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Der enthusiastische Claqueur, um welchen sich die gesamte jugendliche Bevölkerung des Ateliers auf der kleinen Treppe malerisch gruppiert hatte, ist Herr Augustus Graf von Wallenberg, außerordentlicher Gesandter, bevollmächtigter Minister und so weiter, und so weiter... Ein höchst vornehmer, liebenswürdiger Kavalier, dessen Bekanntschaft uns die geneigte Leserin ehestens Dank wissen wird. Seine Landsleute, Kollegen und Freunde, deren Zahl Legion ist, nennen ihn schlechtweg den Gustel Wallenberg, halten ihn für »sehr einen guten Kerl«, der sich hier und da sogar ein weniges aufziehen läßt, und trauen ihm im Grunde doch nicht recht, trotz oder wegen seiner ausnehmenden Gemütlichkeit. Es hat Fälle gegeben, politische und kritische Fälle, wo er die anderen geraume Zeit über sich lachen ließ, um zuletzt, das heißt am besten, und über alle zu lachen, wenn auch nur ins Fäustchen und immer gemütlich. Er ist außerordentlich beliebt bei dem Hofe, an welchem er schon vor einigen Jahren akkreditiert worden, und gilt bei seinem Ministerium für einen gewiegten Diplomaten, obwohl er gern dergleichen tut, als kümmere er sich blutwenig um die Geschäfte, welche ja bei seinem alten Legationsrat in den besten Händen sind, einem Kabinetts- und Inventarstück der Gesandtschaft, das alle Wechsel und Wandlungen in der Person des ersten Repräsentanten eisern überdauert. Wallenbergs äußere Erscheinung hat Roland gelegentlich schon geschildert: ein feiner Kopf, dunkles Haar, schlaue Augen, zierliches Bärtchen, schlanke Gestalt. Fügen wir hinzu, daß dieses Äußere im ganzen und in allen Einzelheiten, die echt diplomatische Eigenschaft besitzt, nichts zu verraten, weder das Alter, noch den Charakter. Man kann den Grafen auf vierzig Jahre, man kann ihn auf fünfundzwanzig taxieren. Er ist nicht groß und nicht klein, nicht hübsch und noch weniger häßlich. Sein Auge, so gemütlich es dreinschaut, ist unter einem tief herabhängenden Lid, wie hinter einem diskreten Vorhang, versteckt. Da er von Kindesbeinen an im auswärtigen Dienst gewesen ist und fast alle Höfe Europas, sogar ein paar überseeische Missionen durchgemacht hat, trägt auch seine Sprache keine besonders kenntliche Farbe. In der Kleidung ist er elegant genug, nicht elegant zu sein, wie es die neue Mode will, welche die Bequemlichkeit als höchstes Gesetz aufstellt. Summa Summarum: ein distinguierter Mensch, – einer, der sich durch nichts distinguiert.
Unverkennbar hatte Wallenberg bei seinem Einbruch in den Turm von Rolandseck gestört; des Meisters mühseliges Lächeln, das Abwenden der Sängerin bewiesen es zur Genüge. Aber wie wird ein Diplomat jemals bemerken, eingestehen, oder gar entschuldigen, daß er störte? Mit vollkommener Unbefangenheit drückte er die zum Willkomm dargebotene Rechte Rolands und küßte Seraphinens Hand, mit der Beteuerung, nicht nur »dahin«, sondern auch dorthin, überall hinziehen zu wollen, wenn er das Glück hätte, so hinreißend aufgefordert zu werden. Dann fuhr er, zu Roland gewendet, fort: »Ich möchte wetten, daß unser zerstreuter Freund die heutige Verabredung vergessen hat.« – »Welche Verabredung?« – »Ein ländliches Diner auf dem Forsthaus; Sie versprachen, mein Gast zu sein, und ich komme, Sie zu holen.« – »Ihre gütige Einladung lautete auf Freitag; ist denn heute...« – »Freitag um sechs Uhr; gegenwärtig ist es vier vorüber.« – »Schon vier Uhr?« rief Seraphine erstaunt aus. »Und mein Konzert!« – »Wahrhaftig, das Diner hat Raffael gründlich vergessen.« – »Wie meine Marie mich vergißt,« sagte Seraphine. – »Nicht doch, Diva Illustrissima. Mademoiselle Marie wartet draußen auf Ihre Befehle. Ich traf sie mit Herrn Raff auf dem Hühnerhofe; er war eifrig beschäftigt, ihr die Vorzüge eines Cochinchinahahns vor dem gemeinen deutschen Haushahn auseinanderzusetzen.