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Wir berieten viel, was Richard werden sollte; zuerst ohne Mr. Jarndyce, wie er gewünscht hatte, und dann mit ihm; aber es dauerte sehr lange, ehe wir nur einigermaßen vorwärts gekommen waren.
Richard sagte, er sei zu allem bereit. Wenn Mr. Jarndyce fürchtete, er könne für den Flottendienst schon ein bißchen zu alt sein, sagte Richard, er habe sich das auch schon gedacht und es sei leicht möglich. Wenn Mr. Jarndyce ihn fragte, was er von der Armee halte, sagte Richard, er habe auch schon daran gedacht und es sei keine üble Idee. Wenn Mr. Jarndyce ihm den Rat gab, sich selbst einmal ernstlich die Frage vorzulegen, ob seine alte Vorliebe für die See nur eine gewöhnliche knabenhafte Neigung oder ein echter, innerer Impuls sei, so gab Richard zur Antwort, er habe sich die Frage schon oft vorgelegt, könne darüber aber nicht ins reine kommen.
»Wieviel an dieser Unschlüssigkeit in seinem Charakter«, sagte Mr. Jarndyce zu mir, »die unglaubliche Häufung von Ungewißheit und Indielängeziehen, mit der er von seiner Geburt an zu tun hatte, die Schuld trägt, wage ich nicht zu sagen, aber daß der Kanzleiprozeß außer seinen übrigen Sünden auch für einen Teil dafür verantwortlich ist, sehe ich deutlich. Es hat in ihm eine Gewohnheit erzeugt oder genährt, alles hinauszuschieben und sich auf Zufälle aller Art zu verlassen oder alles halbfertig und verwirrt liegen zu lassen. Selbst der Charakter älterer und gesetzterer Personen kann durch Verhältnisse und Umgebung Veränderungen erleiden. Es hieße übers Ziel schießen, wenn man von einem Jüngling, dessen Charakter noch in der Ausbildung begriffen ist, das Gegenteil verlangen wollte.«
Ich fühlte, wie richtig das war, obgleich es mir innerlich beklagenswert schien, daß Richards Erziehung diesen Einflüssen nicht entgegengewirkt und nicht mehr für die Ausbildung seines Charakters getan hatte. Er war acht Jahre in die Schule gegangen und konnte lateinische Verse aller Art auf die bewunderungswürdigste Weise machen. Aber niemals schien sich jemand die geringste Mühe gegeben zu haben, zu erfahren, zu welchem Beruf er am meisten hinneige, welcher Art seine Schwächen seien oder welche Wissenschaft am besten für ihn passe. Ich dachte mir, es würde Richard mehr genützt haben, wenn jemand ihn etwas fleißiger studiert hätte, anstatt ihn die Fähigkeit, Verse so außerordentlich gründlich zu drechseln, zu lehren.
Allerdings verstand ich nichts von der Sache und weiß auch bis heute noch nicht, ob die jungen Herren des klassischen Rom oder Griechenland auch solche Massenverse gemacht haben – oder ob es die Lieblingsbeschäftigung der jungen Herrn irgend eines andern Landes jemals gewesen ist.
»Ich habe nicht die leiseste Idee«, sagte Richard gelegentlich eines Gesprächs nachdenklich eines Tages, »was ich eigentlich werden möchte. Außer, daß ich ganz genau weiß, daß ich nicht Geistlicher werden will, ist es mir übrigens einerlei.«
»Du hast wohl keine Neigung für Mr. Kenges Beruf?« fragte Mr. Jarndyce.
»Das weiß ich nun eben nicht«, antwortete Richard. »Ich rudere sehr gern, und Jurisstudenten betreiben viel Wassersport. Es wäre vielleicht ein ganz kapitaler Beruf.«
»Chirurg –?« schlug Mr. Jarndyce vor.
»Ja, das ist das Wahre!« rief Richard begeistert aus.
– Ich glaube kaum, daß er vorher ein einziges Mal daran gedacht hat. –
»Das ist das Richtige. Jetzt haben wir's: M. R. C. S.«
Er ließ sich durch unser Lachen nicht davon abbringen, obgleich er selbst herzlich mitlachen mußte.
Er sagte, er habe jetzt seinen Beruf gewählt, und je mehr er darüber nachdenke, desto mehr fühle er, daß die Heilkunst sein wahrer Beruf sei.
Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß er nur deshalb zu diesem Entschluß gekommen war, weil er, innerlich froh, der unangenehmen Mühe des Nachdenkens enthoben zu sein, immer Geschmack an dem neuesten Einfall fand, und fragte mich, ob das Studium der lateinischen Verse häufig so ende oder ob Richard nur ein vereinzelter Fall sei.
Mr. Jarndyce gab sich große Mühe, mit ihm die Sache ernst durchzusprechen und ihm die Wichtigkeit eines so entscheidenden Entschlusses vor Augen zu führen. Richard war nach solchen Unterredungen immer etwas ernster als gewöhnlich, sagte aber stets Ada und mir, die Sache sei in schönster Ordnung, und fing von etwas anderm an zu sprechen.
