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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Pip in Liebespein.

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Am folgenden Morgen stand ich früh auf und ging spazieren. Es war noch zu früh, um zu Miß Havisham zu gehen, deshalb wanderte ich vor die Stadt, und zwar auf der Seite derselben, wo Miß Havisham wohnte – welche nicht Joes Seite war – umher, indem ich an meine Gönnerin dachte und mir glänzende Bilder von ihren Plänen für mich entwarf. Zu Joe konnte ich morgen gehen.

Sie hatte Estella adoptirt und mich adoptirt, und es konnte nicht fehlen, daß sie uns mit einander zu verbinden beabsichtigte. Sie behielt mir die Aufgabe vor, das wüste Haus wieder herzurichten, das Sonnenlicht in die finsteren Zimmer einzulassen, die Uhren in Gang und in die erkalteten Kamine wieder flackernde Glut zu bringen, die Spinnengewebe herunterzureißen, das Ungeziefer auszurotten – kurz alle die glänzenden Thaten eines jungen Ritters auszuführen und dann die Prinzessin zu heirathen. Ich war, als ich am Hause vorübergekommen, still gestanden, um es zu betrachten. Die zerbröckelnden rothen Ziegelmauern, verhangenen Fenster, und der dickstämmige grüne Epheu, der mit seinen Zweigen und Ranken wie mit sehnigen alten Armen sogar die Schornsteine umschlang, hatten zusammen ein reiches, anziehendes Geheimniß gebildet, dessen Held ich war. Estella natürlich war des Geheimnisses Herz und begeisterndes Element. Aber obgleich sie sich so vollkommen meiner bemächtigt, obgleich sich meine ganze Phantasie und alle meine Hoffnungen in ihr concentrirten, obgleich ihr Einfluß auf mein Knabenleben und Knabengemüth allmächtig gewesen, so bekleidete ich sie doch, selbst an diesem romantischen Morgen, mit keinen anderen Eigenschaften, als denen, welche sie besaß. Ich erwähne dies hier an dieser Stelle in einer bestimmten Absicht, weil es der Faden ist, an dem man mir durch mein armseliges Labyrinth zu folgen haben wird. Nach meinen Erfahrungen können die conventionellen Begriffe von Liebhabern nicht allemal die rechten sein. Die reine Wahrheit ist die, daß ich, als ich Mannesliebe für Estella zu fühlen anfing, sie liebte, weil ich sie unwiderstehlich fand. Ein für alle Mal seis gesagt: ich wußte oft, wo nicht immer, zu meinem Kummer, daß ich sie gegen alle Vernunft, alle Aussichten, allen Seelenfrieden, alle Hoffnung, alles Glück, gegen jede erdenkliche Entmuthigung liebte. Und ein für alle Mal: ich liebte sie um nichts weniger, weil ich dies wußte, und hatte nicht mehr Macht, meiner Liebe zu wehren, als wenn ich fest und innerlich überzeugt gewesen, daß sie der Inbegriff menschlicher Vollkommenheit sei.

Ich richtete meinen Spaziergang so ein, daß ich zur gewohnten Zeit am Thore anlangte. Als ich mit unsicherer Hand geschellt hatte, wandte ich mich vom Thore ab, um ruhiger zu athmen und das Pochen meines Herzens ein wenig zu stillen. Ich hörte, wie die Seitenthür des Hauses geöffnet wurde und dann Schritte über den Hof her kamen; aber ich stellte mich, als höre ich nichts, selbst da sich das Thor schon in seinen rostigen Angeln drehte.

Als ich endlich auf der Schulter berührt wurde, fuhr ich zusammen und wandte mich um. Dann aber fuhr ich auf weit natürlichere Weise erstaunt zusammen, indem ich mich einem Manne in einem ehrbaren grauen Anzuge gegenüber sah, und zwar dem letzten Manne in der Welt, den ich hier als Portier an Miß Havishams Thore zu sehen erwartet hätte.

»Orlick!«

»Ja wohl, junger Herr; es giebt Wechsel auch in anderer Leute Leben, und nicht bloß für Sie. Aber kommen Sie herein, kommen Sie herein. Es ist gegen meine Ordre, das Thor offen zu halten.«

Ich trat ein, und er schlug das Thor zu, verschloß es und zog den Schlüssel ab.

»Ja!« sagte er sich umwendend, nachdem er mir mürrisch ein paar Schritte nach dem Hause zu vorangegangen. »Hier bin ich!«

»Wie kamt Ihr hierher?«

»Ich kam«, entgegnete er, »auf meinen Beinen her. Und ich brachte meine Kiste auf einem Schubkarren mir.«

»Seid Ihr hier ordentlich im Dienst?«

»Ich denke, ich bin nicht unordentlich im Dienst, junger Herr?«

Ich war dessen nicht so ganz gewiß. Ich hatte Zeit, diese Entgegnung im Geiste zu überlegen, während er seinen schwerfälligen Blick langsam vom Pflaster, an meinen Beinen und Armen hinauf zu meinem Gesicht erhob.

»Dann habt Ihr die Schmiede verlassen?« sagte ich.

»Sieht dies wie eine Schmiede aus?« erwiederte Orlick, indem er mit verletzter Miene sich rund umschaute. »Sagen Sie mir, ob dies wie eine Schmiede aussieht?«

Ich fragte ihn, seit wann er Gargerys Schmiede verlassen habe.

