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Finsternis ruht auf »Toms Einöd«. Immer mehr und mehr hat sie sich ausgebreitet, seit abends die Sonne unterging, und ist allmählich so angeschwollen, daß sie alles ausfüllt. Eine Zeitlang brannten noch einige halbverhungerte Lichter, wie die Lebenslampe in »Toms Einöd« brennt, schwer atmend in der ekelhaften Luft. Jetzt sind sie erloschen. Der Mond hat »Toms Einöd« trüb und kalt angestarrt, als sei dieser Ort ein jämmerliches Abbild seiner Wüsteneien, in deren ausgebrannten Kratern nichts leben kann und alles von vulkanischen Feuern zerstört ist. Dann ist er weiter durch die Wolken gezogen. Ein höllischer Alpdruck aus den schwärzesten Regionen liegt auf dem schlafenden »Toms Einöd«. Ein gewaltiges Gerede ist über »Tom« in- und außerhalb des Parlaments gewesen, und zornig wurde darüber gestritten, wie »Tom« geholfen werden könne. Ob ihn Konstabler oder Büttel, Glockenläuten oder ästhetische Grundsätze, die Hochkirche oder die gewöhnliche auf den rechten Weg bringen solle; ob er die polemischen Strohhalme mit dem schartigen Messer seines Geistes spalten oder lieber Steine klopfen solle. Unter all dem aufgewirbelten Staub und dem Lärm ist nur das eine klar: daß »Tom« nur theoretisch, aber nicht praktisch gebessert werden kann, soll und wird. Und in der hoffnungsreichen Zwischenzeit geht »Tom« mit seiner alten entschloßnen Weise, den Kopf voran, zum Teufel. Aber er hat seine Rache. Selbst der Wind ist sein Bote und dient ihm in diesen Stunden der Finsternis.
Da ist kein Tropfen von »Toms« verderbtem Blut, der nicht irgendwohin Ansteckung und Seuche verpflanzte. Noch heute nacht wird er das erlauchte Blut eines normannischen Hauses vergiften, und Seiner Erlaucht, dem Familienoberhaupt, wird es nicht gestattet sein, zu dieser verunehrenden Blutsverbindung nein zu sagen. Nicht ein Atom geht verloren von »Toms« Schmutz, kein Kubikzoll der verpesteten Luft, das er atmen muß, keine Untätigkeit oder Verkommenheit um ihn herum, nichts von der Bosheit, Unwissenheit und Roheit seines Tuns geht verloren, ohne durch alle Gesellschaftsklassen hindurch bis zu den Stolzesten der Stolzen und dem Höchsten der Hohen hinauf Vergeltung zu üben. Wenn man Ansteckung, Raub und Verderbnis zusammen rechnet, wahrhaftig, dann hat »Tom« seine Rache.
Ein strittiger Punkt ist, ob »Toms Einöd« scheußlicher aussieht bei Tag oder bei Nacht. Da es Tatsache ist, daß es um so häßlicher wird, je mehr man davon sieht, und die Phantasie in diesem Fall von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wird, so trägt der Tag den Sieg davon.
Er bricht jetzt langsam an, und wenn auch im britischen Reich die Sonne nie untergeht, so wäre es für den Nationalruhm vielleicht besser, wenn sie über einem so scheußlichen Weltwunder wie »Toms Einöd« auch nie aufginge.
Ein sonnenverbrannter feiner Herr, der, außerstande zu schlafen, lieber herumwandern zu wollen scheint, als die Stunden auf schlummerlosem Pfühl zu zählen, hat sich bis hierher verirrt. Von Neugierde getrieben, bleibt er oft stehen und blickt die elenden Seitengassen hinauf und hinunter. Er ist aber auch nicht bloß neugierig, denn in seinem lebhaften dunklen Auge glänzt es wie Mitleid, und wie er umherschaut, scheint er ein gewisses Verständnis für solches Elend zu haben und es vielleicht von früher her zu kennen.
