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Die hellen Juninächte waren wiedergekehrt, der Mond beleuchtete die Landschaft, und der Große und der Kleine Bär erglänzten zu beiden Seiten der Kirche über der dunkeln Linie der Hochebene. Zio Remundu saß wieder auf seiner Türschwelle, den blanken Stock zwischen den Beinen, wie Jorgi ihn als Kind gesehen, und erzählte den lauschenden Frauen seine Geschichten, einschließlich der von dem ihm gestohlenen und bei der Mauer von San Francesco wiedergefundenen Schatz. Den Namen des Diebes aber nannte er nicht und schwieg auch dann, wenn die Weiber sich grinsend dem dunkeln, immer geschlossenen Häuschen Dionisi Oros zukehrten. Alle wußten es jetzt, daß der Bettler der Dieb gewesen, aber niemand sprach den Namen aus: warum noch einen Stein auf den Gefallenen werfen? Auf einen Menschen, der sozusagen schon tot war? Und doch war es nicht Mitleid, das sie abhielt: nein, es war Schamgefühl. Sie alle, die einst Jorgi Nieddu gesteinigt hatten, den hochmütigen Studenten, der sie beleidigt und verletzt, weil er gegen ihre Vorurteile anging, sie hegten keinerlei Groll gegen den unschädlichen Dionisi: sie alle hatten ihm schon ein Stück Brot und einen Trunk Wasser gereicht, und wenn sie bei Erwähnung des Diebstahls seinen Namen verschwiegen, so meinten sie ihm noch ein Almosen zu spenden.
Eines Tages berief der Brigadiere – derselbe, der damals in Jorgis Kammer eingeschlafen war – Banna, den Großvater, Zio Junassiu, den Priester, Zia Giuseppa Fiore und die Nachbarinnen der Corbus in seine Wachtstube und befragte sie alle, ob sie bezeugen könnten, daß der Dieb des Geldes Zio Remundus Dionisi Oro sei. Keiner konnte es bezeugen: Zio Junassiu genügte es, daß Jorgeddu, wenn auch nicht seine Gesundheit, so doch seinen guten Namen vollkommen wiedererlangt hatte; er wollte nicht den Angeber eines elenden Bettlers machen, den er beherbergte und unterhielt; der Priester war nicht verpflichtet auszusagen; Giuseppa Fiore sagte, nur Remundu Corbu könne ein gewissenhaftes Zeugnis ablegen, und dieser erwiderte stolz, es stehe ihm zu, den Schuldigen zur Anzeige zu bringen, nicht als Zeuge aufzutreten, und er werde ihn anzeigen, wenn sein Gewissen ihn heißen werde, das zu tun.
Da schickte der Brigadiere nach dem des Diebstahls Verdächtigen – doch in Junassiu Arras' Schäferei war er nicht zu finden.
Redeten nun die am Abend um den Großvater versammelten Frauen über den Fall, so pflegten die ärmeren zu sagen: »Zio Remundu, du hättest das Geld hier verteilen sollen, statt es dem Heiligen zu geben, der reicher ist als wir!«
Auch Banna billigte das Opfer des Großvaters nicht. Er selbst aber bereute es nicht, und wenn er seinen Besuch bei Jorgi von Tag zu Tag verschob, so geschah es nicht aus Ungehorsam gegen den heiligen Franziskus, sondern kindische Scheu hielt ihn zurück. Er fürchtete sich beinahe, vor Jorgi Nieddu hinzutreten: wie sollte er das anstellen, was ihm sagen? Und würde der hochmütige Bursche das Gefühl begreifen, das ihn leitete?
»Er wird glauben, ich käme jetzt, da Columba fort ist, weil ich von ihm nichts mehr befürchte. Er wird über mich lachen wie einst. Und mein Herz ist doch verwandelt, es ist weich geworden wie eine reife Frucht.«
Und doch verdroß ihn diese Unentschlossenheit und setzte ihn in den eigenen Augen herab. Wie war es möglich, daß er, der alte Geier, vor einem armen, ohnmächtigen Burschen Scheu empfand, dessen Hochmut und Anmaßung er selbst zerschmettert hatte? Wenn er darüber nachdachte, ereiferte er sich so, daß er mit Simona zu zanken anfing, der alten Magd, die Banna ihm ins Haus gebracht.
