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Von dem Blut des Verräters gab es zwei Personen, der verstoßene Bruder und seine Schwester, auf denen damals das Gewicht seiner Schuld fast noch schwerer lastete, als auf dem Mann, den er so tief gekränkt hatte. Die luchsäugige, anspruchsvolle Welt leistete Mr. Dombey den Dienst, daß sie ihn zu Beharrlichkeit in seiner Rache spornte. Sie weckte seine Leidenschaftlichkeit, stachelte seinen Zorn, brachte die einzige Idee seines Lebens in eine neue Form und machte die Befriedigung seines Zornes zu einem Gegenstand, in dem sein ganzes geistiges Dasein aufging. Der abstoßende Scharfsinn seines Wesens, seine unnahbare Härte, sein mürrisches Düster, das übertriebene Gefühl von persönlicher Wichtigkeit und die eifersüchtige Geneigtheit, auch den mindesten Mangel in der unterwürfigen Anerkennung seines hohen Ichs zu strafen – alles das trat gleich vielen Strömen in einen zusammen und riß ihn auf seiner Flut mit fort. Die ungestümste Leidenschaftlichkeit des menschlichen Geschlechts war nur ein milder Feind in Vergleich mit dem finstern Mr. Dombey, in dem so viele Kräfte zusammenwirkten. Eine wilde Bestie hätte sich leichter beschwichtigen lassen, als der ernste Gentleman ohne eine Falte in seiner gestärkten Halsbinde.
Doch schon die Glut des Entschlusses wurde fast ein Ersatz für die Tätigkeit. Solange er den Schlupfwinkel des Verräters nicht kannte, diente diese dazu, seinen Geist von dem eigenen Unglück abzulenken und ihn mit einer andern Aussicht zu unterhalten. Dem Bruder und der Schwester des treulosen Günstlings stand keine solche Stütze zu Gebot; denn ihre ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte verlieh dem Verbrechen eine nur um so betrübendere Bedeutung für sie.
Die Schwester machte sich vielleicht hin und wieder wehmütige Gedanken, daß er nicht so tief gefallen sein würde, wenn sie als Freundin und Gefährtin bei ihm geblieben wäre. Gleichwohl bereute sie ihren Schritt nicht, da sie die Überzeugung hegte, ihre Pflicht getan zu haben, und diese erschien ihr nicht einmal in dem Licht eines Opfers. So oft aber diese Möglichkeit sich ihrem verirrten, reuigen Bruder vergegenwärtigte, schnitt es ihm so scharf und vorwurfsvoll ins Herz, daß er es kaum zu ertragen vermochte. Er dachte nicht entfernt daran, seinen grausamen Bruder anschuldigen zu wollen, sondern klagte in seinem Innern nur aufs neue über seine eigene Wertlosigkeit und überhäufte sich mit Vorwürfen über das durch eigene Schuld herbeigeführte Verderben, obschon es ihm zu einigem Trost gereichte, daß er dann nicht allein dastand.
An demselben Tag, mit dessen Ende unser letztes Kapitel geschlossen hat, als Mr. Dombeys Welt mit der Entführung seiner Frau sich so viel zu schaffen machte, wurde das Fenster des Zimmers, in dem der Bruder und die Schwester bei ihrem Frühstück saßen, durch den unerwarteten Schatten eines Mannes verdunkelt, der auf die kleine Laube zukam. Der Mann war Perch, der Bote.
»Ich bin früh von Balls Pond aufgebrochen«, sagte Mr. Perch, der vertraulich zur Zimmertür hereinsah und auf der Matte haltmachte, um von allen Seiten seine Schuhe zu säubern, obschon sie nicht schmutzig waren, »um einem Auftrag von gestern abend nachzukommen. Ich soll Euch, Mr. Carker, ein Billett überbringen, ehe Ihr ausgeht. Das wäre schon vor anderthalb Stunden geschehen«, fügte er unterwürfig hinzu, »wenn mich nicht der Gesundheitszustand meiner Frau abgehalten hätte; denn ich kann Euch versichern, daß ich letzte Nacht fünfmal meinte, ich werde sie verlieren.«
»Ist Eure Frau so schwer krank?« fragte Harriet.
»Ja, seht Ihr«, antwortete Mr. Perch, nachdem er sich umgewandt hatte, um die Tür zu schließen, »sie nimmt sich die Vorgänge in unserm Haus so gar zu Herzen, Miß. Sie greifen ihre zarten Nerven an und spannen sie völlig ab. Freilich, auch die stärksten Nerven können durch solche Dinge erschüttert werden, und ohne Zweifel fühlt Ihr das selbst auch.«
Harriet unterdrückte einen Seufzer und blickte nach ihrem Bruder hin.
»Ich bin nur ein geringer Mann«, fuhr Mr. Perch mit einem Kopfschütteln fort, »aber doch fühle ich mich in einer Art angegriffen, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Es übt fast die Wirkung des Trinkens auf mich aus; denn jeden Morgen ist es mir buchstäblich, als ob ich abends zuvor mehr zu mir genommen hätte, als mir gut ist.«
Diese Angabe wurde durch Mr. Perchs Aussehen bestätigt; denn es zeigte sich an ihm eine Art fieberischer Erschlaffung, wie man sie nach zu vielem Branntweingenuß bemerkt. Die Mattigkeit hatte auch ohne Zweifel ihren Grund in dem Umstand, daß er sich so oft in den Schenkstuben der Wirtshäuser sehen ließ, wo er Tag für Tag traktiert und ausgefragt wurde.
»Ich kann mir daher wohl eine Vorstellung machen«, fuhr Mr. Perch, der abermals den Kopf schüttelte, in eintönigem Gemurmel fort, »von den Gefühlen jemandes, der durch diese höchst peinliche Enthüllung in eine so eigentümliche Lage versetzt wurde.«
Mr. Perch wartete, ob man sich ihm nicht anvertraute, und da dies nicht geschah, so hustete er hinter seiner Hand. Das führte zu nichts, weshalb er das Experiment hinter seinem Hut wiederholte, und da auch das nicht half, so setzte er den Hut auf den Boden und suchte in seiner Brusttasche nach dem Brief.
