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Ich muß etwa ein Jahr verheiratet gewesen sein, als ich an einem Abend, von einem Spaziergang zurückgekehrt, über den Roman, den ich damals schrieb, nachdenkend, an Mrs. Steerforths Haus vorüberkam. Da ich in der Nachbarschaft wohnte, war ich zuweilen diesen Weg, wenn auch nie gerne, gegangen.
Ich hatte nie mehr als einen flüchtigen Blick auf dieses Haus geworfen, und immer war es ziemlich düster und still gewesen. Keines der bessern Zimmer ging auf die Straße hinaus, und die kleinen altmodischen Fenster, immer fest zugemacht und mit zugezogenen Gardinen, machten einen unheimlichen Eindruck. Ich wüßte nicht, daß ich jemals ein Licht dahinter gesehen hätte.
An diesem Abend stiegen die Erinnerungen aus der Kinderzeit und den spätern Jahren, die Gespenster halb geborner Hoffnungen, die flüchtigen Schatten kaum gesehener und verstandner Täuschungen wieder vor mir auf. Ich war in tiefes Träumen versunken, als ich weiterging, da machte eine Stimme neben mir mich aufschrecken.
Es war eine Frauenstimme. Ich erkannte bald Mrs. Steerforths kleines Dienstmädchen wieder, das mich ansprach.
»Würden Sie so gut sein, Sir, hereinzukommen, um mit Miss Dartle zu sprechen?«
»Hat Miss Dartle zu mir geschickt?« fragte ich.
»Heute abend nicht, aber es ist ganz gleich. Miss Dartle sah Sie gestern und vorgestern vorbeigehen, und ich sollte Sie gelegentlich hereinrufen.«
Ich kehrte um und fragte meine Begleiterin unterwegs nach Mrs. Steerforths Befinden. Sie sagte, ihre Herrschaft befände sich nicht besonders wohl und hütete meistens das Zimmer.
Als ich in den Garten kam, sah ich Miss Dartle auf einer Bank am Ende einer Art Terrasse, die auf die große Stadt herabsah, sitzen. Es war ein dunkler Abend, und ein fahles Licht lag am Himmel, und wie ich den düstern Horizont ansah, aus dem hie und da ein größeres Gebäude in den unheimlichen Schimmer emporragte, da kam es mir vor, als sei es eine passende Umgebung für dieses leidenschaftliche Weib.
Sie bemerkte mich, als ich auf sie zukam, und stand einen Augenblick auf, um mich zu empfangen. Sie kam mir noch bleicher und hagerer vor als damals, als ich sie zuletzt gesehen, ihre Augen flackerten noch mehr, und die Narbe war noch deutlicher.
Unsere Begrüßung fiel keineswegs herzlich aus. Wir waren das letzte Mal im Zorn voneinander geschieden, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verachtung, den zu verhehlen sie sich keine Mühe gab.
»Ich höre, Sie wünschten mit mir zu sprechen, Miss Dartle«, sagte ich, die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, und lehnte ihre Einladung, mich zu setzen, ab.
»Allerdings, Mr. Copperfield. Sagen Sie, ist das Mädchen gefunden worden?«
»Nein.«
»Und doch ist sie weggelaufen!«
Ich sah, wie ihre schmalen Lippen sich zuckend bewegten, als ob sie danach lechzten, Emily mit Vorwürfen zu überhäufen.
»Weggelaufen?«
»Ja! Von ihm«, sagte Rosa Dartle mit einem kurzen Lachen. »Wenn sie noch nicht gefunden ist, wird man sie vielleicht überhaupt nicht finden. Vielleicht ist sie tot.«
Eine herausfordernde Grausamkeit lag in ihren Augen.
»Ihr den Tod zu wünschen«, sagte ich, »ist vielleicht der freundlichste Wunsch, den ein Wesen ihres eignen Geschlechts aussprechen kann. Es freut mich, daß die Zeit Sie so versöhnlich gestimmt hat.«
Miss Dartle ließ sich zu keiner Antwort herab, lächelte wieder höhnisch und sagte:
»Die Freunde dieser vortrefflichen und schwergekränkten jungen Dame sind ja auch Ihre Freunde; Sie verteidigen sie und verfechten ihre Rechte. Wollen Sie erfahren, was man von ihr weiß?«
»Ja.«
Sie stand mit einem bösen Lächeln auf, ging auf eine Hecke von Immergrün zu, die den Garten von den Gemüsebeeten trennte, und rief: »Herkommen!« – wie wenn sie ein unreines Tier riefe.
