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Anja –
Ja, wenn ich an sie denke, steigen mir Tränen einer traurigen Rührung in die Augen. Und doch war sie glücklich, und ihr Leben stand wie ein seltener Stern über der Erde.
Ich kannte ihre Eltern. Als alter Hausfreund ging ich viele Jahre in ihrem Hause aus und ein.
Der Vater, ein Kaufherr größten Stils, war einer jener prachtvollen jovialen Männergestalten, die von einer steten Harmonie umschwebt sind. Wo sie sich befinden, weht eine kraftvolle, heitere Temperatur, die in diesem Falle, gesättigt von leutseliger Lebensauffassung und getragen von der Sicherheit eines großen Reichtums, leicht zu jenen Höhegraden zu steigen geneigt war, welche in ihrem Überschwange allmählich auch die stärksten Lebenskräfte aufzehren. Kurz, ein Bonvivant, ohne jene gemeine Nuance, die wir mit dem deutschen Worte Lebemann verbinden. Seine Frau paßte vorzüglich zu ihm. Groß, schön und stattlich, harmonisch in sich beruhend, trug sie seine etwas laute, andrängende Art mit liebevoller Gelassenheit und pflegte in ihrem Heim mit Aufopferung ihrer eigenen, mehr zu intimerem Innenleben neigenden Wünsche die weitherzigste Gastfreundschaft, die ihre Kräfte und Zeit schier über Gebühr beanspruchten.
Mitten hinein in dieses turbulente Treiben blühte Anja, die einzige Tochter dieses Paares.
Im Gegensatz zu den Eltern war sie feingliedrig und nur mittelgroß geraten und bildete den süßen, lieblichen Ausklang zwischen den dunkleren, volltönigen Melodien der beiden. Anja war eines jener reizvollen Kinder, die jedermanns Liebling sind, die aller Augen und Herzen sofort für sich einnehmen. Ohne jede Hemmung durch allzu strenge Zucht, noch irgendwelcher Notstände des Lebens, entwickelte sie sich in einer seltenen Freiheit und strafte alle rigorosen Pädagogen Lügen, die nur innerhalb des Stacheldrahtes von Ernst und Strenge eine gute Aufzucht gewährleisten wollen.
Sie gedieh körperlich und geistig, blühte wie eine zarte Gartenrose, war geschickt zu allerlei Tun, neigte aber ganz besonders zu Büchern, Künsten und Wissenschaften; dem tändelnden Spiel der allerersten Jugend war sie sehr schnell entwachsen. Ich konnte ihr keine größere Freude machen, als wenn ich mit ihr in das Bibliothekzimmer ging und ihr dort allerlei Bücher aussuchte, die jeweils ihrem geistigen Zustand angemessen waren.
Die Eltern sahen diese Entwicklung nicht gern. Sie hätten sich die einzige Tochter robuster an Gesundheit und materieller in der Lebensrichtung gewünscht, zugreifender nach all der endlosen Fülle guter Dinge, die ihr reicher Besitz ihr gestatten konnte. Aber da war nichts zu ändern, zärtlich und anschmiegend in ihrem Wesen, besaß sie doch eine stille, feste Art, allem aus dem Wege zu gehen und alles abzulehnen, das sich ihrer so stark ausgesprochenen geistigen und seelischen Dichtung entgegensetzen wollte.
So zart wie sie war, liebte sie den Sport, während Bälle und die übrigen seichten Vergnügungen ihr geradezu Widerwillen erregten.
Man mußte sie gewähren lassen.
Lehrer auf Lehrer mußte ins Haus, ihr Wissensdrang war schier unstillbar. Am liebsten hätte sie, wie sie mir gestand, sich ganz dem Studium gewidmet. Aber das jähe Entsetzen, das bei der ersten leisen Andeutung den Eltern gegenüber über diese kam, nahm ihr doch den Mut, ihren Willen durchzusetzen.
Da in diesem gastfreien Hause, an den üppigen Gastmahlen vielerlei Menschen aus- und eingingen, darunter natürlich auch viel junges Volk, Männer der ersten Familien, konnte es nicht anders sein, als daß sich immerfort einer der letzteren in die liebliche, reizvolle Tochter des Hauses verliebte.
Die Eltern sahen mit brennenden Augen diesen Annäherungen zu, ihrem Kinde das einfache, stille Glück erhoffend, das sie selbst in der Ehe gefunden.
Aber immer wieder blieb einer der Werbenden fort, von dem kühlen Gleichmut Anjas schärfer getroffen und verletzt, als es durch eine deutliche Abneigung ihrerseits der Fall gewesen wäre.