« – »Vier Uhr; dann ist es höchste Zeit, daß ich mich auf- und davonmache,« meinte Seraphine, nach Hut und Mantille greifend, während Roland Herrn Raff herbeirief und wegen der vergessenen Einladung hart anlassen wollte. Doch gelang es ihm nicht; der Vorwurfsfreie entgegnete mit Würde, seit Mittag liege alles im Ankleidezimmer des Meisters bereit, auch (mit verächtlichem Achselzucken) der schwarze Frack. – Wallenberg wollte nichts vom Frack wissen. »Wir speisen im Überrock, ländlich – schändlich. Nur sechs Herren; außer uns mein Sekretär, der bereits hinaus ist, nach Küche und Keller zu sehen, mein niederländischer Kollege, welcher vor Begierde brennt, Herrn Roland persönlich kennenzulernen, der Maestro der Amazone, und ein fremder Gelehrter, von meiner Regierung an mich empfohlen zum Zweck historischer Studien in den hiesigen Archiven.« Roland seufzte in stiller Ergebenheit, während Graf Wallenberg der Sängerin die Mantille umhing. Er bot ihr seinen Wagen zur Rückfahrt in die Stadt an, nicht die offizielle Gesandtschaftskutsche, nur ein diskretes Junggesellenstück, ohne Livree und ohne Wappen. Sie nahm dankend an und gelobte, das rettende Fahrzeug sogleich wieder herauszuschicken. »Morgen sehen wir uns wohl nicht?« fragte sie Roland. – »Kaum,« war die Antwort. »Aber Sonntag im Theater, bei deinem Schwanengesang.« – Beide schüttelten sich die Hände; Seraphine schied, von dem Chor sämtlicher Schüler an den Wagen geleitet und mit einem jubelnden Zuruf entlassen.
Wallenberg sah ihr nach und bemerkte: »Eine ungeschickte Neuerung!« – »Welche?« – »Einer schönen Frau die Hand zu schütteln, daß alle Gelenke knacken. Englische Mode, gut für Matrosen. Ich lobe mir die alte französische Sitte, den Handkuß. Übrigens ein prächtiges Weib. Schade, daß wir sie verlieren sollen. Geht sie ernstlich?« Roland nickte trübsinnig mit dem Kopf. Er war erregt; seine Stimmung rang nach Mitteilung. Nachdem er mit dem Grafen einen Gang durch das Atelier gemacht, blieb er plötzlich stehen und begann: »Bis der Wagen zurückkommt, haben wir eine halbe Stunde Zeit. Umgezogen bin ich im Nu. Wollen Sie mich ernsthaft anhören, Graf? Mir einen guten Rat in einer für mich höchst wichtigen Angelegenheit geben?« – Wallenberg fragte, erstaunt über die feierliche Einleitung, zurück: »Kennen Sie Tiecks Blaubart, lieber Roland?« – »Nein; warum?« – »Im Blaubart ist der Ratgeber die lustige Person. Jedermann geht ihn um seine Meinung an und tut hinterdrein doch, was er will, das Orakel auslachend.« – »Wir Künstler,« entgegnete Roland, »lassen uns gern von Fremden, von Freunden bestimmen in Dingen, die außerhalb unseres Berufes liegen. Selbsterkenntnis besitzen wir wenige, Erfahrung gar keine. Sie, Wallenberg, sind mein Freund.« – »Von ganzem Herzen.« – »Sie kennen die Welt.« – »Wer kennt sie nicht, und doch, wer kennt sie?« – »Nun denn, Ihren Rat. Gerade heraus: Ich... ich möchte heiraten.« – »Auch du, Brutus?« – »Ich fange an, meiner Einsamkeit müde zu werden, nach Haus und Herd, Weib und Kind zu verlangen. Ich glaube sogar... ich liebe.« – »Meinen Glückwunsch auf alle Fälle. Aber Liebe und Ehe sind zwei himmelweit verschiedene Dinge. Man kann lieben, ohne zu heiraten; heiraten, ohne zu lieben. Eine Heirat ist, in unseren Jahren, verzweifelt ernsthaft, um nicht zu sagen: gewagt. Wir wissen zu gut, was wir aufgeben, und zu schlecht, was wir dagegen eintauschen. Ehen aus Neigung oder gar aus Leidenschaft gelingen in der Regel nur der ersten, grünen Jugend. Die Sphäre des reiferen Alters ist die Vernunftheirat.« – »Die ich verabscheue,« fiel Roland hastig ein. – »Die aber,« entgegnete Wallenberg, »für das echte Künstlerblut immer die heilsamste sein und bleiben wird. Freilich kommt zuletzt alles auf die andere Ehehälfte, auf den Gegenstand Ihrer Wahl an.« – »Raten Sie, Wallenberg.« – »Raten und erraten also! Fräulein Krafft?« – »Das rät die Eifersucht,« lächelte Roland. – »Warum nicht gar? Fräulein Armgard und ich leben seit Jahr und Tag auf dem strengen Fuß bewaffneter Neutralität. Ich riet auf sie zuerst, weil die Stadt in ihr mehr als Ihre Schülerin sehen will.