prasselnde Regen, das Klatschen der Wellen gegen die Mauern bis zu den Schiessscharten hinauf, dass der Gischt den Gefangenen durchnässte. Von Zeit zu Zeit unterbrach die Glocke eines Dampfers, das Klappern seiner Räder die Betrachtungen des armen Tartarin, während die Nacht sich grau und düster über den scheinbar sich vergrössernden Kerker legte.
Wie sollte er sich seine Gefangennahme, seine Einkerkerung in dieses furchtbare Gewölbe erklären? Costecalde vielleicht... ein Wahlmanöver im letzten Augenblick?... Oder auch die russische Polizei, die von seinen unvorsichtigen Worten, von seinem Verhältniss mit Sonia in Kenntniss gesetzt, seine Auslieferung verlangte. Aber warum dann auch die Delegirten einsperren?... Was konnte man den Unglücklichen vorwerfen, deren Bestürzung und Verzweiflung er sich vorstellte, obwohl sie nicht, wie er, in Bonnivard's Kerker lagen, unter den dichtgefügten Steingewölben, die bei Annäherung der Nacht von Schaaren ungeheurer Ratten, Kakerlaken, unheimlichen Spinnen mit schleichenden, missgestalteten Beinen bevölkert waren.
Doch was vermag nicht ein gutes Gewissen! Trotz der Ratten, der Kälte, der Spinnen fand der grosse Tartarin in dem schreckenerregenden Staatsgefängniss, in dem noch die Schatten der Gefolterten schwebten, den schweren, dröhnenden Schlaf, den er, mit offnem Munde, geballten Fäusten, zwischen Himmel und Abgrund, in der Alpenklubhütte gefunden hatte. Er glaubte noch zu träumen, als er am Morgen seinen Gefangenwärter hörte:
«Stehen Sie auf, der Bezirksamtmann ist da.... Er will Sie verhören....» Der Mann fügte mit einer gewissen Ehrerbietung hinzu: «Wenn der Bezirksamtmann sich herbemüht, dann müssen Sie ein gewaltiger Bösewicht sein.»
Ein Bösewicht! nein, aber er könnte dafür gehalten werden nach einer Nacht in einem feuchten, schmutzigen Kerker, ohne Zeit gehabt zu haben, auch nur die nothwendigste Toilette zu machen. Und in dem früheren, in einen Gendarmerieposten verwandelten Stall des Schlosses, an dessen mit Kalk beworfenen Wänden reihenweise die Gewehre lehnten, erschien Tartarin – nach einem beruhigenden Blick auf seine zwischen den Gendarmen sitzenden Alpenklubisten – vor dem Bezirksamtmann. Er ist sich seines vernachlässigten Aeussern bewusst, jener Magistratsperson gegenüber, die in korrektem, schwarzem Anzug, mit gepflegtem Bart, ihn barsch anfährt:
«Sie heissen Manilow, nicht wahr?... Russischer Unterthan.... Brandstifter in Petersburg.... Flüchtling und Mörder in der Schweiz.
– Aber warum nicht gar!... Das ist ein Irrthum, ein Missverständniss...
– Schweigen Sie, oder ich lasse Sie knebeln...» unterbricht ihn der Offizier.
Der korrekte Bezirksamtmann fährt fort: «Um übrigens Ihr Leugnen kurz abzuschneiden.... Kennen Sie dieses?
Sein Seil, verwünschtes Loos! Sein aus Draht gedrehtes, in Avignon verfertigtes Seil. Zum Erstaunen der betroffenen Delegirten senkt er das Haupt und sagt: «Ich kenne es.
– Mit diesem Seil ist im Kanton Unterwalden ein Mann gehenkt worden....»
Tartarin beschwört zitternd, dass er daran unschuldig ist.
«Das wollen wir bald sehen!» Und der italienische Tenor wird hereingeführt, der Spion, den die Nihilisten auf dem Brünig, an den Ast einer Eiche gehenkt, und den die Holzhacker wunderbarer Weise gerettet hatten.
Der Polizei-Spion blickte zuerst auf Tartarin: «Der ist es nicht!» dann auf die Delegirten: «Die auch nicht.... man hat sich geirrt!»
