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Mit schwerem Herzen kehrte Nikolas in das Bureau der Gebrüder Cheeryble zurück. Die Hoffnungen, die Träume, die seine Seele umgaukelt hatten – alles war jetzt zerstört und keine Spur ihres Glanzes und ihrer Freuden zurückgeblieben.
Es wäre ein armseliges Kompliment für Nikolas Nicklebys bessere Natur, wenn man sagen wollte, daß die Lösung des Geheimnisses, das Madeline Bray umgeben, ehe er noch ihren Namen gekannt, die Liebesglut abgekühlt oder das Feuer seiner Bewunderung für sie verlöscht hätte. Seine Ergriffenheit ob der Aufrichtigkeit und Reinheit ihres Herzens, die Achtung vor der Hilflosigkeit und Verlassenheit ihrer Lage, sein Mitgefühl für die Prüfungen eines so jungen und schönen Mädchens, wie auch die Bewunderung ihres hochherzigen Geistes, alles dies schien sie weit höher zu erheben in seinen Augen, als er sie vorher gesehen, und gab seiner Liebe eine neue Tiefe. Dabei fühlte er innerlich, daß für ihn nichts mehr zu hoffen sei.
»Was ich ihr versprochen, will ich halten«, sagte er sich mannhaft. »Es ist kein gewöhnliches Vertrauen, das sie mir geschenkt hat, und ich will die mir auferlegte doppelte Pflicht aufs gewissenhafteste und genaueste erfüllen. Was ich dabei fühle, will ich nicht berücksichtigen. Es darf nicht sein.«
Seine geheimen Gefühle blieben jedoch dieselben nach wie vor, und er nährte sie sogar insgeheim, sich damit entschuldigend, daß es niemand als ihm selbst Schaden bringen könnte. Kein Wunder, daß er bei solchen Gedanken ein sehr düsterer und zerstreuter Gesellschafter war und infolgedessen Tim Linkinwater auf den Verdacht brachte, er müsse sich irgendwo in den Büchern mit einer Ziffer geirrt haben und könne deshalb keine Ruhe mehr finden. Tim beschwor ihn daher allen Ernstes, wenn dies der Fall sei, ihm sein Herz auszuschütten und lieber die falsche Zahl auszuradieren, als sich sein ganzes Leben durch Gewissensbisse zu verbittern. In solchen verdrießlichen, wunderlichen und Ungewissen Stimmungen pflegt man gerne umherzuschlendern, ohne sich Rechenschaft zu geben, warum. Man liest die Anschläge an den Mauern mit größter Aufmerksamkeit, ohne auch nur die mindeste Vorstellung von ihrem Inhalt zu haben, oder starrt angelegentlich durch die Ladenfenster auf Gegenstände, die einem gar nicht zum Bewußtsein kommen. So ertappte sich auch Nikolas, wie er mit größtem Interesse einen großen Theaterzettel an der Außenseite eines der kleineren Schauspielhäuser betrachtete, das auf seinem Wege lag. Er las die Liste der Schauspieler und Schauspielerinnen, die ihre Mitwirkung für das nächste Benefiz zugesagt, mit einem Ernste durch, als studierte er das Verzeichnis der Herren und Damen, die im Buche des Schicksals obenan stehen, und als forschte er darunter begierig nach seinem eigenen. Mit einem Lächeln über seine Zerstreutheit warf er noch, ehe er sich anschickte, seinen Weg wieder aufzunehmen, einen Blick auf die oberen Zeilen des Zettels und las dort in großen gesperrt gedruckten Buchstaben folgende Annonce:
»Unwiderruflich letztes Auftreten des in der Provinz hochberühmten Mr. Vincent Crummles!!!«
»Ach was«, sagte er sich, »das kann doch gar nicht sein.«
Aber es war doch so. Er las den Theaterzettel zum zweiten Male. Ein paar Zeilen enthielten für den ersten Abend die Ankündigung eines neuen Melodramas, darunter stand die Ankündigung eines alten für die nächsten sechs Abende, ein dritter Abschnitt betonte das Wiederengagement des unvergleichlichen afrikanischen Messerschluckers, den zu einem achttägigen Debüt zu gewinnen gelungen war. Ein vierter zeigte an, daß Mr. Snittle Timberry, der nunmehr von seiner letzten schweren Krankheit genesen sei, die Ehre haben werde, an diesem Abend wieder aufzutreten usw. usw. – und schließlich die Ankündigung eines unwiderruflich letzten Auftretens des in der Provinz weit und breit berühmten Mr. Vincent Crummles.