« – »Sie ist es nicht.« – »Wer denn?« – Roland deutete auf die Tür, durch welche Seraphine verschwunden war. – »Doch nicht...« – Der Maler nickte heftig. – »Nicht diese da, nicht die Amazone?« rief Wallenberg, auf die Staffelei weisend. – »Sie und keine andere.« – »Sind Sie des Teufels?!« Dabei warf sich der Diplomat mit wirklichem oder gut erkünsteltem Schrecken in einen Stuhl. Roland sah ihn an, verwundert über den Eindruck, welchen seine Mitteilung gemacht hatte. Nach einer ausdrucksvollen Pause hub Graf Wallenberg wieder an: »Die Lomond wollen Sie heiraten?« – »Wenn sie mich nimmt, auf der Stelle!« – »Unmöglich, Roland!« – »Warum?« – »Eine Primadonna heiratet man nicht.« – »Warum nicht?« – »Sängerinnen sind Fresken; man bewundert sie von weitem, man betet sie an, man liebt sie meinethalben bis zum Wahnsinn. Aber heiraten? Nie!« – »Ich frage noch einmal: warum nicht?« – »Weil man zum häuslichen Herd nicht einen feuerspeienden Berg nimmt.« – »Übertreibung!« – »Weil mit unbezähmbarer Leidenschaftlichkeit, mit unberechenbaren Launen, mit unersättlichen oder blasierten Stimmungen kein ewiger Bund zu flechten ist.« – »Als ob Ihre Damen von der großen Welt nicht auch an Vapeurs und Migränen litten, die einem geplagten Ehemann das Leben sauer machen! Lieber ertrage ich die Seestürme einer tiefen, aber offenen Künstlerseele, als die kleinen Tücken und Nücken treuloser Binnenwässerlein.« – »Ihre Frau, das höchste und beste, was der Mann besitzt, wollen Sie mit dem vielköpfigen Ungeheuer, dem Publikum, teilen?« – »Wenn sie mich liebt, wird sie die Bühne verlassen.« – »Um nach Verlauf eines Jahres wiederum Sie zu verlassen und zur Bühne zurückzukehren.« – »So übt sie ihre Kunst, wie ich die meinige, frei und ungehindert.« – »Sie, Roland, der Mann einer Sängerin, ein Queens Konsort, ein Schatten? Überall im Genitiv stehen, Notenblätter nachtragen, mit den Direktoren zanken, Rezensenten behandeln, die tadelnden mit der Reitgerte, die lobenden mit Banknoten, hinter den Kulissen zweideutige Händedrücke wechseln, auf dem Rücksitz des alten Theaterwagens fahren... Sie, Roland, Sie, mit Ihrem Stolz, mit Ihrem unbändigen Unabhängigkeitsgefühl?!«
Einigermaßen verdutzt und kleinlaut ließ sich Roland, ohne ein Wort zu erwidern, neben dem Grafen nieder, der nach einer Weile, bedenklich den Kopf schüttelnd, fortfuhr: »Sie ahnen nicht, teurer Freund, in welchem Grade Ihre unerwartete Mitteilung mich für Ihre Zukunft besorgt macht. Als Sie begannen, dachte ich für Sie an Armgard. Diese Wahl würde mir eine vortreffliche erschienen sein. Alle Verhältnisse stimmen. Sie brauchen allerdings bei Ihren jetzigen reichen Ernten auf Vermögen nicht zu sehen. Schulden haben Sie auch keine, Sie Beneidenswerter! (Ein kleiner Seufzer, beiseite.) Immerhin aber hätten Papa Kraffts Millionen einen wunderbaren Hintergrund für Ihre Bilder abgegeben, die goldene Unterlage eines unvergleichlich glänzenden Künstlerlebens. Fräulein Krafft ist die Wohlerzogenheit, die Bildung selbst; über die Maßen hübsch, fein, klug; in Ihrer Kunst Dilettantin genug, Sie zu verstehen, ohne Sie zu stören; in der Welt so hochgestellt, daß sie Sie mit der Gesellschaft vermittelt haben würde, welcher Sie sich unverantwortlich entziehen. Sie beide wären ein Paar, wie von den Tauben zusammengetragen. Die glückliche Ehe, lieber Roland, ist ein Rechenexempel mit ungleichartigen Größen; während Sie und Seraphine, zwei Künstlerleben, in eines verschlungen, sich gegenseitig verwirren und aufheben, hätten Armgard und Sie sich harmonisch ergänzt.« – »Aber ich liebe Armgard nicht, sie liebt mich nicht.« – »Und lieben Sie Seraphinen? Werden Sie von ihr geliebt?« – »Ich... ich weiß es nicht. Es gibt Stunden, wo ich beides glaube, und Tage, an welchen ich an jedem einzelnen zweifle.