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Auch Theseus hatte seine besten Waffen angelegt zu der verhängnisvollen Begegnung. Als Beinschienen trug er hellgraue Frühlingspantalons, als Brustharnisch ein Gilet von dunkelblauem, englischem Samtplüsch mit schwarzen Jettknöpfen, als Mantel einen kurzen, schwarzen Gehrock mit Seidenkragen; sämtliche Stücke Meisterwerke aus den Ateliers von Dusautoy zu Paris. Sein Helm war der feinste Filzhut, der Handschuh, den er der Amazone hinzuwerfen gedachte, ein dänischer von erster Qualität. Aber das Antlitz des kampfbereiten Heroen zeigte nicht die gewöhnliche Munterkeit und Frische. Unter dem sonst so klaren Auge lagerten dunkle Schatten, die nicht von dem trefflichen Diner im Forsthaus stammen konnten, vielleicht eher von einer schlaflosen Nacht. Auf der Rückfahrt war zwischen ihm und Maler Roland noch ein langes und breites verhandelt worden über die Ehe im allgemeinen und diejenige des letzteren insbesondere. In verschwiegenem Kämmerlein hatte der Diplomat diese wichtigen Betrachtungen fortgesetzt, mit Anwendung auf sein eigenes Ich, auf das kritische Zeitalter, in dem er sich befand, und auf seine Zukunft. Daraus war spät, aber fest der Entschluß hervorgegangen – nun, ein sehr merkwürdiger Entschluß, den uns der Verlauf dieses unseres siebenten Kapitels in ganzer Größe und in allen seinen Folgen dartun wird.
Kurz nach zwölf Uhr läutete er bei Fräulein Lomond an. Da Beppo noch abwesend war, führte ihn Marie sofort ein, und zwar nicht in den Salon, sondern in das Kabinett, wo die Sängerin seiner harrte. Die erste gegenseitige Begrüßung, der Handkuß, so leicht er scheinbar gegeben und empfangen wurde, ein kurzes, vorbereitendes Schweigen verrieten die Erregtheit, in welcher sich beide befanden. Es lag eine elektrische Spannung in der Atmosphäre des kleinen Gemachs, aus dem alle Störer entfernt worden waren, auch Pitt und Fox und der geschwätzige Papagei. Als man Platz genommen, die Dame auf dem Eckdiwan, der Herr in einem Fauteuil an ihrer Seite, mit kluger Berechnung das Licht in seinem Rücken, hatte der Mann von Welt seine volle Sicherheit wiedergewonnen und schlug mit aller Fertigkeit das Vorspiel des Gesprächs an. »Mein Fräulein,« sagte er, seinen Hut neben sich auf den Teppich stellend, »Sie kennen die römische Geschichte?« – »So viel zu Norma oder der Vestalin nötig ist; wenig mehr.« – »Immer genug, um zu wissen, wie jener alte Römer hieß, der in den Senat von Karthago eintrat – oder war es anderswo? mein Livius ist mir nicht gegenwärtig – seine Toga feierlich in Falten schlug und den versammelten Vätern zurief: »Hier bringe ich Frieden und Krieg! Nun wählet!« – »Eine Kriegserklärung, Herr Graf? Sie erschrecken mich!« – »Ich will kurz und offen sein, mein Fräulein, wie der alte Römer oder ein neuer Diplomat. Ich erscheine bei Ihnen in außerordentlicher Sendung zweier Großmächte. Meine Toga enthält zwei Heiratsanträge für Sie.« – »Nur zwei? Es vergeht keine Woche im Jahre, die mir nicht mindestens ebenso viele bringt. Wo ein Kaufmann zugrunde gehen will, wenn ein junger Kavalier seinen Marstall standesgemäß zu montieren gedenkt, spekulieren sie zunächst auf meine Hand. Die Hand einer Sängerin ist Gemeingut. Lassen Sie sich von Signor Beppo in sein geheimes Archiv führen; ein großes, volles Fach desselben trägt die Aufschrift: Offerte di matrimonio.« – »Es versteht sich von selbst, daß ich mich nicht zum Träger solcher Botschaften hergeben würde. Was ich bringe, sind ernste, ehrenhafte Werbungen. In der linken Seite der Toga« – er faltete seinen Rockschoß zusammen – »steckt kein geringerer Freiersmann, als Herr Hans Heinrich Krafft; Sie sehen, wie seine Schwere die antiken Falten beinahe zerreißt.