»Bei Gott!« rief Mr. Boythorn, der sich für die Angelegenheit natürlich sehr stark interessierte, denn er tat nichts halb. »Es freut mich, daß ein junger Mann von Herz und Verstand sich diesem edlen Berufe widmet. Mit je mehr Geist er betrieben wird, desto besser für die Menschheit und desto schlimmer für die feilen Handwerker und Schwindler, die sich ein Vergnügen daraus machen, diese hohe Kunst der Welt in schlechtem Lichte zu zeigen. Bei allem, was niedrig und abscheulich ist, die Behandlung der Chirurgen bei der Marine ist derart, daß ich jedem Mitglied der Admiralität einen doppelten Knochenbruch an beiden Beinen beibringen lassen und es zu einem mit Deportation zu bestrafenden Verbrechen stempeln möchte, sie wieder einzurichten, wenn die Sache nicht in achtundvierzig Stunden anders würde.«
»Würdest du ihnen nicht wenigstens eine Woche Frist einräumen?« fragte Mr. Jarndyce.
»Nein, unter keinen Umständen! Achtundvierzig Stunden. Und was Korporationen, Kirchspielbehörden, Gemeinderatssitzungen und ähnliche Zusammenkünfte von Dickschädeln betrifft, die sich nur versammeln, um zu faseln, so sollten sie, bei Gott, verurteilt werden, sich den schäbigen Rest ihres elenden Lebens in Quecksilberbergwerken zu schinden, geschähe es auch nur, um zu verhindern, daß ihr greuliches Englisch irgendeine schöne Sprache, die im Sonnenlicht gesprochen wird, beflecke. Was diese Kerle betrifft, die die Selbstlosigkeit anständiger Gentlemen, die sich den Wissenschaften zuwenden, gemein ausnützen, indem sie die unschätzbaren Leistungen der besten Lebensjahre, die langen Studien und die kostspielige Erziehung mit einem Lumpengeld, zu klein für einen Kopierjungen, bezahlen, so sollte man jedem von ihnen den Hals umdrehen und ihre Schädel im chirurgischen Saal zur Erbauung der ganzen Hörerschaft aufstellen lassen, damit die Jüngern Studenten schon früh im Leben durch direkte Messung lernen, wie dick Schädel überhaupt werden können.«
Nach diesem heftigen Gefühlserguß sah sich Mr. Boythorn mit höchst liebenswürdigem Lächeln im Kreise um und fing plötzlich an zu donnern: »Hahaha!« und konnte sich kaum beruhigen.
Da Richard auch nach längerer Bedenkzeit immer noch der Ansicht war, seine Wahl stehe fest, und in derselben entschiedenen Weise Ada und mir immer wieder versicherte, es sei daran nicht zu rütteln, so wurde es notwendig, Mr. Kenge zu Rate zu ziehen.
So kam denn Mr. Kenge eines Tags zum Mittagessen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück, drehte sein Augenglas zwischen den Fingern, redete mit sonorer Stimme und benahm sich genau so, wie ich mich erinnerte, ihn als kleines Mädchen gesehen zu haben.
»Wahrhaftig«, sagte er. »Ja. Hm. Ein sehr guter Beruf, Mr. Jarndyce, wirklich, ein sehr guter Beruf.«
»Das praktische und theoretische Studium verlangt anhaltenden Fleiß«, bemerkte mein Vormund mit einem Blick auf Richard.
»Ohne Zweifel«, nickte Mr. Kenge. »Großen Fleiß.«
»Aber da dies schließlich mehr oder weniger bei allen Berufsarten, die in Betracht kommen, der Fall ist, so ist das ein Punkt, den man auch bei jeder andern Berufswahl berücksichtigen müßte.«
»Sehr wahr«, bestätigte Mr. Kenge. »Und Mr. Richard Carstone, der sich so ausgezeichnet hat – darf ich sagen, unter dem Himmel des klassischen Altertums, unter dem er seine Jugend verlebt hat? –, wird ohne Zweifel die erworbene Fertigkeit, wenn auch nicht die Prinzipien und die Praxis des Versemachens in einer Sprache, in der, wie es heißt, ein Dichter geboren und nicht gemacht wird, auf den wesentlich praktischeren Wirkungskreis, in den er jetzt eintritt, anwenden.«
»Sie können sich darauf verlassen«, fiel Richard in seiner leichtherzigen Weise ein, »daß ich es ordentlich angehen und mein Bestes tun werde.«
»Sehr gut, Mr. Jarndyce.« Mr. Kenge nickte milde. »Wirklich, wenn uns Mr. Richard versichert, er wolle es angehen und sein Bestes tun«, – er nickte wieder milde und voll Gefühl – »so möchte ich Ihnen nahe legen, daß wir uns nur nach der besten Art, ihm das Ziel seines Ehrgeizes näher zu rücken, umzusehen haben. Wir haben also weiter nichts zu tun, als Mr. Richard bei einem möglichst berühmten Chirurgen unterzubringen. Hat man schon jemand im Auge?«
»Ich wüßte nicht, Rick.«
»Ich auch nicht, Sir.«
»Also gut«, bemerkte Mr. Kenge. »Also zur Sache. Haben Sie diesbezüglich besondere Wünsche?«
»N-nein«, antwortete Richard.