»Sie werden sich natürlich jeder demonstrativen Äußerung oder Rache enthalten, Mr. Copperfield?!« sagte sie und sah mich mit demselben höhnischen Ausdruck fragend an.
Ich verbeugte mich, ohne zu verstehen, was sie meinte, und wieder rief sie: »Herkommen!« und kehrte dann auf ihren Platz zurück, gefolgt von dem respektablen Mr. Littimer, der mir mit unverminderter Respektabilität eine Verbeugung machte und sich hinter ihr aufstellte. Die Miene dämonischer Grazie und des Triumphs, in dem, so seltsam es klingt, doch etwas Weibliches und Verführerisches lag, während sie ihren Platz zwischen uns einnahm und mich ansah, wäre einer grausamen Märchenprinzessin würdig gewesen.
»Erzählen Sie Mr. Copperfield von der Flucht«, sagte sie gebieterisch und legte den Finger diesmal eher aus Freude als aus Schmerz auf die alte Narbe.
»Mr. James und ich, Madam –«
»Sprechen Sie nicht zu mir«, unterbrach sie Littimer mit gerunzelter Stirn.
»Mr. James und ich, Sir –«
»Auch nicht zu mir gefälligst!« sagte ich.
Ohne im mindesten aus der Fassung zu kommen, gab Mr. Littimer mit einer leichten Verbeugung zu erkennen, daß alles, was uns genehm, auch ihm angenehm wäre, und fing von neuem an.
»Mr. James und ich waren mit dem Mädchen auf Reisen, seit sie unter Mr. James' Schutz Yarmouth verließ. Wir hielten uns an vielen Orten auf und haben vielerlei Länder gesehen. Wir waren in Frankreich, in der Schweiz, in Italien – kurz, fast überall.« Er sah die Stuhllehne an, als ob er zu ihr spräche, und spielte darauf leise mit den Fingern wie auf einem stummen Piano.
»Mr. James hing ganz ungewöhnlich an dem Mädchen und war lange Zeit beständiger, als ich ihn gekannt habe, seit ich in seine Dienste getreten bin. Das Mädchen zeigte sich sehr bildungsfähig und erlernte mehrere Sprachen, und niemand würde in ihr das einfache Fischermädchen wiedererkannt haben. Es fiel mir auf, daß sie überall, wohin wir kamen, sehr bewundert wurde.«
Miss Dartle legte ihre Hand an ihre Seite. Ich sah Littimer einen flüchtigen Blick auf sie werfen und verstohlen lächeln.
»Wirklich, außerordentlich bewundert wurde das Mädchen. War es ihre Toilette oder die sonnige Umgebung oder dies oder das, kurz, ihre Vorzüge erregten die allgemeine Aufmerksamkeit.«
Er machte eine kurze Pause. Miss Dartles Augen wanderten ruhelos über den fernen Horizont, und sie biß sich auf die Unterlippe, als ob sie dadurch die vorlaute Narbe zum Schweigen bringen wollte.
