Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Meine Schwester, Frau Joe Gargery, war über zwanzig Jahre älter als ich und stand bei sich selbst und bei den Nachbarn in dem hohen Rufe, mich »durch die Hand« aufgefüttert zu haben. Da ich zu jener Zeit für eine Erklärung dieses Ausdrucks auf mich selbst angewiesen war, und da ich wußte, daß sie eine harte und schwere Hand besaß, die sie gewohnt war, ihren Mann sowohl als mich ziemlich oft fühlen zu lassen, kam ich zu dem Schlusse, daß Joe Gargery und ich, Beide durch die Hand aufgezogen waren.
Meine Schwester war keine hübsche Frau, und ich hatte eine unbestimmte Idee, daß sie Joe Gargery »durch die Hand« vermocht haben mußte, sie zu heirathen. Joe war ein blonder Mann mit flachsfarbenen Locken zu beiden Seiten seines glatten Gesichts und mit Augen von einem so hellen Blau, daß sie mit ihrem eigenen Weiß zusammenzulaufen schienen. Er war ein sanfter, gutmüthiger, freundlicher, gemüthlicher, närrischer, lieber Kerl – ein Art Hercules an Kraft, und auch an Schwäche.
Meine Schwester, Frau Joe, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, hatte eine so vorherrschend rothe Haut, daß ich oft die Vermuthung hegte, sie wasche sich, anstatt sich der Seife zu bedienen, mit einer Feile. Sie war eine große, knochige Gestalt und trug fast immer eine grobe Schürze, welche hinten durch zwei Schleifen zusammengehalten wurde und vorn einen viereckigen, unnahbaren Latz hatte, der beständig voller Näh- und Stecknadeln stak. Sie machte es sich selbst zu einem gewaltigen Verdienst und Joe zu einem großen Vorwurfe, daß sie immer diese Schürze trug; – obgleich ich eigentlich gar keinen Grund sehe, weshalb sie dieselbe überhaupt hätte tragen sollen; oder warum sie die Schürze, wenn sie sie wirklich trug, nicht jeden Tag hätte ablegen können.
Joe's Schmiede grenzte an unser Haus, welches von Holz war, wie zu jener Zeit viele Häuser in unserer Gegend, fast alle. Als ich vom Kirchhofe nach Hause gerannt kam, war die Schmiede zugeschlossen und Joe saß allein in der Küche. Da Joe und ich Leidensgefährten waren und als solche einander gegenseitiges Vertrauen schenkten, so machte er mir, sowie ich die Thür öffnete und nach der Stelle hinschaute, an der er saß – am Kamine nämlich, der Thür gegenüber – eine vertraute Mittheilung.
»Missis Joe ist wohl ein Dutzend Mal draußen gewesen, um Dich zu suchen, Pip. Und jetzt ist sie wieder 'naus, ums Bäckerdutzend voll zu machen,«
»Wahrhaftig?«
»Ja, Pip,« sagte Joe, »und was noch schlimmer ist, sie hat den ›faulen Peter‹ mitgenommen.«
Bei dieser betrübenden Nachricht begann ich den einzigen Knopf an meiner Weste um und um zu drehen und mit großer Bekümmerniß ins Feuer zu blicken. Der faule Peter war ein Rohrstock, der durch die häufige Berührung mit meinem armen Körper bereits blank und glatt geworden.
»Sie setzt sich,« sagte Joe, »und sie steht wieder auf, und packt Petern und dann klabastert sie 'naus. Das that sie«, sagte Joe, indem er langsam zwischen den beiden untersten Eisenstäben das Feuer lichtete und es aufmerksam betrachtete: »sie klabasterte 'naus, Pip.«
»Ist sie schon lange fort, Joe?« Ich behandelte ihn stets wie eine größere Art von Kind und wie nicht mehr als Meinesgleichen.
»Je nun,« sagte Joe, nach der Wanduhr hinaufblickend, »sie ist dies letzte Mal wohl schon seit fünf Minuten 'naus klabastert, Pip. Sie kommt! Hinter die Thür, alter Junge, und halt Dir das Handtuch vor!
Ich befolgte seinen Rath. Meine Schwester, Frau Joe, welche die Thür weit öffnete und ein Hinderniß dahinter fühlte, errieth augenblicklich, worin dasselbe bestand, und benutzte Petern zur näheren Untersuchung desselben. Sie endete damit, daß sie mich Joe zuwarf – ich diente ihr häufig als eheliches Wurfstück – welcher, froh, unter irgend welchen Bedingungen meiner habhaft zu werden, mich in den Kamin schob und mit seinem großen Beine eine Schutzmauer vor mir machte.