»Also gut.«
»Ich hätte nur gern ein wenig Abwechslung, ich meine, genügend Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.«
»Allerdings sehr wünschenswert«, stimmte Mr. Kenge zu. »Ich glaube, dies ließe sich leicht machen, Mr. Jarndyce? Wir haben vor allen Dingen einen geeigneten Chirurgen ausfindig zu machen, und wenn wir darauf hingewiesen haben, daß wir eine gewisse Summe als Lehrgeld zu zahlen bereit sind - nicht wahr, Mr. Jarndyce? –, wird unsre einzige Schwierigkeit sein, eine entsprechende Auswahl zu treffen. Dann bleiben uns nur noch die kleinen Formalitäten zu beobachten übrig, die durch unser Alter und den Umstand, daß wir unter der Vormundschaft des Kanzleigerichts stehen, bedingt sind. Wir werden bald – wenn ich mich Mr. Richards eigner leichtherziger Worte bedienen darf – die Sache angehen, und unser Herzenswunsch ist befriedigt... Es ist ein merkwürdiger Zufall«, fügte Mr. Kenge mit einem Anflug von Melancholie hinzu, »einer jener Zufälle, die unsre irdischen, so beschränkten menschlichen Fähigkeiten nicht erklären können, daß ich selbst einen Vetter habe, der Mediziner ist. Vielleicht paßt er für Sie und ist geneigt, auf Ihren Vorschlag einzugehen. Ich kann für ihn so wenig stehen wie für Sie, aber vielleicht ist er der richtige.«
Da dadurch die Sache in greifbare Nähe rückte, kam man überein, Mr. Kenge solle mit seinem Vetter reden.
Mr. Jarndyce hatte uns schon früher vorgeschlagen, auf ein paar Wochen nach London zu gehen, und so wurde am nächsten Tag beschlossen, die Reise so bald wie möglich anzutreten.
Mr. Boythorn verließ uns innerhalb der nächsten acht Tage, und wir schlugen unser Quartier in einer reizenden Wohnung in der Nähe von Oxfordstreet über dem Laden eines Möbelhändlers auf.
London erschien uns wie ein großes Wunder, und wir waren jeden Tag stundenlang unterwegs, um uns die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die weniger leicht zu erschöpfen waren als wir selbst. Wir machten auch mit großem Genuß durch alle größeren Theater und sehenswerten Stücke die Runde. Ich erwähne es, weil es im Theater war, wo Mr. Guppy mich wieder zu belästigen anfing.
Ich saß eines Abends mit Ada vorn in einer Loge, und Richard hatte, wie er es gerne tat, sich hinter sie gesetzt, als ich zufällig unten im Parterre Mr. Guppy erkannte, der, das Haar in die Stirn gebürstet, mit einer Miene unsäglichen Leides zu mir emporblickte.
Ich fühlte das ganze Stück hindurch, daß er immer nur auf mich statt auf die Schauspieler sah, und zwar beständig mit einem offenbar sorgfältig einstudierten Ausdruck tiefsten Schmerzes und äußerster Niedergeschlagenheit.
Der Vorfall verdarb mir für den Abend die ganze Freude, da er mich natürlich in Verlegenheit setzte und gar so lächerlich war; aber nicht genug daran, von diesem Tag an konnten wir nie mehr ins Theater gehen, ohne daß nicht Mr. Guppy im Parterre auftauchte, immer mit zerrauftem Haar, aufgeschlagnem Kragen und deutlich zur Schau getragner Hinfälligkeit. Wenn er bei unserm Eintreten noch nicht da war und ich bereits zu hoffen anfing, er werde dies Mal nicht kommen, und mich für kurze Zeit ganz der Darstellung zuwendete, konnte ich sicher sein, seinen schmachtenden Augen zu begegnen, wo ich es am wenigsten erwartete, und sie von der Zeit an den ganzen Abend nicht mehr los zu werden.
Ich kann gar nicht sagen, wie mich das verstimmte. Wenn er sich nur das Haar melancholisch gekämmt oder den Kragen aufgeschlagen hätte, so wäre es schon schlimm genug gewesen, aber das Bewußtsein, daß dieser lächerliche Mensch mich immer anstarrte und stets mit einer gewissen theatralischen Verzweiflung, machte mich derart beklommen, daß ich mich gar nicht mehr getraute, über das Stück zu lachen oder mich ergriffen zu fühlen, darüber zu sprechen –, mich auch nur zu bewegen.
Ich verlor förmlich die Fähigkeit, mich natürlich zu benehmen. Ich hätte mich vor Mr. Guppy retten können, wenn ich mich in den Hintergrund der Loge gesetzt hätte, aber dazu konnte ich mich nicht entschließen, weil ich wußte, wie sehr es Ada und Richard in ihrer Unterhaltung gestört haben würde, wenn ein Fremder neben ihnen zu sitzen gekommen wäre.
So saß ich denn da und wußte nicht, wohin schauen – denn wohin ich immer blickte, ich fühlte, daß mir Mr. Guppys Augen folgten –, und war nur mit dem Gedanken beschäftigt, welche schrecklichen Ausgaben der junge Mann sich meinetwegen machte.
Manchmal dachte ich daran, es Mr. Jarndyce zu sagen. Dann fürchtete ich wieder, es könne den jungen Mann seine Stelle kosten. Und es Richard anzuvertrauen, hielt mich wieder der Gedanke an die Möglichkeit ab, er könne mit Mr. Guppy einen Streit anfangen und ihm ein blaues Auge schlagen. Soll ich, wenn er mich ansieht, die Stirn runzeln und mit dem Kopf schütteln? dachte ich mir. Nein, sah ich ein, das am allerwenigsten.
Ich überlegte mir, ob ich nicht an seine Mutter schreiben sollte, kam aber bald zur Überzeugung, daß ein Briefwechsel die Sache nur verschlimmern würde. Und immer wieder kam ich zu dem Schluß, daß ich rein gar nichts tun könnte.
