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40. Kapitel

Nikolas Nickleby verliebt sich und bedient sich einer Mittelsperson, deren Bemühungen nur in einem einzigen Punkte fehlschlagen.

Einmal den Klauen seines alten Peinigers entronnen, bedurfte Smike keines neuen Ansporns mehr, alle seine Kräfte aufzubieten. Ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben, um zu überlegen, welche Richtung er einschlagen solle, floh er mit geradezu bewunderungswürdiger Schnelligkeit wie auf Schwingen, wie sie eben nur die Furcht verleiht, dahin, immerwährend im Geiste die schreckliche Stimme Mr. Squeers; den er sich beständig auf den Fersen wähnte, hörend. Erst nach und nach überzeugte er sich, daß alles nur Bilder seiner überhitzten Einbildungskraft waren, eilte aber trotzdem wie von Furien gepeitscht weiter, ohne auf seine zunehmende Erschöpfung zu achten, bis ihn endlich die Stille der Landstraße, auf der er vorwärtsstürmte, und der Anblick des bestirnten Himmels zum klaren Bewußtsein zurückbrachte. Keuchend und staubbedeckt blieb er stehen, um zu horchen und um sich zu blicken.

Es mußte schon sehr spät sein. Alles lag still und stumm da. Ein Lichtschein in der Ferne, wie eine Feuersbrunst am Himmel, bezeichnete die Richtung, in der die Riesenstadt lag. Einsame Felder, von Hecken und Gräben durchschnitten, über die Smike sich oft während seiner Flucht stolpernd und kletternd hinweghalf, dehnten sich in allen Richtungen um ihn her aus. Selbst wenn man ihm bis hierher folgen sollte, sagte er sich, so begünstigte doch alles sein Entkommen. Das sah er nach und nach klar ein. Zuerst hatte er den Gedanken gehabt, weit ins Land hineinzulaufen und sich in einem großen Bogen der Stadt zu nähern, aber nachgerade fand er Mut, wenn auch nicht ohne Beben, auf der geraden Straße direkt nach London zurückzukehren. Als er das äußerste westliche Ende der Stadt erreichte, waren die meisten Läden bereits geschlossen und nur wenige Passanten mehr sichtbar. Allmählich gelang es ihm, sich nach Mr. Noggs' Wohnung durchzufragen.

Newman hatte den ganzen Abend nach ihm gesucht, ebenso wie Nikolas selbst, und saß jetzt niedergeschlagen bei seinem dürftigen Abendessen, da schlug Smikes furchtsames und unsicheres Klopfen an sein Ohr. Erregt, wie Mr. Noggs war, entging ihm auch nicht das leiseste Geräusch; er eilte hinunter, stieß einen Schrei freudiger Überraschung aus und zog gleich darauf den armen Flüchtling ins Haus und die Treppe hinauf. Dabei sprach er kein Wort, bis er ihn glücklich in seinem Dachstübchen hatte. Dann aber mischte er sofort einen großen Krug Wacholderbranntwein und Wasser, hielt ihn seinem Schützling, wie man etwa einem widerspenstigen Kind einen Löffel mit Arznei an die Lippen bringt, an den Mund und forderte diesen auf, alles ohne Widerrede bis zum letzten Tropfen zu leeren.

Er schien es gar nicht zu begreifen, daß der junge Mensch nur ein paar Tropfen von dem köstlichen Tranke schlurfte, und setzte den Krug mit einem tiefen mitleidigen Seufzer über die Schwäche seines unglücklichen Freundes an seinen eigenen Mund. Aber er kam nicht dazu, einen Schluck zu machen, so regte ihn der Bericht, den ihm Smike mit fliegender Hast erstattete, auf. Immer wieder setzte er ab und wischte sich die Lippen zwecklos mit der umgekehrten Hand ab. Als Smike zu den Mißhandlungen kam, die er von Squeers erlitten, stellte Mr. Noggs hastig den Krug auf den Tisch, hinkte aufs äußerste erregt im Zimmer herum und blieb nur dann und wann, mit Gewalt an sich haltend, stehen, um noch gespannter zuzuhören. Als John Browdies Name zum ersten Mal fiel, ließ er sich langsam in seinen Stuhl nieder, rieb sich die Hände auf den Knien – rascher und immer rascher, je näher die Erzählung sich ihrem Ende näherte – und brach schließlich in ein jubelndes »Hahaha« aus. Kaum war die Erzählung zu Ende, da fragte er atemlos, ob wohl anzunehmen sei, daß Squeers von John Browdie Prügel bekommen habe.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Smike. »Man wird mich erst vermißt haben, als ich bereits längst fort war.«

Ärgerlich kraute sich Newman den Kopf, setzte dann den Krug an den Mund und blickte, in langen Zügen trinkend, Smike über den Rand hinüber mit einem halb triumphierenden, halb grimmigen Lächeln an.

»Sie müssen hier bleiben«, brachte er endlich hervor. »Sie sind erschöpft – und ganz und gar kaputt. Ich will inzwischen melden gehen, daß ich Sie gefunden habe, denn man hat sich ganz närrisch um Sie gesorgt. Mr. Nikolas –«

»Gott segne ihn«, rief Smike.

»Amen; – er hat keine Minute Ruhe gehabt und ebenso die alte Dame nicht und Miss Nickleby.«

»Wirklich?« rief Smike aus. »Hat sie an mich gedacht? – Wirklich an mich gedacht? Bitte, bitte, sagen Sie, war es wirklich so?«

»Natürlich war es so«, brummte Noggs. »Sie ist ebenso gut und liebevoll, wie sie schön ist.«

»Ja, ja, das ist sie«, hauchte Smike und schlug die Hände vors Gesicht, während Tränen zwischen seinen Fingern hervorträufelten. Seine Augen hatten soeben noch in einem ungewöhnlichen Feuer geleuchtet, und sein Gesicht war so strahlend gewesen, daß er förmlich wie verklärt ausgesehen hatte.