»Es muß doch derselbe sein«, murmelte Nikolas, »es kann keine zwei Vincent Crummles geben.« Um die Frage ins reine zu bringen, las er das Personenverzeichnis genauer durch und fand dort, daß auch die beiden Masters Crummles sowie das Wunderkind, dem ein Castagnettensolo zugeteilt war, unter den Darstellern fungierten. Er zweifelte keinen Augenblick länger, verfügte sich in das Schauspielhaus, schickte einen Zettel, auf dem er mit Bleistift seinen Theaternamen schrieb, hinauf und wurde unmittelbar durch einen Räuber mit einer breiten Bauchbinde, einem Hifthorn über der Schulter und großen ledernen Handschuhen an den Fäusten seinem ehemaligen Direktor vorgeführt.
Mr. Crummles schien außerordentlich erfreut, ihn wiederzusehen, wendete sich von einem kleinen Spiegel ab und umarmte ihn aufs herzlichste, wobei er nur eine einzige buschige Braue schräg über seinem linken Auge kleben hatte und die Wade eines seiner Beine in der Hand hielt. Mit großer Lebhaftigkeit erklärte er, daß sich auch Mrs. Crummles außerordentlich freuen werde, von »Mr. Johnson« Abschied nehmen zu können, ehe sie abreisten.
»Sie waren stets ihr Liebling«, beteuerte Mr. Crummles. »Vom ersten Augenblicke an. Von dem Tage an, als Sie zum ersten Male bei uns zu Mittag speisten, waren mir meine Befürchtungen um Sie vergangen, denn wenn Mrs. Crummles einmal jemand protegiert, so weiß man, daß es ihm gutgeht. Ach, Johnson, was das doch für eine treffliche Frau ist.«
»Ich bin ihr für ihre Güte in dieser wie in jeder andern Hinsicht aufrichtig verpflichtet«, bedankte sich Nikolas, »aber wohin gedenken Sie denn zu reisen, daß Sie von Abschiednehmen sprechen?«
»Haben Sie's denn nicht in den Zeitungen gelesen?« fragte Crummles würdevoll.
»Nein.«
»Das nimmt mich wunder. Es stand unter den kleinen Nachrichten. Ich habe den Artikel irgendwo – wenn ich nur wüßte, wo ich ihn hingelegt habe – ja richtig, hier ist er.«
Mit diesen Worten zog Mr. Crummles, nachdem er sich eine Zeitlang gestellt, als ob er die Notiz verloren hätte, ein Quadratzoll großes Stückchen einer Zeitung aus der Tasche der Hosen, die er im Privatleben trug – sie lagen unter ähnlichen Kleidungsstücken mehrerer anderer Herren auf einem Tische – und reichte es Nikolas hin. Der Inhalt lautete folgendermaßen: »Mr. Vincent Crummles, der seit langem aufs vorteilhafteste bekannte Provinzialbühnendirektor und Schauspieler von nicht gewöhnlichem Range, steht im Begriff, ein Tournee nach Amerika anzutreten. Dem Vernehmen nach wird Mr. Crummles von seiner Frau und seiner ganzen talentvollen Familie begleitet sein. Wir kennen niemand, der Mr. Crummles in seinem Fache überlegen wäre, und niemand, der eine größere Achtung und ein größeres Wohlwollen von Seiten zahlreicher Freundes- und Gönnerkreise genösse, sowohl als Künstler wie als Privatmann. Unfehlbar wird seine Reise von größtem Erfolge begleitet sein.«