Mr. Guppys Ausdauer ließ ihn nicht nur regelmäßig in jedem Theater, das wir besuchten, erscheinen, er zeigte sich auch im Gedränge, wenn wir hinausgingen, und zuweilen kam es vor, daß er sich hinten auf unsern Wagen stellte, wo ich ihn des öftern im Kampf mit den Wagenspeichen erblickte.
Waren wir zu Hause angekommen, pflegte er in solchen Fällen unsrer Wohnung gegenüber an einem Pfeiler Posten zu fassen. Da das Haus des Möbelhändlers das Eck zweier Straßen bildete und mein Schlafzimmer nach vorne ging, so fürchtete ich mich jedes Mal, ans Fenster zu treten, wenn ich oben war, um ihn nicht, wie es einmal in einer Mondnacht geschehen, an den Pfeiler gelehnt, klappernd vor Kälte stehen zu sehen.
Wenn er nicht zum Glück den ganzen Tag über beschäftigt gewesen wäre, ich glaube, ich hätte überhaupt keine Ruhe mehr vor ihm gehabt.
Während wir unsern Zerstreuungen nachgingen, an denen Mr. Guppy in so außerordentlich intensiver Weise teilnahm, wurde die Angelegenheit, derentwegen wir in die Stadt gekommen waren, nicht vernachlässigt.
Mr. Kenges Vetter war ein gewisser Mr. Bayham Badger, der eine große Praxis in Chelsea hatte und außerdem noch einer großen öffentlichen Anstalt vorstand. Er erklärte sich gern bereit, Richard in sein Haus aufzunehmen und dessen Studien zu beaufsichtigen. Und da diese, wie es schien, in seinem Haus erfolgreich betrieben werden konnten und er Gefallen an Richard fand und Richard sagte, auch er »passe ihm soweit«, so wurde ein Kontrakt gemacht, des Lordkanzlers Zustimmung eingeholt, und bald war alles in schönster Ordnung.
Am Tage der Kontraktunterzeichnung lud uns Mrs. Badger zum Essen ein. Es sollte nur ein Familienessen sein, wie ihres Gatten Brief besagte; und außer uns und der Hausfrau waren keine Damen zugegen.
Mrs. Badger erwartete uns im Salon, von verschiedenen Dingen umgeben, die verrieten, daß sie ein wenig male, ein wenig Klavier spiele, ein wenig Gitarre und ein wenig Harfe, ein wenig singe, ein wenig sticke und lese, ein wenig dichte und ein wenig botanisiere. Sie war, wie ich schätzte, ungefähr fünfzig Jahre alt, jugendlich gekleidet und hatte einen schönen Teint. Wenn ich zu dem kleinen Verzeichnis ihrer Kunstfertigkeiten noch hinzusetze, daß sie sich auch ein wenig schminkte, so will ich ihr damit nichts Böses nachgesagt haben.
Mr. Bayham Badger war ein roter, lebhaft gefärbter, geschniegelt aussehender Herr mit einer dünnen Stimme, weißen Zähnen, blondem Haar und verwundert dreinschauenden Augen. Er schien ein paar Jahre jünger zu sein als Mrs. Bayham Badger. Er bewunderte seine Gattin ausnehmend, aber merkwürdigerweise hauptsächlich deswegen, weil sie drei Männer gehabt hatte. Schon nach den ersten Begrüßungsworten sagte er triumphierend zu Mr. Jarndyce:
»Sie würden gewiß nicht glauben, daß ich Mrs. Bayham Badgers dritter bin.«
»In der Tat?«
»Ihr Dritter, jawohl. Mrs. Bayham Badger, glauben Sie nicht auch, Miß Summerson, sieht nicht wie eine Dame aus, die schon zwei Mal verheiratet war?«
»O, durchaus nicht.«
»Und zwar mit sehr bemerkenswerten Männern. Kapitän Swosser von der königlichen Marine, Mrs. Badgers erster Gatte, war ein hervorragender Offizier. Der Name Professor Dingos, meines unmittelbaren Vorgängers, genießt in ganz Europa einen großen Ruf.«
Mrs. Badger hörte lächelnd zu.
»Ja, meine Liebe«, bekräftigte Mr. Badger. »Ich bemerkte vorhin bereits zu Mr. Jarndyce und Miß Summerson, daß du schon zwei Mal verheiratet warst –, beide Male mit hervorragenden Männern. Und sie wollten es kaum glauben. Ja, ja, so geht es den meisten Leuten.«
»Ich war kaum zwanzig, als ich Kapitän Swosser von der königlichen Marine heiratete«, erklärte Mrs. Badger. »Ich war mit ihm im Mittelländischen Meer und bin ein richtiger Seemann geworden. Am zwölften Jahrestag meiner Hochzeit wurde ich die Gattin Professor Dingos.«
»Von europäischem Ruf«, schaltete Mr. Badger halblaut ein.
»Und als Mr. Badger und ich getraut wurden, wählten wir wieder denselben Tag zur Hochzeit. Ich hatte das Datum liebgewonnen.«
»So daß Mrs. Badger drei Männer geheiratet hat – zwei von ihnen höchst ausgezeichnete Personen –«, sagte Mr. Badger, die Tatsachen zusammenfassend, »und jeden an einem 21. März früh elf Uhr.«
Wir drückten alle unsere Bewunderung aus.