Und der Bezirksamtmann wendet sich an Tartarin: «Was machen Sie denn hier?
– Das frage ich mich, vé!...» antwortete der Präsident mit der vollen Sicherheit der Unschuld.
Nach einer kurzen Auseinandersetzung verlassen die der Freiheit zurückgegebenen Alpenklubisten von Tarascon das Schloss Chillon, dessen beängstigende, romantische Melancholie Niemand stärker empfunden hat, als sie. Sie halten sich in der Pension Müller nur so lange auf, um ihr Gepäck und die Fahne zu nehmen und das Frühstück zu bezahlen, das sie nicht Zeit gehabt haben zu verzehren. Darauf nehmen sie den Zug nach Genf. Es regnet. Durch die triefenden Scheiben lassen sich die Namen aristokratischer Sommerfrischen erkennen: Glarens, Vevey, Lausanne. Die schmucken Holzhäuschen, die Gärtchen mit seltenen Zierpflanzen fliegen hinter einem feuchten Schleier vorüber, und überall tropft es von den Zweigen, den Glockenthürmchen der Dächer, den Terrassen der Hotels.
In eine kleine Ecke des grossen schweizerischen Salonwagens zusammengedrängt, in dem immer zwei Bänke sich gegenüberstehen, sehen die Alpenklubisten verstört und niedergeschlagen aus. Bravida, mit sehr sauertöpfischer Miene, klagt über Schmerzen, und während der ganzen Fahrt fragt er Tartarin mit grausamer Ironie: «Eh bé! Sie haben ihn gesehen, den Kerker Bonnivard's... Sie wollten ihn durchaus sehen.... Ich meine, sie hätten ihn gesehen, qué!» Excourbaniès, zum ersten Mal in seinem Leben sprachlos, starrte kläglich in den sie begleitenden See: «So viel Wasser, Boudiou!... Ich nehme gewiss in meinem Leben kein Bad mehr....»
Pascalon, ganz stumpfsinnig von dem noch nicht überwundenen Schrecken, hielt sich im Hintergrunde, die Fahne zwischen den Beinen, wie ein ängstlicher Hase, bald nach rechts, bald nach links einen scheuen Blick werfend.... Und Tartarin?... O, er ist am wenigsten zu beklagen. Er liest vergnügt die südfranzösischen Zeitungen, ein dickes, an die Pensionen Müller geschicktes Packet, die alle die Schilderung seiner Jungfrau-Besteigung aus dem Forum abgedruckt haben, dieselbe Schilderung, die er diktirt hat, nur umständlicher, mit den übertriebensten Lobeserhebungen gespickt. Auf einmal stösst der Held einen Schrei aus, einen mächtigen, bis in den hintersten Winkel des Waggons dröhnenden Schrei. Alle Reisenden sind von ihren Sitzen gesprungen; man glaubt an einen Zusammenstoss. Nichts weiter als ein kleiner Artikel im Forum, den Tartarin seinen Alpenklubisten vorliest.... «Hört nur: «Es geht das Gerücht, der von seiner Gelbsucht, die ihn mehrere Tage im Bett hielt, kaum wiederhergestellte V. P. C. A. wird die Besteigung des Montblanc unternehmen, noch höher steigen, als Tartarin....» Ah! der Bandit!... Er will den Effekt meiner Besteigung der Jungfrau vernichten... Gut! warte nur, ich will ihn dir vor der Nase wegschnappen, deinen Berg.... Chamonix ist nur wenige Stunden von Genf entfernt, ich besteige vor ihm den Montblanc! Seid ihr dabei, meine Kinder?»
Bravida protestirt dagegen. Outre! er hat genug bekommen von solchen Abenteuern. «Genug und mehr als genug....» brüllt Excourbaniès mit seiner klanglosen Stimme in sich hinein.
– Und Du, Pascalon?..» fragt Tartarin sanft.
Der Lehrling wagt es nicht, den Blick zu erheben und meckert: «He..e..err...» Auch er wird ihm abtrünnig.
«Es ist gut, sagt der Held feierlich, zürnend, ich werde allein gehen, die Ehre für mich allein haben.... Zou! gebt mir das Banner zurück ...»