»Wenn ich mich recht erinnere, so bedarf es keiner Antwort«, sagte Perch mit freundlichem Lächeln; »aber vielleicht seid Ihr so gut, einen Blick hineinzuwerfen, Sir.«
John Carker erbrach das Siegel, das das des Mr. Dombey war, nahm von dem Inhalt Einsicht und erwiderte dann kurz abgebrochen:
»Nein. Es ist keine Antwort nötig.«
»Dann will ich Euch guten Morgen wünschen, Miß«, sagte Perch, einen Schritt nach der Tür hin machend, »und hoffe natürlich, daß Ihr Euch durch die letzte schmerzliche Enthüllung im Geist nicht mehr angreifen lasset, als Ihr es eben vermögt. Die Zeitungen«, fügte er hinzu, indem er wieder zwei Schritte zurücktrat und in einem geheimnisvollen Flüstern sowohl Bruder als Schwester anredete, »sind auf Neuigkeiten darüber begieriger, als Ihr für möglich halten würdet. Einer von den Zeitungsreportern in blauem Mantel und weißem Hut, der mich schon früher bestechen wollte – ich brauche Euch wohl nicht zu sagen, mit welchem Erfolg – trieb sich noch gestern abend zwanzig Minuten nach acht Uhr in unserm Hof herum. Ich habe selbst gesehen, wie er zum Schlüsselloch des Kontors hineinguckte, obschon er da nicht viel erholte, weil es ein Patentschloß ist und man daher nicht durchsehen kann. Ein anderer in militärischem Frack«, sagte Mr, Perch, »ist den ganzen lieben Tag in der Gaststube des ›königlichen Wappens‹. Ich ließ dort letzte Woche zufälligerweise eine kleine Bemerkung fallen und am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, mußte ich sie zu meinem größten Erstaunen gedruckt lesen.«
Mr. Perch griff wieder an seine Brusttasche, als wolle er den Artikel hervorholen, zog aber, da er keine Ermunterung dazu erhielt, seine Biberhandschuhe heraus, langte nach seinem Hut und verabschiedete sich. Aber noch vor Mittag hatte er vor verschiedenen auserlesenen Zuhörern im ›Königswappen‹ und anderswo getreulich berichtet, wie Miß Carker in Tränen ausbrach, seine beiden Hände gefaßt und gesagt habe: »O, mein lieber, lieber Perch, Euer Anblick ist der einzige Trost, der mir geblieben ist!« während von Mr. John Carker mit feierlicher Stimme hinzugefügt worden sei: »Perch, ich sage mich los von ihm! Laßt mich nie wieder aus Eurem Munde hören, daß ich einen Bruder habe!«
»Lieber John«, sagte Harriet, als sie allein waren, nach einem kurzen Schweigen, »das Schreiben enthält wohl eine schlimme Nachricht?«
»Ja. Aber keine unerwartete«, versetzte er. »Ich habe den Schreiber gestern gesehen.«
»Den Schreiber?«
»Mr. Dombey. Er kam zweimal durch das Kontor, während ich dort war. Es gelang mir früher, ihm auszuweichen, aber ich konnte natürlich nicht hoffen, daß mir dieses auf die Dauer möglich sein werde. Es ist auch natürlich, daß meine Anwesenheit einen unangenehmen Eindruck auf ihn macht, und ich sagte mir das selbst.«
»Hat er sich so gegen dich ausgesprochen?«
»Nein; er sagte nichts. Aber ich bemerkte, daß sein Blick einen Augenblick auf mir ruhte, und machte mich auf das gefaßt, was kommen würde und was jetzt wirklich eingetroffen ist. Ich bin entlassen.«
Sie suchte ihre Erschütterung zu verbergen und eine möglichst hoffnungsvolle Miene anzunehmen. Aber die Neuigkeit war aus vielen Gründen sehr betrübend.
»›Ich brauche Euch nicht zu sagen‹«, las John Carker vor, »›warum Euer Name, in wie ferner Beziehung er auch zu dem meinen stünde, hinfort einen unnatürlichen Klang haben müßte, oder warum der tägliche Anblick eines Mannes, der ihn führt, mir unerträglich sein muß. Ich bedeute Euch deshalb, daß von heute an jedes Geschäftsverhältnis ein Ende hat, und verlange, daß von Eurer Seite keine Erneuerung irgendeines Verkehrs mit mir oder meinen Leuten versucht werde.‹ – Der Einschluß enthält eine Entschädigung für eine anständige Kündigungsfrist, und das ist meine Entlassung. Der Himmel weiß, Harriet, wenn wir alles bedenken, so hat er sich anständig und rücksichtsvoll benommen.«
»Wenn es anständig und rücksichtsvoll ist, John, dich wegen der Untat eines andern zu bestrafen, so muß ich beistimmen«, versetzte sie sanft.
»Wir sind ein unglückbringendes Geschlecht für ihn gewesen«, sagte John Carker. »Er hat Grund, schon vor dem Ton unseres Namens zu erschrecken und zu denken, daß Fluch und Sünde in unserm Blut liegen. Ich würde es fast selbst auch glauben, Harriet, wenn du nicht wärest.«
»Sprich nicht so, Bruder. Wenn du, wie du sagst und glaubst, – obschon ich dir widersprechen muß, – einen besonderen Grund hast, mich zu lieben, so erspare mir das Anhören so wilder, wahnsinniger Worte!«
Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, ließ es sich aber gefallen, als seine Schwester, ihm näher kommend, eine derselben mit der ihrigen ergriff.
»Ich weiß, es ist traurig, nach so vielen Jahren in solcher Weise verabschiedet zu werden«, sagte Harriet, »und die Veranlassung dazu ist für uns beide schrecklich. Auch müssen wir leben und uns deshalb nach den erforderlichen Mitteln umsehen. Nun ja; wir können das ungescheut tun. Wir können stolz darauf sein und es nicht als Unglück betrachten, John, wenn wir gemeinschaftlich ringen und streben.«
Mit einem Lächeln, das auf ihren Lippen spielte, küßte sie seine Wange und bat ihn, getrost zu sein.
»O, meine liebe Schwester, daß du dich freiwillig an einen zugrunde gerichteten Mann anschließen mußtest, dessen Ruf dahin ist, der keinen Freund besitzt und all die Deinen verscheucht hat!«
»John!« Sie legte hastig ihre Hand auf seine Lippen, »um meinetwillen! Denke an unser langes Zusammenleben!« Er schwieg. »Ich muß dir etwas sagen, mein Lieber«, und sie setzte sich ruhig an seiner Seite nieder. »Wie du, habe auch ich dies erwartet, und während ich mir ängstlich Gedanken darüber machte und mich so gut wie möglich auf das Schlimmste gefaßt hielt, nahm ich mir vor, dir, im Falle es so weit käme, zu eröffnen, daß ich lange ein Geheimnis vor dir bewahrte, und daß wir wirklich einen Freund haben.«
»Und der Name unseres Freundes, Harriet?« antwortete er mit sorgenvollem Lächeln.