»Und hier ist noch etwas«, setzte Mr. Crummles hinzu, Nikolas ein womöglich noch kleineres Stückchen Papier hinreichend, »es ist aus den Korrespondenznotizen.«
Laut las Nikolas vor:
»Philodramaticus. –
Mr. Crummles, der bekannte Provinzbühnendirektor und Schauspieler, kann zur Zeit nicht mehr als dreiundvierzig oder vierundvierzig Jahre zählen. Auch ist Mr. Crummles kein Preuße, sondern vielmehr in Chelsea geboren.«
»Hm«, brummte Nikolas, »das ist ja ein sonderbarer Artikel.«
»Allerdings«, gab Mr. Crummles zu, rieb sich die Nase und betrachtete Nikolas mit scheinbar sehr gleichgültiger Miene. »Ich kann mir gar nicht denken, wer etwas Derartiges hat einrücken lassen. Ich habe es selbstverständlich nicht getan.«
Und ohne ein Auge von Nikolas zu verwenden, schüttelte der Theaterdirektor zwei- oder dreimal gravitätisch den Kopf und bemerkte, daß er sich absolut nicht – vorstellen könne, wie eine Zeitung auf so etwas komme. Dann rollte er die Ausschnitte wieder zusammen und steckte sie in die Tasche.
»Das sind ja großartige Neuigkeiten«, sagte Nikolas. »Nach Amerika! Als ich bei Ihnen engagiert war, dachten Sie noch gar nicht an dergleichen?«
»Nein«, gab Mr. Crummles zu. »Damals noch nicht. Die Sache verhält sich so, daß Mrs. Crummles – wirklich eine höchst außergewöhnliche Frau, Mr. Johnson –«, er brach plötzlich ab und flüsterte Nikolas etwas ins Ohr.
»Ach so«, sagte Nikolas lächelnd, »eine Aussicht auf Familienzuwachs.«
»Das siebente, Johnson!« erklärte Crummles feierlich. »Und ich hatte gedacht, ein Kind wie das Wunderkind müßte den Schluß machen. Aber es scheint, daß wir noch eins haben sollen. Sie ist wirklich eine höchst bemerkenswerte Frau.«
»Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück«, gratulierte Nikolas, »und ich hoffe, daß sich der kommende Sprößling gleichfalls als Wunderkind erweisen wird.«
»Nun ich bin so ziemlich sicher, daß es etwas ganz Ungewöhnliches werden muß«, erwiderte Mr. Crummles. »Das Talent der drei ersten zeigt sich vorzugsweise im Kampf auf der Bühne und in der ernsten Pantomime. Es wäre mir sehr lieb, wenn der zukünftige Sprößling Anlage für das jugendliche Trauerspiel besäße, denn wie ich höre, gibt es so etwas in Amerika noch nicht. Doch man muß es eben nehmen, wie es kommt. Vielleicht eignet er sich auch für das Seiltanzen. Jedenfalls muß er, wenn er seiner Mutter nachgerät, ein Genie werden, Mr. Johnson, denn sie ist geradezu ein Universalgenie. Aber wozu es immer auch talentiert sein mag – seine Anlagen sollen entwickelt werden.«
Tief erschüttert klebte sich Mr. Crummles die zweite Augenbraue auf, befestigte die Waden an seinen Beinen und legte dann seine alten fleischfarbenen Trikots an, die von dem häufigen Niederknien bei Schwüren, Gebeten, Todeskämpfen und andern Produktionen um die Knie herum bereits ziemlich beschmutzt waren.