Mr. Littimer wechselte die Hände auf der Stuhllehne und fuhr mit niedergeschlagnen Armen, den respektablen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, fort:
»In dieser Weise lebte das Mädchen einige Zeit dahin, wobei sie dann und wann sehr niedergeschlagen war, bis sie Mr. James, wie ich glaube, durch ihre Gedrücktheit und schlechte Laune zu langweilen begann. Wenigstens stand die Sache nicht mehr so gut zwischen ihnen. Mr. James fing wieder an ruhelos zu werden, und je unruhiger er wurde, desto schlimmer wurde es mit ihr, und was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich wirklich zwischen den beiden ein recht schweres Leben hatte. Aber immer wieder kam die Sache ins Geleise, und die Geschichte dauerte länger, als man hätte erwarten sollen.«
Miss Dartle sah mich jetzt wieder mit ihrer frühern Miene an. Mr. Littimer räusperte sich mit vorgehaltner Hand, stützte sich auf das andre Bein und fuhr fort:
»Endlich, als im ganzen großen ziemlich viel Worte und Vorwürfe zwischen beiden gewechselt worden waren, machte sich Mr. James eines Morgens aus der Nähe von Neapel, wo wir eine Villa hatten – das Mädchen liebte das Meer sehr –, auf und überließ es, unter dem Vorwand, in einigen Tagen zurückkehren zu wollen, mir, ihr zu eröffnen, er wäre in Berücksichtigung des Wohlseins aller Beteiligten abgereist. Mr. James benahm sich höchst ehrenhaft, denn er ließ dem Mädchen das Anerbieten machen, daß es eine sehr respektable Person heiraten sollte, die bereit war, das Geschehene zu vergessen, und zum mindesten eine ebenso gute Partie war wie irgendeine andere, die das Mädchen im gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte erwarten können, denn sie stammte doch von sehr niederer Herkunft.«
Er stützte sich wieder auf das andere Bein und befeuchtete seine Lippen. Ich war überzeugt, daß der Schuft von sich sprach, und ich sah meine Überzeugung auch auf Miss Dartles Gesicht ausgeprägt.
»Dies also war ich beauftragt ihr mitzuteilen. Ich war bereit, alles zu tun, um Mr. James aus einer peinlichen Verlegenheit zu befreien und die Eintracht zwischen ihm und seiner zärtlichen Mutter, die seinetwegen so viel ausgestanden hatte, wiederherzustellen. Deshalb übernahm ich den Auftrag. Die Leidenschaftlichkeit des Mädchens, als ich ihr seine Abreise mitteilte, überstieg alle Erwartungen. Sie gebärdete sich wie wahnsinnig und mußte mit Gewalt festgehalten werden, sonst hätte sie sich den Kopf an dem Marmorfußboden eingeschlagen oder sich auf eine andere Weise getötet.«
In ihrem Sessel zurückgelehnt, schien Miss Dartle mit einem Glanz des Frohlockens in ihren Mienen fast die Töne zu liebkosen, wie sie aus dem Munde dieses Menschen kamen.
»Als ich zu dem zweiten Teil meines Auftrags kam«, sagte Mr. Littimer und rieb sich unruhig die Hände, »den doch jedermann als gut gemeint aufgefaßt hätte, da zeigte sich das Mädchen in ihrem wahren Licht. Eine heftigere Person ist mir noch nie vorgekommen! Ihr Benehmen war über die Maßen schlecht. Sie bewies nicht mehr Dankbarkeit, Gefühl, Geduld oder Verstand als ein Stock oder ein Stein. Wenn ich nicht auf der Hut gewesen wäre, ich bin überzeugt, es hätte mir das Leben gekostet.«
»Um so besser denke ich von ihr«, rief ich entrüstet.
Mr. Littimer senkte den Kopf, als wollte er sagen: »Meinen Sie wirklich? aber Sie sind wirklich noch sehr jung«, und fuhr in seinem Berichte fort. »Kurz, wir mußten eine Zeitlang alles aus ihrer Nähe entfernen, womit sie sich und andere Leute hätte verletzen können, und sie einsperren. Dennoch befreite sie sich eines Nachts, brach einen Fensterladen auf, den ich selbst zugenagelt hatte, ließ sich an einem Rebengeländer hinab, und seitdem hat man, soviel ich weiß, nichts wieder von ihr gehört.«
»Sie ist vielleicht tot«, sagte Miss Dartle mit einem Lächeln, als ob sie am liebsten die Leiche des armen Mädchens mit Füßen getreten hätte.
»Sie hat sich vielleicht ertränkt, Miss«, sagte Mr. Littimer, die Gelegenheit benützend, jemand anzureden. »Das ist sehr leicht möglich. Oder vielleicht haben ihr die Fischer und deren Frauen und Kinder beigestanden. Sie hatte ordinäre Leute gern und unterhielt sich sehr oft mit ihnen am Strande, Miss Dartle, und saß bei ihren Booten. Ich weiß, daß sie das manchmal, wenn Mr. James abwesend war, ganze Tage getan hat. Mr. James wurde sehr böse, als er einmal erfuhr, sie hätte den Kindern erzählt, sie sei eines Fischers Tochter und wäre vor langer, langer Zeit in ihrem Vaterlande wie sie am Strande umhergelaufen. Als es unzweifelhaft erschien, daß nichts mehr getan werden konnte, Miss Dartle –«
»Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollten mich nicht anreden!« sagte Miss Dartle verächtlich.