»Ich kenne ihn nicht, aber er versicherte mich einmal auf das angelegentlichste seiner Freundschaft und erklärte sich bereit, uns zu nützen. Ich setze vollen Glauben in ihn!«
»Harriet!« rief ihr Bruder verwundert, »wo wohnt dieser Freund?«
»Auch das ist mir unbekannt«, entgegnete sie. »Aber er kennt uns beide und unsere Geschichte – unsere ganz kleine Geschichte, John. Das ist der Grund, warum ich seiner eigenen Andeutung gemäß sein Hierherkommen vor dir verbarg, damit dieses sein Mitwissen dir nicht schmerzlich werde.«
»Sein Hierherkommen, Harriet? Er ist also hier gewesen?«
»Ja, in diesem Zimmer. Einmal.«
»Was ist es für ein Mann?«
»Nicht jung, ›grauköpfig‹, wie er sagt, ›und immer grauer werdend‹. Aber gewiß von Charakter edel, offen und gut.«
»Und du hast ihn nur ein einziges Mal gesehen, Harriet?«
»In diesem Zimmer nur einmal«, sagte seine Schwester, und eine leichte Glut überflog ihre Wangen; »aber als er hier war, bat er mich, ihm zu gestatten, daß er mich einmal in der Woche im Vorbeigehen sehen dürfe, zum Zeichen unseres Wohlbefindens und zum Zeichen, daß wir seine Hilfe nicht nötig hätten. Denn ich sagte ihm, als er uns jeden ihm möglichen Dienst anbot – das war der Zweck seines Besuchs – daß wir nicht in Not seien.«
»Und einmal wöchentlich – –«
»Seitdem ist er einmal in der Woche, stets an dem gleichen Tag und um dieselbe Stunde vorübergekommen. Er kam immer zu Fuß, schlug jedesmal dieselbe Richtung ein, nach London nämlich, und hielt sich nie länger auf, als um mir eine Verbeugung zu machen und mir heiter zuzuwinken, wie es etwa ein freundlicher Vormund tun würde. Er versprach dieses, als er das seltsame Wiedersehen vorschlug, und hat so treulich Wort gehalten, daß ich, wenn ich je anfangs ein wenig unruhig darüber war – ich glaube es aber kaum, John, denn sein Benehmen war so gar einfach und redlich – mich bald zufrieden geben konnte. Ja, ich freute mich sogar auf diesen Tag. Letzten Montag – der erste nach jenem schrecklichen Ereignis – kam er nicht vorbei, und ich möchte wohl wissen, ob sein Ausbleiben in irgendeiner Weise mit dem Vorgefallenen in Verbindung stehen kann.«
»In welcher Weise?« fragte ihr Bruder.
»Ich weiß nicht, habe mir aber Gedanken über das Zusammentreffen gemacht und es zu erklären versucht. Ich fühle mich überzeugt, daß er wieder kommen wird. Geschieht das, lieber John, so will ich ihm sagen, daß ich endlich mit dir gesprochen habe, und du erlaubst mir sodann, dich mit ihm zusammenzubringen. Er wird uns gewiß zu einem neuen Lebensunterhalt verhelfen. Er bat, es möchte ihm gestattet werden, etwas beizutragen, um mir und dir das Leben zu erleichtern, und ich versprach ihm, wenn wir je eines Freundes bedürfen, so wolle ich seiner eingedenk sein. Dann brauche er auch seinen Namen nicht mehr zu verheimlichen.«
»Harriet«, sagte ihr Bruder, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte – »beschreibe mir diesen Herrn. Ich möchte doch den kennenlernen, der mich so gut kennt.«
Seine Schwester schilderte so lebhaft, wie sie konnte, das Gesicht, die Gestalt und den Anzug des Besuchs. Aber John Carker vermochte das ihm vorgeführte Porträt nicht zu erkennen, sei es, weil das Original ihm fremd, weil die Schilderung mangelhaft oder weil er, während er in Gedanken vertieft auf und ab ging, zu zerstreut war.
Sie machten aber unter sich aus, daß er beim nächsten Besuch das Original sehen solle; und dann ging die Schwester mit weniger bedrücktem Herzen an ihre Haushaltungsgeschäfte, während der grauhaarige Mann, kürzlich noch der Junior in Dombeys Hause, den ersten Tag seiner ungewohnten Freiheit der Besorgung des Gartens widmete.
Es war schon spät abends, und der Bruder las seiner Schwester, die ihre Nadel in Tätigkeit setzte, laut vor, als sie plötzlich durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurden. In der Atmosphäre einer unbestimmten Angst und Furcht, die im Hinblick auf den flüchtigen Bruder sie umschwebte, jagte dieser so ungewöhnliche Schall ihnen fast Schrecken ein. John ging nach der Tür, und Harriet blieb in furchtsamem Lauschen sitzen. Es sprach jemand mit ihm; John antwortete und schien überrascht zu sein. Noch einige Worte und dann kamen die beiden näher.
»Harriet«, sagte ihr Bruder, der dem späten Gast hereinleuchtete, mit gedämpfter Stimme, »Mr. Morfin, der Herr, der so lange in Dombeys Hause ist wie James.«
Harriet fuhr betroffen zurück, als sei ein Geist eingetreten; denn auf der Schwelle stand der unbekannte Freund mit dem graumelierten, dunkeln Haar, dem rötlichen Gesicht, der breiten, freien Stirne und den braunen Augen, dessen Geheimnis sie so lang bewahrt hatte.
»John!« sagte sie halb atemlos. »Das ist der Herr, von dem ich heute mit dir gesprochen habe!«
»Der Herr, Miß Harriet«, entgegnete der Gast, der jetzt hereinkam, denn er hatte einen Augenblick auf der Schwelle haltgemacht, »fühlt sich sehr beglückt, Euch so sprechen zu hören. Denn er hat auf dem ganzen Herweg auf Mittel und Wege gesonnen, sich zu erklären, ohne daß er sich darin zurecht finden konnte. Mr. John, ich bin hier nicht ganz fremd, Ihr wart erstaunt, als Ihr mich vorhin an Eurer Tür sahet, und ich merke, daß Ihr es jetzt nur um so mehr seid. Nun, unter den obwaltenden Umständen ist das auch leicht erklärlich. Wären wir nicht die Gewohnheitsgeschöpfe, die wir wirklich sind, so würden wir wohl nicht halb so oft Anlaß zum Erstaunen finden.«
Mittlerweile hatte er Harriet mit jener angenehmen Mischung von Herzlichkeit und Achtung, deren sie sich so wohl erinnerte, begrüßt und in ihrer Nähe Platz genommen, Zugleich zog er seine Handschuhe ab und warf sie in seinen auf dem Tisch stehenden Hut.
