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VII

Nachdem er Petru fortgehen sehen, und in der Annahme, er werde an diesem Abend nicht mehr wiederkommen, hatte der Großvater gewartet, bis die Nachbarinnen zur Quelle gegangen waren, sich dann erhoben und zu Jorgi begeben.

Er fühlte sich ganz ruhig, denn er wußte, was er tat, ja er wunderte sich, daß er es nicht schon früher getan: und doch hielt er im Höfchen an, schob sich seine lange Mütze zurecht und nahm den Stock aus einer Hand in die andere; endlich schritt er entschlossen auf die Tür zu, pochte leise und trat ein.

Jorgi las eben wieder das Briefchen Marianas und sah gleichsam durch eine traumhafte Atmosphäre hindurch die dunkle Gestalt des Alten auf sein Bett zukommen. Auch er wunderte sich nicht, erwartete er doch diesen Besuch schon so lange! Aber er war überrascht, den Großvater so sehr gealtert, so gebückt, ja kraftlos zu sehen. Er muß krank sein und fürchtet sich vor dem Sterben, dachte er, und verbarg den Brief unter dem Kissen.

Der Alte setzte sich auf den Schemel, ohne zu grüßen, wie einer, der jeden Augenblick bei dem Kranken aus- und einging; und gerade vor sich hinsehend, fragte er einfach: »Nun, wie geht's?«

»Gut,« sagte Jorgi leise.

Dann schwiegen sie. Was sollten sie einander fassen.

Und der Großvater rückte sich nochmals die Mütze zurecht, blickte um sich, wie um sich zu vergewissern, daß er, Remundu Corbu, wirklich hier in der Kammer Jorgi Nieddus sitze, und sagte endlich: »Du darfst dich nicht wundern, daß ich hier bin: ich wollte schon eher kommen, aber vieles hielt mich davon zurück. Ich möchte deine Meinung hören … in bezug auf den Bettler, jenen Elenden … Sag' mir, was sollen wir mit ihm tun? Sollen wir ihn anzeigen?«

Ohne zu zögern, entgegnete Jorgi: »Das ist nicht meine Sache!«

»Aber du bist doch der am meisten Geschädigte; du konntest den Schuldigen zur Anzeige bringen, sobald du wußtest, wer es war. Warum hast du das nicht getan?«

»Und warum habt Ihr es nicht getan?«

»Nun, Jorgi, höre, laß uns deutlich miteinander reden; weil ich bis heute nicht sicher war.«

Jorgi lächelte wider seinen Willen, und der Alte begriff den Sinn dieses traurigen und sarkastischen Lächelns. Er schob den Schemel dicht an das Bett, auf den Stock; und jetzt leuchteten seine Augen, und sein Blick drang wie ein Lichtstrahl gerade in die Augen Jorgis.

»Du willst sagen: kommen dem kindischen Alten diese Bedenken jetzt noch? Ja, das lese ich auf deinen Lippen. Nun, und weshalb sollte die Stunde des Zweifels nicht kommen? Es kommen eben alle Stunden, Jorgi Niè, auch die unseres Todes: und weil man im Finstern gelebt, muß man darum auch im Finstern sterben? Höre mich: es gibt keinen Menschen auf der Welt, der nicht geirrt hätte; kannst du mir, mit dem Bewußtsein die Wahrheit zu sagen, einen einzigen nennen, so will ich dir glauben. Christus? Christus war kein Mensch, sondern ein Gott; alle andern, die Apostel einbegriffen, haben geirrt. Du vielleicht nicht? Überlege es dir und du wirst sehen, daß auch du Irrtümer begangen hast. Kannst du auf dein Gewissen nein sagen, dann werde ich mich schämen, bekennen zu müssen, daß auch ich ein Mensch von dieser Welt gewesen bin!«

Jorgi lächelte nicht mehr: er lauschte den Worten des Alten und vernahm daraus nicht Gewissensbisse, Reue und Schwachheit, sondern den selben Stolz, der auch auf dem Grunde seiner Seele wohnte und ihn aufrechtgehalten hatte wie der Stützbalken das baufällige Bauwerk.