»Sie sprachen zu mir, Miss«, entgegnete Littimer. »Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist meine Schuldigkeit zu gehorchen.«
»So tun Sie Ihre Schuldigkeit, erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende und gehen Sie.«
»Als es unzweifelhaft war«, fuhr Littimer mit unsäglicher Respektabilität und einer gehorsamen Verbeugung fort, »daß man sie nicht mehr auffinden konnte, begab ich mich zu Mr. James an den Ort, wohin ich ihm hätte schreiben sollen, und unterrichtete ihn von dem Vorfall. Infolgedessen kam es zu einem Wortwechsel zwischen uns, und ich glaubte es meinem Charakter schuldig zu sein, ihn zu verlassen. Ich konnte viel von Mr. James ertragen, doch er beleidigte mich zu sehr. Er verletzte mich. Da ich von dem unglücklichen Zwiespalt zwischen ihm und seiner Mutter wußte und mir vorstellen konnte, wie groß Mrs. Steerforths Sorge sein mußte, nahm ich mir die Freiheit, nach England zurückzukehren und zu berichten –«
»Für Geld, das ich ihm bezahlte«, sagte Miss Dartle zu mir.
»Ganz recht, Madam, – und zu erzählen, was ich wußte. Ich glaube nicht«, sagte Mr. Littimer nach kurzem Nachdenken, »daß noch etwas zu berichten wäre. Ich bin augenblicklich ohne Beschäftigung und würde mich glücklich schätzen, eine respektable Stellung zu finden.«
Miss Dartle blickte mich fragend an, ob ich noch etwas zu wissen wünschte. Da mir eine Frage sehr auf dem Herzen lag, sagte ich:
»Ich möchte von dieser Kreatur« – ich konnte kein milderes Wort finden – »wissen, ob man einen Brief, der von ihrer Heimat aus an sie geschrieben wurde, unterschlagen hat, oder ob er angekommen ist.«
Littimer blieb ruhig und stumm stehen, die Augen auf den Boden geheftet, und paßte sorgfältig die Fingerspitzen der rechten Hand auf die seiner linken.
Miss Dartle drehte sich verächtlich nach ihm um.
»Ich bitte um Verzeihung, Miss«, sagte er, wie aus Nachdenken erwachend, »aber so untertänigst ich zu Ihren Diensten stehe, so habe ich doch eine gewisse Position zu wahren, wenn ich auch nur ein Bedienter bin. Mr. Copperfield und Sie, Miss, sind zwei ganz verschiedene Personen, und wenn Mr. Copperfield etwas von mir zu wissen wünscht, so möchte ich mir erlauben, Mr. Copperfield daran zu erinnern, daß er in diesem Fall eine Frage an mich zu richten hat. Ich muß meine Stellung wahren.«
Nach einiger Überwindung sah ich ihn an und sagte: »Sie haben meine Frage gehört. Nehmen Sie an, sie wäre an Sie gerichtet gewesen. Welche Antwort haben Sie darauf zu geben?«
»Sir«, entgegnete er und spielte wieder mit den Fingerspitzen, »meine Antwort kann keine direkte sein, denn es ist zweierlei, Mr. James an seine Mutter oder an Sie zu verraten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß Mr. James den Empfang von Briefen, die leicht Niedergeschlagenheit und schlechte Stimmung erzeugt haben würden, begünstigt hätte; aber mehr als das möchte ich nicht gerne sagen.«
»Ist das alles?« fragte mich Miss Dartle.
Ich gab ihr zu verstehen, daß ich nichts weiter zu sagen hätte. Nur noch das eine setzte ich hinzu, als ich bemerkte, daß Littimer fortgehen wollte, nämlich, daß ich ihm bei der leicht zu durchschauenden Rolle, die er bei diesem Schurkenstreich gespielt habe, raten würde, sich nicht zu viel öffentlich blicken zu lassen, da ich dem Ehrenmann, unter dessen Obhut Emly seit Kindheit an gestanden, alles was ich erfahren, mitteilen würde.
Littimer war bei meinen Worten stehengeblieben und hatte mit seiner gewohnten Ruhe zugehört.