« – »Sehen Sie wohl! Täuschen Sie sich doch nicht über die Natur Ihrer Empfindungen für Seraphinen. Ihr geschwisterlich trauliches Verhältnis zu der reizenden, hochbegabten Frau nimmt vielleicht vorübergehend, bei ihr oder bei Ihnen, eine bis zur Leidenschaftlichkeit warme Färbung an. Allein eine solche wird nicht vorhalten. Woher erklärt es sich denn, daß Sie, nach Jahr und Tag des ungehinderten, engsten Verkehrs miteinander, auf einmal in eine ganz andere Beziehung treten wollen als bisher? Aus Bruder und Schwester – Mann und Frau! Es tut nicht gut, Roland; es tut wahrhaftig nicht gut. Soweit ich Seraphinen kenne, liebt sie niemanden. Wen soll, wen kann eine Primadonna lieben? Sich selbst, in ihrer Partie, in ihrer Bühne, ihrem Publikum. Sobald sie einen anderen, einen einzelnen liebt, gibt sie sich und ihre Kunst auf. Das Theater sollte, wie die katholische Kirche, von seinen Priestern Ehelosigkeit fordern. Lassen Sie dem Himmel seine Sterne, auch dem Theaterhimmel. ›Die Sterne, die begehrt man nicht‹, sagt Goethe...«
Graf Wallenberg ergoß sich noch des weiteren und breiteren in seiner Spruch und Lebensweisheit, ohne daß sein Zuhörer sonderlich erbaut oder nur aufmerksam geschienen hätte. Im Gegenteil, Roland verfiel in tiefes, nachdenkliches Schweigen, das er plötzlich brach, indem er, aufspringend, rief: »Sie mögen recht haben, Wallenberg. Auf keinen Fall wollen wir uns unser heutiges Mahl noch mehr als es bereits geschehen, durch mich verderben lassen. Ich kleide mich an; wir fahren hinaus, essen und trinken, beschlafen uns hernach die Sache nach Herzenslust. Vielleicht hab' ich morgen früh das Ganze wie einen Traum vergessen. Wenn nicht, so versprechen Sie mir eins, Freund: Sie gehen, als mein Geschäftsträger, zu Fräulein Lomond, erforschen die Lage, was ja des guten Diplomaten erste Kunst ist, und rücken, je nach Befinden, mit einem Antrag in bester Form vor, oder ziehen sich und mich auf den Status quo zurück. Wollen Sie?« – »Das Mandat,« erwiderte Wallenberg, »ist schwieriger und gefährlicher, als Sie denken. Doch ich will's versuchen, falls Sie nicht über Nacht anderen Sinnes werden.« – »Top?« – »Top!« – »Meinen Dank zum voraus. Und nun kein Wort mehr. In einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen.«
Der Graf blickte dem Hinauseilenden mit einem Gesicht und einer Haltung nach, ähnlich denjenigen des Carlos im Clavigo, wenn er den berühmten Aktschluß spricht: »Da macht wieder jemand einmal einen dummen Streich.« Allein unmerklich, unwillkürlich mischte sich in seine Unzufriedenheit mit dem Freunde ein leises Gefühl, welches – dem Neide gegen denselben gleichen wollte. Es ist in der Zunft der Hagestolzen, zu der Wallenberg sich und bis zum heutigen Tage auch Roland in gutem Glauben zählte, so bestellt, daß keiner den anderen ausscheiden und in den Ehestand übertreten sieht, ohne im stillen etwas wie Mißgunst zu empfinden, mag auch der Abtrünnige von den Zurückbleibenden noch so laut verhöhnt werden. Gleichzeitig wuchs das Bild der Sängerin vor seinen Augen, seit er sie als das von einem bedeutenden Manne geliebte und umworbene Weib erblickte. In diesem Lichte hatte er sie niemals gesehen. Es mußten, außer den allgemein bewunderten Eigenschaften, Schönheit, Geist, Ruhm, noch verborgene in ihr liegen, die ein Herz wie Rolands anzuziehen vermochten. In der Tat, wenn Seraphine liebte, sich hingab, von ihrer schimmernden Höhe herabstieg, wie unendlich glücklich konnte, nein! mußte ihr ausschließlicher Besitz den einen unter Tausenden machen! Die stürmisch gefeierte Künstlerin herabziehen von dem bestechenden Piedestal ihrer Bühne, sich satt küssen an diesen schwellend roten Lippen, die ein übervolles Haus, ein ganzes Volk in Taumel und Raserei zu versetzen wußten, die göttliche Amazone, noch heiß von den Siegen ihrer Theaterabende, in die Arme pressen, sie überwunden, ein schmachtendes Weib, zu seinen Füßen sehen, – – o beneidenswerter Roland!