»Höre mich, Jorgeddu,« fuhr der Alte fort, »es ist leichter zu sagen: ich habe nicht geirrt, als das Gegenteil zu erkennen. Auch du, der die Gesetze studiert und viele Sprachen gelernt hast, du irrtest dich, als du mich für einen einfältigen und bösen Menschen hieltest. Unwissend bin ich, einfältig nicht, stolz ja, aber nicht böse. Als du so über mich urteiltest, warst du böse; denn wir sind alle Spiegel und sehen unser Bild in der Person des andern. Trage ich Haß im Herzen, so sehe ich meinen Feind mit schwarzem Gesicht wie das meine, das die Physiognomie des Teufels trägt; habe ich Liebe in mir, so sehe ich auch meinen Feind schön, und wenn er das Messer in der Faust hält …«

»Das ist wahr!« sagte Jorgi; »aber warum sind Euch diese Gedanken nicht früher gekommen?«

»Was weißt du davon? Und dann: früher warst du nicht gewillt mich anzuhören wie jetzt, ich nicht gewillt dich lachen zu sehen, wie du soeben wieder getan! Und so kam's, daß wir uns nicht verstanden! Du hattest mich nicht lieb und ich dich nicht: warum sollten wir das Gegenteil behaupten? Und das war der Fehler!«

»Aber ich hatte Eure Enkelin lieb, und das wenigstens begrifft Ihr!«

»Siehst du? Siehst du, daß ich recht habe, wenn ich sage: auch du irrtest? Nein, du hattest sie nicht lieb! Hättest du sie wirklich geliebt, wäre die deine wahre Liebe gewesen, so wäre alles das, was geschehen ist, nicht geschehen. Und auch sie hatte mich nicht lieb, sonst hätte sie von Anfang an Vertrauen zu mir gehabt und mich nicht dadurch gekränkt, daß sie dich heimlich ins Haus ließ und mich hinterging, wie man einen Feind hintergeht; und auch dich liebte sie nicht wahrhaft, sonst hätte sie dem Tode getrotzt, um dir zu folgen. Die wahre Liebe ist wie der rechte Haß: sie überwindet jedes Hindernis, sie ist blind, sie ist so gewaltig wie der Blitz. Aber … genug, was geschehen ist, ist geschehen, und es ist unnütz, darüber zu reden. Sei du nur darauf bedacht, daß du wieder gesund wirst, und alles läßt sich vergessen.«

»Ich werde nicht wieder gesund,« sagte Jorgi, »der Haß hat mich tatsächlich zerschmettert wie ein Blitz, und auch die Liebe kann das nicht ungeschehen machen.«

Der Alte schüttelte den Kopf: »Wer weiß, Jorgi? Du bist jung, man soll nie sagen: das wird nicht geschehen! Und jetzt will ich dir sagen, warum ich hier bin … Dein kleiner Diener kommt nicht mehr?«