»Ach«, murmelte Noggs, »ach, daß ein so armer Teufel solchen Prüfungen ausgesetzt sein muß. Der arme Mensch; – ja, ja – wie ihn die Erinnerungen an sein vormaliges Elend wohl bestürmt haben mögen. Ja, ja – so ist's – hm.« Eine Zeitlang saß Newman Noggs noch sinnend da und sah Smike von Zeit zu Zeit mit einem unruhigen und zweifelnden Blick an, der deutlich bewies, daß ihm allerhand im Kopfe herumging.

Endlich wiederholte er seinen Vorschlag, Smike möge in seiner Wohnung übernachten, während er selbst zu Nikolas Nickleby gehen wolle, um ihn zu beruhigen; aber Smike wollte nichts davon hören, und so brachen sie denn miteinander auf und erreichten, da der Weg lang war und Smike sich vor Müdigkeit nur langsam weiterschleppen konnte, erst eine Stunde vor Sonnenaufgang ihr Ziel.

Nikolas, der die ganze Nacht schlaflos aus Sorge um seinen verlorengegangenen Schützling zugebracht, hörte kaum den Ton ihrer Stimmen vor dem Hause, als er sofort von seinem Bett aufsprang und freudig seine beiden frühen Gäste einließ. Der Wortwechsel und seine lauten Äußerungen des Unwillens hatten zur Folge, daß auch die beiden Damen erwachten und Smike eine Weile später aufs herzlichste bewillkommneten. Mrs. Nickleby konnte es natürlich nicht unterlassen, auf einen Roman hinzuweisen, den sie zwar gelesen, aber dessen Titel sie nie erfahren hatte, und der eine wunderbare Flucht aus einem Gefängnisse – wo, konnte sie sich nicht mehr erinnern – behandelte. Sie sagte nur, es käme darin ein Offizier vor, dessen Namen ihr entfallen sei, und der wegen eines Verbrechens, sie wisse nicht mehr recht welcher Art, gefangengesessen und seine Freiheit wiedergewonnen habe.

Anfangs neigte Nikolas zu der Ansicht, seinem Onkel eine gewisse Mitschuld an dem Entführungsversuch, der bei einem Haar geglückt wäre, beizumessen, aber reifliche Überlegung ließ ihn erkennen, daß das volle Verdienst Mr. Squeers zukomme. Erfüllt von dem Wunsch, sich bei John Browdie womöglich Gewißheit darüber zu verschaffen, begab er sich nach dem City Square und dachte sich unterwegs eine ganze Menge von Plänen zur Bestrafung des Yorkshirer Tyrannen aus, die zwar streng die vergeltende Gerechtigkeit im Auge hatten, aber leider vollständig unausführbar waren.

»Guten Tag, Mr. Linkinwater! Nicht wahr, ein schöner Morgen heute«, sagte er, als er in das Kontor trat.

»Ach Gott«, knurrte Tim, »kommen Sie mir nur jetzt nicht auch mit dem Lande. Sagen wir lieber ein schöner Londoner Tag.«

»Außerhalb der Stadt ist es doch ein wenig klarer und nebelfreier«, meinte Nikolas.

»Klarer?« rief Timotheus Linkinwater. »Sie sollten sich nur einmal die Aussicht von meinem Schlafzimmerfenster aus ansehen.«

»Und Sie sich die aus dem meinigen«, erwiderte Nikolas lächelnd.

»Lächerlich«, schimpfte Timotheus Linkinwater, »Land! Unsinn! Was hat man denn auf dem Lande außer frisch gelegten Eiern und Blumen? Und ich kann frisch gelegte Eier jeden Morgen vor dem Frühstück auf dem Leadenhall Market kaufen, soviel ich will, und was die Blumen anbetrifft, so rate ich Ihnen, sich mal in meinem Hinterstübchenfenster im Hause Nummer sechs im Hof meine Reseda und den gefüllten Goldlack anzusehen.«

»In Nummer sechs im Hof ist wirklich gefüllter Goldlack?«

»Ja, ja, so ist's«, bestätigte Tim, »und er blüht in einem zerbrochenen Krug ohne Henkel. Im vergangenen Frühling waren auch Hyazinthen da. Die blühten in – doch Sie werden natürlich wieder darüber lachen.«

»Worüber?«

»Daß sie in alten Wichsenflaschen blühten.«

»Nein, wahrhaftig nicht«, beteuerte Nikolas. Tim warf ihm einen Blick zu, ermutigt durch diese Antwort, schien sichtlich Lust zu bekommen, mitteilsamer zu werden, steckte sich eine frisch geschnittene Feder hinters Ohr und ließ sein Taschenmesser zuklappen.