« – Seraphine lächelte, aber ohne jedes Zeichen von Überraschung. Der Gesandte fuhr fort: »Auf jedes Jahr, das er im Verhältnis zu Ihnen zuviel haben mag, legt er mit freigebiger Hand eine Million; sein Haus kennen Sie. Er bietet Ihnen, und das mit der ganzen Leidenschaftlichkeit später Neigungen, sein Herz.« – Das Lächeln verschwand. Die Sängerin spielte nachdenklich mit den Quasten und Fransen des Diwans. Nach kurzem Schweigen fragte sie: »Und das Gegengewicht zur Schwere dieses ersten Antrags? Karthago hatte zwischen Krieg und Frieden die Wahl, Herr Abgesandter. Wen birgt die rechte Seite der römischen Toga?« – »Einen Freund, mein Fräulein,« war die sehr ernste Antwort, »den Maler Roland.« – Seraphine wurde blaß bis in die roten Lippen hinein. Die Hand, die mit den seidenen Quasten tändelte, klammerte sich fest an sie, um ein tiefes Zittern zu verbergen. Es entstand eine schwüle Stille, in der man jeden leisen Pendelschlag der Vieux-Boule-Uhr auf dem Schreibtisch deutlich vernahm, beinahe auch noch den rascheren, lauteren Herzschlag der Amazone. Graf Wallenberg beobachtete sie scharf; er fühlte sich nicht weniger als sie bewegt. Nachdem sie ihre Fassung wieder erlangt, sprach sie, den diplomatischen Vermittler fest anblickend: »Sie nennen sich Rolands Freund, Herr Graf. Ich glaube Ihnen, daß Sie es sind. Haben Sie als solcher seine Werbung gutgeheißen?« – Er zögerte. – »Offen und ehrlich, wie ein alter Römer.« – »Wohlan, offen und ehrlich, nicht wie ein alter Römer, sondern als sein und Ihr Freund: Nein.«
Seraphine sprang auf, vielmehr sie wollte aufspringen. Der Graf ergriff ihre Hand, die eiskalt war, so kalt, daß er es durch den Handschuh hindurch spüren konnte, und hielt sie zurück. Er bat: »Hören Sie mich ruhig an und aus, mein Fräulein. Die Sache, eine sehr zarte und schwierige, steht folgendermaßen. Aus naheliegenden Gründen wünscht Herr Krafft seine Tochter vor sich vermählt zu sehen. Er will Fräulein Armgard keine Stiefmutter ins Haus führen. Nun weiß er oder glaubt als scharfsichtiger Vater zu wissen, daß seine Tochter eine geheime Neigung für ihren Meister hegt; vielleicht eine von diesem geteilte. Eine Verbindung zwischen Roland und Armgard scheint mir, und wohl nicht mir allein, nicht bloß äußerlich vorteilhaft für unseren Freund, sondern auch ein tieferes, dauerndes Glück in seinem Leben. Ich denke dabei gar nicht einmal an ihren Reichtum, vielmehr an die innere Wahlverwandtschaft der beiden verschiedenen Naturen. Sie ist ein kluges, feines Weltkind, mit gerade soviel Phantasie als nötig, um einen Künstler zu verstehen, zu fesseln. Sein Wesen, durchaus auf die ideale Seite des Lebens gerichtet, verlangt zur Ergänzung einigen gesunden Realismus. Nicht bloß in der Staatskunst, auch in der Ehe gilt die Lehre von der heilsamen Vereinigung ungleichartiger Größen. Seraphine Lomond und Roland, die gefeierte Primadonna und der berühmte Maler, sind ein herrliches Geschwisterpaar. Als solches haben beide jahrelang in den reinsten und edelsten Beziehungen zueinander gestanden. Die plötzliche Übersetzung dieser idealen Beziehungen in den positiven Ehestand wird ein gewagter Versuch. Die natürliche, ja notwendige Unstetigkeit jeder Künstlerlaufbahn widerstrebt der Verschlingung zweier in eine. Atelier und Bühne vertragen sich nicht. Der Maler braucht eine Hausfrau, welche die Sängerin nicht sein kann; die Sängerin einen Hausherrn, der im Maler nicht steckt, im Künstler überhaupt nicht. Wäre die Ehe nichts weiter, als ein freies Bündnis der Herzen, so gäbe es keine schönere, höher gestimmte, als eine Ehe zwischen zwei Künstlern. Aber sie ist mehr als das oder weniger; sie ist, trocken gesagt, ein Gesellschaftsvertrag mit höchst ernsten, äußerlichen, prosaischen Voraussetzungen, über welche keine Poesie des Gemüts hinweghilft. Dies meine Theorie, teuerste Freundin, nicht kurz und vielleicht auch in Ihrem hochfliegenden Sinne nicht gut, aber aus der Praxis gezogen, durch sie bewährt.