Am Rande des stagnierenden Schmutzkanals, der die Hauptstraße von »Toms Einöd« bildet, ist nichts zu sehen als baufällige Häuser, verschlossen und stumm. Kein wachendes Geschöpf zeigt sich, nur die einsame Gestalt einer Frau sitzt auf einer Türstufe. Dorthin lenkt Mr. Allan Woodcourt seine Schritte, und wie er näher kommt, bemerkt er, daß sie einen langen Weg gereist sein muß und wunde und bestaubte Füße hat. Sie sitzt auf der Türstufe wie jemand, der wartet, den Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in der Hand ruhend. Neben ihr liegt ein leinenes Bündel, das sie getragen hat. Sie scheint im Halbschlummer dazusitzen, denn sie achtet nicht auf das Geräusch seiner näher kommenden Schritte. Der holprige Fußsteig ist so schmal, daß Allan Woodcourt, als er die Frau erreicht, auf den Fahrweg treten muß, um an ihr vorbei zu kommen. Wie er ihr ins Gesicht blickt, begegnet sein Auge dem ihren, und er bleibt stehen.
»Was machen Sie hier?«
»Nichts, Sir.«
»Wollen Sie vielleicht hinein? Hört man Sie nicht drin?«
»Ich warte nur, bis sie in der Nähe aufsperren – das Logierhaus«, gibt die Frau geduldig zur Antwort. »Und auf die Sonne, um mich zu wärmen.«
»Sie sind wohl müde? Es tut mir leid, Sie so auf der Straße sitzen zu sehen.«
»Ich danke Ihnen, Sir. Es macht weiter nichts.«
– Er ist gewohnt, mit armen Leuten zu sprechen, und vermeidet geflissentlich alles Gönnerhafte oder Herablassende und ist dadurch mit der Frau sofort gut freund. –
»Lassen Sie mich Ihre Stirne ansehen«, sagt er und beugt sich nieder. »Ich bin Arzt. Haben Sie keine Angst. Ich werde Ihnen nicht weh tun.«
– Er weiß, daß er durch die Berührung seiner geschickten und geübten Hand ihre Schmerzen nur lindern kann. – Sie wehrt sich ein wenig und sagt: »Es ist nichts.« Aber er hat kaum mit seinen Fingern den wunden Fleck berührt, da dreht sie ihre Stirn dem Licht zu, damit er besser sehen könne.
»Hm! Eine arge Wunde; die Haut ist sehr zerrissen. Es muß sehr weh tun.«
»Es tut ein bißchen weh, Sir«, gibt die Frau zu, während eine Träne über ihre Wange rollt.
»Ich werde versuchen, sie Ihnen weniger schmerzhaft zu machen. Mein Taschentuch wird Ihnen nicht weiter weh tun.«
»Oh, gewiß nicht, Sir.«
Er reinigt die Wunde und trocknet sie, und nachdem er sie sorgfältig untersucht und mit der Handfläche leise gedrückt hat, nimmt er ein Etui aus der Tasche und verbindet sie. Während er so beschäftigt ist, sagt er, bei diesem Versuch, auf der Straße ein Lazarett zu errichten, lächelnd:
»Ihr Mann ist Ziegelstreicher?«
»Wieso wissen Sie das, Sir?« fragt die Frau verwundert.
»Nun, ich schließe es aus der Farbe der Flecken auf Ihrem Bündel und an Ihrem Kleid. Und ich weiß, daß Ziegelstreicher, die auf Stück arbeiten, oft von Ort zu Ort ziehen. Es ist sehr bedauerlich, daß sie oft ihre Weiber mißhandeln.«
Die Frau blickt hastig auf, als wolle sie leugnen, daß ihre Verletzung von einem Schlag herrührt. Aber da sie die Hand des Arztes auf ihrer Stirn fühlt und sein ruhiges Gesicht sieht, läßt sie den Blick stumm wieder sinken.