In eine solche Gedankenreihe, welche den kühlen Diplomaten in fremde Regionen zu verführen drohte, trat mit einem Male Herr Hans Heinrich Krafft, der lange nach der Börsenstunde in das Atelier zurückkam, um etwas Vergessenes zu holen, seine Brieftasche, die im Pelz stecken geblieben sei. Die Wahrheit zu gestehen, hatte der Gute, der niemals vergaß, das kostbare Büchlein absichtlich in den Nerz gleiten lassen, um wiederkehren zu müssen. Allein wen er suchte, Seraphinen, fand er nicht mehr; dagegen fand er, wen er nicht gesucht, den Grafen. »Um so besser,« sagte er nach freundlicher Begrüßung, »daß ich Sie allein treffe, Herr Graf; Sie gewähren mir wohl eine kurze, vertrauliche Unterredung unter vier Augen.« – »Ich stehe zu Diensten, Herr Krafft.« – »Sie sind, Herr Graf, ein erfahrener, weltkluger Mann.« – (Will er mich etwa auch um Rat fragen?) – »Daneben darf ich Sie als Freund meines Hauses betrachten, obschon Sie sich darin während der letzten Zeit selten gemacht haben.« – »Ich hoffte nicht, vermißt zu werden.« – »Ebenso bescheiden, wie liebenswürdig. Diesem meinem Hause steht eine Veränderung bevor. Meine Tochter wird sich binnen kurzem vermählen.« – »Ich gratuliere, Herr Krafft, mehr noch dem Zukünftigen, als Ihnen und Fräulein Armgard.« – »Wie ich an ihr, meinem einzigen Kinde, hänge, wissen Sie. Ihrer Neigung Zwang anzutun, wäre es auch nur durch väterlichen Wunsch oder Rat, ist mir niemals eingefallen. Ihr Herz hat lange geschwiegen. Jetzt spricht es. Es müßte mich alles täuschen, wenn sie nicht ihren Meister, unseren Freund Roland, im stillen auserwählt hätte.« – »Ihre Wahl konnte auf keinen Würdigeren fallen, Herr Krafft.« (Im stillen dachte der Graf dabei: »Zwei Bräute auf einmal! Was der Mann für ein Glück hat!«) – »Machen wir uns darüber, mein Herr Graf, weder Komplimente, noch Illusionen. Ich bin der letzte, Herrn Roland herabzusetzen, dessen Wert ich in jeder Beziehung zu schätzen weiß. Aber, ohne Umstände gesprochen, ich kenne doch auch meine Tochter, ich kenne mich selbst. Wir hätten am Ende eine bessere Partie finden können, und es gab eine Zeit, wo ich gefunden zu haben glaubte.« Hierauf entstand eine kleine, verlegene Pause, während deren Krafft den Grafen prüfend ansah, und dieser die Gläser seines Zwickers emsig mit dem Zipfel seines Battisttuches abwischte. »Reden Sie von der Leber weg, Herr Graf, und geben Sie mir eine bündige Antwort, wenn ich Sie frage: Raten Sie zu dieser Verbindung?« – »Sie überraschen mich, Herr Krafft. Sie sind ein so sprichwörtlich weiser Mann, daß ich mir kaum anmaßen darf, Ihnen irgendeinen Rat zu erteilen.« – »Auf die Börse und meine Bücher verstehe ich mich allerdings ganz gut, allein minder gut auf Heiratsgeschichten, auf das Herz eines jungen Mädchens, das Urteil der Welt und dergleichen. Sie haben sich früher viel mit Armgard beschäftigt. Roland ist Ihr Jugendfreund. Werden die zwei Leutchen miteinander glücklich werden? Ja oder nein?« – »Zuvor eine Gegenfrage: Liebt Roland Ihr Fräulein Tochter?« – »Ich glaube, so etwas bemerkt zu haben, noch in der heutigen Lektion.« – (Es geht doch nichts über den väterlichen Scharfblick, dachte Wallenberg bei sich.) – »Außerdem kann eigentlich die Liebe eines wohlerzogenen Mädchens selbverständlich immer nur eine Gegenliebe sein.« – »Meinen Sie, Herr Krafft?« – »Von meiner Tochter bin ich es überzeugt. Setzen wir den Fall, das junge Pärlein hat sich stillschweigend verständigt. Gehen wir weiter: Sie billigen die Partie als ein unparteiischer und dabei beiden Seiten wohlgeneigter, auch sachkundiger Richter. Die Werbung findet statt. Der Vater, ein weichherziger Mann, der auf Geld und Gut nicht zu sehen braucht, wo es das Glück seiner Tochter gilt, der Vater willigt ein. In drei Monaten ist Hochzeit.« – »So bald, Herr Krafft?« – »Warum zögern, bester Herr Graf? Die Aussteuer liegt fix und fertig da, mündig sind beide Leutchen auch. Rasch gefreit, hat niemand gereut. Danach aber ist das Haus des Vaters leer und öde geworden. Der Alte hat sich an weiblichen Umgang, an ein in seiner Nähe lieblich waltendes Wesen gewöhnt. Er erträgt die neue Einsamkeit nicht. Was tut er? Wozu raten Sie ihm, lieber Graf?