« – »Und diese Theorie,« fragte Seraphine, die aufmerksam zugehört hatte, weiter, »diese Theorie haben Sie Herrn Roland vorgetragen?« – »Offen und ehrlich, wie Ihnen; gestern abend auf unserer Rückkehr vom Forsthaus.« – »Roland gibt Ihnen Recht?« – »Sein Verstand muß, mag sein Herz wollen oder nicht.« – »So will es nicht?« drang Seraphine in ihn ein, und es war, als ob eine heimliche Hoffnung, ein halber Jubelton aus ihrer letzten Frage klänge. – »Sein Herz ist, wie das Ihre, ein echtes Vollblutkünstlerherz. Es weiß nicht, was es will. Es träumt heute von Ihnen, morgen von Armgard. Aber unsanft wird es aus diesem Traume erwachen, sobald es eine Verbindung geschlossen hat, bei welcher die eherne Stimme des Verstandes nicht gehört worden ist.« – »Ich weiß genug und bitte Sie, mich einige Augenblicke zu entschuldigen.« Mit diesen Worten erhob sich Seraphine langsam und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Graf Wallenberg blieb allein; ein nicht unzufriedenes Lächeln spielte um den seinen, geschlossenen Mund. Theseus glaubte vielleicht den Gürtel der Amazone schon in der Hand zu haben? Gemach, gemach.
In dem dunkelsten Winkel des Schlafzimmers stand ein Betstuhl, darüber eine kleine, marmorne Bildsäule der Jungfrau mit dem Kinde. Vor ihr warf sich Seraphine nieder, zu einem Gebet ohne Worte: »Madonna, Mutter Gottes, gebenedeite Schutzpatronin, siehe, ich komme zu dir, nicht im hohlen Gaukelspiel einer Opernpreghiera, nein, Madonna, in heiligem, heißem Ernst. Steh mir bei zu dem großen Opfer, das ich bringe. Mein blutendes Herz leg ich dir zu Füßen, mit allen seinen geheimen, törichten, ach, und doch so süßen Wünschen. Nimm es hin. Es ist dein, da es sein nicht werden kann. Ihm gib alles Glück, das ich mir rauben muß...«
»Amen,« hauchte sie und stand auf. Die Kunst der Schauspielerin half der Natur des Weibes. Sie trat an die Toilette und kühlte mit der Haarpuderquaste das glühende Gesicht. Keine Träne im Auge, aber auch kein Lächeln auf den Lippen, erschien sie wieder vor dem doppelten Brautwerber. Ihr goldenes Haar leuchtete um die weiße Stirn, wie der Nimbus einer Märtyrerin. »Herr Graf,« sagte sie mit heller Stimme, »ich danke Ihnen für Ihren weisen Rat. Mehr noch, ich folge ihm. Sagen Sie unserem Freunde, daß sein Antrag mich hoch ehrt und erfreut, daß er beinahe mich gerührt hätte, daß ich aber bei reiflicher Überlegung der Stimme der Erfahrung und Freundschaft, der Ihrigen, Graf Wallenberg, Gehör gebe und für mich frei bleibe. Ich wünsche dringend, daß auch Roland durch Sie sich bestimmen lasse und mir bald, recht bald seine Verlobung mit Fräulein Krafft anzeige.« – Wallenberg küßte ihre Hand und erwiderte: »Meinen Glückwunsch zu Ihrem raschen, mutigen Entschluß. Doch welche Antwort bringe ich auf den schweren Antrag aus der linken Rocktasche?« – Die Sängerin besann sich eine Weile, ehe sie erwidertem »Wie hoch schätzen Sie Herrn Kraffts Vermögen, Graf Wallenberg?« – Er stutzte und sah sie erstaunt, fast mißbilligend an, indem er bei sich dachte: »Sie ist gescheit genug, die Millionen für die Jahre anzunehmen, wie ich vorausgesehen.« Worauf Seraphine, ebenso im Geist, entgegnete: »Wie falsch mich der welt- und menschenkundige Diplomat in diesem Augenblick doch beurteilt. Er meint, ich frage um das, was mir der Vater zubringt, während ich nur die Mitgift der Tochter für Roland kennen möchte, um zu wissen, ob sie mein Opfer aufwiegt?