Sie war fast so schweigsam wie die junge Herrin, die nun fortgezogen war, aber nicht ebenso dienstbereit und flink; das Haus war nicht immer in Ordnung, und jedesmal, wenn Zio Remundu aus der Schäferei heimkehrte, hörte man ihn kreischen wie einen alten Adler. Die Magd schwieg, machte sich aber nachher gegen Petru, ihren kleinen Kollegen, Luft.
»Der Alte ist nicht zufrieden, und er tut mir leid. Am Sonntag ist er nach Tibi geritten und mit einem langen Gesicht zurückgekommen. Es scheint, Columba ist nicht gern da oben, in dem Dorf, wo noch mehr Wind ist als hier.«
»Und warum kommt sie nicht hier wohnen?«
»Eh, wie soll sie das machen? Der Mann wohnt doch da. Nun, es scheint, in den ersten Tagen hat sie nichts getan als weinen, und wenn Zuanpedru Cannas sie fragte, was ihr wäre, dann hat sie gesagt: ›Wäre es dir nicht möglich, von hier fort und nach Oronou zu ziehen. Ich bin immer in Sorge um den Großvater.‹ Worauf Zuanpedru so traurig wurde wie die Nacht und antwortete, das sei unmöglich. Und es scheint, seitdem ist auch er immer übler Laune. Und weißt du, was ich sage, Petru: das ist die Strafe Gottes!«
Petru eilte, das seinem Herrn zu berichten – doch zu seinem Staunen freute Jorgi sich nicht sehr über den Kummer seiner Feinde.
Auch da drinnen war es wieder wie früher, still und einsam. Die Sommerhitze lockte die Fliegen herein, sie belästigten den Kranken, und manchen Tag war er so leidend, daß es schien, als ginge es zu Ende mit ihm; wenn dann aber, gegen Sonnenuntergang, ein frischerer Lufthauch von der Hochebene herunterwehte und das Abendrot das Zimmer weniger traurig erscheinen ließ, dann belebte er sich wieder, ward beinahe fröhlich, plauderte mit Petru und zählte die Tage bis zum Oktober. Denn im Oktober, wann die Schwalben fortzogen, dann würde jene andere Schwalbe vielleicht wiederkehren! Vielleicht? Nein, er war ganz gewiß, daß sie wiederkehren würde, wäre es nur für einen Tag, nur für eine Stunde; und so verbrachte er die Stunden, die Tage damit, an die vergangenen zurückzudenken, und lebte in der Erwartung der Wiederkehr Marianas.
Alles übrige kümmerte ihn nicht, weder das abermalige Verschwinden des Bettlers, noch das Geschwätz der Leute über die Abenteuer des Doktors, der noch immer nach einem Mann für Margherita suchte, noch das Gerede, daß Columba nicht glücklich sei. Und doch betraf er sich eines Tages bei dem Gedanken an sie: aus den felsigen Schluchten im Tal drang der Brunftschrei der Falken herauf, und jener melancholische Ruf, der wie die Klage unerfüllter Sehnsucht klang, rief ihm sein wehmütiges Idyll zurück. Er sah Columba wieder auf ihrer Veranda, mit dem Schaf zu ihren Füßen, neben dem Basilikumstrauch sitzen, und der Gedanke, daß sie nunmehr einem andern Manne angehörte, weckte in ihm ein Gefühl wenn nicht von Eifersucht, so doch von Bedauern.
Vollkommenes Liebesglück würde ihm nicht mehr zuteil werden; er würde sich nutzlos verzehren wie die Kerzen vor den leblosen Bildern in ihren vergoldeten Nischen … Auch Mariana würde eines Tages einem anderen Manne gehören … und ach, das war die Vorstellung, die ihn quälte: nicht Columba in den Armen des reichen Hirten, nein, Mariana an der Seite eines Unbekannten!
Das Bild Marianas war an Columbas Stelle getreten: sie setzte sich wieder auf den Schemel neben seinem Bett, einen Rosenstrauß in der Hand und das schöne Gesicht weißer als sonst, doch von einem Schatten verschleiert, der nicht von dem großen Hut herrührte.