»Wenn Mr. Badger nicht gar so bescheiden wäre«, nahm Mr. Jarndyce das Wort, »so würde ich mir erlauben, ihn zu verbessern und zu sagen: drei ausgezeichnete Männer.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Jarndyce; das sage ich auch immer«, bemerkte Mrs. Badger.
»Und, meine Liebe«, rief ihr Gatte, »was sage ich immer? Ich sage ohne falsche Bescheidenheit hinsichtlich meines Rufes, den ich in meinem Fache mir erworben habe – was unser Freund Mr. Carstone im Lauf der Zeit Gelegenheit haben wird zu erfahren –, daß ich nicht so eingebildet bin, nein, wahrhaftig, nicht so unverständig, um meinen Namen auf gleiche Höhe mit so ausgezeichneten Männern, wie Kapitän Swosser und Professor Dingo waren, zu stellen. Vielleicht interessiert Sie das Porträt Kapitän Swossers, Mr. Jarndyce?«
Mr. Bayham Badger führte uns in das anstoßende Zimmer. »Es wurde nach seiner Rückkehr aus Afrika gemalt, wo er sehr von dem Fieber des dortigen Klimas gelitten hatte. Mrs. Badger meint, es sei zu gelb. Aber es ist ein sehr schöner Kopf, ein sehr schöner Kopf!«
Wir alle stimmten ein: »Ein sehr schöner Kopf!«
»Wenn ich ihn ansehe«, fuhr Mr. Badger fort, »fühle ich, daß er ein Mann ist, den ich im Leben gern gekannt haben möchte. Das Gesicht drückt so recht den ausgezeichneten Menschen aus, der Kapitän Swosser in so hervorragendem Maße war. Dort hängt Professor Dingo. Ich kannte ihn sehr gut – behandelte ihn in seiner letzten Krankheit... Ein Bild von sprechender Ähnlichkeit. Und über dem Piano Mrs. Bayham Badger, damals Mrs. Swosser. Über dem Sofa sehen Sie Mrs. Bayham Badger als Mrs. Dingo. Von Mrs. Bayham Badger in esse besitze ich das Original, aber keine Kopie.«
Man meldete jetzt, daß gedeckt sei, und wir gingen hinunter. Es war ein sehr feines Diner, und sehr hübsch serviert. Aber der Kapitän und der Professor spukten Mr. Badger immer noch im Kopf herum, und da Ada und ich die Ehre hatten, neben ihm zu sitzen, so konnten wir sie ausgiebig genießen.
»Wasser, Miß Summerson? Sie gestatten! Nicht in diesem Glase, wenn ich bitten darf. Bringen Sie das Ehrenglas des Professors, James!«
Ada bewunderte einen Strauß künstlicher Blumen unter einem Sturz.
»Wunderbar, wie sie sich halten«, sagte Mr. Badger. »Mrs. Bayham Badger erhielt sie als Geschenk, als sie im Mittelländischen Meer weilte.«
Er lud Mr. Jarndyce ein, ein Glas Claret mit ihm zu trinken.
»Nicht diesen Wein! Sie gestatten! Heute ist eine besonders festliche Gelegenheit, und bei solchen Veranlassungen möchte ich einen ganz besonderen Bordeaux, den ich zufällig im Keller habe, auf dem Tisch sehen. James, Kapitän Swossers Wein! – Mr. Jarndyce, das ist eine Marke, die der Kapitän selbst importiert hat. Ich weiß nicht, vor wieviel Jahren. Sie werden sie sehr bemerkenswert finden. Meine Liebe, ich würde mich glücklich schätzen, wenn du ein Glas von diesem Wein mittrinken würdest. Schenken Sie Madame von Kapitän Swossers Bordeaux ein! Deine Gesundheit, meine Liebe!«
Als wir Damen uns zurückzogen, nahmen wir Mrs. Badgers ersten und zweiten Gatten mit uns. Sie entwarf uns im Salon eine biographische Skizze des Lebens und des militärischen Dienstes Kapitän Swossers vor seiner Verheiratung und einen mehr auf die Einzelheiten eingehenden Bericht von der Zeit an, wo er sich an Bord des »Crippler« auf einem Ball, den die Offiziere dieses Schiffs im Hafen von Plymouth gaben, in sie verliebte.
»Der liebe alte 'Crippler'!« seufzte sie und schüttelte tiefsinnig den Kopf. »Er war ein schönes Schiff. Schmuck, seetüchtig, und alle Schoten belegt, wie der Kapitän zu sagen pflegte. – Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich zuweilen einen nautischen Ausdruck gebrauche, ich war damals ein halber Seemann. – Kapitän Swosser liebte das Schiff meinetwegen. Als es ins Trockendock kam, sagte er oft zu mir, wenn er reich genug wäre, die alte Holke zu kaufen, so würde er in die Spannen des Quarterdecks, wo wir im Kontertanz einander gegenüberstanden, eine Inschrift anbringen lassen, um die Stelle zu bezeichnen, wo er fiel – wie er zu sagen pflegte –, der Breitseite nach bestrichen, von dem Kreuzfeuer meiner Toplichter, so nannte er in seiner Seemannssprache meine Augen.«
– Mrs. Badger schüttelte den Kopf, seufzte und warf einen Blick in den Spiegel. –
»Von Kapitän Swosser zu Professor Dingo war ein großer Sprung«, fing sie wieder, mit einem trüben Lächeln, an. »Ich fühlte es anfangs tief. Eine so vollständige Umwälzung in meiner Lebensweise. Aber Gewohnheit, vereint mit Wissenschaft – vor allem mit Wissenschaft –, machte es mir mit der Zeit erträglich. Da ich des Professors einzige Begleiterin auf seinen botanischen Exkursionen war, vergaß ich fast, daß ich jemals auf See gewesen, und wurde eine Gelehrte. Es ist merkwürdig, daß der Professor der Antipode von Kapitän Swosser war und Mr. Badger keinem der beiden auch nur im geringsten gleicht.«
Wir gingen dann auf eine Schilderung des Todes Kapitän Swossers und Professor Dingos über, die alle beide schwer gelitten haben mußten. Im Verlauf der Erzählung deutete Mrs. Badger an, daß sie nur ein Mal wahnsinnig geliebt habe und der Gegenstand dieser ersten Leidenschaft, die bekanntlich niemals wiederkehren könne, Kapitän Swosser gewesen sei. Der Professor sei zollweise auf die schrecklichste Weise gestorben. Mrs. Badger machte uns gerade vor, wie er geächzt hatte: »Wo ist Laura? Laura, gib mir Wasser und Zwieback«, als der Eintritt der Herren ihn für diesmal wieder in seine Gruft zurückversenkte.