So war Anja einundzwanzig Jahre geworden. Vater und Mutter waren bitter enttäuscht und fast ein wenig in Verlegenheit all den vielen Freiern gegenüber, die sie selbst begünstigt und ermutigt hatten.
Da tauchte eines Tages ein entfernter Verwandter auf.
Ein hochbegabter, junger Mann, der eben von einer Studienreise aus Asien zurückkam, als Sinologe und Sanskritforscher kehrte er mit einer Fülle reichen, interessanten Materials in die Heimat wieder, um sich da an der Universität niederzulassen.
Er verstand prachtvoll zu erzählen.
Anja horchte mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen, und konnte stundenlang ohne jede Ermüdung mit Lauschen und Fragen hinbringen.
Die Eltern atmeten auf. Endlich schien sich ihr so natürlicher und begreiflicher Wunsch zu erfüllen.
Man ließ Anja geflissentlich mit dem jungen Manne allein und merkte mit tiefem Behagen, daß auch dieser sich dem süßen Zauber dieser entzückenden Weiblichkeit nicht mehr entziehen konnte.
Wir hofften alle.
Wenn ich sie so nach den langen, geistvollen Gesprächen im Zimmer fand, leuchtend von innerem Feuer, mit glühendem Blut und schwellender Schönheit, von jenem blühenden Zauber umhüllt, der das Weib nach der leidenschaftlichen Liebesumarmung des Mannes zu umstrahlen pflegt – war ich sicher, daß auch ihr die Stunde endlich gekommen sei, da die heimlichen Forderungen des Weibtums sie mit gebieterischem Zwange leiten würden.
Aber es vergingen Wochen um Wochen. Die stille Verzückung blieb über ihr ausgegossen, Stunde um Stunde blieb sie in tiefer Entrücktheit bei den Büchern und Gesprächen mit dem jungen Manne, der solcher schneekühlen Stille des Blutes gegenüber wohl noch immer nicht die gefahrvolle Minute gefunden, in welcher er vom Wege des Wissens abgleiten konnte, um mit einem kühnen Satz sie beide mitten in das Land der Leidenschaft hinüberzuschwingen.
Eines Tages aber kam ihm der Augenblick, da sein eigenes Erglühen für so viel Liebreiz und hinreißende Süße alle Besinnung verlor. Er warf das Buch beiseite, stürzte zu Anja hin und stammelte ihr die Worte seiner heißen Verwirrung ins Ohr.
Anja erblaßte bis in die Lippen, sah ihm verstört und entsetzt in die Augen und streckte ihre Hände ihm abwehrend entgegen.
– Was tust du – was willst du von mir, Viktor?
– Liebst du mich – oder nicht? fragte er in zorniger Erregung – was sonst macht dich so strahlend und aufblühend neben mir?
– Es ist so wundervoll und macht mich so glücklich, mit dir in all die Herrlichkeit des Wissens zu schauen, du führst mich durch tausend Paradiese und läßt mich unermeßliche Schätze schauen. –
– Das ist es – sagte er, und sein Gesicht verzerrte sich in der Qual überladener Leidenschaft – das ist es – die Bücher, das Wissen – und ich – ich bin dir nichts –
– Doch, doch – ich bewundere dich – ich bin voll tiefster Dankbarkeit. –
Da lachte er bitter auf und ging von ihr.
Auch er konnte das vielsagende Wort jenes klassischen Liebespaares mit einer kleinen Variante auf das Ende seiner Liebesszene anwenden: von jenem Tage lasen wir nicht weiter. –
Bald darauf ging Anja mit ihren Eltern auf Reisen, sie mußte den Vielen eine Zeitlang entrückt werden, an denen sie so in aller Unschuld schuldig geworden war. Ich sah sie nicht wieder.
Bei einer Bergbesteigung in den Alpen wurde sie mit ihrem Vater von einer Lawine verschüttet. –
Und so blieb mir ihr Bild in der ganzen Süße des Jugendschmelzes in der Erinnerung, und wenn ich ihrer denke, steigen mir immer wieder Tränen einer traurigen Rührung in die Augen.
Und doch war sie glücklich zu nennen, sie, die wie eine feine Harfe nur für die Akkorde reinster seelischer Harmonien den tönenden Widerhall zu geben hatte.
Und dennoch diese Traurigkeit um sie?
Es ist vielleicht das allzu Menschliche in uns, das diese Übermenschlichkeit einfach nicht erträgt.
Oder vielleicht schlechthin nur der Erhaltungstrieb der Rasse, die unbewußt wirkende Ökonomie des Lebens, der es widerstrebt, eine vollkommene Blüte nicht zur Frucht gelangen zu sehen.