»Ich danke Ihnen, Sir, aber Sie werden entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerke, Sir, daß es hierzulande weder Sklaven noch Sklavenaufseher gibt und daß es niemand erlaubt ist, sich auf eigene Faust Recht zu verschaffen. Wer es tut, tut es mehr auf seine als auf anderer Leute Kosten glaube ich. Ich kann daher ruhig sagen, daß ich mich durchaus nicht fürchte überall hinzugehen, wohin es mir beliebt.«
Mit diesen Worten machte er mir eine höfliche Verbeugung und eine zweite Miss Dartle und verschwand durch die Öffnung in der grünen Hecke, durch die er eingetreten war.
Miss Dartle und ich sahen einander eine Weile schweigend an; ihr Gesichtsausdruck war unverändert. »Er erzählte noch«, begann sie leicht ihre Lippen verziehend, »daß sein Herr an der spanischen Küste herumsegelt und dieses Schifferleben weiter führen will, bis er es satt hat. Aber das wird Sie wohl nicht interessieren. Zwischen diesen beiden stolzen Personen, Mutter und Sohn, besteht eine tiefere Kluft als je vorher, und es ist wenig Aussicht, daß sie sich je versöhnen werden, denn ihr Charakter ist im Grunde ein und derselbe und die Zeit macht beide nur hartnäckiger und schroffer. Auch das kann Ihnen gleich sein, aber es dient als Einleitung zu dem, was ich Ihnen noch zu sagen habe. Diese Kreatur, aus der Sie einen Engel machen wollen, ich meine das gemeine Mädchen, das er aus dem Schmutz des Strandes aufgelesen hat«, – sie sah mich mit ihren schwarzen Augen fest an – »ist vielleicht noch am Leben, – denn ich glaube, so niedrige Geschöpfe sterben schwer. Wenn sie noch am Leben ist, werden Sie wohl wünschen, diese unschätzbare Perle zu finden und zu beschirmen. Auch wir wünschen das, damit er nicht durch einen Zufall wieder ihre Beute wird. So weit vereinigt uns ein gemeinsames Interesse, und deshalb habe ich nach Ihnen geschickt, um Ihnen zu berichten, was Sie eben gehört haben.«
Ich bemerkte an der veränderten Miene ihres Gesichtes, daß jemand hinter mir stand. Es war Mrs. Steerforth.
Sie reichte mir ihre Hand mit größerer Kälte als früher und mit noch mehr Förmlichkeit, aber immer noch, wie ich zu meiner Rührung merkte, mit einer unauslöschlichen Erinnerung an meine alte Liebe zu ihrem Sohn. Sie hatte sich sehr verändert. Ihre vornehme Gestalt war nicht mehr so aufrecht, in ihrem schönen Gesicht lagen tiefe Furchen, und ihr Haar war fast weiß. Aber als sie Platz genommen hatte, sah sie immer noch schön aus, und ich erkannte das helle Auge mit dem stolzen Blick wieder, das mir schon in meinen Schulträumen ein Licht gewesen war.
»Weiß Mr. Copperfield alles, Rosa?«
»Ja.«
»Und hat er Littimer selbst gehört?«
»Ja, ich habe ihm gesagt, warum du es wünschtest.«
»Das ist schön von dir.«
»Ich habe einige flüchtige Briefe mit Ihrem früheren Freund gewechselt, Sir«, sagte sie jetzt zu mir, »aber er hat sich dadurch nicht bewogen gefühlt, seinen natürlichen Verpflichtungen nachzukommen. Deshalb nehme ich an der Angelegenheit nicht im größeren Maße teil, als Ihnen Rosa bereits gesagt hat. Wenn dadurch mein Sohn vor der Gefahr bewahrt werden kann, wieder in die Schlingen einer schlauen Gegnerin zu fallen, und es gleichzeitig das Herz des rechtschaffenen Mannes, den Sie hierherbrachten und der mir sehr leid tut – mehr kann ich nicht sagen –, erleichtern wird, so ist es gut.«
Sie richtete sich auf und sah gerade vor sich hin in die Ferne.