Während er seine Toilette beendete, teilte er Nikolas mit, daß hinsichtlich Amerika bereits ein günstiger Anfang gemacht worden sei. Er habe nämlich das Glück gehabt, ein recht gutes Engagement zu bekommen, und den Entschluß gefaßt, sich drüben bleibend niederzulassen. Auch hoffe er dereinst ein Stückchen Land erwerben zu können, das ihn im Alter ernähre und später auch seinen Kindern zustatten kommen werde. Nikolas lobte diesen Plan aufs höchste, und Mr. Crummles erzählte ihm im Lauf der Gespräche alles, wovon er annahm, daß es »Mr. Johnson« interessieren könne. Nikolas erfuhr unter anderm, daß Miss Snevellicci glücklich an einen jungen Wachszieher verheiratet sei, der ehemals das Theater mit Lichtern versehen habe, und ferner, daß Mr. Lillyvick in geradezu unerhörter Weise unter dem Pantoffel seiner jungen Frau stehe.
Er erwiderte das ihm geschenkte Vertrauen seines ehemaligen Direktors dadurch, daß er ihm seinen wahren Namen, seine Stellung und seine Aussichten im Leben mitteilte und dabei in kurzen Worten die Umstände enthüllte, die zu ihrer ersten Bekanntschaft geführt hatten. Nach herzlichen Glückwünschen zur Verbesserung seiner Situation eröffnete ihm Mr. Crummles sodann, daß er und seine Familie bereits am nächsten Morgen nach Liverpool aufbrechen würden, wo das Schiff vor Anker läge, das sie Englands Gefilden entführen solle. Wenn Nikolas daher Mrs. Crummles ein letztes Lebewohl zu sagen wünsche, so müsse er an diesem Abend mit zu einem Abschiedsessen kommen, das in einer benachbarten Kneipe der Familie zu Ehren abgehalten werden würde. Den Vorsitz werde Mr. Snittle Timberry führen, und die Ehre des Vizepräsidentenstuhls sei dem afrikanischen Messerschlucker reserviert.
Das Garderobenzimmer war sehr warm und infolge des Eintritts von vier Herrn, die sich in einem eben präsentierten Stücke gegenseitig getötet hatten, gedrängt voll. Nikolas versprach daher mit kurzen Worten, nach Schluß der Vorstellung wieder zurückzukommen, da er die kühle Luft und die Dämmerung auf der Straße den gemischten Gerüchen von Gas, Orangenschalen und Schießpulver, die das heiße und grellbeleuchtete Theater erfüllten, vorzöge.
Er benutzte die freie Stunde, um eine silberne Tabatiere zu kaufen, die beste, die seine Mittel ihm gestatteten – und zwar als Andenken für Mr. Crummles. Er fügte noch ein Paar Ohrringe für Mrs. Crummles, ein Kollier für das Wunderkind und zwei blitzende Krawattennadeln für jeden der beiden Herren hinzu. Als er sodann nach dem Theater zurückkehrte, fand er die Lichter bereits ausgelöscht, die Bühne leer, den Vorhang niedergelassen und Mr. Crummles seiner Ankunft harrend auf der Szene hin und her gehen.
»Timberry kann nicht mehr lange bleiben«, sagte der Theaterdirektor. »Er war fast den ganzen Abend auf den Brettern und spielte im letzten Stück einen treuen Neger. Da braucht das Abschminken ein wenig längere Zeit.«
»Keine angenehme Beigabe zu einer Rolle, sollte ich meinen«, versetzte Nikolas.
»Wieso denn?« rief Mr. Crummles. »Die Farbe geht ganz leicht wieder ab und bedeckt nur Gesicht und Hals. Wir hatten aber einmal in unserem Ensemble einen ersten Tragöden, der, wenn er den Othello spielte, sich am ganzen Leibe schwarz einrieb. Das nenne ich eine Rolle tief fühlen und in ihren Geist eingehen! So etwas kommt aber nicht oft vor. – Schade.«
Mr. Snittle Timberry erschien nun Arm in Arm mit dem afrikanischen Messerschlucker, lüftete, als er Nikolas vorgestellt wurde, seinen Hut um etwa sechs Zoll und versicherte, er sei ungemein stolz auf diese neue Bekanntschaft. Der Messerschlucker, der, jeder Zoll ein Irländer, auch in diesem Dialekte sprach, versicherte das nämliche.