»Es ist doch nichts so Außerordentliches, Mr. John«, sagte er, »daß in mir der Wunsch rege wurde, Eure Schwester zu sehen, und daß ich diesen in meiner eigenen Art erfüllte. In der Regelmäßigkeit meiner seitherigen Besuche – Ihr werdet hierüber auch unterrichtet sein – liegt wenigstens nichts Ungewöhnliches; sie wurde mir bald zur Gewohnheit, und wir sind Gewohnheitsgeschöpfe – Gewohnheitsgeschöpfe!«
Er steckte die Hände in seine Taschen, lehnte sich in dem Stuhl zurück, blickte nach dem Bruder und der Schwester hin, als habe es Interesse für ihn, sie beisammen zu sehen, und fuhr in einer Art gedankenvoller Ärgerlichkeit fort: »Es ist die nämliche Gewohnheit, die einige, welche besserer Dinge fähig wären, in dem Stolz und Starrsinn eines Teufels befestigt – die andere in der Schurkerei und wieder andere in der Gleichgültigkeit beharren läßt – die uns von Tag zu Tag je nach der Beschaffenheit unseres Erdenleibs zu Steinbildern verhärtet und uns für neue Eindrücke und Überzeugungen völlig unempfindlich macht. Ihr könnt Euch an mir ein Urteil über ihren Einfluß bilden, John. Eine längere Reihe von Jahren, als ich zu nennen brauche, besorgte ich meinen kleinen und bestimmt abgemessenen Anteil an Dombeys Geschäften und sah, wie Euer Bruder, der währenddem zum Schurken geworden ist – Eure Schwester wird mir verzeihen, daß ich ihn so nennen muß – seinen Einfluß mehr und mehr ausdehnte, bis das Geschäft und dessen Eigentümer für ihn bloß zum Fußball geworden waren. Ich sah jeden Tag, wie Ihr Euch an Eurem dunkeln Pult abmühtet, und war ganz zufrieden, wenn ich außerhalb des Streifens meiner Dienstpflicht mich mit so wenig wie möglich zu behelligen brauchte. So ließ ich Tag für Tag um mich her gehen wie eine große Maschine, die auch ihrer Gewohnheit folgt, ohne eine Frage zu stellen. Alles galt mir für ausgemacht, und ich meinte, es müsse so sein. Der Donnerstagabend kam regelmäßig an die Reihe, unsere Quartettpartien nahmen ihren regelmäßigen Verlauf, mein Violoncello stimmte gut, und so kam nichts Unrechtes in meine Welt herein. Wenn es auch etwas gab, so war es nicht von Bedeutung – oder mochte es viel, mochte es wenig sein, so ging die Sache mich nichts an.«
»Ich kann Euch versichern, daß Ihr während dieser Zeit geachteter und beliebter wart als irgend jemand im Hause«, sagte John Carker.
»Ach, ich war vielleicht gutmütig und verträglich«, versetzte der andere: »aber eine solche Gemütsart trägt man gewohnheitshalber wie ein Kleid. Sie paßte für den Geschäftsführer, paßte für den Mann, den er gängelte, und paßte am besten für mich. Ich tat, was mir zugewiesen wurde, machte weder dem einen noch dem andern den Hof und war erfreut, in einer Stellung zu stehen, die mir nichts Derartiges auferlegte. So wäre es wohl bis jetzt fortgegangen, wenn nicht mein Zimmer eine dünne Wand hätte. Ihr könnt Eurer Schwester sagen, daß es von dem des Geschäftsführers nur durch ein hölzernes Getäfel geschieden ist.«
»Es sind aneinanderstoßende Zimmer, die vielleicht ursprünglich ein einziges bildeten und, wie Mr. Morfin sagt, durch eine Holzabfachung getrennt wurden«, entgegnete John Carker und sah dann seinen Gast an, als ersuche er ihn zur Wiederaufnahme seiner Erzählung.
»Ich habe gepfiffen, Lieder gesummt, ja eine ganze Beethovensche Sonate durchgesummt, um ihn wissen zu lassen, daß ich in Hörweite sei«, sagte Mr. Morfin; »aber er achtete nie auf mich. Allerdings kam es selten genug vor, daß etwas verhandelt wurde, was sich nicht auf Geschäfte bezogen hätte, und wenn es je geschah, so pflegte ich, wenn ich nicht in anderer Weise mein Mitanhören verhindern konnte, einen Ausgang zu machen. So hielt ich es auch bei Gelegenheit eines Gesprächs zwischen zwei Brüdern, bei dem anfangs der junge Walter Gay zugegen war, obschon ich noch einiges vernahm, ehe ich das Zimmer verließ. Ihr erinnert Euch vielleicht dessen noch und könnt Eurer Schwester darüber Auskunft geben, John?«
»Es bezog sich auf die Vergangenheit, Harriet«, versetzte ihr Bruder mit erstickter Stimme, »und auf unsere diesbezüglichen Stellungen im Haus.«
»Der Gegenstand war mir nicht neu, stellte sich mir aber wohl von einem neuen Gesichtspunkte dar. Er rüttelte mich aus meiner Gewohnheit auf – aus der Gewohnheit von neun Zehnteln der Welt – zu glauben, daß alles um mich her in Ordnung sei, weil ich daran gewöhnt war«, sagte der Gast, »und das bewog mich, über die Geschichte der beiden Brüder nachzudenken. Ich glaube, es war fast das erstemal in meinem Leben, daß ich zu einem ernstlichen Nachdenken kam – wie würden wohl viele Dinge, die täglich um uns vorgehen und uns deshalb als ganz recht und gut erscheinen, aussehen, wenn wir sie von dem neuen und ferneren Standpunkte aus betrachten, den wir alle eines Tages einnehmen müssen. Ich war nach jenem Morgen, wie man es nennt, weniger liebenswürdig, weniger ruhig und ganz und gar nicht umgänglich.«
Er schwieg eine Weile, während er mit der einen Hand auf den Tisch trommelte, und fuhr dann in einer Hast fort, als sei es ihm angelegentlich darum zu tun, sich von seinem Bekenntnis zu befreien.