»Wo ist er jetzt?«
»Er hat gestern abend Ärger mit der Polizei gehabt, Sir, und will mich im Logierhaus aufsuchen.«
»Er wird noch in schlimmere Ungelegenheiten kommen, wenn er seine schwere Hand nicht besser im Zaum hält. Aber da Sie ihm verzeihen, wie ich sehe, so brutal er auch ist, rede ich nichts weiter davon. Ich wünschte nur, er wäre dessen würdig. – Sie haben kein Kind?«
Die Frau schüttelt den Kopf. »Eins, das ich zwar mein nenne, Sir, aber es gehört Liz.«
»Ihres ist tot? Ich verstehe schon. Das arme Kleine!«
– Er ist jetzt fertig und packt sein Etui wieder zusammen. »Ich vermute, Sie haben eine ständige Bleibe. Ist sie weit von hier?« – Er winkt ihr gutmütig ab, als sie aufsteht und ihm danken will.
»Es sind gute zwei- oder dreiundzwanzig Meilen von hier, Sir. St. Albans... Sie kennen St. Albans, Sir?« – Mr. Allan Woodcourt war zusammengezuckt. –
»Ja, ich kenne es ein wenig. Und jetzt will ich Ihnen eine Frage stellen. Haben Sie Geld für Ihre Unterkunft?«
»Ja, Sir. Wirklich und wahrhaftig.« Und sie zeigt es ihm.
»Schon gut, schon gut«, sagt er, als sie wieder halblaut ihren Dank beteuert, wünscht ihr guten Tag und geht.
»Toms Einöd« schläft immer noch, und nichts regt sich.
Doch! Etwas regt sich. Als der Arzt wieder nach der Stelle zurückgeht, von wo aus er die Frau auf der Türstufe hat sitzen sehen, bemerkt er eine zerlumpte Gestalt, die sich vorsichtig dicht an den feuchten Wänden hinschleicht. Dem Äußern nach ist es ein junger Mensch von abgezehrtem Aussehen und mit fieberhaft glühenden Augen. Er ist so darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben, daß sogar die Erscheinung eines Fremden in guten Kleidern ihn nicht in Versuchung bringt, sich umzusehen. Wie er zu einem Straßenübergang kommt, verbirgt er das Gesicht hinter seinem zerlumpten Ellbogen und schleicht zusammengekauert, fast kriechend, weiter, die Hand suchend vor sich ausgestreckt. In Lumpen hängen die zerfetzten Kleider um ihn herum, und es ist unmöglich, zu sagen, aus welchem Stoff sie jemals gemacht wurden. Der Farbe und Beschaffenheit nach sehen sie wie ein Bündel im Morast gewachsner Blätter aus, die längst verfault sind.
Allan Woodcourt bleibt stehen und blickt dem Knaben nach, mit dem dunklen Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen haben zu müssen. Er kann sich nur nicht erinnern, wann oder wo. Er denkt zuletzt, er werde ihn wohl in einem Hospital oder in einem Asyl getroffen haben, aber er kann nicht herausbekommen, warum er sich so besonders in seiner Erinnerung abhebt.
Er kommt allmählich aus den Grenzen von »Toms Einöd« heraus in den lichten Morgen und denkt noch darüber nach, als er laufende Schritte hinter sich hört und, wie er sich umsieht, den Knaben in großer Eile, verfolgt von der Frau, auf sich zurennen sieht.
»Aufhalten, aufhalten!« ruft die Frau atemlos. »Halten Sie ihn auf, Sir!«
Er springt in die Mitte der Straße, um dem Jungen den Weg abzuschneiden. Aber dieser ist rascher als er, schlägt einen Haken, duckt sich, entschlüpft seinen Händen, kommt ein halbes Dutzend Schritte weiter wieder zum Vorschein und setzt seine Flucht fort.