»Heute abend nicht.«

Da erzählte der Alte mit leiser Stimme, wie sein alter Feind, Junassiu Arras, ihm kundgetan, daß der wahre Schuldige der Bettler war und auch wo dieser das Geld vergraben hatte. Ein Rest von Bosheit aber, wie auch der Blick Jorgis, in dem er noch immer Mißtrauen und Geringschätzung zu erkennen glaubte, hielten ihn ab, von Columba zu sprechen und von der Sorge, der Ergriffenheit, die ihre Ohnmacht ihm verursacht. Er äußerte nur: »Der Augenblick, in dem Junassiu Arras mir die Sache kund tat, war wenig geeignet; aber so ist er immer gewesen: ein Mann ohne Einsicht. Genug, ich habe ihm verziehen wie er mir, sind wir doch nun beide alt … Also, wie ich dir sagte, ich ritt direkt nach San Francesco, fand das verwünschte Geld und tat Gutes damit; nun, das tut nichts zur Sache. Ich dachte gleich daran, zu dir zu gehen, aber was sollte ich dir sagen? War ich der Sache sicher? Nein, das konnte alles eine Komödie Junassius sein, und ich war immer im Zweifel, ob er sich nicht über mich lustig machte. Und so gingen die Tage hin, Tage so düster wie im Winter. Aber gestern kam der Priester zu mir und sagte: ›Wenn Ihr an Junassiu Arras' Schäferei vorbeikommt, so geht doch einmal hinein, Zio Remù; es ist jemand da, der Euch sprechen möchte.‹ Ich sah ihn an, er sah mich an, und wir verstanden einander, Jorgè, denn die Augen sind aufrichtiger als die Lippen. ›Prete Defraja,‹ sagte ich zu ihm, ›Sie wissen alles: was raten Sie mir, daß ich tun soll?‹ Und er antwortete mir: ›Was Ihr Gewissen Ihnen rät!‹ Und diese Worte, mein Lämmchen, haben mir das Herz ergriffen, mehr als alle Beschimpfungen, Vorwürfe und Verwünschungen Junassiu Arras'. Denn ein Gewissen habe ich, Jorgè, und es ist immer wach wie der Holzwurm. Genug, da der Priester darauf drang, legte ich meinem Pferd den Sattel auf, ritt zu der Schäferei Junassius und fand den Bettler in einem Winkel liegen wie ein verwundetes Wildschwein; er hatte das Fieber und redete irre, aber immer wiederholte er, wie er in mein Haus eingedrungen sei, das Geld gestohlen und verborgen habe; und er sprach auch von dir, rief dich an und bat dich, ihm zu verzeihen … Mich schien er gar nicht zu erkennen. Da sagte Junassiu Arras: ›Deinen eigenen Ohren wirst du wohl trauen! Ich habe diesen Mann hier viele Wochen beherbergt; anfangs leugnete er alles, aber nachdem er einmal seine Schuld gebeichtet, ist er nicht mehr still gewesen: er ist krank vor Gewissensbissen und Seelennot, und ich glaube, wenn er besser wird und wieder gehen kann, wird er sich selbst dem Gericht stellen. Aber bis dahin will ich nicht, daß man ihn hier findet und von hier fortholt, und daß die Leute hier sagen: Junassiu Arras hat in seiner Schäferei einen kranken Bettler verhaften lassen. Nein! Zweimal sind die Karabinieri gekommen, ihn zu suchen, und zweimal habe ich es fertig gebracht, ihn zu verbergen. Aber jetzt denke du, Remundu Corbu, an das, was zu tun ist!‹ Und deshalb komme ich zu dir, Jorgi Nieddu, dich zu fragen: Was sollen wir tun?«

»Was Euer Herz Euch rät!«

»Auch du sprichst so? Und wenn mein Gewissen …«

»Ich sage Euer Herz, nicht Euer Gewissen.«

Das Gesicht des Alten klärte sich auf. »Ah, also du glaubst, daß ich ein Herz habe? Nun, mein Herz sagt mir, ich solle die Sache laufen lassen … Wenn ich jenen Lumpen nun anzeigte, was wäre damit gebessert? Er kann niemand mehr Böses zufügen – und ihm etwas zuleide tun, das wäre, als wollte man einem schon gehenkten Dieb etwas zuleide tun. Aber du, Jorgè, du …«

Seine Stimme zitterte, und die Worte, die beinahe verstohlen herauskamen, schienen in einem Seufzer zu verlöschen; doch Jorgi verstand, was der Großvater nicht aussprach.

»Sorgt Euch nicht um mich,« sagte er, bemüht, seine Bewegung zu verbergen.

In dem Augenblick kam Petru herein, und als er Zio Remundu am Bett Jorgis sitzen sah, riß er die Augen auf und fing vor Bestürzung an zu lachen; aber es genügte, daß der fürchterliche Kopf des Alten sich zu ihm wandte und die Stimme seines Herrn ertönte: und der tragische Ernst des Augenblicks drängte sich auch dem Gemüt des Knaben auf.

»Was ist da zu lachen?« rief Jorgi ihm zu. »Geh' hinaus und laß niemanden herein!« Und er hatte kaum ausgeredet, da war der Knabe schon draußen.