»Es vergeht hier ein Tag so genau wie der andere,« erwiederte er, »daß ichs nicht sagen kann, ohne es zusammen zu rechnen. Indessen kam ich her, seit Sie fort sind.«

»Das hätte ich Euch selbst sagen können, Orlick.«

»Ah!« sagte er trocken. »Aber Sie sind auch unterdessen ein Gelehrter geworden.«

Wir waren jetzt im Hause angelangt, und ich sah, daß er unmittelbar hinter der Seitenthür ein Zimmer hatte, von dem er durch ein kleines Fenster in den Hof hinaussehen konnte. In seinen kleinen Verhältnissen glich es den kleinen Stübchen, welche die Concierges in Paris gewöhnlich inne haben. An der Wand hingen verschiedene Schlüssel, zu denen er jetzt noch den des Thores hinzufügte, und sein Bett, mit einer bunten Flickendecke, stand in einer kleinen Vertiefung in der Wand. Das Ganze hatte ein unordentliches, beengtes, schläfriges Aussehen, wie ein Käfig für ein menschliches Murmelthier, während er selbst, wie er dunkel und schwerfällig im Schatten eines Winkels am Fenster stand, wie das menschliche Murmelthier aussah, für das der Käfig hergerichtet worden – und er war es in der That.

»Ich habe dies Zimmer früher nie gesehen,« sagte ich; »aber es war auch kein Portier da.«

»Nein«, sagte er, »aber es wurde davon gesprochen, daß kein Schutz in dem Gebäude sei, und man fing an, es für gefährlich zu halten, hier, wo Sträflinge und allerlei Lumpengesindel umher vagabondiren. Und da wurde ich für die Stelle empfohlen, als ein Mann, der einem andern gerade so viel wiedergeben könnte, als dieser ihm brächte, und ich kriegte sie. Es ist leichter als blasebalgen und hämmern. Das ist geladen, das da.«

Meine Blicke waren nämlich auf eine Flinte mit messingbeschlagenem Schafte, welche über dem Kamine hing, gefallen, und seine Augen waren den meinigen gefolgt.

»Nun,« sagte ich, da mich nicht ferner nach Unterhaltung mit ihm verlangte, »soll ich zu Miß Havisham hinauf gehen?«

»Ich will brennen, wenn ichs weiß!« entgegnete er, indem er sich erst streckte und dann schüttelte; »meine Befehle enden hier, junger Herr. Ich gebe dieser Glocke hier Eines mit diesem Hammer, und Sie gehen den Gang entlang, bis Ihnen Jemand entgegen kommt.«

»Man erwartet mich, glaube ich?«

»Ich will zwei Mal brennen, wenn ich was davon weiß!« sagte er.

Darauf ging ich den langen Gang hinaus, den ich zuerst mit meinen dicken Stiefeln betreten hatte, und er schlug auf seine Glocke. Am Ende des Ganges und während der Schall der Glocke noch forttönte, fand ich Sarah Pocket, welche jetzt meinetwegen chronisch grün und gelb geworden zu sein schien.

»O!« sagte sie. »Sie sind es, Mr. Pip?«

»Ja wohl, Miß Pocket. Es freut mich, Sie benachrichtigen zu können, daß Mr. Pocket und seine ganze Familie gesund sind.«

»Sind sie klüger geworden?« sagte Sarah, trübselig den Kopf schüttelnd; »es wäre besser, sie würden gescheidt, anstatt gesund. Ach, der Matthew, der Matthew! Sie kennen den Weg, Sir?«

»So ziemlich« – denn ich war die Treppe oft genug im Finstern hinaufgegangen. Ich eilte jetzt in leichteren Stiefeln die Stufen hinan, als ehedem, und klopfte dann auf meine alte, gewohnte Weise an Miß Havishams Thür.

»Pips Klopfen,« hörte ich sie gleich darauf sagen. »Herein, Pip.«

Sie saß in ihrem Lehnstuhle neben dem alten Tische, in dem alten Kleide, beide Hände über dem Stock gekreuzt, und das Kinn auf die Hände gestützt, während ihre Augen auf das Feuer geheftet waren. Neben ihr saß eine elegante Dame, welche in ihrer Hand den weißen Schuh hielt, der nie getragen worden, und sich darüber beugte, indem sie ihn betrachtete, – eine Dame, die ich nie vorher gesehen hatte.

»Komm herein, Pip,« fuhr Miß Havisham zu murmeln fort, ohne aufzusehen oder um sich zu blicken; »komm herein, Pip; wie geht Dirs, Pip; also Du küssest meine Hand, wie wenn ich eine Königin wäre, wie? – Nun?«

Sie blickte plötzlich zu mir auf, wobei sie jedoch nur die Augen bewegte, und wiederholte auf eine grimmig scherzhafte Weise:

»Nun?«

Die Dame, welche ich nie vorher gesehen, erhob jetzt ihre Blicke und sah mich schelmisch an, und dann sah ich, daß es Estellas Augen waren. Aber sie war so verändert, so viel schöner, so viel frauenhafter, hatte in Allem, was Bewunderung erntet, solche Fortschritte gemacht, daß es mir schien, als ob ich selber gar keine gemacht. Mir war, indem ich sie anschaute, als ob ich auf das hoffnungsloseste wieder zu dem groben, gewöhnlichen Knaben wurde. O, welches Gefühl der Entfernung und Ungleichheit mich überkam, und welche Unnahbarkeit sie umgab!

Sie reichte mir die Hand. Ich stammelte etwas von der Freude, die es mir mache sie wiederzusehen, und wie ich mich seit langer, langer Zeit danach gesehnt.

»Findest Du sie sehr verändert, Pip?« fragte Miß Havisham mit ihrem gierigen Blicke, und indem sie mit ihrem Stocke auf einen Stuhl schlug, der zwischen ihr und Estella stand, um mir anzudeuten, daß ich darauf Platz nehmen solle.