Immer noch verfolgt ihn die Frau mit dem Ruf: »Aufhalten! Halten Sie ihn auf, Sir!«
Allan, in der Meinung, daß der Junge ihr vielleicht ihr Geld gestohlen habe, macht auf ihn Jagd und läuft so rasch, daß er ihn wohl ein Dutzend Mal überholt, aber jedes Mal schlägt dieser wieder einen Haken, duckt sich und entwischt. Ihm bei einer solchen Gelegenheit einen Schlag zu versetzen, würde der Jagd sogleich ein Ende machen, aber dazu kann sich Mr. Woodcourt nicht entschließen, und so dauert die phantastische lächerliche Verfolgung fort. Endlich verläuft sich der Flüchtling in seiner Bedrängnis in eine schmale Sackgasse. Hier, an einer morschen Planke, kann er nicht mehr entkommen und kauert sich zusammen, seinen Verfolger ankeuchend, der ebenfalls außer Atem vor ihm steht und wartet, bis die Frau herankommt.
»Du, Jo«, ruft die Frau. »Was? Habe ich dich endlich gefunden!«
»Jo?« wiederholt Allan und betrachtet den Jungen aufmerksam. »Jo! Wart einmal. Ja richtig! Ich erinnere mich, dich vor einiger Zeit bei einer Leichenschau gesehen zu haben.«
»Ja, i hab Ihna schon amal bei der Totenschau gsehn«, wimmert Jo. »Was is da weiter? Können S net an Unglücklichen wie mich in Ruh lassn? Bin i net auch so schon unglücklich genug. Wie unglücklich soll i denn noch werdn. I bin hin- und hergestoßn worn, erst von dem einen, dann von dem andern, bis i nur noch Haut und Knochen bin. An der Totenschau war i net schuld. I hab nie nix tan. Er war immer sehr gut gegen mich. Er war der einzige, was mit mir gsprochn hat, wenn er über die Straßen gangen is. Warum hätt i ihm denn a Totenschau wünschn sollen? I wollte, i war selbst schon so weit. I weiß überhaupt net, warum i net hergeh und a Loch ins Wasser mach. Wirkli net...«
Er bringt das mit so einer erbärmlichen Miene vor, seine schmutzigen Tränen scheinen so echt zu sein, und er liegt in dem Winkel der Verplankung, einem Schwamm oder einem andern aus Unreinlichkeit oder dergleichen entstandnen krankhaften Gewächs so ähnlich, daß Allan Woodcourt milder gegen ihn gestimmt wird.
»Was hat denn dieses jämmerliche Geschöpf getan?« fragt er die Frau.
»O du, Jo, habe ich dich endlich gefunden!« Sie schüttelt mehr in Verwunderung als in Zorn den Kopf, wie sie auf die auf dem Boden kauernde Gestalt heruntersieht.
»Was hat er denn getan?« wiederholt Allan. »Hat er Sie beraubt?«
»Nein, Sir, nein. Mich beraubt? Er ist immer gut zu mir gewesen, und das ist eben das Wunder.«
– Allan sieht Jo und die Frau fragend an und wartet, daß eines der beiden ihm das Rätsel lösen werde. –
»Er hat sich einmal zu mir geflüchtet«, sagt die Frau. »O du, Jo... Und er lag krank bei mir, Sir, unten in St. Albans, und eine junge Dame – Gott segne ihr gutes Herz! – hat sich seiner erbarmt und ihn mit nach Hause genommen...«
Allan fährt mit plötzlichem Grausen einen Schritt zurück.
»Ja, Sir, ja! Hat ihn nach Hause genommen und gepflegt, und das undankbare Scheusal ist in der Nacht fortgelaufen und hat nichts mehr von sich sehen oder hören lassen, bis heute. Die junge Dame war so hübsch und hat sich von ihm angesteckt! Sie hat ihr schönes Gesicht verloren, und man würde sie gar nicht mehr wiedererkennen, wenn nicht ihr gutes Herz, ihre hübsche Gestalt und ihre liebe Stimme wären. Weißt du das, du undankbares Geschöpf?! Weißt du, daß alles wegen dir und ihrem Erbarmen zu dir so gekommen ist! ?« fragt die Frau voll Zorn bei der Erinnerung und bricht in leidenschaftliche Tränen aus.
Der Junge, in seiner verwilderten Art und ganz bestürzt von dem, was er hört, fängt an, sich die Stirn mit seiner schmutzigen Hand zu beschmieren, die Erde anzustarren und von Kopf bis Fuß zu zittern, bis die gebrechliche Planke, an die er sich lehnt, klappert. Allan winkt heimlich der Frau, sich zu beruhigen.