Und der Großvater sah nochmals dem Kranken in die Augen; er sagte nichts, aber sein Blick war so flehend, daß Jorgi verwirrt die Augen niederschlug und murmelte: »Nun, wenn Euer Herz Euch sagt, daß Ihr verzeihen sollt, so verzeiht. Ich meinerseits, ich … habe schon lange verziehen, ihm … allen!«

Der Großvater seufzte tief auf; sein Gesicht verzog sich, und die Lippen, die die Lüge gekannt, die Verwünschung und den Racheschrei, zitterten wie die eines Kindes, das zu weinen anfängt. Doch er, der sich rühmte, nie in seinem Leben – auch nicht als Kind – geweint zu haben, unterdrückte auch jetzt seine Rührung und legte stumm seine dunkle, noch immer kräftige Hand auf die kleine, wachsbleiche, die der seinen nicht entgegenkam, aber dieser versöhnlichen Berührung auch nicht auswich.

»Du bist ein Mann, Jorgi!«

Und wieder schwiegen sie beide, ohne einander anzusehen, aber Hand in Hand.

Und doch fühlte Jorgi, wie sein alter böser Geist über ihn kam; bittere Fragen drängten sich auf seine Lippen, Argwohn und Zweifel trübten seine Freude. Doch er beherrschte sich: da saß der Alte, nachgiebig, überwunden; da saß er mit seiner primitiven Weisheit, mit allem, was er Gutes an sich hatte; das Böse hatte er draußen gelassen wie eine schmutzige Last: vielleicht würde er sie im Fortgehen wieder aufnehmen – aber was ging das ihn, Jorgi, an? Er sagte sich selbst: vom rauhen Boden könne man nur das wenige einsammeln, das er trägt.

Der Großvater schien das instinktive Mißtrauen zu verspüren, das Jorgi bewahrte, denn er zog alsbald seine Hand zurück.

»Höre!« hob er nochmals an. »Ich bin heute noch einmal zur Schäferei Junassiu Arras' geritten. Der Bettler war ruhiger; er redete nicht mehr, aber er erkannte mich. Ich sagte ihm: ›Bleibe hier, bis du wieder gesund bist; dann kehre wieder ins Dorf zurück, gehe zu Jorgi Nieddu und tue, was er dir sagen wird; du hast mich, Remundu Corbu, nicht dadurch geschädigt, daß du mir das elende Geld nahmst, sondern dadurch, daß du mich um den Frieden in meiner Familie und in meinem Gewissen gebracht hast; vor allem aber hast du jenen Unglücklichen geschädigt.‹ Also er wird wohl eines Tages zu dir kommen, und wenn du es für gut hältst, so sage ihm, was heute abend zwischen uns vorgegangen ist. Und jetzt gehe ich, Jorgi. Ich werde dann und wann wiederkommen, und wir plaudern miteinander, bis zu dem Tage, an dem du aufstehen und mit neuem Mut deinen Weg wieder aufnehmen wirst. Und dann wird die Reihe an mich kommen, und wenn ich auf der Matte liege, um nicht wieder aufzustehen, dann kommst du mitunter zu mir …«

Er stand auf, stützte sich mit der einen Hand auf seinen Stock und legte die andere nochmals auf die Jorgis: doch jetzt erfaßte die wachsbleiche Hand die dunkle, noch immer starke, die klaren Augen des Kranken suchten die des Alten, als ob sie ebenso seine Seele erfassen wollten, und Jorgi sagte: »Wartet noch einen Augenblick; ich will Euch nur eines fragen: Habt Ihr mich wirklich für schuldig gehalten?«

»Nun wohl: ja! Im ersten Augenblick, ja!«

»Aber warum? Hattet Ihr einen Grund dafür?«

»Warum? Weil ich dich haßte, und du mich; und der Haß ist wie die Eifersucht: er argwöhnt auch ohne Grund!«

»Dio mio, Dio mio!« stöhnte Jorgi, mit einemmal wieder von all dem ausgestandenen Kummer gepackt, »und auch sie hat mich des für fähig gehalten?«

»Auch sie.«

Jorgi preßte seine pochenden Schläfen mit den Händen und verbarg das Gesicht. »Aber warum? Warum?« wiederholte er.