»Ehe ich wußte, was oder ob ich überhaupt etwas tun könne, fand ein zweites Gespräch zwischen denselben Brüdern statt, in dem ihre Schwester erwähnt wurde. Ich machte mir kein Bedenken daraus, die herrenlose Ware jener Unterhaltung so frei nach mir herunterschwimmen zu lassen, wie sie wollte, und war der Ansicht, daß sie von Rechts wegen mir gehöre. Dann kam ich hierher, um die Schwester selbst zu sehen. Das erstemal blieb ich an dem Gartentor und tat, als erkundige ich mich nach dem Charakter eines armen Nachbars, kam aber bald von dieser Fährte ab, und ich glaube, daß mir Miß Harriet nicht recht traute. Das zweitemalt bat ich um die Erlaubnis, hereinkommen zu dürfen, trat ins Zimmer und sagte sodann, was ich auf dem Herzen hatte. Die Schwester bewies mir mit Gründen, die ich nicht anzufechten wagte, daß sie keinen Beistand von mir annehmen könne. Aber ich stellte ein Verkehrsmittel zwischen uns her, das bis auf die allerletzte Zeit ununterbrochen blieb; denn vor einigen Tagen wurde ich durch die wichtigen Geschäfte, die kürzlich auf mich übergingen, zum ersten Male abgehalten, meiner Zusage zu entsprechen.«
»Wie wenig ahnte ich das«, sagte John Carker, »obschon ich Euch jeden Tag sah, Sir! Wenn Harriet Euren Namen hätte erraten können –«
»Um die Wahrheit zu gestehen, John«, fiel ihm der Gast ins Wort, »ich behielt ihn aus zwei Gründen für mich. Ich weiß es nicht, ob nicht der erste allein schon ausgereicht hätte; denn mit guter Absicht ist noch nicht viel ausgerichtet, und ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, mich nicht zu erkennen zu geben, bis ich imstande sein würde, Euch den einen oder andern wirklichen Dienst zu leisten. Mein zweiter Grund lag in der Hoffnung, es dürfte noch möglich sein, daß Euer Bruder eine mildere Gesinnung gegen euch beide annehme. Wenn ein Mann von so argwöhnischem, lauerndem Charakter die Entdeckung machte, Ihr seiet im geheimen mit mir befreundet, so konnte dies zu einer neuen verhängnisvollen Trennung Anlaß geben. Allerdings nahm ich mir auch vor, auf die Gefahr hin, sein Mißfallen auf mich zu ziehen, aus dem ich mir nicht viel gemacht haben würde, eine Gelegenheit zu erspähen, ob ich Euch nicht bei dem Haupte des Hauses dienen könne. Aber Todesfälle, Brautwerbung, Hochzeit und häusliches Unglück haben uns lange, lange Zeit kein anderes Haupt gelassen, als eben Euren Bruder, und da war es am besten für uns«, fügte der Gast mit gedämpfter Stimme bei, »wenn man sich wie ein lebloser Körper verhielt.«
Er schien sich klar darüber zu werden, daß die letzten Worte ihm gegen seinen Willen entschlüpft waren, und fuhr dann, die eine Hand dem Bruder, die andere der Schwester hinhaltend, folgendermaßen fort:
»Alles, was ich zu sagen wünschen konnte – ja sogar noch mehr habe ich mir vom Herzen geredet. Was ich damit meine, läßt sich nicht in Worte fassen, und ich hoffe, Ihr versteht mich und schenkt mir Glauben. Die Zeit ist gekommen, John, – freilich eine höchst unglückliche Zeit – die mich in die Lage setzt, Euch zu helfen, ohne mich in den vermittelnden Kampf einzumischen, der so viele Jahre gewährt hat, da Ihr heute Eure Entlassung erhieltet, ohne sie verschuldet zu haben. Es ist spät; ich brauche heute nichts weiter zu sagen. Ihr werdet den Schatz, den Ihr hier habt, hüten, ohne daß es dazu von meiner Seite eines Rats oder einer Erinnerung bedürfte.«
Mit diesen Worten erhob er sich, um zu gehen.
»Geht mit dem Lichte voran, John«, sagte er scherzend, »und spart, was Ihr mir auch zu sagen wünscht.« John Carkers Herz war voll, und er würde sich durch Worte Erleichterung verschafft haben, wenn es ihm möglich gewesen wäre. »Ich möchte noch ein Wörtchen mit Eurer Schwester sprechen. Wir haben schon früher uns in diesem Zimmer allein unterhalten, obschon es natürlicher aussieht, wenn Ihr dabei seid.«
Er folgte ihm mit seinen Blicken, wandte sich dann freundlich Harriet zu und sagte zu ihr mit gedämpfter Stimme und mit völlig verändertem ernsterem Wesen:
»Ihr wünscht mich über den Mann zu fragen, dessen Schwester zu sein Ihr das Unglück habt.«
»Ich fürchte mich, es zu tun«, versetzte Harriet.