»Wo bist Du gewesen, Du Fratz Du?« sagte Frau Joe mit dem Fuße stampfend. »Sag mir augenblicklich, was Du gemacht hast, um mich wieder einmal zu Tode zu ängstigen und zu ärgern, oder ich will Dich schon aus dem Kamin herauskriegen, und wenn fünfzig Pipse und fünfhundert Gargerys mich hindern wollten.«
»Ich bin bloß auf dem Kirchhofe gewesen,« sagte ich von meinem Winkel aus, indem ich weinend meinen geschlagenen Körper rieb.
»Aufm Kirchhof!« rief meine Schwester aus. »Ja, wäre ich nicht gewesen, so wärst Du längst aufm Kirchhof und bliebst auch dort. Wer hat Dich mit der Hand aufgefüttert?«
»Du,« sagte ich.
»Und warum hab ich es gethan, das möcht ich wissen!« fuhr meine Schwester fort.
»Das weiß ich nicht,« winselte ich.
»Und ich ganz und gar nicht!« sagte meine Schwester. »Ich würd's nicht zum zweiten Male thun. Das weiß ich. Ich kann mit Wahrheit sagen, daß ich, seit Du geboren bist, diese Schürze nicht mehr abgelegt habe. Es ist schon schlimm genug, eine Schmiedsfrau zu sein (und noch dazu eines Gargery), ohne auch noch Deine Mutter sein zu müssen.«
Meine Gedanken wanderten von dieser Frage ab, als ich kummervoll ins Feuer blickte. Denn in der wechselnden Glut der Kohlen erhob sich vor den Augen meines Geistes der Flüchtling in den Marschen mit dem Eisen am Beine, der geheimnißvolle junge Mann, die Feile, die Lebensmittel und das furchtbare Gelübde, dem ich mich unterzogen: in diesen schützenden Mauern einen Diebstahl zu begehen.
»Ja!« sagte Frau Joe, indem sie Petern seinem Nagel zurückgab. »Aufm Kirchhof! Ihr habt ganz recht, Ihr Beide, wenn Ihr vom Kirchhofe sprecht! (Einer von uns hatte, beiläufig gesagt, desselben gar nicht erwähnt.) Ihr werdet mich noch früh genug dahin bringen, Ihr Beide, und o, ein net–t–tes Paar werdet Ihr abgeben, ohne mich!«
Da sie mit dem Ordnen des Theegeschirres beschäftigt war, sah Joe über sein Bein auf mich herab, wie wenn er sich im Stillen eine Berechnung mache, welch eine Art von Paar wir Beide unter den soeben geweissagten schmerzlichen Umständen wohl in Wirklichkeit abgeben würden. Darauf saß er da und spielte mit seinem Barte und seiner rechten Flachslocke und folgte Frau Joes Bewegungen mit seinen blauen Augen, wie es bei stürmischem Wetter seine Gewohnheit war.
Meine Schwester hatte eine Entschiedenheit in ihrer Art, Butterbrod für uns zu schneiden, die sich immer gleich blieb. Sie drückte das Brod zuerst mit der Linken eng und fest an ihren Latz – aus dem sich zuweilen eine Stecknadel, zuweilen eine Nähnadel in dasselbe einschlich, die wir hernach in den Mund bekamen. Dann nahm sie mit dem Messer etwas Butter (nicht zu viel) und strich dieselbe über das Brod hin, fast auf Apothekermanier, wie wenn sie ein Pflaster striche – wobei sie sich mit einer schlagenden Gewandtheit beider Flächen des Messers bediente und rund um die Rinde her die Butter abputzte. Dann strich sie das Messer zu guter Letzt noch ein Mal scharf auf einer Ecke des Pflasters ab und sägte die Scheibe endlich sehr dick rund um das Brod herum; ehe sie dieselbe jedoch von dem Brode trennte, hackte sie sie in zwei Hälften, von denen Joe die eine erhielt und ich die andere.
Bei dieser Gelegenheit indessen wagte ich ungeachtet meines großen Hungers nicht, mein Stück zu essen. Ich fühlte, daß ich für meinen furchtbaren Bekannten und den noch fürchterlichern jungen Mann, seinen Verbündeten, etwas in Reserve halten müsse. Ich wußte, daß Frau Joe ihren Haushalt mit der strengsten Genauigkeit führte, und daß ich in meinen diebischen Nachsuchungen möglicherweise nichts Brauchbares in der Speisekammer finden würde. Deshalb beschloß ich, mein Stück Butterbrod in mein Hosenbein hinabgleiten zu lassen.