»Sie gehören einem kranken bettlägerigen buckligen Knaben, Mr. Nickleby, und sind wohl die einzige Freude seines traurigen Daseins«, begann er. – »Wie viele Jahre mögen es jetzt wohl her sein, seit ich ihn zum erstenmal als ganz kleines Kind auf ein paar winzigen Krücken umherhumpeln sah? – Nun, an und für sich betrachtet, sind's vielleicht gar nicht so viele, wenn ich die Veränderungen um mich herum bedenke, aber sooft ich mir dabei den Jungen vergegenwärtige, kommen sie mir wie eine Ewigkeit vor. Es ist recht traurig«, sagte er, plötzlich abbrechend, »ein kleines verwachsenes Kind dasitzen zu sehen, wie es den Spielen anderer lustiger Kinder zuschauen muß, an denen es aus Schwäche nicht teilnehmen kann. Manchmal hat mir das Herz wirklich sehr weh dabei getan.«

»Es ist ein gutes Herz«, sagte Nikolas, »das sich in den wenigen freien Augenblicken eines Lebens voll Geschäftigkeit von allem andern losmacht, um auf dergleichen zu achten! – Sie wollten sagen –«

»Ach, weiter nichts, als daß die Blumen dem armen Jungen gehören«, versetzte Tim. »Wenn es schönes Wetter ist und er aus seinem Bett kriechen kann, schiebt er sich einen Stuhl ans Fenster und beschäftigt sich mit ihnen den ganzen lieben langen Tag. Anfangs nickten wir uns nur zu, aber dann sprachen wir auch miteinander. Wenn ich ihm früher einen guten Morgen zurief und fragte, wie es ihm gehe, lächelte er gewöhnlich und sagte: »besser«, aber jetzt schüttelt er nur den Kopf und beugt sich nur um so tiefer über seine Blumen. Es muß etwas Verzehrendes sein, monatelang nur die dunkeln Dächer und die Wolken zu sehen. Aber er hat sehr viel Geduld.«

»Ist niemand da, ihn zu pflegen und aufzuheitern?« fragte Nikolas.

»Sein Vater wohnt in dem Hause und auch noch andere Leute, soviel ich weiß, aber es scheint sich niemand besonders um den unglücklichen Jungen zu kümmern. Ich habe ihn wer weiß wie oft gefragt, ob ich nichts für ihn tun könne, aber seine Antwort ist immer dieselbe: – ›nein, gar nichts‹. Seine Stimme ist in der letzten Zeit immer schwächer und schwächer geworden, aber ich sehe es an seinen Lippen, daß er immer dieselbe Antwort gibt. Er kann jetzt sein Bett gar nicht mehr verlassen, und man hat es ihm daher dicht ans Fenster gerückt, und da liegt er denn den ganzen Tag lang, blickt hinauf zum Himmel und dann wieder nach seinen Blumen und beschäftigt sich mit ihnen auf alle mögliche Weise. Abends, wenn er mein Licht sieht, zieht er seine Vorhänge zurück und schaut herüber zu mir, bis ich im Bette liege. Es scheint ihm ein gewisser Trost zu sein, daß ich da bin und oft noch eine Stunde und länger an meinem Fenster sitzen bleibe, damit er sehen soll, daß ich noch wache. Und bisweilen stehe ich auch in der Nacht noch auf, um nach dem matten melancholischen Kerzenschimmer in seinem Zimmer hinüberzuschauen und dabei nachzudenken, ob er wacht oder schläft. Ach, die Nacht wird wohl nicht mehr lange ausbleiben, wo er einschlummern und auf Erden nie wieder erwachen wird. Wir haben uns niemals auch nur die Hände gereicht, und doch werde ich ihn wie einen alten Freund vermissen. – Glauben Sie jetzt noch, daß es auf dem Lande Blumen gibt, die mir soviel Teilnahme wie diese einflößen könnten? Oder glauben Sie, daß mir das Verblühen von Hunderten der erlesensten Blumen, die es nur geben mag und die die schwersten lateinischen Namen tragen, die jemals ersonnen wurden, ein Teil des Schmerzes verursachen würde, den ich empfinden muß, wenn jene alten Scherben und Flaschen einmal auf den Hof hinuntergeworfen sein werden? – Das Land!« rief der alte Buchhalter geringschätzig. »Glauben Sie mir, nirgends gibt es einen solchen Hof wie hier in London unter meinem Schlafzimmerfenster.«

Damit drehte sich Tim Linkinwater um, tat, als ob er sich in seine Rechnungen vertiefe, nahm aber die Gelegenheit wahr, als er sich unbeobachtet glaubte, sich hastig die Tränen abzuwischen.

Ob Tims Rechenarbeit an diesem Morgen verwickelter als gewöhnlich war oder ob der Grund darin lag, daß die erwähnten Erinnerungen seine gewöhnliche Heiterkeit ein wenig herabgestimmt hatten, kurz, er erwiderte, als Nikolas ihn fragte, ob Mr. Charles Cheeryble allein in seinem Zimmer sei, zerstreut mit bejahendem Nicken, obwohl er vor kaum zehn Minuten jemand hatte hineingehen sehen und sonst seinen besondern Stolz dareinsetzte, zu verhindern, daß Störenfriede seine Chefs behelligten, wenn diese Besuch hatten.

»Da will ich ihm sogleich diesen Brief bringen«, sagte Nikolas, ging nach dem Zimmer der Gebrüder Cheeryble und klopfte an. Alles blieb still. Er klopfte nochmals, aber wieder regte sich nichts.

»Er kann nicht drin sein«, sagte sich Nikolas, »und ich lege den Brief wohl am besten auf den Tisch«, ging hinein, fuhr aber sofort wieder zurück, denn er sah zu seinem großen Erstaunen und nicht wenig bestürzt eine junge Dame vor Mr. Cheeryble auf den Knien liegen, die dieser emporzuheben versuchte, während eine dritte Person, offenbar ein Dienstmädchen der jungen Dame, ihr bittend zuredete, doch zu tun, wie der alte Herr wünsche.

Nikolas stotterte verlegen eine Entschuldigung hervor und zog sich sofort zurück, aber die junge Dame hatte sich bereits ein wenig umgedreht, und er erkannte in ihr auf der Stelle das junge Mädchen, das er vor längerer Zeit bei seinem ersten Besuche im Stellenvermittlungsbureau gesehen.