»Richard hat mir das schon erzählt«, sagt er stockend. »Ich meine, ich habe davon gehört... Achten Sie einen Augenblick nicht auf mich. Ich werde gleich mit Ihnen sprechen.«
– Er wendet sich weg und blickt eine Weile aus der Sackgasse heraus. Als er zurückkommt, ist er wieder vollkommen gefaßt, nur kämpft er sichtlich gegen eine gewisse Scheu vor dem Knaben an, die so merkwürdig ist, daß sie der Frau auffällt. –
»Du hörst, was sie sagt. Steh doch endlich auf!«
Bebend und zähneklappernd steht Jo langsam auf und steht, wie Menschen seiner Art, wenn sie in einer Klemme sind, mit der Schulter an die Planke gedrückt und reibt sich mit dem linken Fuß den rechten.
»Du hörst, was sie sagt, und ich weiß, daß es wahr ist. Bist du seitdem hier gewesen?«
»I will augenblicklich tot umfalln, wenn i vor heut morgen 'Toms Einöd' wiedergsehn hab«, beteuert Jo mit heiserer Stimme.
»Weshalb bist du jetzt hergekommen?«
Jo schaut sich in der Sackgasse um, sieht dann den Fragenden an, aber nicht höher als bis zum Knie, und antwortet endlich:
»I weiß net, was anfangen, und krieg nix zu tun. I bin sehr arm und krank und hab mi zurückschleichen wolln, wann noch neamd auf is. I hab mi verstecken wollen, bis s dunkel wird, und dann zu Mr. Sangsby gehen und mir was von ihm ausbetteln. Er hat mir immer gern was gebn, wenn auch Mrs. Sangsby immer hinter mir drein gewesen is, wie alle Leut überall.«
»Wo kommst du her?«
Jo sieht sich wieder in der Sackgasse um, blickt wieder das Knie des Fragenden an und lehnt schließlich resigniert den Kopf seitwärts an die Planke.
»Hast du nicht gehört? Wo du jetzt herkommst?«
»Rumgstrichn bin i.«
»Sag mir jetzt«, fährt Allan fort, zwingt sich, seine Scheu zu überwinden, tritt nahe an Jo heran und bückt sich freundlich über ihn. »Sag mir jetzt, warum bist du eigentlich aus dem Hause entflohen, als die gutherzige junge Dame das Unglück hatte, dich aus Mitleid mitzunehmen?«
Jo erwacht plötzlich aus seiner Resignation und erklärt in großer Aufregung der Frau, daß er nie von der jungen Dame vorher gewußt oder gehört habe, ihr nie ein Leid habe tun wollen und sich lieber den Kopf abhacken lassen möchte, als ihr Böses zuzufügen. Sie sei sehr gut gegen ihn gewesen, sehr gut. Und er benimmt sich dabei in seiner verwilderten Art, daß man sehen kann, wie ernst es ihm ist, und schließt dann mit einem kläglichen Schluchzen.
Allan Woodcourt sieht, daß das keine Verstellung ist. Er überwindet sich und faßt den Jungen an. »Komm, Jo, sag es mir!«
»Na. I darf net«, sagt Jo und drückt sich wieder an die Planke. »I darf net, sonst möcht i s schon sagen.«
»Aber ich muß es doch wissen. Trotzdem! Komm, Jo, sag es nur.«
Nach wiederholtem Drängen hebt Jo wieder den Kopf, schaut sich wieder in der Sackgasse um und sagt halblaut: »No, i will Ihnen was sagen. Er hat mi fortgeholt. Das is s.«
»Fortgeholt? In der Nacht?«
»Mhm!« – Voll Angst, es könne ihn jemand belauschen, schaut Jo besorgt umher, und auf den Rand der Planke hinauf, und späht durch die Spalten, ob nicht jemand dahinter versteckt sei.