»Und hast du nicht geglaubt, wir hätten den Diebstahl simuliert, bloß um dich zu verleumden? Warum? Ach, wir leben in Irrtümern! Aber nun ist's genug! Die Hauptsache ist, daß wir unsere Irrtümer erkennen! Gute Nacht, Jorgeddu! Sagst du mir nichts?«

»Gute Nacht!« entgegnete Jorgi endlich ein wenig ruhiger. Und da erst ging der Alte. Im Hofe hielt er an und schien Petru etwas sagen zu wollen; der aber schlüpfte schleunigst in das Zimmer seines Herrn.

Jorgi sah sehr blaß aus; seine Augen waren schwarz umrandet, aber lebhaft und leuchtend; und während er gewöhnlich nach einer Erregung oder einem außergewöhnlichen Vorfall in krankhaften Schlummer versank, fand er an diesem Abend keine Ruhe. »Gerade heute abend!« dachte Petru, nach seinem Päckchen tastend; und um Jorgi nicht noch mehr aufzuregen, fragte er nicht einmal, warum der Großvater gekommen sei.

Jorgi seinerseits verlangte danach, allein zu sein, um seine Gedanken zu sammeln und ihren stürmischen Lauf zu hemmen.

»Siehst du,« sagte er zu Petru, während dieser ihm die Decken ordnete, »auch der Großvater hat sich gebeugt! Jetzt bin ich zufrieden! Aber ich bin müde und will schlafen. Also geh!«

»Ja, ja, schlaft nur …«

Petru ging schnell hinaus und wartete. Hoch und hell stand der Mond jetzt gerade über der Straße. Der Großvater hatte seinen Platz auf der Schwelle wieder eingenommen, die Rückkehr der Frauen erwartend. Das Dorf lag so einsam und verlassen da, daß es schien, als wäre nur er auf seinem hohen Steinsitz übriggeblieben, um die Erinnerungen an die vergangenen Zeiten zu hüten und seinerseits eines ganzen entschwundenen Zeitalters zu gedenken.

Auf einmal tauchte eine bewaffnete Gestalt mit einem ganzen Gefolge von Hunden am Ende der Straße auf, sich dunkel und groß von dem mondhellen Hintergrund abhebend; die Hunde bellten, das Echo antwortete, und die Stimme des Doktors – denn er war's, der auf die Hasenjagd ging – sang seine Lieblingsarie:

Amore, mistero …

Und das ganze Dorf schien zu erwachen.

Petru horchte an der Tür seines Herrn; das Licht war erloschen, drinnen alles still. Leise, leise ging er hinein und ließ die Tür weit offen, damit er sehen konnte; er holte sein Päckchen hervor, bekreuzte sich, nahm ein wenig von der Wundersalbe auf den Finger und schlich sich an das Bett.

Jorgi schlief nicht, aber erstaunt über die sonderbaren Manöver des Knaben lag er still, mit geschlossenen Augen; er spürte das lebhafte Atmen Petrus und einen kalten, fettigen Finger, der ihm über die Stirn, das Kinn, die Ohrläppchen strich; dann verschwand das von der Tür her einfallende unbestimmte Licht, die leichten Schritte Petrus huschten über den stillen Hof, und es war, als folgten sie dem in der Ferne verhallenden Gesang des Doktors.

Jorgi erriet, was der Knabe gewollt; er mußte lachen und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab; und sein Lachen wurde immer lauter: er hörte es durch das Dunkel schallen, und es kam ihm vor wie das Lachen eines andern, eines glücklichen, gesunden Wesens, das sich regte, sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, hinauszuziehen in die Welt voller Schönheit und Lebensfreude; und indem er sich dieser spontanen Fröhlichkeit überließ, fragte er sich dennoch voll Erstaunen nach dem Warum. Ja, warum? Nun, er fühlte sich eben glücklich, als wäre er nicht mehr krank: das Geplauder des Doktors, der Besuch des Großvaters, Petrus' Zauberei, alles erschien ihm so schön, so vergnüglich. Ja, auch die Worte des Alten, seine rauhe Weisheit, seine spätgeborene Philosophie regten ihn nicht mehr auf, sondern machten ihn lachen. Doch auf das Lachen folgte nervöses Schluchzen, und von neuem überkam ihn tiefe Niedergeschlagenheit. Wie konnte er nur so lachen? Hatte er ein Recht zu lachen? Und warum diese Schlaflosigkeit jetzt? Ach, Schlaflosigkeit fehlte nur noch, um sein Elend vollzumachen! Und was macht es aus, ob auch der Großvater sein Unrecht erkannt hat? Er kann ihm die Ehre wiedergeben, ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen – nicht ihm die Gesundheit wieder verleihen: und die will er, nun gerade will er sie, nachdem er alles übrige erlangt: seinen guten Namen, Gerechtigkeit, Liebe …