Ich fand die Willensanstrengung, deren es zur Ausführung dieses Vorhabens bedurfte, wahrhaft überwältigend. Mir war, als habe ich mich zu entschließen, von dem Dache eines sehr hohen Hauses zu springen, oder als solle ich mich in ein sehr tiefes Wasser stürzen. Und unbewußterweise erschwerte mir Joe noch mein Vorhaben. In unserer bereits erwähnten Freimaurerei als Leidensgefährten und in seiner Gutmüthigkeit gegen mich, war es Abends unsere Gewohnheit, die Art und Weise zu vergleichen, in der wir durch unsere Butterschnitte bissen, indem wir dieselben hin und wieder schweigend zu gegenseitiger Bewunderung emporhielten – was uns zu neuen Anstrengungen anstachelte. Heute Abend forderte Joe mich zu wiederholten Malen durch Hindeutung auf seine schnell abnehmende Butterschnitte zu unserm gewöhnlichen, freundschaftlichen kleinen Wettstreite auf; aber er sah mich jedes Mal nur mit meinem gelben Theebecher auf dem einen und meiner unberührten Butterschnitte auf dem andern Knie dasitzen. Endlich kam ich verzweiflungsvoll zu der Ueberzeugung, daß es geschehen müsse, und zwar lieber auf die unter den Umständen am wenigsten unwahrscheinliche Art und Weise. Ich benutzte einen Augenblick, wo Joe mich eben angeschaut hatte, und ließ meine Butterschnitte in mein Hosenbein hinabgleiten.
Joe war augenscheinlich besorgt über Das, was er für einen Appetitverlust hielt, und that einen nachdenklichen Biß in seine Schnitte, der ihm jedoch gar nicht recht zu munden schien. Er drehte den Bissen länger als gewöhnlich im Munde hin und her, dachte lange darüber hin und her und verschluckte ihn endlich wie eine Pille. Er war im Begriffe, einen neuen Biß zu thun, und hatte, um dies desto wirksamer auszuführen, den Kopf bereits auf eine Seite geneigt, als seine Blicke auf mich fielen und er sah, daß meine Butterschnitte verschwunden war.
Die Verwunderung und Bestürzung, in der Joe vor seinem folgenden Einbeißen innehielt und mich anstierte, waren zu augenfällig, um der Beobachtung meiner Schwester zu entgehen.
»Was giebts?« sagte sie scharf, indem sie ihre Tasse niedersetzte.
»Du, weißt Du!« murmelte Joe mit ernstlicher Vorstellung den Kopf gegen mich schüttelnd. »Pip, alter Junge! Du wirst Dir Schaden thun. Es wird irgendwo feststecken. Du kannst es unmöglich gekaut haben, Pip.«
»Was ist wieder los?« frug meine Schwester nochmals und zwar noch schärfer als zuvor.
»Wenn Du Etwas davon wieder aufhusten könntest, Pip, so würd ich Dir rathen, es zu thun,« sagte Joe mit verblüfftem Gesichte. »Jeder auf seine Weise, aber Deine Gesundheit geht vor.«
Meine Schwester war jetzt außer sich gerathen; sie stürzte auf Joe zu, und indem sie ihn mit beiden Händen beim Backenbarte faßte, klopfte sie eine Weile mit seinem Kopfe an die Wand hinter ihm, während ich stumm im Winkel saß und mit schuldbewußtem Gemüthe zuschaute.
»Jetzt wirst Du vielleicht so gut sein, zu sagen, was es giebt,« sagte meine Schwester außer Athem, »siehst aus wie ein großes, stierendes, gestochenes Schwein.«
Joe blickte sie hülflos an, that einen hülflosen Biß und blickte dann wieder mich an.
»Du weißt, Pip,« sagte Joe feierlich, mit dem letzten Bissen im Munde, und in einem vertraulichen Tone, wie wenn wir beide ganz allein gewesen wären; »Du und ich wir sind immer Freunde und ich wollte der Letzte sein, der Dich verklatschte. Aber solch ein« – er ruckte seinen Stuhl und sah zwischen uns auf den Boden und dann wieder auf mich – »aber solch ein Stück auf einmal zu verschlingen!«
»Schlingt wieder sein Essen hinter, was?« rief meine Schwester.