»Ich entnehme aus dem Theaterzettel, daß Sie krank gewesen sind, Mr. Timberry«, eröffnete Nikolas die Unterhaltung, »ich hoffe, Ihre heutige Anstrengung hat Ihnen nicht geschadet?«
Mr. Timberry schüttelte düster das Haupt, schlug sich einigemal bedeutungsvoll auf die Brust, zog mit finsterer Miene seinen Mantel zusammen und sagte: »Hat nichts zu bedeuten – hat nichts zu bedeuten. Kommen Sie.«
Es ist höchst bemerkenswert, daß Mimen, wenn sie sich im Zustand äußerster Erschöpfung befinden, stets Kraftanstrengungen machen, die die größte Gewandtheit und Muskelkraft erfordern. So wird man zum Beispiel einen verwundeten Prinzen oder Räuberhauptmann, der sich zu Tode blutet und kaum mehr zu bewegen vermag, sich jedesmal in endlosen und merkwürdigen Drehungen und Verrenkungen aufraffen und wieder niederstürzen sehen, wie es im Leben nur ein außerordentlich kräftiger Mensch, der seinen Körper jahrelang geübt hat, imstande ist. Dieser Zug war auch Mr. Timberry so natürlich, daß er auf dem ganzen Wege vom Theater zu dem Wirtshaus, wo das Abschiedsessen abgehalten werden sollte, die Schwere seiner überstandenen Krankheit und ihre verheerenden Wirkungen auf den Organismus durch eine ganze Reihe gymnastischer Kunststücke bekundete, die die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zogen.
»Oh, das ist wirklich eine unverhoffte Freude«, sagte Mrs. Crummles, als ihr Nikolas vorgestellt wurde.
»Auch ich hätte mir's nicht träumen lassen«, versetzte Nikolas. »Ich verdanke lediglich einem Zufall die Gelegenheit, Sie wiederzusehen. Natürlich hätte ich auch die größte Mühe nicht gescheut, mir dieses Vergnügen zu verschaffen.«
»Hier sind alte Bekannte«, sagte Mrs. Crummles und schob das Wunderkind im blauen Gazekleidchen mit höchst faltenreichen Verzierungen daran und ebensolchen Höschen in den Vordergrund. »Und hier die beiden jungen Herren Crummles. Nun, und was macht Ihr Freund Dickby, der treue Mensch?«
»Dickby?« murmelte Nikolas, sich gar nicht mehr an Smikes Theaternamen erinnernd. »Ach richtig; er ist ganz – doch was sage ich – es geht ihm nichts weniger als gut.«
»Wie?« rief Mrs. Crummles mit höchst dramatischer Geste.
»Ich fürchte«, sagte Nikolas kopfschüttelnd, »daß Sie ihn noch bedauernswerter aussehen finden würden als früher.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mrs. Crummles mit Liebhaberinnenmiene. »Wieso?«
»Nun, ein niederträchtiger Feind von mir will mir dadurch etwas antun, daß er ihn ununterbrochen in Schrecken und Ängsten erhält. Aber entschuldigen Sie«, setzte Nikolas plötzlich innehaltend hinzu, »ich sollte eigentlich nicht davon sprechen und tue es auch sonst nie, ausgenommen Personen gegenüber, die seine Geschichte kennen. Ich habe einen Augenblick ganz vergessen, wo ich bin.«
Mit dieser hastigen Entschuldigung beugte er sich, um das Wunderkind zu bewillkommnen, herab und änderte dadurch das Thema, innerlich seine Voreiligkeit verwünschend und etwas unruhig darüber, was Mrs. Crummles wohl von seiner so plötzlichen Ergriffenheit denken möchte.