Fast im selben Augenblicke erkannte er auch ihre ehemalige Begleiterin, und vor Verwunderung ganz starr blieb er unwillkürlich wie an den Boden festgenagelt stehen, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

»Liebes Kind – mein liebes junges Fräulein«, rief Charles Cheeryble aufgeregt, »bitte, so stehen Sie doch auf! – Um alles in der Welt, ich bitte Sie aufs dringendste. Kein Wort mehr. – Stehen Sie doch auf. – Wir – wir sind nicht allein.«

Die junge Dame erhob sich, wankte nach einem Stuhl und wurde ohnmächtig.

»Sie ist in Ohnmacht gefallen, Sir«, rief Nikolas und eilte dienstfertig herbei.

»Armes – armes Mädchen!« klagte Charles Cheeryble. »Wo ist mein Bruder Ned? – Ned, lieber Bruder, bitte, bitte, komm doch schnell herein.«

»Ja, Charles, was gibt es denn?« rief Ned Cheeryble, angsterfüllt hereinstürzend. »Was gibt's – was gibt es denn? – Ah sieh da –«

»Um Gottes willen kein Wort, Bruder Ned«, unterbrach ihn Charles, »klingle der Haushälterin – ruf Tim Linkinwater; ich bitte, kommen Sie herein, Tim Linkinwater – Mr. Nickleby, liebster Mr. Nickleby, ich muß Sie sehr bitten, das Zimmer zu verlassen.«

»Ich glaube, sie hat sich bereits erholt«, rief Nikolas, vor Aufregung die Worte seines Prinzipals ganz überhörend.

»Mein liebes Kind«, rief Charles Cheeryble, ergriff die Hand der jungen Dame und stützte sie mit seinem Arm. »Lieber Ned, ich weiß, du wunderst dich über diesen Auftritt gerade jetzt hier in den Geschäftsstunden, aber –«, er wurde sich wieder bewußt, daß Nikolas zugegen war, brach kurz ab, ging auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und ersuchte ihn ernst, sofort das Zimmer zu verlassen und Tim Linkinwater hereinzuschicken.

Nikolas entfernte sich auf der Stelle und begegnete bereits ein paar Schritte vor der Tür der alten Haushälterin und Tim Linkinwater, die in großer Hast herbeigeeilt kamen. Der Buchhalter war so außer sich, daß er gar nicht imstande war, Nikolas zuzuhören, sondern nur hineinstürzte und gleich darauf von innen die Türe verriegelte.

Nikolas hatte hinreichend Zeit, über diesen sonderbaren Vorfall nachzudenken, denn Tim blieb fast eine Stunde lang aus. Je mehr er aber über alles nachsann, desto konfuser wurde er und desto mehr brannte er darauf, zu erfahren, wer und was die Dame sei. »Ich würde sie unter Tausenden erkannt haben«, murmelte er, unruhig im Zimmer auf und ab gehend und sich ihr Gesicht und ihre Gestalt lebhaft vergegenwärtigend.

Endlich kam Tim Linkinwater zurück – aber so verzweifelt kaltblütig und mit einem Blatt Papier in der Hand und einer Feder im Mund, als ob nicht das geringste vorgefallen sei.

»Hat sie sich wieder ganz erholt?« fragte Nikolas hastig.

»Wer?«

»Wie können Sie nur fragen?« rief Nikolas. »Nun, die junge Dame.«

»Rechnen Sie mir geschwind«, wich Tim Linkinwater einer Antwort aus und nahm bedächtig die Feder aus dem Mund, »wieviel vierhundertsiebenundzwanzig mal dreitausendzweihundertachtunddreißig ist.«

»Ich bitte, beantworten Sie mir doch vorher meine Frage«, stellte ihm Nikolas vor. »Ich fragte Sie –«

»Wegen der jungen Dame«, unterbrach Timotheus Linkinwater und setzte seine Brille auf. »Ja, ach Gott, sie ist schon wieder ganz wohl.«

»Wirklich – ganz wohl?«

»Ganz wohl«, entgegnete Mr. Linkinwater ernst.

»Ob sie imstande sein wird, allein nach Hause zu gehen?«

»Sie ist bereits fort.«

»Fort?«

»Jawohl.«

»Ich hoffe, sie hat doch nicht weit zu gehen?« drängte Nikolas, den alten Buchhalter gespannt ansehend.

»Das hoffe ich ebenfalls«, entgegnete Timotheus unerschütterlich.

Nikolas wagte noch zwei oder drei Bemerkungen, aber der alte Buchhalter hatte offenbar seine guten Gründe, dem Thema auszuweichen, und schien stets entschlossen, keine weitern Auskünfte über die Person der schönen Unbekannten zu geben, die in der Brust seines jungen Freundes soviel Neugierde erweckt hatte. Nikolas ließ sich nicht abhalten, am folgenden Tage seine Angriffe wieder zu erneuern, zumal er Tim Linkinwater in sehr gesprächiger und mitteilsamer Laune traf, aber kaum berührte er das Thema, versank der alte Herr wieder in einen Zustand verdrießlichster Schweigsamkeit, antwortete noch ein paarmal, jedoch nur sehr einsilbig, und dann überhaupt nicht mehr, bestenfalls nur durch Kopfnicken oder Achselzucken, was natürlich nur dazu diente, Nikolas' Neugierde, die bereits eine ziemliche Höhe erreicht hatte, noch zu steigern.