»Als ich eben hereinkam, Miß Havisham, schien mirs, als ob weder in dem Gesichte noch in der Gestalt etwas von Estella sei: jetzt aber fängt es Alles auf so merkwürdige Weise an, zu der alten …«

»Wer? Du willst doch nicht sagen: zu der alten Estella zu werden?« unterbrach mich Miß Havisham. »Sie war stolz und beleidigend, und Du wünschtest, sie zu verlassen. Erinnerst Du Dich dessen nicht mehr?«

Ich sagte voll Verwirrung, das sei lange her, und ich habe es damals nicht besser verstanden, und dergleichen mehr. Estella lächelte mit vollkommener Unbefangenheit und sagte, sie zweifle gar nicht, daß ich vollkommen Recht gehabt habe, und daß sie sehr unliebenswürdig gewesen sei.

»Ist er verändert?« fragte Miß Havisham.

»Außerordentlich,« sagte Estella, mich anblickend.

»Weniger plump und gewöhnlich?« sagte Miß Havisham, indem sie mit Estellas Haar spielte.

Estella lachte und betrachtete den Schuh, den sie in der Hand hielt, und lachte nochmals, und blickte mich an und setzte den Schuh nieder. Sie behandelte mich noch immer wie einen Knaben, aber sie coquettirte mit mir.

Wir saßen hier in dem träumerischen Zimmer unter den alten seltsamen Einflüssen, welche so oft auf mich gewirkt hatten, und ich erfuhr, daß Estella soeben aus Frankreich zurückgekehrt und jetzt im Begriffe sei, nach London zu gehen. So stolz und eigensinnig wie ehedem, hatte sie diese Eigenschaften doch so ihrer Schönheit unterzuordnen gewußt, daß es unmöglich und unnatürlich war – wenigstens schien es mir so – dieselben von ihrer Schönheit zu trennen.

Es war mir in Wahrheit unmöglich, ihre Gegenwart von all jenem erbärmlichen Dürsten nach Geld und Vornehmheit zu trennen, welches meine Knabenjahre verbittert hatte – von jenem übel angebrachten heftigen Verlangen, das mich zuerst mich meiner Familienverhältnisse und Joes hatte schämen machen – von jenen Visionen, die mir ihr Gesicht in der Feuerglut gezeigt, es in sprühenden Funken aus dem Eisen auf dem Ambos geschlagen, es aus der nächtlichen Dunkelheit ans Schmiedefenster gezogen und dann hatte verschwinden lassen. Mit einem Worte, es war mir unmöglich, sie in der Vergangenheit sowohl wie in der Gegenwart vom innersten Leben meines Lebens zu trennen.

Es wurde ausgemacht, daß ich den ganzen Tag dort bleiben, Abends ins Hotel und am folgenden Tage nach London zurückkehren solle. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten, schickte Miß Havisham uns Beide zu einem Spaziergange in den Garten hinaus; wenn wir wieder hereinkämen, sagte sie, solle ich sie, wie ehedem, ein wenig in ihrem Rollstuhle umherfahren.

Und so traten Estella und ich durch jenes Pförtchen in den Garten, durch welches ich zu meinem Treffen mit dem blassen jungen Herrn, jetzt Herbert, gegangen war; ich im Geiste zitternd, und den Saum ihres Kleides vergötternd; sie, vollkommen unbefangen und ganz entschieden nicht den Saum des meinigen vergötternd. Als wir uns der Stelle des Kampfes näherten, stand sie still und sagte:

»Ich muß ein sonderbares kleines Geschöpf gewesen sein, um mich an jenem Tage zu verstecken und dem Kampfe zuzusehen: aber ich that es und freute mich sehr darüber.«

»Sie belohnten mich sehr hoch.«

»So?« entgegnete sie in nachlässigem Tone, wie wenn sie es vergessen gehabt. »Ich entsinne mich, ich hatte eine große Abneigung gegen Ihren Gegner, weil ich es übel nahm, daß man ihn herbrachte, um mich mit seiner Gesellschaft zu langweilen.«

»Wir sind jetzt große Freunde,« sagte ich.

»Wirklich? Ach ja, ich glaube, mich zu entsinnen, daß Sie bei seinem Vater Unterricht haben, wie?«

»Ja.«

Ich gab dies mit einigem Widerstreben zu, denn es sah knabenhaft aus, und sie behandelte mich schon hinlänglich als einen Knaben.

»Sie haben seit der Veränderung in Ihrer Stellung und Ihren Aussichten auch Ihren Umgang verändert,« sagte Estella.

»Es war die natürliche Folge,« sagte ich.

»Und natürlich,« sagte sie in hochmütigem Tone, »würden Gefährten, die damals für Sie paßten, jetzt ganz unpassend für Sie sein.«

Ich muß gestehen, ich zweifle, ob noch eine Absicht vorhanden war, Joe zu besuchen; wenn dies aber der Fall war, so vertrieb diese Bemerkung sie vollkommen.

»Sie hatten zu jenen Zeiten keine Ahnung von dem Glücke, das Ihnen bevorstand?« sagte Estella mit einer leichten Handbewegung, welche die Zeiten des Faustkampfes bezeichnete.

»Nicht die entfernteste.«

Das Ansehen von Vollendung und Ueberlegenheit, mit dem sie an meiner Seite einherging, und das der Jugendlichkeit und Ehrerbietung, mit der ich an der ihrigen ging, bildete einen Gegensatz, dessen ich mir stark bewußt war. Ich hätte ihn noch bitterer gefühlt, wenn ich nicht geglaubt hätte, ihn dadurch hervorzubringen, daß ich für sie auserwählt und bestimmt sei.