Ich bemerkte an diesem Abend, wie überhaupt schon seit einigen Tagen, daß Ada und Richard noch mehr aneinander hingen als sonst. Es war nur natürlich, da sie sich so bald von einander trennen sollten, und es überraschte mich daher nicht allzusehr, als wir nach Hause kamen und Ada und ich uns hinaufbegaben, Ada stiller als gewöhnlich zu finden, obgleich ich nicht darauf gefaßt war, daß sie ihre Arme um mich schlang, ihr Gesicht an meiner Brust verbarg und schluchzte:
»Meine geliebte Esther! Ich habe dir ein großes Geheimnis mitzuteilen.«
– Es mußte offenbar ein schreckliches Geheimnis sein! –»Was ist es denn, Ada?«
»Ach, Esther, du wirst es nie erraten.«
»Soll ich es versuchen?«
»O nein! Nein! Bitte nicht«, rief Ada sehr erschrocken bei dem bloßen Gedanken.
»Ich möchte wirklich gerne wissen, was es wohl sein könnte«, sagte ich und stellte mich nachdenklich.
»Es handelt sich«, flüsterte Ada, »es handelt sich um meinen Vetter Richard.«
»Nun, mein Liebling«, fragte ich weiter und küßte ihr goldenes Haar, das einzige, was ich von ihr sehen konnte, »und was ist mit ihm?«
»O Esther, du wirst es nie erraten!«
– Wie sie sich an mich schmiegte und ihr Gesicht verbarg und selbst nicht wußte, daß sie aus Freude, Stolz und Hoffnung und nicht aus Schmerz weinte, war so reizend, daß ich ihr unmöglich heraushelfen konnte. –
»Er sagt – ich weiß, daß es sehr töricht ist, wir sind beide noch so jung – aber er sagt – sie war ganz aufgelöst in Tränen –, er liebe mich von Herzen, Esther.«
»Sagt er das wirklich? So etwas hab ich mein Leben lang noch nicht gehört! Aber, mein allerliebster Schatz, das hätte ich dir schon vor vielen, vielen Wochen sagen können.«
– Zu sehen, wie Ada mit glühenden Wangen freudig überrascht aufsah und mich umarmte und lachte und weinte und errötete und lachte, war entzückend. –
»Aber, Liebling, für was für eine Gans mußt du mich halten. Dein Vetter Richard ist so offenkundig wie nur möglich in dich verliebt, ich weiß nicht, wie lange schon.«
»Und du hast mir nie ein Wort davon gesagt!« rief Ada und küßte mich.
»Nein, liebes Kind, ich wartete, bis du es mir selbst sagen würdest.«
»Aber jetzt, meinst du nicht, daß es unrecht von mir ist?« Sie hätte mir ein Nein abschmeicheln können, auch wenn ich die hartherzigste Duenna in der Welt gewesen wäre, so aber sagte ich ganz offenherzig: »Nein.«
»So, jetzt weiß ich ja das Schlimmste von der Sache.«
»O, das ist noch nicht das Schlimmste, liebe Esther«, rief Ada und zog mich noch fester an sich und verbarg ihr Gesicht schon wieder an meiner Brust.
»Nicht? Nicht einmal das?«
»Nein, nicht einmal das«, murmelte Ada und schüttelte den Kopf.
»Was, du willst doch nicht etwa sagen...« fing ich scherzend an.
Ada blickte auf und lächelte unter Tränen.
»Ja, es ist so, Esther. Du weißt, du weißt, es ist so.« Und dann schluchzte sie: »Von ganzem Herzen liebe ich ihn! Von ganzem Herzen, Esther!«
Ich sagte ihr lachend, daß ich auch das ebenso genau gewußt habe wie das andre.
Und wir saßen vor dem Feuer, und ich mußte eine Zeitlang ganz allein reden, wenn es auch nicht allzu lange dauerte, denn Ada war bald wieder ruhig und glücklich.