Die Dame schien sich jedoch nicht besonders viel dabei zu denken, denn das Essen war inzwischen aufgetragen worden. Sie reichte Nikolas die Hand und trat mit ein paar Bühnenschritten an Mr. Snittle Timberrys linke Seite. Nikolas erhielt den Ehrenplatz zu ihrer Rechten und Mr. Crummles den neben dem Vorsitzenden, während das Wunderkind und die beiden jungen Herrn Crummles zu Adjutanten des Vizepräsidenten ernannt wurden.
Die Gesellschaft mochte ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Personen zählen und bestand aus Mr. und Mrs. Crummles' Londoner und sonstigen Theaterfreunden. Die Damen und Herren waren einander an Zahl so ziemlich gleich, die Kosten des Soupers wurden von letzteren getragen, und jeder von ihnen hatte das Recht, sich eine Dame als Gast mitzubringen.
Es war im großen und ganzen eine höchst distinguierte Versammlung, und abgesehen von den geringeren Bühnensternen, die bei dieser Gelegenheit Mr. Snittle Timberry umringten, war auch ein Schriftsteller zugegen, der bereits zweihundertsiebenundvierzig Novellen dramatisch bearbeitet hatte. Dieser Herr saß links neben Nikolas und war ihm durch seinen Freund, den afrikanischen Messerschlucker, mit schwungvollen Worten vorgestellt worden.
»Ich schätze mich außerordentlich glücklich, einen so ausgezeichneten Gentleman kennenzulernen«, sagte Nikolas höflich.
»Die Ehre ist nur gegenseitig«, versetzte der Ästhet, »wie ich immer zu sagen pflege, wenn ich ein Buch für die Bühne bearbeite. Haben Sie übrigens je eine Definition des Ruhmes gehört, Sir?«
»Schon mehrere«, erwiderte Nikolas lächelnd. »Ich bin jedenfalls aber auf die Ihrige begierig.«
»Wenn ich ein Buch für die Bühne bearbeite, Sir«, erklärte der Schriftsteller, »so ist dies ein Ruhm für den ursprünglichen Verfasser.«
»Oh?« rief Nikolas.
»Jawohl, das ist Ruhm, Sir«, wiederholte der Schriftsteller.
»So haben also zum Beispiel Richard Turpin, Tom King und Jerry Abershaw die Namen derer verherrlicht, an denen sie die unverschämtesten Plagiate begingen, Sir?«
»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte der Schriftsteller.
»Allerdings ist es ja richtig, daß auch Shakespeare Themen dramatisierte, die schon vorher im Druck erschienen waren«, gab Nikolas zu.
»Ach, Sie meinen den Willy (Shakespeare«), sagte der Literat. »Willy war ganz sicher ein Zuschneider erster Klasse – hat auch seine Sache gar nicht übel gemacht –, natürlich mit Einschränkung.«
»Ich wollte sagen«, erklärte Nikolas, »daß er zu einigen seiner Stücke den Stoff aus alten Erzählungen und Legenden nahm, die damals allgemein in Umlauf waren, aber es scheint mir denn doch, als ob heutzutage gewisse Herren aus Ihrer Zunft noch weiter gingen –«
»Da haben Sie vollkommen recht, Sir«, unterbrach ihn der Schriftsteller, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und machte von einem Zahnstocher ausgiebigen Gebrauch. »Der menschliche Geist hat sich seit jener Zeit vervollkommnet. Er ist stets im Fortschritt begriffen – wird noch weiter fortschreiten –«