« – »Er verjüngt sich im Glück seiner Kinder; Enkelchen wiegt er auf seinen Knien.« – »Sie denken sich ihn zu sehr als ehrwürdigen Greis. Nehmen wir an, er darf noch eigene Ansprüche an das Leben machen... Sie verstehen mich, Herr Graf?« – »Nicht so ganz, Herr Krafft,« lächelte Wallenberg, der längst merkte, wo der andere hinauswollte, ihn aber mit heimlichem Vergnügen sich völlig aufknöpfen ließ. – »Ein so berühmter Diplomat fängt doch sonst jeden Wink, jedes halbe Wort auf.« – »Sie überschätzen mich augenscheinlich, mein verehrter Herr Krafft.« – »Ins Himmels Namen denn! Ich falle mit der Tür ins Haus: wieder heiraten will ich, und zwar ... die da (auf das Bild deutend), die Amazone! Nun lachen Sie mich aus, so laut Sie wollen; hernach aber geben Sie mir, als Mann von Ehre, als Mann von Welt, als Freund unseres Hauses, Ihren Rat; über beide Pläne erbitte ich ihn mir.«
Krafft trat an das Fenster und trommelte mit den Fingern auf den Scheiben. Graf Wallenberg blieb sitzen, so verwundert, wie ein Diplomat es nur sein kann, beinahe verlegen um eine Antwort. Wäre er allein gewesen, er würde in ein homerisches Gelächter ausgebrochen sein über das neckische Spiel des Zufalls, welches ihn in derselben Stunde zum Vertrauten zweier verschiedener und doch in ihren Zielen zusammentreffender Absichten machte. Er, der bevollmächtigte Minister und außerordentliche Gesandte, sah sich zum Heiratsagenten eines Bankiers und eines Malers befördert... Zum Kranklachen! Und doch lachte Wallenberg nicht. Die lockende Erscheinung Seraphinens, der neuen Helena, stieg immer höher und heller vor ihm auf. Er versank in das Anschauen ihres Bildes auf der Leinwand fast so tief, daß er Kraffts Anwesenheit und die ganze Situation vergessen hätte. Mit Gewalt mußte er sich losreißen und sprach zu dem gereiften Freier: »Herr Krafft, Ihr Vertrauen ehrt und erfreut mich.« – »Und so weiter; ich schenke Ihnen die Vorrede. Sie sehen, daß ich auf Kohlen stehe. Lachen Sie mich aus, und damit basta.« – »Nichts weniger als das. Ihr Alter, Ihre Persönlichkeit, Ihre Stellung sind, auch abgesehen von Ihrem glänzenden Vermögen, ganz und gar danach angetan, Sie zu einer zweiten Ehe zu berechtigen.« – »Ist das Ihr Ernst?« – »Mein vollster. Unzählige Frauen werden mit Kußhand, wie man zu sagen pflegt, die Ihrige annehmen. Sie können noch glücklich machen, und Sie verdienen es zu sein.« – »Ich war es, streng genommen, niemals, lieber Wallenberg. Ich hatte keine Zeit dazu. Jetzt könnte ich anfangen, mir die Zeit zu nehmen.« – »Doch übereilen Sie nichts, weder Fräulein Armgards, noch Ihre eigene Vermählung. Sie kennen unsere liebenswürdige Primadonna genauer?« – »Fräulein Lomond kommt häufig zu meiner Tochter; auch besorge ich ihre kleinen Geschäfte.« – »Welche brillant stehen, nicht wahr?« – »Wie man es nimmt, Herr Graf. Manchen anderen dürfte ihr Vermögen zu einem Antrag bestimmen; mich nicht. Ich verdiene in einer einzigen Börsenschlacht, morgen zum Beispiel, wo die Aktien unserer neuen Südwestbahn in meinem Hause ausgegeben werden, mehr als Fräulein Lomond im Jahre.« – »In der Tat?« – »Nun, Sie werden doch auch ihr bißchen Singsang und Klingklang nicht mit meiner Arbeit, meiner Verantwortlichkeit vergleichen wollen?« – »Sicher nicht.« – »Ihr Haben in ihrem Kontokorrent bei mir, so artig es sein mag, bedeutet für mich so gut wie gar nichts. Was mich, und zwar schon länger, als ich Ihnen oder mir gestehen will, an die göttliche Amazone zieht und fesselt, ist ihr Reiz, ihr Talent, ihr Charakter.« – »Die Launen und Leidenschaften der Sängerin nicht zu vergessen.« – »Das Salz der Ehe, mein Freund, die wahre Würze, wie sie für einen Fünfziger nötig ist. Alles Feuer, das sie jetzt auf den Brettern verschwendet, wird mein Haus, mein Alter erleuchten und erwärmen. Ihre Stimme, die unvergleichliche Silberstimme gehört mir, mir ganz allein; ich münze sie aus in meinem Salon, dem ersten der Residenz.« – »Und Sie fürchten nicht von einer jungen, an die Herrschaft gewöhnten Frau beherrscht zu werden?« – »Je mehr, desto besser, Graf Wallenberg. Mir wird es wohl tun, in tiefster Seele wohl, einmal einem andern Kopfe als dem meinigen zu folgen. Sie mag herrschen, sie soll herrschen. Wenn sie reisen will, wir reisen; spielen – ich sprenge alle Banken für sie... Wallenberg, das Weib hat's mir angetan. Machen Sie meinen Brautwerber bei ihr, und wenn Sie mir ein Jawort zurückbringen... bei Gott, lieber Graf, es soll Ihr Schade nicht sein... Keine Antwort jetzt, ich bitte. Sie haben mein Geheimnis, wir reden weiter darüber. Die Losung bleibt: Ein Königreich für die Amazone!«