« – »Wie reich Krafft ist,« sagte Wallenberg darauf, »mag er selbst kaum sagen können. Unermeßlich, sagt die Börse. Indes, wer schätzt dergleichen unberechnete Größen richtig ab? Und welchen Schwankungen, welchen Gefahren bleibt ein solcher Besitz in meist künstlichen Werten immer ausgesetzt!« – »Wenn ich Sie recht verstehe, mein freundlicher Ratgeber, so warnt mich die Stimme des Verstandes auch vor dieser Verbindung, die doch augenscheinlich eine wahre Vernunftheirat heißen kann.« – »Vielleicht; vielleicht auch nicht.« – »Wie? Finden Sie denn hier nicht diejenigen Gegensätze in vollster Schärfe vor, welche Ihre Theorie der ungleichartigen Größen zu einer gelungenen Ehe verlangt? Atelier und Bühne vertragen sich nicht, sagen Sie. Sie sind zu nahe verwandt, um sich heiraten zu dürfen. Einverstanden. Welchen Grad der Seelenverwandtschaft entdecken Sie aber zwischen Theater und Börse? Meine Silberstimme, wie Meyer Hirsch sie nennt, und das Gold der Firma Hans Heinrich Krafft gäben, dächt ich, vereinigt einen guten Klang.« – »Sie haben mich falsch verstanden,« rief Wallenberg eifrig aus. »Das Herz soll nicht ganz schweigen bei dem wichtigsten Entschlusse des Lebens, die Vernunft nicht allein reden. Nur ein Kompromiß zwischen beiden liefert das richtige Resultat. Ihre Vermählung mit Papa Krafft wäre, wie sag' ich denn nur, zu verständig. Sie würde ihre künstlerische Natur, welche ihre vollberechtigten Ansprüche hat, nicht zu befriedigen imstande sein. Der Unterschied der Jahre...« – »Wird ausgeglichen durch eine Million für jedes. Lautete nicht so Ihr eigener Ausspruch, Herr Graf?« – »Den Sie verkannt haben, liebes Fräulein, wenn Sie ihn so deuteten, als sollten Sie sich gleichsam an den Meistbietenden verkaufen. Wenn Sie sich einmal entschließen, aus dem Glanz der Bühne in das Privatleben herabzusteigen...« – »Das werde ich, früher oder später, müssen; darum besser, es geschieht zu früh, als zu spät.« – »Wär es möglich, daß Sie in der Fülle der Kraft entsagen, auf dem Gipfel Ihres Ruhmes und Ihrer Herrschaft abdanken könnten?« – »Sie kennen die Kehrseite der Münze nicht, Graf Wallenberg, weil Sie nicht hinter die Kulissen geblickt haben. Ich darf Ihnen gestehen, daß ich des Theaters von Herzen müde bin. Es war meine Heimat nicht, sollte auch nicht Ziel meines Wegs, nur eine Station darauf sein. Glauben Sie mir, mein Freund, wenn ich morgen abend in der Amazone nicht nur der hiesigen Bühne, sondern dem Theater überhaupt Ade sagen müßte, so wäre dies Opfer nicht das schwerste meines Lebens.« – »Wenn das ist, so steigen Sie, nicht doch, so springen Sie mit gleichen Füßen von den Brettern, die die Welt bedeuten, auf jene, die die Welt sind. Verlassen Sie die Bühne, aber nicht, um in dem Kontor oder in dem bürgerlichen Salon Kraffts unterzugehen, sondern um von einer Höhe zur andern überzutreten, vom Theater in die Gesellschaft; herrschen Sie in Wahrheit und Wirklichkeit als Dame, wie Sie bisher als Primadonna nur in einer Welt des Scheines geherrscht haben.« – »Jetzt verstehe ich Sie nicht, Herr Abgesandter.« – »Weil ich vergessen habe, Ihnen zu sagen, daß die römische Toga eine dritte Tasche hat, die Brusttasche, gerade an der Stelle, wo das Herz schlägt.« – »Das Herz eines Diplomaten, das nur dem Verstande folgt.« – »Wenn es nicht dem Verstande auf und davon läuft.« – Graf Wallenberg griff in die bezeichnete Tasche und zog ein elegantes Büchlein, aus diesem eine Visitenkarte hervor, hellblau mit silberner Einfassung, auf welcher in Kupferstich zu lesen stand: Le Comte Auguste de Wallenberg, Chambellan et Ministre de ... und so weiter; zwei Reihen voll stolzer Titel. Er überreichte mit tiefer Verbeugung die Karte der Sängerin und sagte mit scherzhaftem Tone, der aber seine Aufregung nur schlecht verbarg: »Aller guten Dinge sind drei.«