Der Garten war zu wüst und zu sehr mit Unkraut bewachsen, als daß wir hätten bequem darin spazieren gehen können; nachdem wir daher zwei oder drei Mal in ihm herumgegangen waren, kamen wir wieder in den Brauereihof hinaus. Ich zeigte ihr ganz genau die Stelle, an der ich sie an jenem ersten alten Tage auf den Tonnen hatte gehen sehen, und sie sagte mit einem kalten, unbekümmerten Blicke: »Wirklich?« Ich erinnerte sie, wo sie aus dem Hause gekommen sei und mir Essen und Trinken gegeben habe, und sie sagte:

»Ich entsinne mich nicht.«

»Sie entsinnen sich nicht, mich weinen gemacht zu haben?« sagte ich.

»Nein,« sagte sie, und schüttelte den Kopf und schaute um sich.

Ich glaube in Wahrheit, daß der Umstand, daß sie sich dessen nicht mehr erinnerte und sich nicht darum kümmerte, mich abermals weinen machte – innerlich, und das ist das allerbitterste Weinen.

»Sie müssen wissen,« sagte Estella, herablassend wie eine vornehme schöne Dame, »daß ich kein Herz habe – falls das irgend etwas mit meinem Gedächtnisse zu thun haben kann.«

Ich stammelte ein paar Worte des Inhalts, daß ich mir die Freiheit nehme, dies zu bezweifeln. Daß ich es besser wisse: Daß so viel Schönheit unmöglich ohne Herz sein könne.

»O, ich habe allerdings ein Herz, das mit einem Messer oder einer Kugel getroffen werden kann,« sagte Estella, »daran zweifle ich nicht; und natürlich würde ich, wenn es zu schlagen aufhörte, aufhören zu leben. Aber Sie wissen schon, was ich meine. Ich habe keine Zärtlichkeit darin – keine Theilnahme – kein Gefühl – keinen Unsinn.«

Was war es nur, das mir vor die Seele trat, als sie still stand und mich aufmerksam anschaute? Etwas, das ich in Miß Havisham gesehen? Nein. In einigen ihrer Mienen und Geberden war ein Anflug von Aehnlichkeit mit Miß Havisham, den, wie man oft wahrnehmen kann, Kinder von erwachsenen Personen annehmen, mit denen sie viel und einsam verkehren, und der, wenn die Kindheit vorbei ist, oft eine auffallende gelegentliche Aehnlichkeit des Ausdrucks in Gesichtern hervorbringt, die übrigens sich gar nicht gleichen. Und doch konnte ich dies nicht auf Miß Havisham zurückführen. Ich blickte sie abermals an, und obgleich sie mich noch immer anschaute, war das, was mir aufgefallen, doch jetzt verschwunden. Was war es nur?

»Ich spreche im Ernste,« sagte Estella, nicht so sehr die Stirn runzelnd (denn dieselbe blieb glatt), als indem sich ihr Gesicht verdüsterte: »falls wir viel mit einander zu verkehren haben werden, so ist es besser, daß Sie dies gleich wissen. Nein!« sagte sie, mich gebieterisch unterbrechend, als ich reden wollte. »Ich habe mein Herz nie vergeben. Ich habe nie eines besessen.«

Einen Augenblick später standen wir in der so lange unbenutzt gebliebenen Brauerei, und sie deutete auf die hohe Galerie, auf der ich sie an jenem ersten Tage hatte gehen sehen, und sagte mir, sie erinnere sich, dort oben gewesen zu sein und mich mit erschrockenem Gesichte unten stehen gesehen zu haben. Als meine Augen ihrer weißen Hand folgten, kam mir abermals jene undeutliche Ahnung, die mir unmöglich war, festzuhalten und zu verstehen. Mein unwillkürliches Zusammenfahren bewog sie, ihre Hand auf meinen Arm zu legen. Augenblicklich schwebte das Gespenst nochmals und zum letzten Male vorüber und war verschwunden. Was war es nur?

»Was fehlt Ihnen?« sagte Estella, »fürchten Sie sich wieder?«

»Ich würde mich fürchten, falls ich glaubte, was Sie soeben sagten,« erwiederte ich, um sie auf etwas Anderes zu bringen.

»Dann also glauben Sie es nicht? Sehr gut. Jedenfalls habe ich es Ihnen gesagt. Miß Havisham wird Sie bald an Ihrem alten Posten erwarten, obgleich ich der Ansicht bin, daß der jetzt auch mit anderm alten Zubehör bei Seite gethan werden könnte. Wir wollen noch ein Mal im Garten herum und dann hineingehen. Kommen Sie! Sie sollen heute über meine Grausamkeit keine Thränen vergießen; Sie sollen mein Page sein und mir Ihre Schulter zur Stütze geben.«

Ihr schönes Kleid hatte auf der Erde geschleppt. Sie nahm es jetzt mit der einen Hand in die Höhe und berührte mit der andern leicht meine Schulter, indem wir dahingingen. Wir gingen noch zwei oder drei Mal in dem wüsten Garten herum, und derselbe stand jetzt für mich in vollem Blumenflor. Wäre das grüne und gelbe Unkraut, das in den alten Mauerspalten wuchs, der schönste Blumenflor gewesen, der je geblüht, so hätte er meiner Erinnerung nicht kostbarer sein können.

Es war keine Ungleichheit der Jahre, die sie mir fern stellte; wir waren ziemlich in einem Alter, obgleich in ihrem Falle die Jahre mehr bedeuteten, als in dem meinigen; aber das Ansehen der Unerreichbarkeit, welches ihre Schönheit und ihr Wesen ihr verlieh, peinigte mich inmitten meiner Wonne, und inmitten des sichern Bewußtseins, daß unsere Gönnerin uns für einander bestimmt habe. Armer Knabe!