»Maam«, sagte ich respektvoll, »ich verstehe. Ich versichere Ihnen, daß Sie nicht in Gefahr kommen, Ihre Beweggründe falsch ausgelegt zu sehen. Aber ich, der diese schwergekränkte Familie von Kindheit an gekannt hat, muß hier doch bemerken, wenn Sie glauben, das so grausam betrogene Mädchen sei nicht auf das schmählichste hintergangen worden und würde nicht lieber hundert Mal sterben als jetzt ein Glas Wasser von der Hand Ihres Sohnes annehmen, so täuschen Sie sich entsetzlich.«
»Laß sein, Rosa, laß sein«, wehrte Mrs. Steerforth ab, als sich Miss Dartle hineinmischen wollte. »Es hat nichts zu sagen. Laß sein.«
»Ich höre, Sie sind verheiratet, Sir?«
Ich bejahte.
»Und Sie befinden sich wohl? Ich höre in meinem einsamen Leben wenig, aber ich habe vernommen, daß Sie auf dem besten Wege sind berühmt zu werden.«
»Ich habe sehr viel Glück gehabt und höre meinen Namen mit einigem Lobe nennen.«
»Sie haben keine Mutter mehr?« fragte sie mit milder Stimme.
»Nein.«
»Das ist schade. Sie würde stolz auf Sie sein. Gute Nacht!«
Ich ergriff ihre Hand, die sie mir mit würdevoller, kühler Miene darbot, und sie zitterte so wenig, als ob der stillste Friede in ihrer Brust geherrscht hätte. Die Frau konnte in ihrem Stolze selbst den Schlag ihres Pulses regeln und den Schleier der Ruhe über ihr Antlitz breiten.
Als ich über die Terrasse schritt, fiel mir auf, wie starr die beiden hinaus auf die Aussicht blickten und wie der Horizont immer trüber und dunkler wurde. Hier und da fingen einige Lichter in der fernen Stadt vorzeitig an zu blinken, und am westlichen Himmel erhielt sich immer noch der fahle Schein. Aber aus dem größeren Teil des breiten Tales dazwischen stieg ein Nebel empor gleich einem Meer, der, sich mit der Finsternis vermischend, aussah wie anschwellende Wogen. Ich habe Grund mich daran zu erinnern und denke daran mit Grauen, denn als ich die beiden später wiedersah, hatte sich rings um sie eine stürmische See erhoben.
Ich fühlte bald bei näherem Nachdenken, daß ich Mr. Peggotty von dem Erfahrenen Mitteilung machen müßte.
Am nächsten Abend ging ich nach London, um ihn aufzusuchen. Er wanderte immer noch von Ort zu Ort, um seine Nichte wiederzufinden, aber er hielt sich öfter in London als anderswo auf. Zuweilen hatte ich ihn in stiller Nacht durch die Straßen wandern sehen, wo er unter den wenigen Gesichtern, die in so später Stunde noch unterwegs waren, das suchte, was zu finden er sich fürchtete.
Er hatte noch immer seine Wohnung über dem kleinen Wachszieherladen auf dem Hungerford Market inne.
Als ich dort nach ihm fragte, erfuhr ich von den Hausleuten, daß er noch nicht ausgegangen sei und oben in seinem Zimmer säße.
Ich fand ihn mit Lesen beschäftigt an einem Fenster sitzen, vor dem einige Topfpflanzen standen.
Das Zimmer war sehr sauber und ordentlich gehalten. Ich sah im Augenblick, daß er immer zu Emlys Aufnahme bereit war und wohl nie ohne den Gedanken ausging, sie möglicherweise heimbringen zu können.
Er hatte mein Klopfen überhört und blickte erst auf, als ich die Hand auf seine Schulter legte.
»Masr Davy! Danke Ihnen, Sir. Danke Ihnen herzlich für diesen Besuch. Setzen Sie sich. Sie sind willkommen, Sir!«
»Mr. Peggotty«, sagte ich und nahm den Stuhl an, den er mir anbot, »machen Sie sich nicht auf viel gefaßt, aber ich habe Nachricht.«
»Von Emly!«
Er legte die Hand krampfhaft auf den Mund und wurde blaß.