»Ihr habt mich mehr als einmal so ernst angesehen«, entgegnete der Gast, »daß ich denke, ich habe Eure Frage erraten. Hat er Geld mitgenommen? Nicht wahr, das ist es?«
»Ja.«
»Nein.«
»Dem Himmel sei Dank!« rief Harriet. »Um Johns willen.«
»Daß er das in ihn gesetzte Vertrauen vielfältig mißbrauchte«, sagte Mr. Morfin, – »daß er öfter mehr für seinen eigenen Vorteil, als für den des Hauses, das er repräsentierte, Geschäfte und Spekulationen machte, – daß er das Haus zu ungeheuren Wagnissen verleitete, die oft schwere Verluste nach sich zogen – daß er stets mit der Eitelkeit und dem Ehrgeiz des Chefs ein Spiel trieb, während es seine Pflicht gewesen wäre, sie im Zaum zu halten und ihn, da dies in seiner Macht lag, darauf aufmerksam zu machen, wohin sie schließlich führen mußten – alles das wird Euch vielleicht jetzt nicht überraschen. Es sind Unternehmungen gemacht worden, um das Haus in den Ruf unerschöpflicher Hilfsquellen zu bringen und einen großartigen Gegensatz gegen andere kaufmännische Geschäfte herzustellen. Unternehmungen aber, bei denen ein ruhiger Kopf wohl an die möglichen – einige unglückliche Wechsel können sie sogar wahrscheinlich machen – zugrunde richtenden Folgen denken darf. Bei dem vielfachen Verkehr des Hauses mit den meisten Teilen der Erde – einem Labyrinth, zu dem er den leitenden Faden hatte – war ihm die Gelegenheit an die Hand gegeben, und er scheint sie benützt zu haben, die verschiedenen Ergebnisse in der Schwebe zu erhalten und bei der Untersuchung statt Tatsachen Gutachten und allgemeine Überblicke zu geben. In letzter Zeit aber – Ihr folgt mir doch, Miß Harriet?«
»Jawohl«, antwortete sie, ohne ihr geängstigtes Gesicht von dem seinen zu wenden. »Ich bitte, sagt mir sogleich das Schlimmste.«
»In letzter Zeit scheint er sich alle Mühe gegeben zu haben, diese Resultate so klar und einfach hinzustellen, daß jeder, der die Privatbücher vergleicht, sie trotz ihrer Menge und ihrer Abwechslung sozusagen mit Händen greifen kann. Es sieht aus, als habe es in seiner Absicht gelegen, seinem Chef in einem einzigen großen Überblick zu zeigen, wohin ihn die in ihm übermächtige Leidenschaft geführt habe! Daß er dieser Leidenschaft stets in schnöder Weise Vorschub leistete und ihr schmeichelte, unterliegt keinem Zweifel, und hierin besteht hauptsächlich sein Verbrechen, soweit die Angelegenheiten des Hauses in Rechnung kommen.«
»Nur noch ein Wort, eh' Ihr mich verlaßt, teurer Sir«, sagte Harriet. »Ist in alledem keine Gefahr?«
»Wieso, Gefahr?« entgegnete er mit einigem Stocken.
»Für den Kredit des Hauses?«
»Ich kann nicht umhin, Euch offen zu antworten, und setze in Euch volles Vertrauen«, entgegnete Mr. Morfin, nachdem er ihr Gesicht eine kurze Weile prüfend betrachtet hatte.
»Ihr könnt das in der Tat.«
»Ich bin davon überzeugt. Gefahr für den Kredit des Hauses? Nein, das nicht. Schwierigkeiten mag es geben, größere oder geringere Schwierigkeiten, aber keine Gefahr, es wäre denn – es wäre denn, daß der Chef des Hauses sich nicht entschließen könnte, seine Unternehmungen zu beschränken. Treibt er es so fort und überspannt er seine Kräfte, weil er glaubt, sein Haus dürfe keine andere Stellung einnehmen, als diejenige, in der es stets sich präsentierte, so wird es wanken.«
»Aber das ist doch nicht zu besorgen?« sagte Harriet.
»Ich will Euch nicht bloß halbes Vertrauen schenken«, versetzte er, ihr die Hand drückend. »Mr. Dombey ist unnahbar für jedermann und noch dazu eben jetzt in einer besonders hochfahrenden, überlegungslosen und unlenkbaren Gemütsverfassung. Freilich ist das eine Folge der übermäßigen Aufregung und geht vielleicht vorüber. Ihr wißt jetzt alles, das Schlimmste wie das Beste. Nichts mehr für heute. Gute Nacht!«
Mit diesen Worten küßte er ihre Hand und ging zur Tür hinaus, wo John Carker seiner wartete. Dieser versuchte zu sprechen. Mr. Morfin aber schob ihn heiter beiseite und erklärte ihm, sie würden sich bald und oft wieder sehen. Er könne daher, wenn es ihm darum zu tun sei, ein andermal reden, denn jetzt hätten sie keine Zeit dafür. Sodann eilte er rasch fort, um sich jedes Wort des Dankes zu ersparen.
Der Bruder und die Schwester blieben neben dem Kamin im Gespräch sitzen, bis es fast Tag war. Der Blick in die neue Welt, die sich vor ihnen auftat, hatte sie schlaflos gemacht. Es war ihnen zumute wie zwei Menschen, die vor langer Zeit an eine einsame Küste geworfen wurden und endlich ein rettendes Schiff kommen sehen, nachdem sie sich längst ergeben und auf jeden Gedanken an eine andere Heimat verzichtet haben. Aber auch eine andere Unruhe verschiedener Art trug dazu bei, sie wach zu halten. Die Dunkelheit, aus der ihnen dieses Licht aufgegangen war, sammelte sich wieder, und der Schatten ihres verbrecherischen Bruders durchspukte das Haus, das sein Fuß nie betreten hatte.
Auch wich oder verblich er nicht vor der wiederkehrenden Sonne; er war da am andern Morgen, mittags und nachts – am schwärzesten und deutlichsten aber in der Nacht, von der wir jetzt sprechen müssen.
John Carker war, einer brieflichen Bestellung seitens ihres Freundes Folge gebend, ausgegangen, und Harriet befand sich schon mehrere Stunden allein zu Hause. Der düstere, trübe Abend trug nicht dazu bei, ihre schwermütigen Gefühle zu bannen. Der Gedanke an den Bruder, der ihr so lange entfremdet gewesen, umspukte sie in schrecklichen Gestalten. Er war tot, sterbend, rief sie an oder furchte die Stirne gegen sie. Diese Bilder wurden so bedrückend für sie, daß sie in der entschwindenden Dämmerung sich sogar fürchtete, den Kopf aufzurichten und nach den dunkeln Ecken des Zimmers hinzusehen, damit nicht etwa sein Gespenst, die Ausgeburt ihrer Einbildungskraft, erschreckend daraus hervortrete. Einmal bemächtigte sich ihrer die Vorstellung, er sei im nächsten Raum versteckt – obschon sie wohl wußte, daß es nur eine Einbildung war, der sie selbst keinen Glauben schenkte – und dieser Gedanke wurde so übermächtig in ihr, daß sie sich gedrungen fühlte, in dasselbe hineinzugehen, um sich zu überzeugen. Aber vergeblich. Das Zimmer nahm seine schattenhaften Schreckbilder wieder an, sobald sie es verlassen hatte, und sie vermochte sich der unbestimmten Eindrücke ihrer Furcht so wenig zu entziehen, als wären sie steinerne Riesenbilder, fest eingemauert in der Erde.