»Meinst du, daß es Vetter John weiß, Mütterchen?«
»Wenn Vetter John nicht blind ist, Herzblatt, so sollte ich meinen, dürfte er es ungefähr so genau wissen wie wir beide.«
»Wir müssen mit ihm sprechen, ehe wir uns von Richard trennen«, gestand Ada schüchtern. »Und wir möchten gern, daß du uns einen Rat gibst und es ihm sagst. Vielleicht hast du nichts dagegen, wenn Richard hereinkommt, Mütterchen?«
»So, so, Richard ist draußen. Was du sagst!«
»Ich weiß es nicht ganz gewiß«, stammelte Ada mit einer verschämten Einfalt, die mein Herz hätte gewinnen müssen, wenn sie es nicht schon längst besessen hätte, »aber ich glaube, er wartet vor der Tür.«
Selbstverständlich wartete er draußen.
Sie stellten auf jede Seite neben mich einen Stuhl und setzten mich zwischen sich und schienen sich wirklich mehr in mich als in einander verliebt zu haben, so vertrauensvoll, aufrichtig und zärtlich waren sie zu mir. Sie ließen mich eine Weile gar nicht los, und ich freute mich viel zu sehr darüber, um ihnen zu wehren. Dann wurden wir allmählich ernster und fingen an zu bedenken, wie jung sie noch waren und daß manches Jahr vergehen müßte, ehe ihre taufrische Liebe zum Ziele kommen könnte, und daß sie nur zum Glücke führen würde, wenn sie wirklich und dauernd sei und sie zur Beständigkeit, tapferm Ausharren und Pflichttreue begeistere. Richard schwor, daß er sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten wolle für Ada, und Ada sagte, daß sie sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten wolle für Richard, und sie gaben mir alle möglichen Kosenamen, und wir saßen beratend und plaudernd die halbe Nacht beisammen. Schließlich, bevor wir von einander schieden, versprach ich ihnen, morgen darüber mit ihrem Vetter John zu reden.
Gleich nach dem Frühstück begab ich mich zu meinem Vormund in das Zimmer, das uns in der Stadt das Brummstübchen ersetzte, und sagte ihm, ich hätte den Auftrag, ihm etwas mitzuteilen.
»Nun, Mütterchen«, meinte er und klappte sein Buch zu. »Wenn du es übernommen hast, kann es nichts Schlimmes sein.«
»Ich hoffe nicht, Vormund. Jedenfalls kann ich mich dafür verbürgen, daß es sich nicht um Heimlichkeiten handelt, denn es geschah erst gestern.«
»So. Und was ist es denn, Esther?«
»Vormund, erinnerst du dich an den schönen Abend unsrer Ankunft in Bleakhaus, wo Ada in dem dunkeln Zimmer sang?«
– Ich wünschte, ihm den Blick, den er mir damals zugeworfen hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wenn ich mich nicht sehr irre, erinnerte er sich sogleich daran. –
»Weil...« begann ich nach einigem Zögern.
»Ja, mein Kind!« sagte er. »Laß dir nur Zeit.«
»Weil... Weil Ada und Richard sich ineinander verliebt haben und es einander gestanden haben.«
»So bald schon?« rief mein Vormund ganz erstaunt.
»Ja. Und, um dir nur die Wahrheit zu sagen, Vormund, ich erwartete es fast.«
»Den Kuckuck auch!«
Ein paar Minuten lang saß er mit einem gewinnenden gütigen Lächeln in dem lebhaft den Ausdruck wechselnden Gesicht nachsinnend da und bat mich dann, sie wissen zu lassen, daß er sie zu sehen wünsche. Als sie kamen, schlang er den Arm um Ada in seiner väterlichen Weise und wandte sich mit heiterm Ernst an Richard.
»Richard, es freut mich, Euer Vertrauen gewonnen zu haben. Ich hoffe, es mir zu erhalten. Wenn ich über die Beziehungen zwischen uns vieren, die mein Leben so aufhellen und ihm soviel neuen Inhalt und Genuß gegeben haben, nachdachte, hielt ich es allerdings in einer spätem Zeit für möglich, daß du und deine hübsche Kusine hier – sei nicht verlegen, Ada, sei nicht verlegen, liebes Kind – Lust bekommen könntet, miteinander durchs Leben zu gehen. Ich sah und sehe heute noch manchen andern Grund, der das wünschenswert erscheinen läßt, aber ich dachte dabei an eine spätere Zukunft, Rick, an eine spätere Zukunft.«
»Auch wir denken an eine spätere Zukunft«, entgegnete Richard.