Seraphine warf sich, laut auflachend, in die blauen Kissen zurück. – »Ist das meine Antwort?« – fragte erstaunt, wenn nicht verletzt, der Brautwerber für eigene Rechnung. – »Bester Graf, Sie verlangen doch nicht, daß ich Ihren Antrag für etwas anderes nehmen soll, als für das, was er ist: ein Impromptu, das humoristische Scherzo, mit welchem Sie Ihre ernste Symphonie schließen?« – »Auf Ehre, mein Fräulein, mir ist selten im Leben so ernst zumute gewesen wie heute. Eine unruhige Nacht gab mir Anlaß zur Einkehr in mich selbst, deren Ergebnis, so wenig schmeichelhaft und erfreulich es für mich ist, ich Ihnen mit ganz undiplomatischer Offenheit mitteilen will, damit Sie mich richtig verstehen.« – »Sie machen mich neugierig.« – »Ich feiere, was Sie just niemandem ohne Not zu wiederholen brauchen, allernächstens mein vierzigstes Wiegenfest.« – »Das beste Alter des Mannes.« – »Sehr verbunden. So sagt man ihm zum Troste, nachdem das gute Alter vorüber ist. Ich bin erzogen gleich den meisten meines Standes: durch das Leben; nachdem mir ein schlechter Hauslehrer von dem wenigen, das er wußte, das wenigste beigebracht hatte. Der zweite Sohn einer alten und reichen, aber auch zahlreichen Familie, trat ich in die Diplomatie wie meine jüngeren Brüder in die Armee, die Marine, die Kirche. Solange der ältere, der Majoratsherr, meine Schulden bezahlte, habe ich gehörig welche gemacht. Die Wucherer aller europäischen Hauptstädte kennen meine Unterschrift. Seit weder sie, noch mein Bruder mir mehr borgen, fange ich an, mich zu rangieren. Zwar steht meine Bilanz noch nicht so fest und günstig, daß ein vorsichtiger Hausvater, wie Papa Krafft, mir auf mein ehrliches Gesicht unbeschränkten Kredit geben würde, aber ich habe mich doch aus dem gröbsten herausgearbeitet. Eine solide Ehe wird mich ganz und gar auf festen Grund und Boden stellen, zu geschweigen davon, daß sie auch meinem Hofe wohlgefällig ist, der ungern sieht, wenn seine Vertreter unbeweibt sind und kein Haus machen. Das meinige ist ungastlich genug. Nur um den nächsten geselligen Verpflichtungen zu genügen, lasse ich alljährlich zur Karnevalszeit meine Schwester, Äbtissin des Stiftes zu Kaltenmünster, auf Besuch kommen. Sie dirigiert meine kleinen Hausbälle wie ihre Kapitelsitzungen mit finsterem Ernst. Bei meinen Garçondiners verschwindet sie, ehe der Kaffee erscheint, weil ihr die Zigarre ein Greuel ist. Kurz, meine Junggesellenwirtschaft läßt anderen viel, mir alles zu wünschen übrig, so daß eine eheliche Verbindung für mich die Erlösung von manchem Übel werden kann; obenan die Tyrannei meines Kammerdieners, neben welchem Signor Beppo wie ein weißes Lamm an Einfalt und Redlichkeit dasteht.«
Seraphine unterbrach die Geständnisse des Diplomaten. »Es kann Ihnen, Herr Graf,« sagte sie, »nicht an Gelegenheiten zu den glänzendsten Partien gefehlt haben.« – Er entgegnete kopfschüttelnd: »Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Auch suche ich Geld und Gut nicht allein, nicht einmal zuerst. Bisher hat nur der Verstand gesprochen, hören Sie auch mein Herz. Allerdings ist es nicht mehr jung genug, dies Herz, um die Erstlinge seiner Liebe darbringen zu können; aber es verlangt solche auch nicht zur Erwiderung, und es ist nicht so alt, daß es nicht einem edlen und schönen Weibe noch eine warme, würdige Stätte zu bereiten vermöchte.« – »Irre ich nicht,« lächelte Seraphine, »so war das Herz, von dem Sie sprechen, schon eine Zeitlang bewohnt von derselben jungen Dame, die Sie jetzt Herrn Roland bestimmen wollen.