»Du weißt, alter Junge,« sagte Joe, indem er mit dem Bissen im Munde noch immer mich anstierte, anstatt Frau Joe anzusehen; »ich hab auch das Schlingen gekonnt, als ich in Deinem Alter war, und hab manchen gekannt, der's konnte – aber so wie bei Dir ist mir's noch nicht vorgekommen, und es ist eine Gnade von Gott, daß Du Dich nicht todt geschluckt hast, Pip.«
Meine Schwester bückte sich nach mir, und langte mich bei den Haaren herauf wobei sie nichts weiter sagte, als die fürchterlichen Worte: »Jetzt kommst Du mit und nimmst Medicin.«
Es hatte zu jener Zeit irgend ein medicinisches Ungeheuer wieder das Theerwasser als eine ausgezeichnete Medicin in die Mode gebracht, und Frau Joe hielt sich von demselben stets einen Vorrath im Schranke, indem sie ihm Tugenden zuschrieb, die mit seiner Abscheulichkeit correspondirten. Es wurde mir von diesem Elixir schon für gewöhnlich so viel als ausgesuchtes Stärkungsmittel eingeflößt, daß ich mit dem Geruche eines neugetheerten Stakets umherzugehen pflegte. An diesem Abende aber erforderte die besondere Dringlichkeit des Falles ein ganzes Nösel von dieser Mischung, welche mir zur größern Bequemlichkeit in den Hals gegossen wurde, wobei Missis Joe meinen Kopf unter ihrem Arme hielt, wie ein Stiefelknecht einen Stiefel hält. Joe kam mit einem halben Nösel davon, das er (zu seiner großen Verwirrung, während er langsam kauend und grübelnd vor dem Feuer saß) verschlucken mußte, »weil er einen Anfall gehabt«. Nach mir selbst zu urtheilen, mußte er jedenfalls nachher einen Anfall haben, falls er vorher noch keinen gehabt.
Es ist etwas Furchtbares um das Gewissen, wenn es einen Mann oder einen Knaben anklagt; wenn aber – im Falle des Knaben – die heimliche Last desselben noch mit einer andern heimlichen Last in seinem Hosenbeine zusammenwirkt, so ist es (wie ich bezeugen kann) eine schwere Strafe. Das schuldvolle Bewußtsein, daß ich im Begriffe sei, Mrs. Joe zu bemausen – es fiel mir nicht einen Augenblick ein, daß ich Joe selbst bestehlen würde, da mir die Haushaltgegenstände nie wie sein Eigenthum erschienen waren – vereint mit der Notwendigkeit, fortwährend eine meiner Hände auf der Butterschnitte zu halten, während ich saß oder Befehle meiner Schwester in der Küche auszuführen hatte, trieb mich fast zum Wahnsinn.
Dann schien es mir, als die Marschwinde das Feuer leuchten und flackern machten, als ob ich draußen die Stimme des Mannes mit dem Eisen am Beine hörte, der mich Verschwiegenheit hatte schwören lassen, welche Stimme erklärte, er könne und wolle nicht mehr bis morgen hungern, sondern müsse sofort gefüttert werden. Dann wieder dachte ich: wenn nun der junge Mann, den man mit so großer Mühe abgehalten, seine Hände mit meinem Blute zu beflecken, seiner angeborenen Ungeduld nachgäbe oder ein Versehen in der Zeit machte und sich, anstatt morgen, schon heute Nacht zu meinem Herzen und meiner Leber berechtigt fühlte! Wenn jemals eines Menschen Haar vor Entsetzen zu Berge gestanden, so muß das mit dem meinigen bei diesem Gedanken der Fall gewesen sein. Aber vielleicht ist dies noch niemals vorgekommen?
Es war der heilige Weihnachtsabend, und ich hatte von sieben bis acht – nach der Wanduhr – mit einem Kupferlöffel den Pudding für den nächsten Tag zu rühren. Ich versuchte dies mit der Last an meinem Beine (und das erinnerte mich wieder an den Mann mit der Last an seinem Beine), und fand es unbeschreiblich schwer, die Butterschnitte bei der Bewegung nicht am Knöchel herausgleiten zu lassen. Glücklicher Weise gelang es mir, einen Augenblick fortzuschlüpfen, und diesen Theil meiner Gewissenslast in meine Bodenkammer niederzulegen.