Endlich gingen wir ins Haus hinein und hier hörte ich zu meinem Erstaunen, daß mein Vormund angekommen sei, um in Geschäftsangelegenheiten mit Miß Havisham zu sprechen, und daß er zu Tische kommen werde. Die alten winterlichen Armleuchter in dem Zimmer, wo der zerbröckelnde Tisch gedeckt stand, waren während unseres Spazierganges mit Lichtern versehen und angezündet worden und Miß Havisham erwartete mich bereits in ihrem Rollstuhle.

Es war, als ob ich den Stuhl in die Vergangenheit zurückschöbe, als wir anfingen, wie früher, langsam um die Trümmer des Hochzeitsmahles herumzufahren. Aber in diesem Begräbnißzimmer und neben dieser in ihrem Stuhle zurückgesunkenen Grabesgestalt, welche ihre Augen auf sie geheftet hielt, sah Estella strahlender und schöner aus denn je, und ich war mehr als je bezaubert.

Die Zeit schwand so dahin, daß unsere frühe Mittagsstunde heranrückte und Estella uns verließ, um sich dazu vorzubereiten. Wir hatten neben der Mitte des Tisches Halt gemacht, und Miß Havisham streckte einen ihrer welken Arme aus ihrem Stuhle heraus und legte ihre gelbe zusammengeballte Hand auf das gelbe Tischtuch. Als Estella, ehe sie zur Thür hinaus ging, noch ein Mal über ihre Schulter zurückblickte, warf sie ihr mit dieser Hand mit einer so gierigen Zärtlichkeit Küsse zu, daß dieselbe auf ihre Art förmlich schauerlich war.

Dann, als Estella fort und wir Beide allein waren, wandte sie sich zu mir und flüsterte:

»Ist sie nicht schön, anmuthig und herrlich gewachsen? Bewunderst Du sie?«

»Es muß sie Jeder bewundern, der sie sieht, Miß Havisham.«

Sie schlang einen Arm um meinen Nacken und zog meinen Kopf dicht zu dem ihrigen herunter. »Liebe sie, liebe sie, liebe sie! Wie behandelt sie Dich?«

Ehe ich antworten konnte (falls ich überhaupt im Stande gewesen wäre, eine so schwierige Frage zu beantworten), wiederholte sie: »Liebe sie, liebe sie, liebe sie! Falls sie gütig gegen Dich ist – liebe sie; falls sie Dich kränkt – liebe sie; falls sie Dein Herz zerreißt – liebe sie (und je älter und stärker Dein Herz wird, desto heftiger wird es bluten) – liebe sie, liebe sie, liebe sie.«

Ich hatte in meinem Leben nicht solche Leidenschaftlichkeit gesehen, wie die, mit der sie diese Worte sprach. Ich konnte fühlen, wie sich die Muskeln ihres abgezehrten Armes durch die Heftigkeit, welche sie erfaßt, um meinen Nacken spannten.

»Höre mich an, Pip! Ich habe sie adoptirt, damit sie geliebt würde; und habe sie erziehen und unterrichten lassen, damit sie geliebt wird. Ich habe sie zu dem entwickelt, was sie ist, damit sie geliebt wird. Liebe sie!«

Sie sagte das Wort oft genug, und es konnte kein Zweifel darüber obwalten, daß sie dasselbe meinte; aber wäre das oft wiederholte Wort statt Liebe – Haß, Verzweiflung, Rache, bitterer Tod gewesen – es hätte, von ihren Lippen ausgesprochen, nicht mehr wie bitterer Fluch klingen können.

»Ich will Dir sagen,« fuhr sie in demselben leidenschaftlich flüsternden Tone fort, »was echte Liebe ist. Es ist blinde Ergebenheit, selbstvergessende Demuth, vollständige Unterwerfung, Vertrauen und Glauben gegen die eigene Vernunft und die ganze Welt, das Hingeben Deiner ganzen Seele und Deines ganzen Herzens an den Bezwinger – wie ich es that!«

Nach diesen Worten und einem verzweifelten Schrei, der ihnen folgte, faßte ich sie um die Hüfte: denn sie erhob sich aus ihrem Stuhle, in ihrem leichentuchartigen Gewande, und schlug wild in die Luft hinein, als ob sie sich hätte gegen die Wand schleudern und todt niederstürzen können.

Alles dies ereignete sich in wenigen Secunden. Als ich sie in ihren Stuhl niederzog, wurde ich mir eines bekannten Duftes bewußt, und indem ich mich umwandte, erblickte ich meinen Vormund im Zimmer.

Er trug stets (ich glaube, es noch nicht erwähnt zu haben) ein Taschentuch von kostbarer Seide und imposantem Umfange, welches ihm in seinem Berufe von großem Werthe war. Ich habe ihn einen Clienten oder einen Zeugen so dadurch in Schrecken jagen sehen, daß er dieses Taschentuch voll Ceremonie aus der Tasche zog, als ob er im Begriffe sei sich zu schnäuzen, und dann innehielt, als wisse er, daß er nicht die Zeit dazu haben werde, ehe sich besagter Client oder Zeuge compromittirte, so daß die Bloßstellung unmittelbar darauf erfolgte, wie eine Sache, die sich von selbst verstände. Als ich ihn im Zimmer erblickte, hielt er dieses ausdrucksvolle Taschentuch in beiden Händen und betrachtete uns. Als er meinem Blicke begegnete, sagte er ganz deutlich durch ein augenblickliches Innehalten in dieser Stellung: Wirklich? Merkwürdig! und gebrauchte dann das Taschentuch mit wunderbarem Effect zu seinem ursprünglichen Zwecke.

Miß Havisham hatte ihn ebenso bald erblickt als ich, und lebte (wie alle Leute) in Furcht vor ihm. Sie machte eine große Anstrengung, sich zu fassen, und stammelte, er sei so pünktlich wie immer.