Auf diese Weise enttäuscht und nicht imstande, weitere Auskünfte zu erhalten, tröstete sich Nikolas mit der Hoffnung, die junge Dame werde vielleicht bald wiederkommen. Aber auch hierin irrte er sich. Ein Tag verging nach dem andern, ohne daß er sie zu Gesicht bekam. Sorgfältig sah er sich die Adressen aller Briefe an, aber es war auch nicht eine darunter, die er für ihre Handschrift hätte halten können. Nur eines fiel ihm auf, nämlich, daß man ihm gelegentlich Aufträge gab, die ihn ziemlich weit nach London hineinführten und die früher Tim Linkinwater selbst besorgt hatte. Er konnte natürlich nicht umhin, zu argwöhnen, man schicke ihn unter diesem Vorwande absichtlich fort, damit er mit der jungen Dame nicht zusammenträfe. Aber auch nicht das geringste bestätigte seinen Verdacht. Wenigstens ließ sich Tim in dieser Hinsicht nicht das mindeste Zugeständnis herauslocken.

Geheimnisse und Enttäuschungen müssen an und für sich nicht notwendigerweise Verliebtheit steigern, sind aber doch ziemlich wichtige Beförderungsmittel dafür. »Aus den Augen, aus dem Sinn« ist ein Sprichwort, das auf Freundschaft wohl oft genug anwendbar ist, und es bedarf oft nicht einmal der Trennung, um zwischen Freunden Gleichgültigkeit zu erwecken; aber in der Liebe verhält es sich gerade umgekehrt. Sie wächst und gedeiht unter Verhältnissen der schwierigsten Art oft üppiger, als wenn Tür und Tor offenstehen. Und das traf bei Nikolas Nickleby besonders zu. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde wurde seine Vorstellungskraft immer lebendiger, bis er endlich einzusehen anfing, daß er sterblich verliebt in die junge Dame sei und es nie einen unglücklicheren Liebhaber auf Erden gegeben habe als ihn.

Da begab es sich, daß er und Tim Linkinwater infolge der Zahlungseinstellung eines Geschäftsfreundes der Gebrüder Cheeryble in Deutschland in die Notwendigkeit versetzt wurden, eine äußerst schwierige, verwickelte und auf viele Jahre zurückgehende Berechnung anzustellen. Um rascher damit fertig zu werden, machte der alte Buchhalter den Vorschlag, ungefähr eine Woche bis nachts zehn Uhr im Bureau zu bleiben, und Nikolas erklärte sich in seinem Diensteifer für seinen gütigen Chef, den überhaupt nichts zu dämpfen vermocht hätte, mit Freuden dazu bereit. Schon am ersten Abend dieser verlängerten Geschäftsstunden kam zwar nicht die junge Dame selbst, aber doch ihr Dienstmädchen und begab sich in das Privatbureau Mr. Charles Cheerybles, blieb dort eine Weile und entfernte sich dann, was sich die nächsten drei Abende pünktlich um dieselbe Stunde wiederholte.

Begreiflicherweise mußte das Nikolas' Neugierde aufs höchste steigern. Er litt geradezu Tantalusqualen, und da er nicht imstande war, dem Geheimnis selbst nachgehen zu können, ohne seine Pflicht zu vernachlässigen, so vertraute er sich Newman Noggs an und bat ihn, am nächsten Abend Wache zu halten, dem Dienstmädchen nachzugehen und soviel wie möglich, ohne Argwohn zu erregen, betreffs Namen, Stand und Geschichte ihrer Herrin in Erfahrung zu bringen.

Newman Noggs fühlte sich durch diesen Auftrag außerordentlich geehrt und faßte bereits am nächsten Abend eine volle Stunde vor der Zeit Posten in City Square. Den Hut über die Augen gezogen, stellte er sich hinter dem Brunnenpfosten auf und machte dazu eine so ausgesucht geheimnisvolle Miene, daß die Neugierde jedes Vorübergehenden sofort wach wurde. Ein paar Dienstmädchen, die Wasser schöpfen kamen, und ein paar kleine Jungen, die ihren Durst löschen wollten, erschraken nicht wenig, als sie ihn erblickten, wie er verstohlen um das Brunnenrohr herumspähte und dabei nichts als sein Gesicht sichtbar werden ließ, das einem lauernden Werwolf zum Erschrecken ähnlich sah.

Wirklich erschien auch die Dienstmagd zur gewohnten Stunde wieder und entfernte sich, nachdem sie ungewöhnlich lange bei Mr. Cheeryble geblieben. Es war nun die Vereinbarung getroffen worden, daß Newman Noggs in einem Gasthause in der Hälfte des Weges zwischen der City und dem Golden Square, wenn seine Nachforschungen von Erfolg begleitet sein sollten, am folgenden und, wo nicht, am zweiten Abend mit Nikolas zusammenzutreffen habe. Am ersten Abend war er nicht da, am zweiten aber empfing er Nikolas mit größter Erregung.

»Die Sachen stehen vortrefflich«, flüsterte er. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich nur erst. Ich werde Ihnen sogleich alles erzählen.«

Nikolas nahm Platz und fragte begierig, was sein Freund alles zutage gefördert habe.

»Massenhaft«, jubelte Newman. »Es steht alles vorzüglich. Seien Sie nur nicht ängstlich. Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Jedenfalls seien Sie ohne Sorgen.«

»Vor allem, lieber Freund, wie heißt sie?« drängte Nikolas.

»Wie sie heißt?«

»Ja, ja«, rief Nikolas »So reden Sie doch schon endlich! Wie heißt sie?«

»Schöps.«

»Schöps?« rief Nikolas unwillig.