»Ich fasse den Fortschritt in einer ganz andern Bedeutung auf«, fuhr Nikolas fort, »denn während Shakespeare die für seine Zwecke passenden Themen in den Bannkreis seines Genius zog und bekannte Dinge in einer Weise miteinander verknüpfte, die der Welt für Jahrhunderte Entzücken schafften, ziehen die Plagiatoren unserer Zeit Gegenstände, die nichts weniger als für die Bühne passen, in den Zauberkreis ihres Stumpfsinns und verballhornisieren da, wo Shakespeare veredelte. Sie nehmen zum Beispiel die unvollendeten Schriften lebender Verfasser noch ganz unverarbeitet aus deren Händen und noch feucht vom Druck, schneiden, zerhacken und zerlegen sie, je nachdem es die Fähigkeit oder Unfähigkeit ihrer Schauspieler verlangt, passen es dem Range ihrer Theater an, beendigen unvollendete Werke und flicken sinnlos an Ideen herum, die noch nicht einmal im Kopfe des Autors zur Reife gediehen sind und ihn ohne Zweifel das Nachdenken vieler Tage und manche schlaflose Nacht gekostet haben. Sie schließen aus dem Dialog, dessen letztes Wort der Autor vielleicht erst vor vierzehn Tagen niedergeschrieben hat, auf den Ausgang der Handlung, veröffentlichen dann ganz ohne seine Erlaubnis und gegen seinen Willen und, um der Unverschämtheit die Krone aufzusetzen, in einer elenden Broschüre ein elendes Mischmasch von Auszügen aus seinen Werken, dem sie dann ihren eigenen Namen vorsetzen. Ich möchte nun wirklich wissen, was für ein Unterschied zwischen einer solchen Dieberei und einem Taschendiebstahl auf offener Straße ist – höchstens vielleicht der, daß das Gesetz Achtung hat vor dem physischen Eigentum und keine vor dem Erzeugnis des menschlichen Gehirns.«
»Man muß eben leben, Sir«, versetzte der Literat achselzuckend.
»Dasselbe läßt sich aber auch in dem andern Fall als Entschuldigung vorbringen«, widersprach Nikolas.
Die Unterhaltung drohte ein wenig heiß zu werden, und daher legte sich Mrs. Crummles ins Mittel, um einen gewaltsamen Ausbruch zu verhüten, indem sie an den Schriftsteller ein paar Fragen hinsichtlich des Inhalts von sechs neuen Stücken richtete, die er kontraktgemäß abgeliefert hatte und die in erster Linie dazu dienen sollten, dem afrikanischen Messerschlucker mit seinen unvergleichlichen Kunstleistungen Gelegenheit zum Auftreten zu geben.
Dies führte bald zu einer lebhaften Diskussion, die von seiten des Schriftstellers mit so viel Feuer geführt wurde, daß die Erinnerung an seinen Wortwechsel mit Nikolas Nickleby bald verflogen war.
Als Punsch, Wein und Brandy herumgereicht wurden, trat in der Gesellschaft, die sich bisher in Gruppen von drei oder vier Personen unterhalten hatte, allmählich eine Totenstille ein, während der die Mehrzahl der Anwesenden von Zeit zu Zeit nach Mr. Snittle Timberry blickten und die kühneren sogar mit den Knöcheln auf dem Tisch trommelten oder Worte fallenließen, als da waren: »Los, Tim, aufgewacht Herr Präsident, wir harren eines Toastes« und dergleichen.
Mr. Timberry würdigte diese Mahnungen keiner andern Antwort, als daß er sich auf die Brust schlug, nach Luft schnappte und noch auf verschiedene andere Art auf seinen kränklichen Zustand hinwies. Endlich erhob er sich jedoch mit würdevoller Haltung, die eine Hand im Busen seiner Weste und die andere auf der Schnupftabaksdose seines Nachbarn, schlug dann mit einer ganzen Kette von Bühnenphrasen die Gesundheit seines Freundes, des Mr. Vincent Crummles, vor und schloß damit, daß er nach links und rechts die Hände ausstreckte und Mr. und Mrs. Crummles des öfteren aufforderte, sie zu ergreifen.