»Sie gibt uns zwar keinen Anhalt über ihren Aufenthaltsort, aber Emly ist nicht mehr – bei ihm.«
Er setzte sich nieder und hörte im tiefsten Schweigen meine Erzählung an. Ich erinnere mich noch gut des Eindrucks von Würde und sogar von Schönheit, den der geduldige Ernst seines Gesichtes auf mich machte, als er vor sich niedersah, die Stirn auf die Hand gestützt. Er unterbrach mich nicht mit einem Wort. Er schien Emlys Gestalt durch meine Erzählung hindurch zu verfolgen und jede andere achtlos vorbeigehen zu lassen. Als ich fertig war, hielt er die Hände vors Gesicht und blieb stumm. Ich sah eine kurze Weile aus dem Fenster und beschäftigte mich mit den Topfpflanzen.
»Was ist Ihre Meinung darüber, Masr Davy?« fragte er endlich.
»Ich glaube, sie ist am Leben.«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht war der erste Schlag zu hart, und in der Verzweiflung ihres Herzens –! Das blaue Meer, von dem sie so oft sprach –! Hat es ihr vielleicht so viele Jahre deswegen im Kopfe gespukt, weil es ihr Grab werden sollte? –«
Er sagte dies nachdenklich mit leiser erschrockener Stimme und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab.
»Und doch, Masr Davy, habe ich so bestimmt im Wachen und im Schlaf gewußt, daß ich sie finden werde, und der Gedanke hat mich so aufrechterhalten und gestärkt, daß ich nicht glauben kann, ich hätte mich geirrt. Nein! Emly lebt!«
Er legte die Hand fest auf den Tisch, und sein sonnverbranntes Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.
»Meine Nichte Emly lebt, Sir«, sagte er in bestimmtem Tone. »Ich weiß nicht, woher es kommt oder wie es ist, aber etwas sagt mir jetzt wieder, sie lebt!«
Er sah fast wie ein Inspirierter aus bei diesen Worten. Ich wartete einige Augenblicke, bis er mir ungeteilte Aufmerksamkeit schenken konnte, und dann setzte ich ihm auseinander, welche Vorsichtsmaßregeln wir ergreifen müßten, wenn wir sie aufsuchten. »Zuerst, alter Freund«, fing ich an –
»Ich danke Ihnen so sehr, lieber Herr«, unterbrach er mich und faßte meine Hand.
»– wenn sie nach London kommen sollte, was sehr wahrscheinlich ist – denn wo könnte sie sich besser verbergen als in dieser ungeheuern Stadt und was sollte sie anders tun, als sich verbergen, wenn sie nicht nach Haus geht –«
»Und sie wird nicht nach Hause gehen«, fiel er ein und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn sie aus eignem freien Willen zurückgekommen wäre, ja, vielleicht; aber so nicht!«
»Wenn sie hierher kommt, so glaube ich, daß eine ganz bestimmte Person sie leichter auffinden kann als jede andere in der Welt. Erinnern Sie sich – hören Sie mich mit Fassung an und denken Sie an Ihr großes Ziel – erinnern Sie sich an Marta?«
»Aus unserer Stadt?«
Ich bedurfte keiner andern Antwort als seines Gesichtsausdruckes.
»Wissen Sie, daß sie in London ist, Mr. Peggotty?«
»Ich habe sie auf der Straße gesehen«, antwortete er mit einem Schauer.
»Aber Sie wissen nicht, daß Emly mit Hams Hilfe ihr eine Wohltat erwies. Auch nicht, daß Marta an der Tür lauschte an jenem Abend, als wir im Gasthaus miteinander sprachen!«
»Masr Davy«, entgegnete er erstaunt. »An jenem Abend, als es so stark schneite?«
»An jenem Abend. Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen. Als Sie gegangen waren, wollte ich sie aufsuchen, aber sie war fort. Ich wollte damals Ihnen gegenüber nichts davon erwähnen und tue es auch heute nicht gern, aber ich glaube, wir sollten uns mit ihr in Verbindung setzen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Wir hatten unsere Stimmen fast bis zum Flüstern gedämpft und sprachen leise weiter.