« – »Ich leugne nicht, daß ich mich für Armgard Krafft interessiert habe. Allein meiner Verheiratung mit ihr steht mein bekannter Grundsatz entgegen: derjenige von den gleichartigen Größen, die nicht zur Ehe stimmen. Sie ist ein kleines, kluges Weltkind, wie ich heute schon einmal gesagt habe. Deshalb paßt sie zu Roland, dessen tiefsinniges Künstlergemüt viel aus ihr machen wird, aber nicht zu mir, der ich auch nicht mehr bin als ein Mensch von dieser Welt, wenn auch ein alter. Für mich taugt nur eine außerordentliche Persönlichkeit, ein neues, meinem Leben bisher fremd gewesenes Element, ein Wesen höherer Art, mit einem Wort oder Namen: Seraphine. Sie erinnern sich, daß Verbindungen zwischen der ersten Gesellschaft und dem Theater nicht ungebräuchlich sind; der englische Pairsalmanach weist eine Reihe Beispiele auf. Die Aristokratie des Talents vermischt sich noch am leichtesten mit der Geburtsaristokratie, viel leichter, als mit dem massiven oder plattierten Geldadel. Ich kann mir uns beide als ein wohl assortiertes Paar denken. Über das heimliche Achselzucken meiner Standesgenossen, der sogenannten Mesalliance wegen, setze ich mich hinweg. Dies Vorurteil wird uns um so weniger berühren, als meines Bleibens in der hiesigen Residenz nicht lange mehr ist. Der erste Botschafterposten, der in Rom, Paris, London, Petersburg offen wird, gehört mir. Wir treten in eine vollkommen neue Sphäre, beginnen gemeinsam ein neues Leben. Ihr Talent, Ihr Geist, Ihre Schönheit, schmücken unser Haus; meine Stellung in der Gesellschaft erbaut Ihnen ein Piedestal, gediegener und erhabener als die Bühne. Ich geleite Sie auf Höhen des Lebens, von welchen Ihnen wunderbare Fernsichten aufgehen, und ein weiter Horizont sich erschließt. Sogar der Teilnahme an meinen Arbeiten werden Sie, mit Ihrer raschen Auffassung und vielseitigen Bildung, Geschmack abgewinnen. So sind Sie in jedem Sinne und Betracht zu meiner besseren Hälfte geeignet, wie keine andere. Um wie nahe Sie meinem Herzen stehen, das habe ich, wahrhaftig zu meiner eigenen Verwunderung erst erfahren, als die gleichzeitige Doppelwerbung mir die Gefahr Ihres Verlustes zeigte. Lassen Sie mich denn noch einmal, in ganzem, gutem Ernste, Sie für mich um diese reizende Hand bitten, welche Sie sowohl Roland wie Krafft versagen müssen, und gönnen Sie mir eine freundliche Antwort, wenn Sie sich von dem Schreck über die drei Freier an einem Morgen erholt und Ihren großen Entschluß, von der Bühne auf immer Abschied zu nehmen, zur Tat gemacht haben.«
Graf Wallenberg griff nach seinem Hut, er wollte aufbrechen. Seraphine winkte ihm, zu bleiben. Sie sprach: »Entziehen Sie sich meinem Danke nicht, Herr Graf. Den schulde ich Ihnen zuerst für Ihr Vertrauen, das ich erwidern werde; dann für Ihren Antrag, der, ehrenvoll und schmeichelhaft an sich, für mich den besonderen Vorzug hat, zu rascher Entscheidung über schwebende Lebensfragen mich zu nötigen. An dem Scheidewege, an welchem ich angelangt bin, zwischen Sein und Nichtsein, Bühne und Haus, alter oder neuer Welt, da tut die Hand eines Führers, eines Freundes wohl. Ich fasse die Ihrige mit Zuversicht.« – »Und behalten sie? Sagen Sie Ja, Seraphine.« – »Übereilen wir nichts. Für heute mag es genug sein an dem zweimaligen Nein, das ich Ihnen für Herrn Krafft und... für Roland zur Antwort gebe.« – »In den Korb für Papa Krafft hoffe ich den Brautkranz seiner Tochter legen zu können, zum Troste des würdigen, alten Herrn, zum Heil unseres Freundes Roland. Welchen Bescheid aber habe ich auf meine eigene Anfrage von Ihnen zu erwarten?« – »Lassen Sie mir Zeit, bis wenigstens meine hiesigen Verpflichtungen gelöst worden sind, und... bleiben Sie mir nahe in den Tagen des schweren Kampfes mit mir selbst.« – »Diese Erlaubnis empfange ich als eine günstige Vorbedeutung für meine Werbung.