Die Worte, die sie ihm vor ihrer Abreise gesagt, klangen noch durch das schweigende Zimmer und weckten in seinem Herzen zitternden Widerhall.
»Addio, Giorgio: ich werde bald wiederkommen! Ich bin glücklich, daß alle Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, und daß der wahre Schuldige entdeckt worden ist. Ich habe nie, auch nicht für einen Augenblick an Ihnen gezweifelt, Giorgio, und ebensowenig daran, daß Ihre Unschuld triumphieren müsse und das bald. Aber wenn ich merkwürdigerweise auch erfahren sollte, daß Sie dieses oder eines andern Irrtums schuldig wären: ich würde Sie doch nie vergessen. Wir sind jetzt Freunde, und die Freundschaft kennt nicht Unschuldige oder Schuldige; sie ist ein Band, das nichts zu lösen vermag.«
Und sie war gegangen; ihr weißes Kleid war verschwunden, ihr großer Hut, ihr blankes Täschchen; aber ihr Blick und ihre Stimme blieben hier um ihn, immer und immer, und manchmal erwachte er in der Nacht unter dem Eindruck, von einem Augenblick zum andern könnte sie ihm erscheinen; und so erwartete er jetzt ihr Kommen, wie er einst Columba erwartet hatte.
Sein Los hatte sich überaus verbessert seit dem Besuch des Kommissars. Unentschlossen bis zum letzten Augenblick hatte dieser doch – um sich nicht den Rest seiner Tage durch Vorwürfe Marianas zu verbittern – schließlich die Schwelle der traurigen Kammer überschritten und war wider Willen und Erwarten bewegt, ja ergriffen fortgegangen. Und unmittelbar nachher hatten die angesehensten Leute aus dem Dorfe Jorgi aufgesucht und ihm Geschenke und unnütze Gaben als Beweise ihres verspäteten Mitleids dargebracht.
Der Priester besuchte ihn alle Tage, las ihm die Zeitung vor, und sie besprachen miteinander die Nachrichten aus der fernen Welt. Eines Tages – es war am Vorabend von Sankt Johanni – las er ihm eine Mitteilung über einen merkwürdigen Vorfall, der sich in einer Stadt Umbriens ereignet hatte. Eine Frau, die einen einzigen Sohn besaß, hatte ihn ganz plötzlich durch den Tod verloren, und ihr Schmerz war so groß, daß er sie auch physisch niederwarf: eine nervöse Lähmung hatte sie drei Jahre lang an das Bett gefesselt. Und nun hatte sie in einer Nacht ihren geliebten Sohn noch lebend und gesund erblickt, wie er ihr die Hand reichte und sagte: »Mutter, stehe auf und wandle!« Und sie war aufgestanden und an seiner Hand in das Gärtchen hinausgetreten, hatte sich auf die Bank gesetzt, von der aus sie einst die Spiele des kleinen Knaben bewacht, und dann hatten sie zusammen die Sterne betrachtet, nach denen, wie er sagte, unsere Seelen hinüberschweben, und zusammen gebetet. Und als sie erwachte, hatte die Frau versucht aufzustehen, es war ihr gelungen, sie konnte sich wieder rühren: sie war genesen!
Jorgi lauschte und bemühte sich vergebens, ein Zittern zu unterdrücken: »Stehe auf und wandle!« Das waren auch die Worte Marianas gewesen.
Da der Doktor dazukam, redeten sie weiter über die Sache, während Petru, nachdem er begierig zugehört, zur Tür hinausschlüpfte, um Simona seine Ansicht mitzuteilen.
»Ich meine, meinem Herrn wird es ebenso gehen wie jener Frau, das sagt auch der Doktor.«
Aber Simona, die, auf der Türschwelle sitzend, die Heimkehr ihres Herrn erwartete, glaubte nur an die Wunder der Heiligen.
»Die Frau wird zu Santu Jazintu gebetet haben, dem Schutzheiligen der Lahmen! Aber dein Herr, lieber Schatz, glaubt nicht an Gott und wird nie gesund werden.«
»Und doch …« entgegnete Petru geheimnisvoll – aber er sagte nichts weiter.