»Pünktlich, wie immer«, wiederholte er, zu uns herantretend. »Wie gehts, Pip? Soll ich Sie einmal herumfahren, Miß Havisham? Ein Mal herum? Also hier sind Sie, Pip?«

Ich erzählte ihm, wann ich angekommen, und daß Miß Havisham gewünscht, daß ich käme, um Estella zu sehn. Worauf er entgegnete: »Ah! Eine sehr schöne junge Dame!« Dann schob er Miß Havisham mit der einen seiner großen Hände vor sich her und steckte die andere in seine Tasche, als ob letztere voller Geheimnisse gewesen wäre.

»Nun, Pip! Wie oft haben Sie Miß Estella vorher gesehen?« sagte er, als er stille hielt.

»Wie oft?«

»Ja. Wie viele Male? Zehntausend Mal?«

»O, ganz gewiß nicht so viele Male.«

»Zwei Mal?«

»Jaggers« – legte sich Miß Havisham zu meiner großen Erleichterung dazwischen – »lassen Sie meinen Pip in Ruhe und gehen Sie mit ihm zu Tische.«

Er gehorchte und wir tappten zusammen die dunkle Treppe hinunter. Aus unserm Wege nach jener getrennten Wohnung, die hinter dem gepflasterten Hofe lag, fragte er mich, wie oft ich Miß Havisham habe essen und trinken sehen; wobei er mir, wie gewöhnlich, die Wahl zwischen hundert Malen und einem Male ließ.

Ich überlegte und sagte: »Nie.«

»Und Sie werden es auch nie sehen, Pip,« entgegnete er mit einem finstern Lächeln. »Sie hat niemals Jemand gestattet, sie weder das Eine noch das Andere thun zu sehen, seitdem sie ihr jetziges Leben führt. Sie wandert in der Nacht im Hause umher, und sucht sich solche Nahrung zusammen, wie sie zu sich nimmt.«

»Bitte, Sir,« sagte ich, »darf ich mir eine Frage erlauben?«»

»Das dürfen Sie,« sagte er, »und ich darf es ausschlagen, sie zu beantworten. Thun Sie Ihre Frage.«

»Estellas Name. Ist derselbe Havisham oder –?« Ich hatte nichts weiter hinzuzufügen.

»Oder was?« sagte er.

»Ist derselbe Havisham?«

»Er ist Havisham.«

Hier kamen wir an der Mittagstafel an, wo sie und Sarah Pocket uns erwartete. Mr. Jaggers präsidirte. Estella saß ihm gegenüber und ich meiner gelb und grünen Freundin. Wir speisten sehr gut und wurden von einem Stubenmädchen bedient, das ich, so oft ich schon dort angekommen und gegangen war, nie gesehen hatte, das aber, soviel ich von der Sache wußte, die ganze Zeit in dem geheimnißvollen Hause hatte sein können. Nach Tische wurde eine Flasche ausgesuchten alten Portweins vor meinem Vormund hingestellt (er war offenbar genau mit dem Jahrgange bekannt), und die beiden Damen verließen uns.

Etwas, was Mr. Jaggers entschlossener Zurückhaltung unter diesem Dache gleich gekommen wäre, sah ich nie, selbst bei ihm nicht. Er behielt sogar seine Blicke für sich, und richtete kaum ein einziges Mal während der Mahlzeit seine Augen auf Estella. Wenn sie ihn anredete, hörte er ihr zu und antwortete ihr im Verlaufe der Zeit, doch, soviel ich sah, blickte er sie nicht ein einziges Mal an. Dahingegen sah sie ihn öfter an, und zwar mit Interesse und Neugierde – wo nicht gar mit Mißtrauen; doch verrieth sich auf seinem Gesichte nicht das geringste Bewußtsein hiervon. Während der ganzen Mahlzeit fand er ein trockenes Wohlgefallen darin, Sarah Pocket grüner und gelber zu machen, indem er häufig in der Unterhaltung mit mir auf meine Erwartungen anspielte; aber auch hierbei verrieth er keine Absicht dessen, was er that, sondern ließ es scheinen, als ob er jene Anspielungen aus mir herauspresse – was er auch, obgleich ich nicht weiß wie, wirklich that.

Und als er und ich allein waren, saß er mit einer Miene eines allgemeinen Insichzurückgehens in Folge erhaltener Nachrichten da, die wirklich zu viel für mich war. Er stellte sogar mit seinem Weine ein Kreuzverhör an, wenn ihn nichts Anderes beschäftigte. Er hielt ihn zwischen sich und dem Lichte empor, kostete ihn, rollte ihn im Munde umher, schluckte, betrachtete das Glas abermals, roch daran, kostete ihn wieder, trank ihn, füllte das Glas wieder, stellte nochmals dasselbe Kreuzverhör mit ihm an, bis ich wirklich ängstlich wurde, als ob ich gewußt hätte, der Wein habe ihm etwas zu meinem Nachtheile mitgetheilt. Drei oder vier Mal dachte ich entfernt daran, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen: aber so wie er mich den Mund öffnen sah, um ihn etwas zu fragen, schaute er mich mit dem Glase in der Hand und den Wein im Munde umherrollend an, wie wenn er mich ersuchte, wohl zu bemerken, daß es nichts nützen werde, da er mir nicht antworten könne.