»Sie sagen, Mr. Peggotty, Sie hätten sie gesehen. Glauben Sie wohl, Sie könnten sie auffinden?«
»Ich glaube, ich weiß, wo sie zu suchen ist, Masr Davy.«
»Es ist dunkel. Wollen wir nicht, da wir schon einmal beisammen sind, miteinander fortgehen und den Versuch machen, sie zu finden?«
Er stimmte bei und machte sich fertig, mit mir zu gehen. Ohne es merken zu lassen, beobachtete ich, wie sorgfältig er das Zimmer in Ordnung brachte, das Bett glattstrich und zuletzt aus einem Kasten eins von Emlys Kleidern herausnahm und es nebst andern und einem Hut auf einen Stuhl legte. Er sagte nichts weiter darüber und auch ich nicht. Wohl so manchen Abend mochten sie schon auf Emly gewartet haben, diese Kleider!
»Es gab einmal eine Zeit, Masr Davy«, sagte er, als wir die Treppe hinuntergingen, »wo mir diese Marta wie Schlamm unter meiner Emly Füßen vorkam. Gott verzeih mir, wie anders ist das jetzt!«
Als wir die Straße entlanggingen, fragte ich ihn nach Ham, teils, um ihn im Gespräch zu erhalten, teils aus Bedürfnis. Er sagte mir fast mit denselben Worten, wie einstmals, daß Ham immer noch das gleiche Leben führe.
Ich fragte ihn, ob er wisse, wie Ham über die Urheber seines Unglücks denke und was er wohl tun würde, wenn er jemals mit Steerforth zusammentreffen sollte.
»Das weiß ich nicht, Sir. Ick hew manchmal drüwer nachdacht, awer ick weet dat nich.«
»Entsinnen Sie sich noch«, fragte ich, »wie verstört und aufgeregt er damals an jenem Morgen nach Emlys Flucht auf das Meer hinausblickte und von einem Ende sprach?«
»Gewiß, gewiß, Sir.«
»Was meinen Sie wohl, wollte er damit sagen?«
»Masr Davy, ich habe mich das schon viele Male selber gefragt und keine Antwort darauf gefunden. Er hat nie anders zu mir gesprochen, als wie es sich für einen gehorsamen Sohn gehört, aber wo diese Gedanken in seiner Seele liegen, da ist tiefes Wasser, Sir, und ich kann nicht auf den Grund sehen.«
»Sie haben recht«, sagte ich, »und das hat mich manchmal besorgt gemacht.«
»Auch mich, Masr Davy! Mehr noch als die sonstige Veränderung in seinem Wesen. Ich weiß nicht, ob er ihm etwas antun würde, aber ich hoffe, die beiden werden nie mehr zusammenkommen.«
Wir waren in der innern Stadt angelangt. Stumm neben mir herschreitend, gab er sich ganz dem einen Ziel seines Lebens hin und ging seines Wegs mit einer Konzentration seiner Gedanken, die ihn auch mitten im Menschengewühl zum einsamen Wanderer gemacht haben würde. Wir waren nicht weit von der Blackfriars-Brücke entfernt, als er mich ansah und auf eine einsame weibliche Gestalt deutete, die auf der andern Seite langsam die Straße entlangging. Ich erkannte sie sofort als die Gesuchte. Wir gingen über die Straße hinüber auf sie zu, als mir einfiel, daß ihr es vielleicht lieber wäre, wenn wir sie an einem stillen Ort, wo wir weniger beobachtet sein würden, anredeten. Ich riet daher meinem Gefährten, daß wir sie jetzt nicht ansprechen, sondern ihr nachgehen sollten; dabei bestimmte mich zugleich etwas wie ein unklarer Wunsch, zu erfahren, wohin sie wohl ginge.
Wir folgten ihr in einiger Entfernung und trugen Sorge, sie nie aus den Augen zu verlieren, da wir ihr nicht zu nahe kommen durften und sie sich öfters umsah.
Einmal blieb sie stehen, um einer Musikbande zuzuhören. Dann wanderte sie durch viele viele Straßen, aber unermüdlich folgten wir ihr.
Aus der Art ihres Ganges war leicht zu erkennen, daß sie ein bestimmtes Ziel vor sich hatte. Dies, dann der Umstand, daß sie in den belebten Straßen blieb, und vielleicht auch eine seltsame Freude an der geheimnisvollen Weise, mit der wir ihr folgten, ließen mich auf meinem ersten Vorsatz beharren.
Endlich lenkte sie in eine dunkle stille Straße ein, wo weder Lärm noch Gedränge war, und ich sagte: »Hier können wir sie anreden.«
Wir beschleunigten unsere Schritte.