»Weißt du, was dem, der an Gott glaubt, helfen kann? Johanniswasser, mein Schatz, Wasser, das in dieser Nacht an der Quelle geschöpft wird, gerade um Mitternacht! Das ist das Beste für Lahme.«
»Ja, das hat mir auch Zia Martina Appeddu gesagt … und noch etwas anderes … Nun, Euch kann ich es ja sagen: eine Medizin, die Zia Martina heute abend, wenn der Mond aufgeht, bereiten wird, und die ich … nein, ich soll es ja nicht sagen, sonst hilft es nicht!«
Er war ganz aufgeregt; so viele Tage schon hütete er sein Geheimnis: er konnte es nicht mehr aushalten. »Hört,« sagte er leise und beugte sich über Simona, »ich habe Zia Martina gebeten, ein Heilmittel für meinen Herrn zu bereiten. ›Wenn er gesund wird, heiratet er die Schwester des Kommissars,‹ habe ich ihr gesagt; ›denkt nur, dann kann er uns allen helfen! Und wenn Ihr es nicht deshalb tun wollt, so tut es um Jesu willen! Er liegt da und verzehrt sich wie eine Kerze: laßt es uns doch einmal mit einem Heilmittel versuchen!‹ Sie weigerte sich, sie hatte Angst vor dem Doktor, der mit meinem Herrn so befreundet ist. Da habe ich mich an Simona, die blinde Tochter Zia Martinas gewandt, und obgleich sie kein Vertrauen zu den Arzeneien ihrer Mutter hat, hat sie doch versprochen, dafür zu sorgen.«
»Der Glaube gehört dazu! Wenn man nicht an Gott glaubt, dann hilft alles nicht,« sagte die alte Magd noch einmal. In dem Augenblick erschien Banna, von einem Besuch bei einer Gevatterin zurückkehrend, auf der Straße: stolz, fest auftretend, in schweren Kleidern trotz der Hitze, und eine Kette voller Amulette über der Brust. Sie warf dem Knaben einen verächtlichen Blick zu, fing an sich die Hemdärmel aufzuknöpfen und Simona zu erzählen, was sie bei der Gevatterin gehört.
»Ach, Zia Simona mia, könntet Ihr doch sehen, wie schön mein Patenkind ist! Es hatte schon die Ohrringe an, die ich ihm geschenkt habe; ja, Ohrringe so schön wie zwei Sterne, die jeder zwei Skudi kosten. Nun, wenn ich ein Geschenk mache, dann sehe ich nicht darauf, ob ich einen Skudo oder einen Real aus der Tasche hole; Gott sei Dank, man kann es ja! Nun, Gevatterin Lisendra sagte, auch jenes verkommene Geschöpf, Margherita, die Magd des Doktors, würde ein Kind bekommen … Da wird er wohl die Mitgift für sie verdoppeln – wenn er einen Mann für sie findet …«
»Still!« flüsterte die Magd und wirkte nach dem Hause Jorgis hin. »Er ist da.«
»Was liegt mir daran?« sagte Banna, ihrem Hause zuschreitend. »Meine Zunge fürchtet sich vor niemand, wenn sie die Wahrheit sagt!«
»Ja, weil sie einen vollen Beutel hat!« murmelte Zia Simona.
Petru hatte sich nicht erkühnt, den Mund auf zutun: Banna war die einzige Person, vor der er Angst hatte. Außerdem hatte er an diesem Tage an seine eigenen Pläne zu denken, und die Angelegenheiten anderer interessierten ihn weniger als sonst.
Mit einem Satz war er wieder in der Kammer. Sein Herr lag unbeweglich in den Kissen, und das vom Widerschein des Abendrots gerötete Gesicht hatte seinen gewohnten träumerischen Ausdruck.