Damit ging er ab, der reißende Wolf, seinen Schafpelz zurücklassend, nämlich nicht allein den kostbaren Nerz, worin Armgard ihn malte, sondern auch die Hülle des kalten Geschäftsmannes, des strengen Haus- und Familienvaters, die er bisher so ängstlich festgehalten. Wer hätte solche Glut unter dem Schnee gesucht? Graf Wallenberg gewiß nicht. Denn er blickte mit noch größerer Betroffenheit, als vorhin dem Maler, jetzt dem Bankier nach. Zwei Narren für einen, rief er im stillen Selbstgespräch aus. Aber ich will dir einen dritten zeigen, Gustel Wallenberg, der noch ein ärgerer Narr ist, als beide zusammengenommen. – Er griff nach einem Handspiegel, den Roland beim Malen oft zu gebrauchen pflegte; denn der Herr Professor Spiegel zeigt mehr Fehler, als ein Dutzend Kenner und Kritiker, war seine Ansicht. – Siehst du, Gustel Wallenberg, der größte Narr von euch dreien bist du selbst, mit allem Respekt vor deiner Exzellenz sei es gesagt. Mit diesem Antlitz, dessen Krähenfüße längst für das unbewaffnete Auge sichtbar geworden sind, mit diesem Haar, das an den Schläfen bereits die Kunst deines Kammerdieners herausfordert, und das auf dem Scheitel einen dünnen Mondschein, letztes Viertel genannt, aufzuweisen anfängt, mit deinem Alter, das dich klug machen müßte, wenn du das Glück hättest, ein Schwabe zu sein, mit deinen Passivis, die von Jahr zu Jahr eine schreiendere Ähnlichkeit mit den europäischen Großmächten gewinnen, – mit allen diesen verzweifelten Gaben stehst du jahrelang zwischen zwei bildhübschen, steinreichen Mädchen, wie Buridans Esel zwischen den zwei Heubündeln, und schwankst und schwebst und schwatzest solange, bis dir rechts die eine, links die andere vor dem Maul weggeschnappt wird. Denn das unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, daß die Lomond klug genug ist, ihren seufzenden Krösus zu nehmen, und Meister Roland kindlich genug, sich zu der kleinen, feinen Bankprinzessin bekehren zu lassen. Ich selbst habe ihn ja auf sie hingeführt; dreifacher Tor, der ich bin... Halt, Gustel Wallenberg, ehe es zu spät ist. Hier heißt es einlenken. Entweder ich hetze die Nebenbuhler, Vater Krafft und Roland, gegeneinander, so daß keiner von beiden die Erkorene davonträgt, die ich dann für mich behalte. Der schlaue Fuchs Krafft spricht von ihrem Vermögen in so unbestimmten Zügen, daß in jedem Falle eine runde Summe mit verschiedenen Nullen dahinter steckt. Ohne eine günstige Bilanz ihres Kontokorrents nähme sie der Rechenmeister nicht. Oder aber ich wende die Sängerin einem ihrer zwei Freiwerber zu und komme auf meine früheren Absichten zurück, auf Armgard. Oder endlich, dritte Kombination: ich spiele den Edelmütigen und bringe als geschickter Eheprokurator beide Paare unter die Haube, Krafft mit Seraphine, Roland mit Armgard, während ich leer ausgehe, ledig bleibe... Welche Operation ist die richtige? Zunächst temporisieren wir. Nur nicht vor der Zeit vollendete Tatsachen machen, mit welchen später nicht mehr zu rechnen ist. Rolands Passion muß unterhalten werden, nicht abgeschreckt, wie bisher. Seraphine und Armgard sondiere ich kraft meines Amtes als doppelter Bevollmächtigter. Dem alten Herrn, dem ungeduldigsten von allen, der auf Resultate drängt, erwecken wir Hindernisse, um gleichzeitig zu reizen und zu verzögern. Die Fäden liegen noch in meiner Hand; es steht bei mir, ob ich sie zerreißen will, oder glatt abwickeln, oder unlösbar verwirren, oder endlich laufen lassen, wie es dem Zufall, dem gewaltigen Meister unser aller gefällt.