»Wer hat dich denn weggeholt?«
»I darf n net nennen. Ich darf net, Sir.«
»Aber ich muß es wegen der jungen Dame wissen. Du kannst mir ruhig vertrauen. Es wird es niemand erfahren.«
»Aber i weiß net, ob er's net am End doch hört«, antwortet Jo und schüttelt in banger Besorgnis den Kopf.
»Aber er ist doch gar nicht hier!«
»Ja, wenn man das wüßt«, sagt Jo. »Er ist immer überall zur gleichen Zeit.«
Allan sieht ihn betroffen an, erkennt aber, daß dieser verwirrten Antwort etwas Wahres zugrunde liegen müsse. Er wartet ruhig auf eine deutlichere Auskunft, und Jo, auf den seine Geduld zwingender wirkt als alles andre, flüstert ihm schließlich verzweifelt einen Namen ins Ohr.
»So!?« sagt Allan. »Was hast du denn angestellt?«
»Nix, Sir. Hab nie nix Unrechts net angstellt, außer die Totenschau, und daß i mi net druckt hab. Aber jetzt muß i fort. I will auf n Friedhof.. . Dort ghör i hin.«
»Nein, nein. Wir wollen versuchen, das zu verhindern. Aber was hat er denn mit dir gemacht?«
»Hat mi ins Siechenhaus gsteckt, bis i wieder gsund worn bin«, erklärt Jo flüsternd. »Nacher hat er mir Geld geben, vier halbe Stutz, und nacher hat er gsagt, bist hier nix nutz, hat er gsagt. Da nimm und schau, daß d weiter kommst. Daß i di net wieder innerhalb vierzg Meilen von London siech, sonst sollst mir's büßen. Und i wers büßen müssen, wann er mi sieht, und er wird mi sehgn, solang i über der Erd bin«, schließt Jo und wirft wieder forschende Blicke voller Unruhe in der Sackgasse auf und ab.
Allan denkt ein wenig nach, dann bemerkt er, zur Frau gewendet, und sieht dabei immer noch Jo freundlich und ermutigend an:
»Sehen Sie, er ist nicht so undankbar, wie Sie angenommen haben. Er hatte einen Grund zum Fortgehen, wenn auch keinen genügenden.«
»I dank Ihna recht schön!« ruft Jo. »Da sehgn S es wieder, wie hart S gegen mi gewesn sin. Aber sagen S nur der jungen Dame, was der Herr sagt, und s is schon in Ordnung. Denn Sie sin immer gut gegen mi gwesn, i weiß doch.«
»Komm jetzt mit, Jo«, sagt Allan und läßt den Jungen nicht aus den Augen. »Ich will einen bessern Platz für dich finden, wo du dich ausruhen und verstecken kannst. Wenn ich auf der einen Seite der Straße gehe und du auf der andern, damit es nicht auffällt, wirst du nicht fortlaufen, wenn du es versprichst, das weiß ich recht gut?!«
»Na, gwiß net, außer wann i ihn kommen seh, Sir.«
»Also gut. Ich verlasse mich auf dein Wort. Die halbe Stadt steht jetzt erst auf, und eine Stunde drauf wird erst die ganze auf den Beinen sein. Komm mit. Nochmals guten Tag, gute Frau!«
»Guten Tag, Sir, und ich dank Ihnen auch noch vielmals.«
Die Frau hatte sich während der Gespräche auf ihr Bündel gesetzt und aufmerksam zugehört. Jetzt steht sie auf und nimmt es wieder unter den Arm. Jo wiederholt noch ein Mal: »Sagn S es nur der jungen Dame, daß ich ihr nie ka Leid net hab antun wolln, und was der Herr vorhin gsagt hat.« Er zittert, wetzt sich an der Planke, halb lachend, halb weinend, nickt ihr ein Lebewohl zu, setzt dann schleichend an der Wand seinen Weg hinter Allan Woodcourt fort und geht, seinem Auftrag gemäß, dicht an den Häusern auf der andern Seite der Straße hin. So treten sie beide aus »Toms Einöd« hinaus in die vollen Strahlen des Sonnenscheins und in reinere Luft.