Mr. Crummles dankte, und sodann schlug der afrikanische Messerschlucker ebenfalls in ergreifenden Ausdrücken die Gesundheit Mrs. Vincent Crummles' vor. Dies hatte wieder eine ungemein lebhafte Szene zur Folge, in der die Theaterdirektrice und sämtliche Damen aus Herzensgrund schluchzten und stöhnten. Trotz alledem jedoch bestand die heroische Frau darauf, ihren Dank selber mit Worten abzustatten, was sie denn auch mit einem Anstand und einer Beredsamkeit tat, die wohl noch nie dagewesen war und selten ihresgleichen haben wird. Es lag nunmehr Mr. Snittle Timberry ob, den Toast auf die jungen Masters Crummles und das Wunderkind auszubringen, worauf Mr. Vincent Crummles, als deren Vater, eine Rede schwang, in der er sich über die Tugenden, Vorzüge und den liebenswürdigen Charakter seiner Sprößlinge des weiteren ausließ und den Wunsch ausdrückte, so und nicht anders möchten die Söhne und Töchter sämtlicher anwesender Herren und Damen sein. Nach diesen Festlichkeiten folgte eine durch musikalische und andere Vorträge gewürzte Unterbrechung, und schließlich schlug Mr. Crummles vor, auf die Gesundheit Mr. Snittle Timberrys, dieser Zierde in der Kunst, zu trinken und ein wenig später auf die des afrikanischen Messerschluckers sowie auf die seines teuern Freundes, wenn es erlaubt sei, ihn so zu nennen – eine Freiheit, die zu verschweigen kein besonderer Grund vorhanden war und die denn auch der afrikanische Messerschlucker gnädigst genehmigte. Man gedachte endlich auch der Gesundheit des Schriftstellers. Es zeigte sich jedoch, daß dieser schon ein bißchen zu viel getrunken hatte und schlafend auf der Treppe draußen lag. Man gab daher die Absicht auf und übertrug die Ehre auf die Damen. Zum Schluß verließ Mr. Snittle Timberry nach langer Sitzung seinen Präsidentenstuhl, und die Gesellschaft trennte sich unter heißen Umarmungen und Lebewohlen. Nikolas wartete bis zuletzt, um seine kleinen Geschenke anzubringen. Als er sich allerseits verabschiedet hatte und zu Mr. Crummles kam, fiel ihm der Unterschied zwischen der jetzigen Trennung und der, die zu Portsmouth stattgefunden, auf. Bei der jetzigen war auch nicht eine Spur theatralischen Wesens. Mr. Crummles streckte ihm die Hand in einer Weise entgegen, die ihn, wenn er sie auf der Bühne produziert hätte, zum besten Schauspieler seiner Zeit gemacht haben würde. Und als ihm sein junger Freund die Rechte mit aufrichtiger Herzlichkeit drückte, war er offenkundig tief ergriffen.
»Wir waren stets die besten Kameraden und haben uns nie, auch nicht einmal mit einem Wort, entzweit, Johnson«, schluchzte der arme Crummles. »Der Gedanke, Sie wiedergesehen zu haben, wird mir morgen meine Reise verschönen, aber jetzt möchte ich fast wünschen, daß wir uns nie wiedergetroffen hätten.«
Nikolas wollte eben eine tröstliche Antwort geben, als ihm zu seiner nicht geringen Verwunderung mit einemmal Mrs. Grudden entgegentrat, die dem Abschiedsmahl nicht beigewohnt hatte, um am nächsten Tag früh bei der Hand sein zu können. Sie stürzte, in ungewöhnliche, weiße Gewänder gehüllt, aus einem anstoßenden Schlafzimmer, schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn mit großer Zärtlichkeit an den Busen.
»Wie, Sie reisen auch?« fragte Nikolas, ihre Zärtlichkeiten über sich ergehen lassend, als wäre sie das schönste Mädchen auf der Welt.
»Auch reisen?« wiederholte Mrs. Grudden. »Gott im Himmel, was würde man denn ohne mich anfangen?«
Nochmals ließ Nikolas eine Umarmung über sich ergehen, dann winkte er allen mit seinem Hut, so heiter er konnte, zum Abschied und trennte sich von der Familie Crummles.