« – »Des einen dürfen Sie gewiß sein, daß ich Ihrer wert bin, Graf Wallenberg. Diese Hand kann ich zum ewigen Bunde ohne Beben in die Rechte jedes Ehrenmannes, auch des besten, des höchstgestellten, legen; sie ist rein von jedem Makel.« – »Wer zweifelt daran, meine teuerste Seraphine?« – »Im stillen Sie selbst. Leugnen Sie nicht, Wallenberg. Sie äußerten eben, daß Sie die Erstlinge der Liebe weder bieten könnten, noch fordern wollten. Und dann kenne ich unsere vornehmen Herren. Ihre Jugend bringen sie zu in dem zweifelhaften Dunstkreise der Demimonde, ihr reiferes Alter innerhalb jener chinesischen Mauer, mit welcher sich die Gesellschaft, die vorzugsweise so genannte, nach außen abschließt. Die Begriffe von weiblicher Tugend und Würde, die sie aus beiden Sphären mitbringen, sind nicht die besten. Geraten sie nun gar in Berührung mit dem Pariavolk des Theaters, so kann der Herr Baron, der Herr Graf, der Herr Fürst ohne weiteres als Cäsar verfahren: kommen, sehen, siegen. Aus kurzer Hand wirft er der Tänzerin, der Schauspielerin sein Schnupftuch zu, überzeugt, daß es nicht zurückgewiesen wird, wenn ein Brillantschmuck oder eine Brieftasche voll Banknoten darin verborgen ist.« – »Welche finstere Lebensanschauung spricht aus Ihnen.« – »Es ist diejenige Ihres Standes, Herr Graf, aber, dem Himmel sei Dank, nicht die richtige. Ich stehe ein für den meinigen, obwohl ich für ihn nicht geboren und erzogen bin. Es gibt im Halbdunkel, im Schmutz der Bühne noch reine und starke Weiblichkeit, so gute wie in Ihren Salons, in den Stuben des Bürgerhauses, ja bessere, weil sie schlimmere Proben zu bestehen hat. Über die wohlfeile Tugend Eurer jungen Mädchen aus gebildeten Ständen, die das Auge einer nur zu erfahrenen Mutter nicht zu täuschen vermögen und dafür, sobald sie ihm entronnen sind, den Ehemann hinter dem Rücken oder auch ins Gesicht hinein belügen und betrügen! Rechnet doch ab, wo am meisten verführt und entführt, Ehe versprochen und gebrochen wird, auf unserem Theater oder auf dem Eurigen! Und doch – wie ausgesetzt sind wir von dem ersten Schritt an auf unserem hohen, hellen, aber schlüpfrigen Wege den feinen und plumpen Werbungen einzelner, dem berauschenden Beifall der Menge, dem Aufruhr unserer eigenen Sinne, dem zwanglos freien Verkehr mit den gefährlichsten Männern! Wer da feststehen will, muß sich auf sich verlassen, muß sich selbst bezwingen können. Mit Stolz darf ich sagen: ich habe es getan. Mein Leben liegt offen unter dem Auge der Welt; es ist kein Fehltritt darin. Meine Vergangenheit wird nicht den geringsten Schatten werfen in das Haus, das ich als Frau betrete, und wäre es das glänzendste.«
Die Künstlerin war aufgestanden, fortgerissen vom Strom ihrer Empfindungen, durch das Bewußtsein ihres Wertes gehoben. Überwältigt fiel ihr Wallenberg zu Füßen mit dem Ausruf: »Sie sind ein Engel, Seraphine! Seien Sie mein guter Engel; ziehen Sie mich hinauf in Ihre lichte Höhe!« – Sie erwiderte, abwehrend und einlenkend: »Nicht so, mein Freund! Stehen Sie auf, ich bitte Sie. So schmeichelhaft es ist, einmal einen Grafen vor sich knien zu sehen, statt der Herzöge und Ritter vom Theaterzettel – es besticht mich nicht. Wir sind von der Bühne daran gewöhnt.« – »Sie spotten, Seraphine.« – »Ich will nur Sie und mich zurückführen in das verlassene Gleis eines ruhigen, ernsten Gespräches unter Freunden. Dies geschieht am besten, indem ich Ihnen von der nüchternsten, niedrigsten Prosa des Lebens, vom Gelde spreche. Setzen Sie sich noch einen Augenblick zu mir.« – »Sie legen es darauf an, mich zu verletzen.