»Gut. Das ist recht und vernünftig. Aber jetzt hört mich an, liebe Kinder. Ich könnte euch sagen, daß ihr euch selbst noch nicht genau kennt, daß tausend Dinge geschehen können, euch einander zu entfremden, daß es gut ist, daß die Blumenkette, die ihr euch angelegt habt, so leicht zu lösen ist, da sie sonst vielleicht zu einer Kette von Blei werden könnte. Aber das alles will ich euch nicht vorhalten. Solche Weisheit kommt früh genug, wenn sie überhaupt kommt. Ich will annehmen, daß ihr Jahre später einander noch im Herzen dasselbe sein werdet, was ihr euch heute seid. Alles, was ich euch jetzt sagen will, ist, schämt euch nicht, wenn ihr andern Sinnes werden solltet, wenn ihr entdeckt, daß ihr in reiferem Alter mehr in dem Verhältnis gewöhnlicher Verwandter zueinander steht als jetzt in euren blutjungen Jahren – du entschuldigst schon, Rick –, schämt euch nicht, es mir anzuvertrauen, denn es ist nichts Ungeheuerliches oder Ungewöhnliches daran. Ich bin nur euer Freund und entfernter Verwandter. Ich habe keinerlei Macht über euch. Aber ich wünsche und hoffe, mir euer Vertrauen zu erhalten, wenn ich nichts tue, um es mir zu verscherzen.«
»Ich bin überzeugt, lieber Vetter«, entgegnete Richard, »daß ich auch zugleich für Ada spreche, wenn ich sage, daß du die größte Macht über uns hast, die es gibt, nämlich die, die aus Verehrung, Dankbarkeit und Liebe entspringt und jeden Tag stärker wird.«
»Lieber Vetter John«, fiel Ada ein, an Mr. Jarndyces Schulter gelehnt, »meines Vaters Stelle kann nie wieder leer werden. Alle die Liebe und der Gehorsam, den ich jemals hätte geben können, gelten jetzt dir.«
»Also kommt«, sagte Mr. Jarndyce. »Was ist nun unser erster Schritt? Schauen wir um uns und blicken wir hoffnungsfroh in die Ferne! Rick, die Welt liegt vor dir, und es ist höchst wahrscheinlich, daß sie dich so aufnehmen wird wie du sie. Verlaß dich auf niemanden als auf die Vorsehung und deine eigne Kraft. Trenne nie diese beiden wie der heidnische Wagenlenker in der Geschichte. Beständigkeit in der Liebe ist eine gute Sache, aber sie wiegt nichts ohne Beständigkeit in allen andern Dingen. Wenn du die Fähigkeiten aller toten und lebendigen großen Männer hättest, so könntest du nichts vollbringen, ohne es aufrichtig zu meinen und mit ganzem Herzen zu tun. Wenn du glauben solltest, daß in großen oder kleinen Dingen irgendein Erfolg dem Geschick durch ruckweise oder spontane Versuche abgerungen werden könnte oder je abgerungen wurde, so gib diese Ansicht auf oder laß deine Kusine Ada lieber da.«
»Da lasse ich lieber die Ansicht hier«, gab Richard lächelnd zur Antwort, »wenn ich sie mit hergebracht haben sollte – was ich nicht hoffe –, und will mir meinen Weg zu meiner Kusine Ada in eine hoffnungsreiche Zukunft bahnen.«
»Recht so«, sagte Mr. Jarndyce. »Wenn du sie nicht glücklich machen kannst, warum solltest du nach ihr streben.«
»Ich möchte sie nicht unglücklich machen, selbst nicht, wenn es mich ihre Liebe kosten sollte«, gab Richard stolz zur Antwort.
»Gut gesprochen. So ist's recht. Sie bleibt bei mir in ihrem Heim. Habe sie lieb, Rick, in deinem Berufsleben nicht weniger als hier in ihrem Hause, wenn du uns besuchen kommst, und alles wird gut gehen. Damit endigt meine Predigt. Vielleicht möchtest du mit Ada jetzt ein bißchen spazieren gehen?«
Ada umarmte Mr. Jarndyce zärtlich, und Richard schüttelte ihm herzlich die Hand. Und dann verließen sie beide das Zimmer, sahen sich aber gleich wieder um, um mir zuzurufen, daß sie auf mich warten wollten.
Die Tür stand offen, und wir blickten ihnen nach, wie sie durch das anstoßende, von der Sonne beschienene Zimmer und zur andern Tür hinausgingen. Richard, das Haupt geneigt und Adas Arm in seinem, sprach sehr angelegentlich mit ihr, und sie blickte zu ihm empor und hörte zu und schien für nichts sonst Augen zu haben.
So jung, so schön, so hoffnungsfreudig gingen sie leichten Schrittes dahin durch die Sonnenstreifen, wie ihre eignen glücklichen Gedanken jetzt vielleicht über die Jahre der Zukunft hinschweiften und sie zu Jahren der Freude machten. Dann traten sie in den Schatten und verschwanden. Nur wenige Augenblicke war das Licht so strahlend durchgebrochen. Das Zimmer wurde dunkler, als sie hinausgingen, und die Sonne versteckte sich wieder hinter den Wolken.
»Habe ich recht, Esther?« fragte mein Vormund, als sie fort waren.
– Er, der so gut und weise war, fragte mich, ob er recht habe. –
»Rick erwirbt sich vielleicht dadurch die Eigenschaft, die ihm zu den vielen guten, die er schon hat, noch fehlt«, sagte Mr. Jarndyce und wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe Ada nichts gesagt, Esther. Hat sie doch ihre Freundin und Beraterin stets bei sich.« Und er legte die Hand liebevoll auf mein Haupt. Ich konnte meine Rührung nicht verbergen, obgleich ich mein möglichstes tat.
»Still, still!« sagte er. »Aber wir müssen auch Sorge tragen, daß das Leben unsres kleinen Mütterchens nicht ganz allein von der Sorge um andre ausgefüllt wird.«
»Sorge? Aber lieber Vormund, ich glaube, ich bin das glücklichste Geschöpf unter der Sonne.«
»Ich glaube das auch«, sagte er, »aber jemand findet vielleicht, was Esther niemals tun wird, daß man an das kleine Mütterchen vor allen andern Menschen denken muß.«
Ich habe früher zu erwähnen vergessen, daß noch jemand bei dem Familiendiner zu Gaste war. Es war keine Dame. Es war ein Herr. Ein Herr von dunkelm Teint und schwarzem Haar – ein junger Chirurg. Er war ein wenig reserviert, schien mir aber ein sehr gescheiter und angenehmer Mensch zu sein. Wenigstens fragte mich Ada, ob ich nicht dieser Meinung sei, und ich bejahte.