Ich denke mir. Miß Pocket war sich bewußt, daß mein Anblick für sie die Gefahr hatte, sie bis zum Wahnsinn zu treiben und vielleicht ihre Haube abzureißen – die eine sehr häßliche Haube von weißem Musselin war – und den Boden mit ihrem Haare zu bestreuen, welches jedenfalls nicht auf ihrem Haupte gewachsen war. Sie zeigte sich nicht, als wir später in Miß Havishams Zimmer hinaufgingen, wo wir Vier dann Whist spielten. Inzwischen hatte Miß Havisham in fantastischer Weise das Haar, den Hals und die Arme Estellas mit einigen ihrer schönsten Juwelen geschmückt: und ich sah, wie selbst mein Vormund unter seinen buschigen Augenbrauen hervor seine Blicke auf sie richtete, als ihre ganze Schönheit mit jenem reichen Funkeln von Edelsteinen und Farben vor ihm erschien.

Ich sage nichts von seiner Art und Weise, unsere Trumpfkarten zu arretiren und am Ende des Spieles mit erbärmlichen kleinen Karten zum Vorscheine zu kommen, vor denen die Herrlichkeit unserer Könige in nichts versank; noch von einem mich beherrschenden Gefühle, daß er uns Drei als drei sehr durchsichtige, jämmerliche Räthsel betrachtete, die er längst errathen. Was mich leiden machte, war die Unvereinbarkeit seiner kalten Gegenwart mit meinen Gefühlen für Estella. Nicht, daß ich wußte, ich würde es nie ertragen können, mit ihm von ihr zu sprechen, oder daß seine Stiefeln über sie knarrten, oder daß er sie sich von den Händen abwüsche; sondern daß meine Bewunderung sich innerhalb ein paar Fuß von ihm befände – daß meine Gefühle mit ihm in einem Zimmer waren – das war das Quälende an der Sache.

Wir spielten bis neun Uhr, und dann wurde Uebereinkunft getroffen, daß, wenn Estella nach London kommen würde, ich vorher benachrichtigt werden und ihr bis zum Posthofe der Landkutsche entgegenkommen sollte; und dann verabschiedete ich mich von ihr, berührte ihre Hand und verließ sie.

Mein Vormund schlief im »Blauen Eber« in dem Zimmer, das an das meinige grenzte. Spät in die Nacht hinein klangen Miß Havishams Worte: »Liebe sie, liebe sie, liebe sie!« in meinen Ohren. Ich paßte sie meiner eigenen Lesart an und sagte wohl tausend Mal zu meinem Kissen: »Ich liebe sie, liebe sie, liebe sie!« Dann kam eine Flut von Dankbarkeit über mich, daß sie mir, dem ehemaligen Schmiedelehrlinge, bestimmt sei. Dann dachte ich, da sie, wie ich fürchtete, bis jetzt für diese Bestimmung nicht die glühendste Dankbarkeit fühlte, wann sie wohl anfangen würde, sich für mich zu interessiren? Wann sollte ich wohl das Herz erwecken, welches jetzt noch stumm in ihr schlummerte?

Wehe mir! Ich dachte, dies seien hohe und große Gefühle. Aber es fiel mir gar nicht ein, daß es niedrig und klein sei, mich von Joe fern zu halten, weil ich wußte, daß sie verachtend auf ihn herabschaute. Es war erst ein Tag vergangen, daß mir über Joe die Thränen in die Augen gekommen waren; sie waren bald getrocknet, Gott verzeihe mirs! Bald getrocknet.

Nachdem ich am folgenden Morgen, während ich im »Blauen Eber« Toilette machte, den Gegenstand wohl hin und her erwogen, beschloß ich meinem Vormunde zu sagen, ich bezweifle, daß Orlick der rechte Mann dazu sei, um bei Miß Havisham einen Vertrauensposten zu bekleiden.

»Nun, natürlich, Pip, ganz gewiß ist er nicht der rechte Mann dazu,« sagte mein Vormund, schon im Voraus im Allgemeinen ganz gemüthlich hiervon überzeugt, »denn der Mann, der einen Vertrauensposten bekleidet, ist überhaupt nie der rechte Mann.«

Es schien ihm förmlich Freude zu machen, zu finden, daß dieser besondere Posten nicht zufälligerweise und ausnahmsweise von der rechten Art von Manne bekleidet wurde, und er hörte mit zufriedener Miene zu, während ich ihm erzählte, was mir von Orlick bekannt war. »Sehr gut, Pip,« bemerkte er, als ich geendet, »ich will gleich hingehen und unsern Freund ablohnen.« Ueber ein so summarisches Verfahren einigermaßen bestürzt, war ich dafür, daß er es noch einstweilen verschöbe, und ließ sogar einen Wink fallen, daß unser Freund selbst ihm Einiges zu schaffen machen möge. – »O nein, das wird er nicht,« sagte mein Vormund, indem er sein Taschentuch mit vollkommenstem Vertrauen handhabte; »ich möchte ihn wohl den Punkt gegen mich verfechten sehen.«

Da wir mit der Mittagskutsche zusammen zurückkehren sollten und ich überdies in so entsetzensvoller Angst vor Pumblechook frühstückte, daß ich kaum meine Tasse halten konnte, so ergriff ich diese Gelegenheit, um zu sagen, daß ich einen Spaziergang machen und zwar auf der Landstraße nach London voraus gehen wolle, während Mr. Jaggers beschäftigt sei, und ob er nicht dem Kutscher sagen wolle, ich werde meinen Platz einnehmen, so wie die Kutsche mich einholte. Auf diese Weise wurde es mir möglich, gleich nach dem Frühstücke aus dem »Blauen Eber« zu fliehen. Dann ging ich hinaus, machte hinter Pumblechooks Etablissement einen Umweg von ein paar Meilen außerhalb der Stadt und kam dann ein wenig hinter Pumblechooks Fallgrube wieder in die Hauptstraße hinein, wo ich mich dann vergleichsweise in Sicherheit fühlte.