Und mit Herzklopfen denkt er wieder an den Brief der Freundin, und es ist ihm, als habe er die Worte vergessen. Er steckt das Licht wieder an und liest nochmals.

»… auch ich liebe Sie, wie Sie mich lieben; und unserer Liebe kann weder die Zeit noch die Entfernung etwas anhaben, denn sie ist die unerschöpfte Quelle, die unser Leben speist: die Liebe zur Liebe.«

Um das Wörtchen Liebe gruppieren sich die andern Worte wie Planeten um einen Fixstern; und in der lauen, klaren Nacht, die ihren Duft und ihr mildes Mondlicht bis in das Zimmer des Kranken sendet, heftet Jorgi seine Blicke auf das blaue Briefblatt, wie er einst vom Rand des Abhangs aus den gestirnten Himmel betrachtet. Und seine Erregung, seine Verwirrung, seine Freude und seine Traurigkeit nehmen immer mehr zu. Um sich zu beruhigen, will er an seine Freundin schreiben; er nimmt ein Buch und Papier vom Tischchen, rückt sich das Tintenfaß, das Licht heran und greift nach der Feder. Aber diese fällt auf die Erde, und eine andere hat er nicht. Um sie aufzuheben, muß er sich über den Bettrand beugen – und das verursacht ihm allemal heftigen Schwindel; dennoch steht er nicht an, es zu versuchen, wendet sich auf die Seite, bückt sich und tastet auf dem Boden, mit dem Kopf nach unten …

Er findet die Feder und nimmt wieder seine gewohnte Lage an; und erst da bemerkt er, daß er sich bewegt hat, ohne schwindlig zu werden: kalter Schweiß tritt ihm auf die Stirn, seine Schläfen, seine Pulse klopfen – aber sein Denken bleibt klar, die Dinge rund umher drehen sich nicht wie sonst im Kreise … Er meint, er müßte vor Freude sterben!

So verharrt er eine Weile und denkt nicht einmal an die ferne Freundin; denn eine leuchtende Gestalt steht vor ihm und erfüllt das Zimmer und die Täler ringsum und die ganze Welt mit ihrem Glanz: das Leben.

Doch die Angst, sich zu täuschen, kehrt ihm zurück, ungeduldig richtet er sich auf und sitzt, die Hände fest aufgestützt, auf seinem heißen Lager. Sein Kopf zittert vor Schwäche, aber seine Gedanken ziehen fortwährend klar an seinem Geiste vorüber.

Ist es Täuschung oder Wahrheit: er meint, er sei genesen. Langsam zieht er sich in die Höhe, schiebt das Kissen gegen das Kopfende des Bettes und lehnt den Rücken daran. Er bewegt den Kopf, sieht sich um, und alles bleibt still an seiner Stelle, und alles erscheint ihm schön: die armselige Truhe, in der seine Kleider liegen, der Schemel, auf dem Mariana so oft gesessen, das Tischchen mit den Büchern, der geborstene Wasserkrug, aus dem er so manchen bitteren Schluck getrunken, das elende Geschirr, ja die Spinngewebe in den Ecken: alles, alles erscheint ihm schön und freundlich. Der schimmernde Schleier, der die Dinge rundum verschönte, war aus Tränen gemacht, die sich in Perlen verwandelten.

Die Stunden vergingen, die Kerze erlosch; aber er saß aufrecht und unbeweglich im Dunkeln und wartete auf die Morgendämmerung.

 


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