»Horch!« sagte ich, als ich mit dem Rühren fertig war und mich zum Schluß, ehe man mich zu Bette schickte, noch einmal in der Kaminecke durchwärmte; »war das 'ne Kanone, Joe?«
»Ja!« sagte Joe. »Wieder ein Sträfling ausgekratzt.«
»Was heißt das, Joe?« sagte ich.
Frau Joe, die stets jede Erklärung übernahm, sagte ziemlich bissig: »Entwischt, entwischt;« indem sie uns die Definition ungefähr wie das Theerwasser zukommen ließ.
Während Mrs. Joe sich über ihre Handarbeit beugte, bildete ich mit meinen Lippen für Joe die Worte: »Was ist ein Sträfling?« Joe bildete mit seinen Lippen eine so künstliche Antwort, daß ich nichts als das Wort »Pip« daraus entnehmen konnte.
»Es ist gestern Abend nach dem Sonnenuntergangsschusse ein Sträfling entwischt,« sagte Joe laut, »und sie gaben den Signalschuß für ihn. Und jetzt geben sie das Signal für einen andern Entwischten.«
»Wer schießt?« sagte ich.
»Zum Henker mit dem Jungen!« sagte meine Schwester, indem sie über ihre Arbeit hinweg die Stirne gegen mich runzelte. »Was Der fragen kann! Thu Du keine Fragen, und man wird Dir keine Lügen sagen.«
Mir schien, daß sie nicht sehr höflich gegen sich war, indem sie andeutete, daß, falls ich ihr Fragen vorlegen, sie mir Lügen sagen würde. Aber sie war nie sehr höflich, außer wenn Besuch da war.
Hier vermehrte Joe meine Neugierde noch um ein Bedeutendes dadurch, daß er sich unbeschreibliche Mühe gab, um seinen Mund sehr weit zu öffnen und mit seinen Lippen ein Wort zu bilden, das mir wie »Hund« aussah. Ich deutete daher natürlich auf Frau Joe und bildete mit meinen Lippen das Wort »sie?« Aber Joe wollte davon gar nicht hören, sondern öffnete nochmals den Mund und brachte die Form eines sehr nachdrücklichen Wortes heraus. Aber ich verstand es nicht im geringsten.
»Mrs. Joe,« sagte ich, zu meinem letzten Hülfsmittel greifend, »ich möchte gern wissen – wenn Sie so gut sein wollen – wo das Schießen herkommt?«
»Gott erbarme sich des Jungen!« rief meine Schwester aus, als ob sie das eigentlich nicht meine, sondern vielmehr das Gegentheil. »Von den Hulks.«
»O, o!« sagte ich, Joe anblickend: »Hulks!«
Joe hustete vorwurfsvoll, wie wenn er sagen wollte: »Na, ich hab's Dir ja gesagt.«
»Und bitte, was sind die Hulks?« sagte ich.
»So geht es mit diesem Jungen!« rief meine Schwester aus, indem sie mit ihrer Nähnadel auf mich wies und ihr Haupt gegen mich schüttelte. »Man beantworte ihm nur eine Frage, und er ist gleich mit einem Dutzend bei der Hand. Hulks sind Gefangenenschiffe, drüben über den Marschen.«
»Ich möchte wohl wissen, wer in die Gefangenenschiffe kommt, und warum man dahin kommt?« sagte ich, wie beiläufig, mit ruhiger Todesverachtung.
Dies war zu viel für Frau Joe, welche sich augenblicklich erhob. »Ich will Dir was sagen. Junge,« sagte sie; »ich hab Dich nicht mit der Hand aufgezogen, damit Du die Leute zu Tode ärgerst. Es wäre sonst eine Schande für mich, anstatt eines Ruhmes. Man bringt die Leute in die Hulks, weil sie gemordet, gestohlen, gefälscht und allerlei Schlechtigkeiten begangen haben; und sie haben immer damit angefangen, daß sie Fragen gethan haben. Jetzt zu Bett mit Dir!«
Man gestattete mir niemals ein Licht, um zu Bette zu gehen, und als ich im Finstern die Treppe hinanstieg, wobei mir die Ohren sausten – da Frau Joe ihre letzten Worte damit begleitet hatte, daß sie mit ihrem Fingerhute das Tambourin auf meinem Kopf, spielte – hatte ich ein fürchterliches Bewußtsein von der großen Bequemlichkeit, daß die Hulks so nahe für mich lagen. Es war klar, daß ich mich auf dem Wege zu ihnen befand. Ich hatte mit Fragen den Anfang gemacht, und war auf dem Punkte, Frau Joe zu bestehlen.