»Jawohl, das ist ihr Name. Ich habe mir's gemerkt, indem ich dabei an eine Hammelkeule dachte.«

»Schöps«, wiederholte Nikolas noch verdrießlicher. »Es wird das wahrscheinlich der Name des Dienstmädchens sein.«

»Nein, nein«, versicherte Newman kopfschüttelnd und mit großer Bestimmtheit. »Miss Cäcilie Schöps.«

»Ach so, Cäcilie«, sagte Nikolas und murmelte die beiden Namen in allen möglichen Tonvariationen vor sich hin, um zu versuchen, wie sie sich am besten zusammen ausnahmen. »Nun, Cäcilie ist ein recht hübscher Name.«

»Allerdings – und sie ist auch ein sehr hübsches Mädchen«, erklärte Newman.

»Wer?«

»Nun, Miss Schöps.«

»Haben Sie sie denn gesehen?« fragte Nikolas.

»Freilich, freilich habe ich sie gesehen – und Sie sollen sie auch zu sehen bekommen. Es ist alles schon eingeleitet.«

»Mein lieber Newman«, rief Nikolas, die Hand seines alten Freundes ergreifend, »reden Sie wirklich im Ernst?«

»Gewiß im Ernst«, versicherte Newman. »Sie können mir aufs Wort glauben. Morgen abend werden Sie sie sehen. Sie hat sofort eingewilligt, mit Ihnen zusammenzukommen. Ich habe sie dazu überredet. Sie ist die freundlichste und schönste junge Dame, die ich kenne.«

»Das weiß ich. Ich weiß, daß sie es sein muß, Newman«, sagte Nikolas.

»Ja, ja, Sie haben recht«, murmelte Mr. Newman.

»Und wo wohnt sie?« drängte Nikolas. »Was wissen Sie von ihr? Hat Sie Eltern – Brüder – Schwestern? Wie kam es, daß Sie sie sahen? War sie nicht sehr überrascht? Haben Sie ihr gesagt, wie sehr ich mich danach sehnte, mit ihr zu sprechen, und haben Sie erwähnt, wo ich sie gesehen? Sagten Sie ihr, wie und wann und wo und wie oft und wie lange ich an ihr holdes Gesichtchen habe denken müssen, und daß es mir in meinem bittern Leid wie ein Lächeln aus dem Jenseits erschien? – Haben Sie alles das gesagt?«

Der arme Newman Noggs schnappte buchstäblich nach Luft, als er mit dieser Flut von Fragen bestürmt wurde, rutschte sich bei jeder neuen krampfhaft auf seinem Sessel hin und her und starrte seinen jungen Freund mit einem höchst komischen Ausdruck von Verlegenheit an.

»Nein«, stammelte er endlich, »das habe ich ihr nicht gesagt.«

»Was haben Sie ihr nicht gesagt?«

»Das von dem Lächeln aus dem Jenseits. Auch habe ich ihr verschwiegen, wer Sie sind und wo Sie sie gesehen haben. Ich habe ihr nur gesagt, Sie liebten sie bis zum Rasendwerden.«

»Das ist auch wahr«, beteuerte Nikolas mit jugendlichem Ungestüm. »Der Himmel weiß, daß ich sie so liebe.«

»Und dann sagte ich, daß Sie sie seit langer Zeit insgeheim bewundert hätten.«

»Ja, ja, und was hat sie –?«

»Errötete.«

»Sehr natürlich«, fiel Nikolas geschmeichelt ein.

Newman Noggs erklärte sodann alles sehr weitschweifig und erzählte, die junge Dame habe ihre Mutter verloren und wohne bei ihrem Vater als dessen einzige Tochter. Nur durch Einmischung ihres Dienstmädchens, das einen bedeutenden Einfluß auf sie habe, sei es gelungen, sie zu überreden, Nikolas eine geheime Zusammenkunft zu gewähren. Er berichtete weiter, wie vieler Überredungsgabe es bedurft, die junge Dame zu diesem Schritt zu veranlassen und wie sie sich ausdrücklich ausbedungen habe, daß Nikolas den Schritt als nichts anderes betrachten dürfe als eine Gelegenheit, seine Liebe zu erklären, und sie sich keineswegs irgendwelche Verbindlichkeit auferlegen wolle, von vorneherein seine Aufmerksamkeiten günstig aufzunehmen. Das Geheimnis ihrer Besuche bei den Gebrüdern Cheeryble blieb vollständig unaufgeklärt, und Newman hatte weder in seinen vorhergehenden Besprechungen mit dem Dienstmädchen noch auch später mit der Herrin selbst auch nur mit einem Wort darauf hingewiesen, sondern bloß gesagt, er habe den Auftrag erhalten, dem Dienstmädchen nachzugehen, um für seinen jungen Freund ein Wort einzulegen. Durch gewisse Winke, die die Dienerin fallenlassen, sei er, wie er sagte, zu der Vermutung gekommen, die junge Dame führe zu Hause bei ihrem außerordentlich strengen Vater ein sehr unglückliches Leben, da der Alte äußerst roh und heftig sei, was auch erkläre, weshalb sie so rasch auf den Vorschlag eines Rendezvous eingegangen. Nach weiteren Fragen – denn alles Bisherige hatte Mr. Noggs nur in sehr verwirrter Weise und höchst konfus herausgebracht – ergab sich, daß Newman, um sein schäbiges Äußeres zu erklären, vorgegeben hatte, er habe sich nur aus Vorsicht verkleidet, und als Nikolas ihn fragte, wie er denn dazu gekommen sei, seine Vollmacht so weit zu überschreiten, daß er sogar auf ein Rendezvous gedrungen, antwortete er, er habe es für eine Pflicht der Freundschaft und Galanterie gehalten, so weit zu gehen, da er es der Dame sofort angesehen habe, daß sie nicht abgeneigt sei, zuzusagen. Nachdem diese und alle nur irgend damit zusammenhängenden Fragen wohl zwanzig Mal gestellt und beantwortet worden, trennten sich die beiden mit der Verabredung, sich die nächste Nacht um halb elf Uhr zu treffen und zusammen zu dem für diese Stunde festgesetzten Rendezvous zu gehen.