So weit war Wallenberg in seinem Monolog gediehen, als Roland nach einer ziemlichen Weile, von der Toilette, zurückkam, ein lebendiges Kunstwerk aus Raffaels Händen. Er entschuldigte sich bei dem Grafen, daß er ungebührlich habe warten lassen. »Ich mußte,« sagte er, »mir nicht bloß die Hände waschen, sondern auch tüchtig den Kopf, für allen Unsinn, den ich mir hineingesetzt. Ein paar Minuten ruhiger Überlegung haben mich zur Besinnung gebracht. Ich fange an einzusehen, daß Sie im Rechte sind, lieber Freund, mit Ihren Bedenken gegen eine doppelte Künstlerehe.« – »Welch rasche Umkehr,« entgegnete mißvergnügt Wallenberg. – »Wir Künstler sind, ich sagte es Ihnen, Kinder in unseren Entschlüssen, die das praktische Leben berühren. Das Wort eines erfahrenen, zuverlässigen Mannes bläst sie über den Haufen.« – »Sie gehen weiter, als meine Ansicht und Absicht gewesen, Roland.« – »Seien Sie nicht, aus Freundschaft für mich, schwach gegen meine Schwächen.« – »Wenn ich Ihnen aber sage, daß Sie mich mißverstanden haben!« – »Heißt das, Sie stimmen nunmehr für meine Werbung um Seraphinen, nachdem Sie dieselbe vor einer halben Stunde, auf dieser nämlichen Stelle, gefährlich, gewagt, unmöglich genannt haben?« – »Weder für, noch wider, mein teurer, stürmischer, wankelmütiger Freund! Ich zeige Ihnen nur, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Ist Ihre Liebe für die große Künstlerin eine echte, probehaltige, so muß sie, wie jede Leidenschaft, aus sich selbst, nicht nach den Rücksichten der Gesellschaft beurteilt und behandelt werden. Gönnen Sie sich, ihr, mir, uns allen Zeit zur wechselseitigen Prüfung. Guter Rat kommt über Nacht. Warten wir ihn ab. Es bleibt zunächst bei unserer Vereinbarung: ich begebe mich morgen in das Lager der Amazone, als Ihr Abgesandter. Alles weitere findet sich je nach dem Ergebnisse meiner Mission. Und jetzt zu Tische!«
Arm in Arm verließen die Freunde das Atelier. Graf Wallenberg stellte das Menu seines ländlichen Mahles im Hinausgehen zusammen. Lukullus speiste bei Lukullus. »Wir haben,« sagte er mit rührender Wehmut, »die letzten Austern dieses Jahres, und die ersten Forellen, getrennt durch eine Kräutersuppe, Potage printanier, worin die Küche meiner Frau Försterin exzelliert. Dann schreibt mir der Förster, der das Wild noch besser zuzubereiten als zu erlegen versteht, von einem Schnepfensalmi mit Trüffeln und von einem Auerhahn, der seine fröhliche Urständ auf unserer Tafel feiert, nachdem er acht Tage lang in kühler Erde begraben gelegen. Wir werden unter uns sein und vortrefflich bedient werden. Ich lasse im Eckpavillon servieren, mit der Aussicht über das Tal und in den Strom. Ach, lieber Roland, glauben Sie mir, die Rückkehr zur Natur ist das einzige, was uns nach allen Geschäften und Leidenschaften des Lebens als Erholung übrigbleibt.« – »Natur mit Trüffeln und Austern, frappierte Natur,« lachte Roland, indem er in den Wagen stieg. Siehe da, auf den Kissen lagen zwei Veilchensträuße, welche Seraphine herausgeschickt. »Das Fräulein,« meldete der Kutscher, »läßt den gnädigen Herren guten Appetit wünschen.« – Beide steckten die Blumen nachdenklich ins Knopfloch. – »Vorwärts, ins Forsthaus. Laß deine Pferde ausgreifen. Schlag sechs Uhr bist du droben.«