Seit jener Zeit, die jetzt sehr fern liegt, habe ich oft daran gedacht, wie wenige Menschen wissen, wie verschlossen Kinder durch Furcht werden. Es ist einerlei, wie unverständig diese Furcht, so lange es Furcht ist. Ich war in einer tödtlichen Furcht vor dem jungen Manne, der mein Herz und meine Leber begehrte; ich war in tödtlicher Furcht vor meinem Bekannten mit dem gefesselten Beine; ich war in tödtlicher Furcht vor mir selber, dem man ein fürchterliches Versprechen abgenommen hatte; ich durfte von meiner sonst allmächtigen Schwester, die mich bei jedem Worte fast zurückstieß, keine Hülfe hoffen; ich wage nicht, daran zu denken, was ich im Nothfalle in der Verschwiegenheit meiner Furcht zu thun im Stande gewesen wäre.
Falls ich in dieser Nacht überhaupt schlief, so war dies nur um zu träumen, daß ich mit einer starken Springflut den Hulks zuschwamm, während ein gespenstischer Pirat, als ich an der Galgenstation vorüberkam, mir durch ein Sprachrohr zurief, ich möge nur ans Land kommen und mich gleich dort hängen lassen, und es nicht erst hinausschieben. Ich fürchtete mich, einzuschlafen, selbst wenn ich dazu geneigt gewesen wäre, denn ich wußte, daß ich beim ersten Grauen des Morgens die Speisekammer zu bestehlen hatte. Es war mir dies in der Nacht nicht möglich, denn es gab damals noch keine Zündhölzchen, die man durch leichte Reibung entzündete. Ich hätte, um ein Licht anzumachen, dasselbe mit einem Stahl und Feuerstein anschlagen und einen Lärm machen müssen, wie der Pirat ihn mit seinem Kettenrasseln nicht schlimmer machte.
Sobald sich die große, schwarzsammetne Leichendecke draußen vor meinem Fenster mit Grau zu vermischen begann, stand ich auf und ging hinunter. Jede Stufe, und jedes Knarren jeder Stufe, rief mir nach! »Haltet den Dieb!« und: »Stehen Sie auf, Frau Joe!« In der Speisekammer, welche wegen der Festzeit weit besser versehen war, als gewöhnlich, erschrack ich heftig über einen Hasen, der bei den Beinen aufgehangen war, und der, wie es mir vorkam, mit einem Auge blinzelte, als ich ihm halb den Rücken gewandt hatte. Ich hatte keine Zeit, um mich von der Richtigkeit meiner Vermuthung zu überzeugen, keine Zeit, um eine Wahl zu treffen, keine Zeit zu irgend Etwas, denn ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich stahl etwas Brod, etwas Käserinde, einen zur Hälfte gefüllten Krug mit gehacktem Fleische (den ich mit meiner Butterschnitte von gestern Abend in mein Taschentuch einknotete), etwas Rum aus einem Steinkruge (den ich in ein Fläschchen goß, in welchem ich mir heimlich aus meiner Kammer jenes begeisternde Getränk, genannt Lakritzensaft, bereitete, worauf ich den Inhalt des Steinkruges aus einem Topfe im Küchenschranke verdünnte), einen Knochen mit sehr wenigem Fleisch daran, und eine schöne, compacte runde Fleischpastete. Ich wäre beinahe ohne die Pastete fortgegangen, hätte ich mich nicht veranlaßt gefühlt, auf eines der Breter zu steigen, um mich zu überzeugen, was es sei, das man so sorgfältig in einer verdeckten irdenen Schale in eine Ecke geschoben; und da ich fand, daß es die Pastete war, so nahm ich dieselbe, in der Hoffnung, daß sie nicht zum baldigen Verspeisen bestimmt sein und daher fürs Erste nicht vermißt werden würde.
In der Küche befand sich eine Thür, durch welche man in die Schmiede gelangte; ich schloß die Thür auf, schob den Riegel zurück und nahm unter Joes Werkzeugen eine Feile heraus. Dann schloß ich Alles wieder, wie ich es gefunden hatte, öffnete die Thür, durch welche ich gestern Abend, als ich nach Hause gelaufen kam, eingetreten war, schloß sie wieder und rannte den nebeligen Marschen zu.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~