»Wie merkwürdig sich oft die Dinge gestalten«, sagte sich Nikolas beim Nachhausegehen. »Nie hätte ich mir vorgestellt – nein, es nicht einmal im Traume für möglich gehalten, daß ich eines schönen Tages etwas von der Dame erfahren würde, für die ich schon von Anfang an ein so lebhaftes Interesse fühlte, geschweige denn, daß es jetzt so plötzlich zu einem Rendezvous kommen werde.«

Trotzdem war er im Innern eigentlich unzufrieden, und in seinem Mißbehagen lag etwas mehr, als was man eine unklare, unangenehme Empfindung hätte nennen können. Eigentlich hielt er es für recht unschicklich von der jungen Dame, daß sie so leicht ihre Zusage gegeben: »denn sie konnte ja nicht wissen, daß ich's bin«, räsonnierte er. »Es hätte doch ebensogut ein anderer sein können« – und das war allerdings keine sehr angenehme Vorstellung. Aber im nächsten Augenblick war er mit sich selber wieder böse, daß er solchen Gedanken Raum gab, und suchte sich zu überreden, daß in einem solchen Heiligenschrein nichts als Vollkommenheit wohnen könne, was doch schon aus dem Benehmen der beiden Brüder Cheeryble hervorginge, die offenbar die größte Achtung für die junge Dame hegten. »Mit einem Wort: es ist alles ein vollkommenes Geheimnis«, sagte sich Nikolas. Aber auch das beruhigte ihn nicht sonderlich. Eine neue Flut von Vermutungen bestürmte ihn und trieb ihn in größter Herzensbangigkeit umher, bis die Uhr zehn schlug und die Stunde des Stelldicheins herannahte. Er hatte sich mit größter Sorgfalt herausgeputzt, und selbst Newman Noggs hatte sein Bestes getan – wenigstens waren an seinem Rock zwei neue Knöpfe angenäht, und die ergänzenden Stecknadeln für die noch fehlenden waren in ziemlich regelmäßigen Intervallen angesteckt.

Auch seinen Hut trug er nach der neuesten Mode, das heißt, er hatte ein Taschentuch hineingelegt und ließ dessen zusammengedrehtes Ende in Form eines Zopfes hinten herunterhängen; allerdings war diese Neuerung sozusagen keine Erfindung, denn sie war unabsichtlich entstanden, und er selbst befand sich in einer viel zu aufgeregten Stimmung, um für irgend etwas anderes als das bevorstehende Abenteuer Sinn zu haben.

In tiefem Schweigen gingen sie rasch durch die Straßen, bis sie endlich in eine düstere und wenig belebte Gasse in der Nähe von Edgeware Street einbogen.

»Nummer zwölf«, murmelte Newman.

»Ah!« rief Nikolas, sich umsehend.

»Eine hübsche Straße, was?«

»Ja, es geht«, brummte Nikolas, »nur etwas düster.«

Newman Noggs sagte nichts weiter, sondern machte plötzlich Halt, stellte Nikolas an ein Areageländer und bedeutete ihm, hier, ohne Hand oder Fuß zu rühren, zu warten, bis er selbst sich genügend überzeugt habe, daß die Luft rein sei. Dann humpelte er mit großer Geschwindigkeit davon, sah sich aber alle Augenblicke über die Achsel um, um sich zu versichern, ob sein junger Freund auch wirklich gehorche, und verschwand dann endlich in der Türe eines ungefähr sechs Häuser entfernten Gebäudes.

Ein paar Sekunden vergingen, dann erschien er wieder, hinkte zurück, blieb auf halbem Wege stehen und winkte.

»Nun?« fragte Nikolas, auf den Zehen näher schleichend.

»Alles in Ordnung«, flüsterte Newman entzückt. »Die Luft ist rein. Niemand zu Hause. Man könnte sich's nicht besser wünschen – haha.«

Dann stahl er sich an eine Haustüre, auf der Nikolas auf einer Messingplatte in riesigen Buchstaben den Namen »Schöps« lesen konnte, machte vor einer offenen Tür Halt und winkte seinem jungen Freund, ein paar Stufen hinunterzusteigen.

»Was, zum Teufel«, rief Nikolas zurückprallend, »sollen wir vielleicht in die Küche hinunterschleichen, als ob wir silberne Löffel stehlen wollten?«

»Seht«, flüsterte Newman, »der alte Schöps – ein Wüterich würde alle umbringen – die junge Dame ohrfeigen – er tut es oft.«

»Was?« rief Nikolas wütend. »Sie wollen damit doch nicht sagen, daß sich irgend jemand unterstehen könnte, eine solche –«

Er hatte keine Zeit, in Lobeshymnen auszubrechen, denn Newman gab ihm einen sanften Stoß, der ihn bei einem Haar die ganze Treppe hinuntergestürzt hätte. Er hielt es daher für das beste, nichts weiter mehr zu sagen, und stieg ohne Gegenreden, aber mit einer Miene hinab, die alles eher als das Entzücken eines glühenden Liebhabers ausdrückte. Newman folgte – er würde wahrscheinlich Kopf voran gefolgt sein, wenn ihn Nikolas nicht noch rechtzeitig am Ärmel erwischt hätte – und schlich durch einen gepflasterten, stockfinstern Gang in eine Hinterküche oder einen Keller, wo pechrabenschwarze Dunkelheit herrschte. Hier machten sie Halt.