Es war fast dunkel, und sie saß, den Kopf auf die Hand gestützt und die Blicke zu Boden gesenkt, in der Nähe des Fensters, als mit einem Male das Zimmer durch einen Schatten von außen noch mehr verfinstert wurde. Sie erhob ihre Augen und stieß einen unwillkürlichen Schrei aus. Dicht vor den Scheiben schaute ein blasses, scheues Gesicht herein – anfangs unstet, als suche es einen Gegenstand; dann aber blieben die Blicke auf ihr haften.
»Laßt mich ein! laßt mich ein! Ich muß mit Euch sprechen.«
Und die Hand klirrte an der Scheibe.
Harriet erkannte augenblicklich die Frauensperson mit dem langen dunkeln Haar, der sie an einem regnerischen Abend Nahrung und Obdach gegeben hatte. Da sie sich ihres heftigen Benehmens erinnerte, so fürchtete sie sich natürlich, wich ein wenig vom Fenster zurück und blieb unschlüssig und erschrocken stehen.
»Laßt mich ein! laßt mich mit Euch sprechen! Ich bin dankbar – ruhig – demütig – alles was Ihr wollt. Aber laßt mich mit Euch sprechen.«
Die Leidenschaft dieser Bitte, der ernste Ausdruck des Gesichtes, das Zittern der flehentlich erhobenen Hände und ein gewisses Entsetzen, das sich in der Stimme zeigte und auf eine Verwandtschaft mit ihren eigenen Gefühlen hindeutete, wurde für Harriet maßgebend. Sie eilte nach der Tür und öffnete.
»Darf ich hineinkommen oder soll ich hier sprechen?« sagte das Weib, ihre Hand fassend.
»Was wollt Ihr? Was habt Ihr mir zu sagen?«
»Nicht viel; aber gestattet mir, mein Herz zu erleichtern, oder es wird nie wieder geschehen. Schon jetzt fühle ich mich verlockt, wieder fortzugehen. Es ist mir, als ob mich Hände von der Tür zurückrissen. Laßt mich eintreten, wenn Ihr mir dieses einzige Mal noch trauen könnt.«
Die Aufgeregtheit, in der sie sprach, trug wieder den Sieg davon, und sie näherten sich dem Kamin der kleinen Küche, vor dem die Fremde früher schon gesessen, ein kleines Mahl eingenommen und ihre Kleider getrocknet hatte.
»Nehmt hier Platz«, sagte Alice, die an Harriets Seite niederkniete, »und seht mich an. Ihr erinnert Euch meiner?«
»Ja.«
»Ihr entsinnt Euch, wie ich Euch sagte, was ich gewesen, und woher ich kam, als ich mich hinkend und zerlumpt durch Wind und Unwetter schlug?«
»Ja.«
»Ihr wißt, wie ich in jener Nacht zurückkam, Euer Geld in den Schmutz trat und Euch und Euer Geschlecht verfluchte. Seht mich jetzt hier auf meinen Knien. Ist es mir wohl weniger ernst, als es mir damals war?«
»Wenn Ihr um Vergebung bitten wollt«, versetzte Harriet sanft –
»Nein, nicht das!« entgegnete die andere mit wildem, stolzem Blick. »Ich bitte nur, mir Glauben zu schenken. Ihr mögt nach dem, was ich war und was ich bin, beurteilen, ob ich Glauben verdiene.«
Noch immer kniend und die Augen auf das Feuer gerichtet, das die Trümmer ihrer Schönheit und ihr wirres, schwarzes Haar erhellte, zog sie eine lange Flechte über ihre Schulter nieder, schlang sie um ihre Hand und biß und zerrte daran, während sie fortfuhr:
»Als ich noch jung und hübsch war, und dieses Haar hier«, sie riß verächtlich daran, »nur zart behandelt wurde und nicht genug bewundert werden konnte, machte meine Mutter, die gegen das Kind gleichgültig gewesen war, die Entdeckung, daß ich für sie ein Schatz sei. Sie hätschelte mich und war stolz auf mich. Da sie arm und habgierig war, so hoffte sie, durch mich etwas erwerben zu können. Gewiß denken vornehme Frauen nicht an etwas Derartiges bei ihren Töchtern, oder handeln so, wie sie es tat – wir alle wissen, daß das nie geschieht –, und man sieht daraus, daß die einzigen Beispiele von Müttern, die ihre Töchter auf falsche Wege leiten und ins Unglück bringen, nur unter unserem elenden Volke vorkommen.«
Sie schaute ins Feuer, als habe sie für den Augenblick vergessen, daß eine Zuhörerin zugegen war, und sprach in träumerischer Betrachtung weiter, während sie die Haarflechte wieder und wieder um ihre Hand wickelte.
»Was dabei herauskam, brauche ich nicht zu sagen. Bei Leuten, wie wir, führt es nicht zu unglücklichen Hochzeiten, sondern nur zu Elend und Verderben. Ja, Elend und Verderben war mein Los.«
Sie wandte den Blick rasch von dem Feuer ab nach Harriets Gesicht und fuhr fort:
»Ich vergeude die kostbare Zeit; aber wenn ich nicht alles wohl erwogen hätte, würde ich nicht hier sein. Elend und Verderben war mein Los, sage ich. Ich wurde für eine kurze Weile ein Spielzeug und dann wie ein Spielzeug grausam und unbekümmert beiseite geworfen. Von wessen Hand glaubt Ihr wohl?«
»Warum fragt Ihr mich das?« versetzte Harriet.
»Warum zittert Ihr?« entgegnete Alice aufschauend. »Seine Mißhandlung hat aus mir einen Teufel gemacht. Ich sank immer tiefer und tiefer ins Verderben. Ich wurde in einen Diebstahl verstrickt, bei dem ich alles leisten mußte, ohne daß ich an dem Gewinn teilhatte. Die Sache kam heraus, und man stellte mich vor Gericht, ohne daß ich einen Beistand hatte oder überhaupt nur einen Pfennig besaß. Obgleich ich ein junges Mädchen war, würde ich doch lieber in den Tod gegangen sein, als daß ich ihn um ein Fürwort gebeten hätte, selbst wenn dieses imstande gewesen wäre, mich zu retten. Ja, ich würde lieber den peinlichsten Tod erlitten haben. Aber meine Mutter, die stets so habsüchtig war, wie sie es noch jetzt ist, schickte in meinem Namen zu ihm, ließ ihm getreu die Geschichte meines Unfalls mitteilen und bat und bettelte um eine kleine letzte Gabe – um nicht so viele Pfunde, als ich Finger an dieser Hand habe. Aber in meinem Elend schnippte er die Finger nach mir, von der er glaubte, sie liege zu seinen Füßen, und versagte mir sogar dieses ärmliche Zeichen der Erinnerung, wohl zufrieden damit, daß ich in die Verbannung geschickt werde, weil er wußte, daß ich ihn dann nicht weiter behelligen konnte, gleichviel ob ich dort auch starb und verfaulte. Könnt Ihr Euch denken, wer dieser Mann war?«
»Warum fragt Ihr mich?« wiederholte Harriet.