Der Doktor, in einem ungewöhnlich sauberen und gut gebügelten weißen Anzug, schlug mit der Faust auf die Zeitung, als sei sie eine Tür, die er einschlagen wolle. Zu dem Priester gewandt, schrie er: »Sie sagen, Lombroso begründe seine Erfahrungen auf die ›Vermischten Nachrichten‹ in den Zeitungen. Nun, ich schätze eine Zeitung mit dem Datum von heute, von gestern, vom vorigen Monat höher als alle Eure alten Schmöker. Die Zeitung ist die Wirklichkeit, bester Freund; alles übrige, die Geschichtsbücher einbegriffen, ist Phantasie. Das hier, das sind Tatsachen, das ist Wahrheit; und diese brave Frau, die im Traum ihren Sohn gesehen, aufgestanden und genesen ist, ist ein Beweis dafür, daß unsere Wissenschaft sich nicht irrt.«
Doch der Priester lachte, ironisch und wohlwollend zugleich. »Genug, Doktor! Streiten wir nicht, es ist doch zwecklos. Übrigens wäre niemand glücklicher als ich, wenn auch unserm Jorgi diese Nacht im Traum ein gewisses Persönchen erschiene – wer? das weiß er selbst – und ihm die Hand reichte, damit er aufstände …«
»Er bedarf keines Traumes: sein bloßer Wille würde genügen, – aber gerade der fehlt! Er hat sich schließlich an seinen Zustand gewöhnt, und das Stillliegen gefällt ihm; er ist ganz einfach ein Faulpelz, wie der Postbote sagt.«
Und wie durch die Nennung seines Namens herbeigerufen, kam der Postbote über den Hof und klopfte an die Tür, obwohl sie offenstand. Die Post!
Jorgi hatte schon den Schritt erkannt, und sein Herz pochte vor Erwartung; seine Augen wurden groß und leuchtend, sein magerer Arm schien sich unnatürlich lang auszustrecken, um schneller den Brief zu ergreifen, den der Postbote ihm reichte.
»Na, wie steht's, Jorgeddu? Noch im Bett? Um diese Zeit? Steh' doch auf, Faulpelz! Du weißt, morgen ist Johannistag, also laß uns diese Nacht gehen, Lorbeer pflücken und ihn auf die Mauer legen, damit die Diebe und die Füchse nicht mehr darüber können!«
Der Doktor lachte laut und sagte zu Priester Defraja: »Hören Sie? So redeten seine Heiligen!«
Jorgi betrachtete wie bezaubert das duftende Briefchen, öffnete es jedoch nicht: er wollte allein sein, um die ganze Freude zu kosten. Der Priester verstand das und erhob sich, um zu gehen, während der Postbote sich mit der Hand auf das linke Bein schlug und zum Doktor sagte: »Das hier spielt mir von Zeit zu Zeit auch solchen Streich: es will nicht vom Fleck, und das einzige Mittel, es auf den Trab zu bringen, ist, daß ich ihm mit der Säge drohe. Das hilft, sage ich Euch!«
Triumphierend blickte der Doktor auf den Priester und Jorgi und sagte: »Hört Ihr? Das ist noch ein Mann!«
Doch Priester Defraja hatte keine Lust mehr, mit ihm zu streiten; er ging, mit seinem behutsamen und doch schnellen Schritt, und als er den Hof verließ, begegnete er Zio Remundu, der gerade aus der Schäferei heimkehrte; sein Pferd war mit Grasbündeln beladen, aus denen hier und da eine rote Mohnblüte, eine goldgelbe Ranunkel hervorleuchtete.
Am lichten Himmel erglänzten die ersten Sterne; der Abend war klar und mild, die Luft vom Duft der aromatischen Stauden erfüllt, und die Schwalben flogen noch zwitschernd von einem Häuschen zum andern, als wären auch sie von einem Lebensverlangen erregt, das die Stunde der Ruhe hinausschob.
Die Gestalt Zia Simonas war aus ihrem dunkeln Rahmen verschwunden; der Großvater hielt sein Pferd an und begrüßte den Priester.
»Wie geht's, Pride Defrà?« fragte er; seine Stimme erschien wie seine Gestalt kraftloser als früher. In seinem Blick, seinem ganzen Aussehen lagen Anzeichen von Müdigkeit, von Ermattung, wie sie sich auch bei jungen Leuten in den ersten heißen Tagen des Sommers leicht einstellt.