»Nun«, flüsterte Nikolas mißvergnügt, »das ist doch hoffentlich nicht alles?«

»Nein, nein«, versetzte Noggs. »Sie werden gleich hier sein. Es ist alles in Ordnung.«

»Nun, das freut mich«, brummte Nikolas. »Ich muß gestehen, die ganze Geschichte hat etwas wenig Sympathisches.«

Sie schwiegen. Nikolas stand auf seines Begleiters laute Atemzüge lauschend da, und es deuchte ihm, als leuchte dessen rote Nase wie eine glühende Kohle durch die Dunkelheit, die sie umgab.

Plötzlich traf das Geräusch leiser Fußschritte sein Ohr, und gleich darauf fragte eine weibliche Stimme, ob der Herr da wäre.

»Ja«, antwortete Nikolas, sich der Richtung zuwendend, aus der die Worte gekommen waren. »Wer ist da?«

»Nur ich«, versetzte die Stimme. »Also, bitt' schön, Fräul'n, wenn's g'fällig is.«

Ein Lichtschein kam von irgendwo her, und gleich darauf erschien das Dienstmädchen, von ihrer Herrin, die offenbar von Scham und Verwirrung ganz überwältigt war, gefolgt.

Beim Anblick der jungen Dame fuhr Nikolas zusammen und erbleichte. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, und wie gebannt blieb er stehen. Fast im selben Augenblick ertönte ein lautes wütendes Klopfen am Haustor und veranlaßte Newman Noggs, mit affenartiger Behendigkeit von einem Bierfaß aufzuspringen, auf das er sich soeben niedergelassen, und mit aschfahlem Gesicht auszurufen:

»Allmächtiger Gott, der alte Schöps!«

Die junge Dame kreischte auf, das Dienstmädchen rang die Hände, und Nikolas sah betäubt von der einen zur andern, während Newman hin und her eilte, sich mit den Händen in alle möglichen Taschen fuhr und im Übermaß seiner Verwirrtheit aus jeder das Futter herausriß. Es war nur eine Sekunde, aber in dieser einen Sekunde drängte sich mehr Verwirrung zusammen, als die kühnste Phantasie sich hätte vorgaukeln können.

»Um Gottes willen, verlassen Sie sofort das Haus – wir sind ertappt und haben das Schlimmste zu befürchten!« jammerte die junge Dame. »Verlassen Sie sofort das Haus, oder ich bin für immer verloren!«

»Hören Sie! Nur auf ein Wort!« rief Nikolas. »Nur ein einziges Wort! Ich will Sie ja gar nicht zurückhalten, erlauben Sie mir nur ein Wort der Erklärung!«

Aber ebensogut hätte er in den Wind sprechen können, denn die junge Dame raste bereits mit zerzaustem Haar die Treppe hinauf.

Nikolas würde ihr gefolgt sein, aber Newman hielt ihn am Rockkragen fest und zerrte ihn unerbittlich in den Gang zurück, durch den sie hereingekommen waren.

»So lassen Sie mich doch in Teufelsnamen los, Newman!« rief Nikolas. »Ich will und muß mit der Dame sprechen. Ich verlasse das Haus nicht früher.«

»Aber bedenken Sie doch: der Ruf – die Ehre – gewaltsamer Einbruch«, stöhnte Newman, umfaßte ihn mit beiden Armen und drängte ihn vorwärts. »Um Gottes willen rasch, ehe das Haustor zugemacht wird, sonst können wir die ganze Nacht hier bleiben.« Willenlos ließ sich Nikolas fortschieben, und im selben Augenblick, als Mr. Schöps durch die Haustüre hereintrat, schlich er sich mit Noggs durch den Hof hinaus.

Dann eilten sie, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben oder ein Wort zu sprechen, durch mehrere Straßen, bis sie endlich Halt machten und sich gegenseitig mit bleichen Jammermienen ansahen.

»Macht weiter nichts«, keuchte Newman. »Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen. Es ist alles in Ordnung. Das nächste Mal werden wir mehr Glück haben. Es ließ sich nichts machen – ich habe getan, was ich konnte.«

»Ja, daran ist nicht zu zweifeln«, versetzte Nikolas und ergriff die Hand des Alten – »Sie haben wie ein treuer und braver Freund gehandelt. Wenn ich mich auch in gewisser Hinsicht in Ihnen getäuscht habe, Newman, so bin ich Ihnen nichtsdestoweniger verpflichtet. Nur war es leider nicht die Richtige.«

»Was?« rief Newman Noggs. »Also durch das Dienstmädchen hinters Licht geführt?«

»Newman, Newman«, klagte Nikolas, die Hand tröstend auf die Schulter seines Freundes legend, »es war auch nicht das richtige Dienstmädchen.«

Mr. Noggs machte ein langes Gesicht und starrte mit seinem gesunden Auge entsetzt Nikolas an.

»Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen«, redete ihm Nikolas zu; »es hat ja weiter nichts auf sich. Sie sehen doch, daß es mich ganz kalt läßt. Sie haben nur ganz einfach die Unrichtige erwischt.«

Und das stimmte. Sei es nun, daß Newman Noggs so lange mit geneigtem Kopf um den Brunnen herumgespäht hatte, bis er Halluzinationen bekommen, oder ob er, als ihm die Zeit lang wurde, sich mit ein paar Tropfen eines stärkeren Getränkes, als es der Brunnen zu liefern imstande war, erlabt hatte – jedenfalls war es ein Versehen von seiner Seite, und Nikolas ging jetzt nach Hause, um sich seine Gedanken über das seltsame Abenteuer zu machen und sich die Reize der unbekannten Dame auszumalen, die ihm jetzt noch unerreichbarer zu sein schien als je.


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