»Warum zittert Ihr«, sagte Alice, die Hand auf ihren Arm legend und zu ihrem Gesicht aufblickend, »wenn nicht die Antwort auf Euren Lippen liegt? Es war Euer Bruder James.«
Harriet zitterte immer stärker, verwandte aber ihre Augen nicht von dem wilden Blicke, der auf ihrem Antlitz ruhte.
»Als ich erfuhr, Ihr seid seine Schwester – es war an jenem Abend – kam ich müde und gelähmt zurück, um voll Verachtung Euch Eure Gabe vor die Füße zu werfen. Es war mir damals, als könnte ich trotz meiner tiefen Ermattung die ganze Welt durchreisen, um ihm an dem ersten besten abgelegenen Platz, wo ich ihn fände, einen Dolch in die Brust zu stoßen. Glaubt Ihr, daß es mir damit ernst war?«
»Leider! Aber, gütiger Gott, warum seid Ihr wieder hergekommen?«
»Ich habe ihn seitdem gesehen«, sagte Alice, wieder wie früher ihren Arm umfassend und zu ihrem Gesicht aufblickend. »Ich folgte ihm mit meinen Augen am hellen Tag, und wenn je ein Funke von Rachsucht in meinem Innern schlummerte, so schlug er in helle Lohe auf, als mein Blick auf ihm ruhte. Ihr wißt, er hat einen stolzen Mann gekränkt und ihn zu seinem Todfeind gemacht. Wie, wenn ich ihn an diesen Mann verraten hätte?«
»Verraten!« wiederholte Harriet.
»Wenn ich jemanden aufgefunden hätte, der das Geheimnis Eures Bruders, die Art seiner Flucht und den Ort kannte, wohin er sich mit seiner Begleiterin zurückgezogen? Wenn ich die Veranlassung gewesen wäre, daß dieser Jemand das, was er wußte, Wort für Wort in der Hörweite des verborgenen Feindes enthüllte? Wenn ich damals dabei gesessen und dem Feind ins Gesicht gesehen hätte, das sich in einer Weise veränderte, daß es kaum mehr menschlich war? Wenn ich Zeuge davon gewesen wäre, wie er wahnsinnig forteilte, um ihm nachzusetzen? Wenn ich jetzt wüßte, daß er, mehr Teufel als Mensch, auf dem Weg ist und in so und so vielen Stunden mit ihm zusammentreffen muß?«
»Laßt mich los!« sagte Harriet zurückbebend. »Entfernt Euch! Eure Berührung ist mir fürchterlich!«
»Ich habe dieses getan«, fuhr die andere fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, während ihr Blick stets der gleiche blieb. »Spreche ich und sehe ich so aus, als ob es wahr sei? Glaubt Ihr, was ich sage?«
»Ich fürchte, ich muß es glauben. Laßt meinen Arm los!«
»Noch nicht. Nur noch einen Augenblick. Ihr könnt Euch denken, wie glühend mein Rachedurst gewesen sein muß, da er so lange anhielt und mich hierzu drängte.«
»Schrecklich!« sagte Harriet.
»Wenn Ihr mich also jetzt wieder hier seht«, entgegnete Alice mit erstickter Stimme, »ruhig am Boden kniend, meinen Arm auf dem Euren und meine Augen auf Euer Gesicht gerichtet, so mögt Ihr glauben, daß in meinen Worten kein gewöhnlicher Ernst liegt und daß in meiner Brust kein gewöhnlicher Kampf gekämpft ward. Ich schäme mich, so zu sprechen, aber ich bin darin unterlegen. Ich verachte mich selbst. Ich habe den ganzen Tag und die ganze letzte Nacht mit mir gerungen, bin aber gegen ihn milder geworden, ohne einen Grund dafür zu haben, und wünsche womöglich das Geschehene wieder gutzumachen. Ich möchte nicht, daß sie miteinander zusammentreffen, so lang sein Verfolger noch so blind und ungestüm ist. Hättet Ihr ihn gesehen, wie er gestern abend hinausstürzte, so würdet Ihr die Gefahr besser zu ermessen imstande sein.«
»Aber wie soll sie verhindert werden! Was kann ich tun?« rief Harriet.
»Die ganze Nacht durch«, fuhr die andere hastig fort, »träumte ich von ihm wie er in seinem Blut vor mir lag, und dennoch habe ich nicht geschlafen. Den ganzen Tag über war er in meiner Nähe.«
»Was kann ich tun?« sagte Harriet, bei diesen Worten schaudernd.
»Wenn jemand da ist, der ihm schreiben oder zu ihm gehen will, so soll er keine Zeit verlieren. Er befindet sich in Dijon. Kennt Ihr den Namen und wißt Ihr, wo es liegt?«
»Ja.«
»Teilt ihm mit, der Mann, den er sich zum Feinde gemacht, sei in Wut, und er kenne ihn nicht, wenn er dessen Nähe leicht nehme. Meldet ihm, daß er auf dem Wege sei – ich weiß, daß dies der Fall ist – und keine Zeit versäume. Drängt ihn, daß er sich entferne, so lang es noch Zeit sei – wofern überhaupt noch Zeit ist – und nicht jetzt mit ihm zusammentreffe. Einige Wochen werden die Wirkung von Jahren üben. Sie sollen nicht durch mich zusammengeraten. Überall, nur dort nicht! Zu jeder Zeit, nur nicht jetzt! Sein Feind mag ihm nachsetzen und ihn für sich selbst entdecken. Aber durch mich soll es nicht geschehen. Es lastet ohnehin schon genug auf meinem Haupt.«
Das Feuer hörte auf, in ihrem pechschwarzen Haar, in ihrem aufgerichteten Antlitz und ihrem unruhigen Äuge sich zu spiegeln; ihre Hand ruhte nicht mehr auf Harriets Arm, und der Platz, wo sie gekniet hatte, war leer.