Es war interessant, einmal wieder in der stillen alten Stadt zu sein, und es war nicht unangenehm, hin und wieder plötzlich erkannt und angestiert zu werden. Ein paar von den Krämern stürzten sogar aus ihren Läden und gingen mir voraus die Straße entlang, um umkehren zu können, als ob sie etwas vergessen gehabt, und mich von Angesicht zu Angesicht zu sehen – und ich weiß nicht, wer von uns bei diesen Gelegenheiten seine Rolle am schlechtesten spielte: ob sie, indem sie sich stellten, als spielten sie keine, oder ich, indem ich mich stellte, als sähe ich es nicht. Immer aber war meine Stellung eine ausgezeichnete, und ich war mit derselben gar nicht unzufrieden, bis das Geschick jenen frechen Buben, Trabbs Lehrling, mir in den Weg führte.

Meine Blicke die Straße hinunterwerfend, sah ich Trabbs Lehrling daher kommen und sich mit unbekümmerter Miene mit einem leeren blauen Leinwandsack peitschen. In der Meinung, daß es sich am besten für mich passen und seine Bosheit am besten im Zaum halten würde, wenn ich ihn mit ruhigem, unbewußtem Blicke übersähe, ging ich – mich dieses Gesichtsausdruckes befleißigend – weiter und fing bereits an, mich über meinen Erfolg zu beglückwünschen, als plötzlich Trabbs Lehrling mit den Knieen zu schlottern begann, sein Haar sich sträubte, seine Mütze abfiel, er selbst an allen Gliedern heftig zitterte, auf die Mitte der Straße hintaumelte und, indem er den Leuten zurief: »Haltet mich! Ich fürchte mich so schrecklich!« sich stellte, als ob die Würde und Hoheit meiner Erscheinung ihn in einen Paroxysmus von Angst und Zerknirschung versetze. Als ich an ihm vorüberkam, klapperten seine Zähne ihm laut im Kopfe zusammen, und er warf sich mit jedem Anzeichen der tiefsten Demuth vor mir in den Staub nieder.

Dies war schwer zu ertragen, aber es war noch gar nichts. Ich war noch keine zweihundert Schritt weiter gegangen, als zu meinem unaussprechlichen Schrecken, Staunen und meiner tiefen Entrüstung Trabbs Lehrling abermals mir entgegenkam. Er kam um die Ecke einer engen Nebenstraße. Sein blauer Kleiderbeutel hing über seiner Schulter, ehrlicher Gewerbefleiß leuchtete aus seinen Augen, der Entschluß, sich mit froher Bereitwilligkeit zu seinem Meister zu verfügen, sprach sich in seiner ganzen Haltung aus. Plötzlich wurde er meiner ansichtig, was ihn heftig erschütterte und wie das erste Mal afficirte; doch diesmal waren seine Bewegungen kreisförmig, er taumelte immer rundum, indem seine Kniee immer heftiger zusammenschlotterten, und er die Hände erhob, wie wenn er um Gnade flehte. Seine Leiden wurden von dem umstehenden Zuschauerhaufen mit dem größten Jubel begrüßt, und ich fühlte mich gänzlich vernichtet.

Ich war die Straße noch nicht viel weiter, als bis zur Post, hinunter gegangen, als ich Trabbs Jungen nochmals auf einem Nebenwege um eine Ecke schießen sah. Diesmal war er ganz verändert. Er trug den Beutel nach der Art meines Ueberrockes und stolzirte auf der gegenüberliegenden Seite der Straße mir entgegen, begleitet von einer Gesellschaft hoch erfreuter junger Freunde, denen er von Zeit zu Zeit mit einer stolzen Handbewegung zurief: »Kenn Euch nicht!« Es giebt keine Worte, um den Aerger und Zorn zu beschreiben, den Trabbs Lehrling mir verursachte, als er, an mir vorübergehend, seinen Hemdkragen emporzog, das Haar an seiner Schläfe zu einer Locke drehte, einen Arm in die Seite stemmte, mich mit übertriebenster Geziertheit anlächelte, Arm und Körper wand und krümmte und seinen Begleitern zuschnarrte: »Kenn Euch nicht! Kenn Euch nicht, auf Ehre, kenn Euch nicht!« Die Schmach, die er auf mich häufte, als er gleich darauf zu krähen anfing und mich über die Brücke hinüber verfolgte (mit dem Krähen eines außerordentlich betrübten Hahnes, der mich noch als Schmiedelehrling gekannt), brachte meine Niederlage zur Vollendung.

Doch weiß ich nicht, selbst jetzt noch nicht, was ich Anderes hätte thun können, als still dulden, außer ich hätte denn Trabbs Lehrlinge das Leben genommen. Auf der Straße einen Kampf mit ihm zu beginnen, oder mich mit weniger als seinem Herzblute zu begnügen, wäre nichtig und entehrend gewesen. Außerdem war er ein Junge, dem kein Mensch etwas anhaben konnte; eine unverwundbare, gewandte Schlange, die, in einen Winkel getrieben, Einem höhnisch zischend zwischen den Beinen durchschlüpfte. Indessen schrieb ich Mr. Trabb mit nächster Post einen Brief, in dem ich ihn unterrichtete, daß Mr. Pip nicht länger bei einem Manne arbeiten lassen könne, welcher so weit zu vergessen im Stande sei, was er dem Interesse der Gesellschaft schulde, daß er einen Jungen im Dienste behalte, der jedem achtbaren Gemüthe Abscheu einflöße.

Die Kutsche, und in derselben Mr. Jaggers, kam endlich dahergefahren und ich bestieg wieder meinen Platz neben dem Kutscher und langte wohl – aber nicht munter in London an: mein Herz war fort.

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