»Gut!« erwiderte der Priester. »Und Ihr?«
»Und wir werden alt! Ach ja, alle Jahreszeiten folgen einander …«
»Das Alter ist die schönste Jahreszeit! Es ist die Zeit der Ernte, Zio Remù!«
»Wenn aber die Aussaat nicht gut war?«
»Nun, ich rede von denen, die gut gesät haben, wie Ihr!«
Sagte der Priester das im Spott? Von seinem alten Tier herab sah der Großvater ihn an mit den Augen, die noch immer ihren Adlerblick besaßen, und nickte zustimmend. »Ja, ja,« aber auch seinerseits ein wenig spöttisch. »Wir glauben alle gut zu säen, aber so oft täuschen wir uns über das Saatkorn! Genug … Wollen Sie hereinkommen und ein Glas Roten mit mir trinken?«
»Danke, es ist spät; lieber morgen, am Festtag!«
Er schickte sich an zu gehen, doch der Alte hielt ihn zurück mit der Frage:
»Sagen Sie mir, Pride Defrà, wie geht es Jorgi Nieddu?«
Der Priester sah überrascht zu ihm auf, denn es war das erstemal, daß der Großvater nach Jorgi fragte; doch kaum hatte er erwidert: »Es ist noch immer dasselbe!« so drängte der Alte sein Pferd zu dem Tor, das die Magd weit geöffnet hatte, und ritt hinein ohne ein Wort weiter zu sagen.
Priester Defraja stieg wieder zum Kirchplatz hinauf und wanderte dort auf und ab; seine durchsichtigen Hände und sein farbloses Albinogesicht sahen im Dämmerlicht noch weißer aus als das Gesicht und die Hände Jorgis. Und er ging auf und nieder, und es sah aus als betete er, während seine verschleierten Augen oft zum Himmel aufblickten. Auf einmal aber blieb er stehen, an der Brüstung über dem Tal, beugte sich ein wenig vornüber, legte die Hand auf die Brust und fing an zu husten. Sein ganzes Gesicht wurde blau und dann leichenblaß, und auf dem Taschentuch, das er sich vor den Mund gehalten, blieb ein Fleck so rot wie die Mohnblumen, die Zio Remendu mit dem Grase heimgebracht. Er lehnte sich an die Brüstung, seine Knie zitterten und seine Kehle war wie zugeschnürt. Es ist zu Ende! murmelte er vor sich hin.
Ja, der Sommer brachte ihm seine blutroten Blumen, und der Herbst würde Chrysanthemen über ihn streuen. Und er, er hatte niemand, der ihn tröstete, und der Postbote brachte für ihn, aus blauen Fernen, keinen Hauch von Leben!
Er beneidete Jorgi. Dann aber raffte er sich auf und fing wieder an auf und ab zu gehen: aus dem Dorfe kamen Freudenrufe daher, und vor dem Kirchlein San Giovanni, jenseit des Rathauses, ließen vergnügte junge Leute einige Raketen steigen, die Kinder selten einen Haufen Mastixzweige in Brand.
Sterben! dachte Priester Defraja, während er immer noch hin und her ging wie eine unruhige Schwalbe. Nun, das ist unser Los, weshalb sich dagegen auflehnen? Heute, morgen, jetzt oder später: es ist dasselbe, wenn nur die Flamme der göttlichen Liebe nicht erlischt, die unsere Seele ist …
Vor dem roten Abendhimmel stiegen die Raketen auf gleich aufwärts geschleuderten goldenen Schnüren und lösten sich in blaue und violette Sterne, in Diamanten und Smaragden auf. Zwischen den dunkeln Bergspitzen an der Küste ging der Mond auf, zögernd und wie unentschlossen, ob er sich zeigen solle, unmutig über den Anblick jener unverschämten Lichter, die sich anmaßten den Abend zu erhellen; ein rötlicher Stern hingegen stand still über dem Kirchturm und erschien blasser als sonst, gleichsam traurig über den falschen Glanz jener Leuchtkörper.
Und Priester Defraja ging und ging und dachte bei sich, daß alle menschlichen Leidenschaften, Ehren und Würden, Haß und Freude und die Liebe zum Weibe den Freudenfeuern an einem Festabend gleich seien …
Seine Liebe zu Gott, die Freude, sich bald mit ihm zu vereinigen, waren den andern Leidenschaften gegenüber wie jener stille Stern gegenüber jenem flüchtigen Sprühen; und doch dachte er immerzu an Jorgi, an den Brief, der wie ein Gruß von fernen Gestaden, vom weiten Horizont des Lebens und der Welt daherkam – und er fühlte seine Liebe zu Gott, dem stillen Stern über dem Kirchturm gleich, erblassen vor der Liebe zu den Dingen dieser Welt.