« – »Warum? Haben Sie mir Ihre Schulden gebeichtet, so darf ich Ihnen meine Armut bekennen. Zwischen uns soll keine Täuschung walten; ich weiß, daß Sie nicht nach Geld freien; die reichste Erbin würde Ihnen nicht entgehen. Sie aber müssen wissen, daß ich nicht reich bin, nicht einmal wohlhabend für Ihre Verhältnisse, mag mich das Gerücht auch dafür ausgeben. Meine Ernten zählen erst seit einigen Jahren. Ich brauche viel für andere, nicht wenig für mich. Wie hoch sich mein erworbenes Vermögen beläuft, ist mir nicht bekannt. Als ich meinen getreuen Finanzminister, Herrn Krafft, zum letzten Male danach fragte, vor einem Jahre etwa, antwortete er mit der runden Summe von hunderttausend Talern; er fügte hinzu, nur das erste Hunderttausend sei schwer zu erwerben, die folgenden kämen von selbst nach, wenn man fein vernünftig wäre und das liebe Kapital ungestört arbeiten ließe. Ich fürchte, ich bin nicht vernünftig gewesen; ich habe gezogen, gezogen, gezogen, zur gewaltigen Unzufriedenheit meines sparsamen Verwalters, mit dem ich heute wieder abrechnen wollte. Das geht nun natürlich nicht an. Und doch muß ich Ordnung in meine Angelegenheiten stiften, Papa Krafft seiner Vormundschaft entheben, die er nun nicht länger wird führen mögen, Signor Beppo entlassen oder in eine strengere, verantwortliche Stellung bringen. Eine Menge verdrießlicher Geschäfte. Auch für sie bin ich an den Rat des erfahrenen Freundes gewiesen.« – »Befehlen Sie über mich.« – »Sobald ich frei bin, werden wir eine lange, lange Konferenz miteinander halten; nach der Sonntagsoper.« – »Darf ich Sie vorher nicht besuchen?« – »Wenn Sie die Bühne nicht scheuen, sind Sie mir im zweiten Zwischenakt willkommen.« – »Also auf Wiedersehen auf dem Schlachtfelde, schöne Amazone.« – »Morgen abend, Theseus.«
Entzückt küßte der Graf ihre Hand und ging. Als er schon in der Tür war, rief ihn Seraphine zurück. »Graf Wallenberg!« – »Mein Fräulein?« – »Ich habe noch etwas auf dem Herzen.« – »Herunter damit! je mehr, desto besser.« – »Etwas, das ich bisher niemandem in der Welt offenbart, keinem Kollegen, nicht einmal dem brüderlichen Freunde Roland. Der heutige Tag, das Gespräch mit Ihnen, die Nähe der Entscheidung über mein Schicksal öffnen alle verrosteten Schleusen in meinem Inneren.« – »Wenn Sie wüßten, wie glücklich mich Ihr Vertrauen macht!« – »Haben Sie noch eine Viertelstunde für mich übrig?« – »Mein Leben gehört Ihnen, Seraphine!« – Sie trat an den Schreibtisch, öffnete ein verborgenes Fach und nahm eine kleine, mit blauem Samt überzogene Schatulle heraus, auf deren Deckel ein Wappen in Silber gestickt war; Samt und Stickerei sahen verblaßt, abgeschossen aus. Dabei rang sich ein tiefer Seufzer aus ihrer Brust. Den geheimen Inhalt dieser Schatulle hatte sie vor Rolands Augen enthüllen, ihm, als Erwiderung seines Kindermärchens, erzählen wollen, was nun ein anderer hören sollte... Nachdenklich sank sie in den Sessel am Schreibtisch und stützte den Ellbogen auf diesen, den Kopf in die Hand; Wallenberg hatte ihr gegenüber Platz genommen, sichtlich gespannt und unruhig. Nach einer ziemlichen Pause begann sie mit trübem Lächeln: »Wie sagten Sie vorhin, Wallenberg? Sie würden sich über das Vorurteil Ihrer Standesgenossen gegen die Mesalliance mit mir hinwegsetzen; war es nicht so?« – Er nickte. – »Diesen immerhin gewagten Sprung könnte ich Ihnen ersparen, wenn wir so weit miteinander wären. Mein Übergang von der Bühne in die Gesellschaft würde nur eine Rückkehr sein.« – »Wär's möglich?...« – »Daß eine Künstlerin Ihrem Stande angehörte, Herr Graf? Warum nicht?« – »Sie sind von den Unsrigen?« jubelte Wallenberg auf. »Nun leugne man noch die Stimme der geheimen Blutsverwandtschaft, die sämtliche einzelnen Glieder unseres Standes zu einem und demselben Körper macht. Auch wenn wir uns nicht kennen, erkennen wir uns, ahnen uns an jenem unnennbaren Etwas, das...« – »Das Sie an mir seit jahrelangem Verkehr nicht haben entdecken können,« unterbrach ihn lächelnd Seraphine, »und das Sie in derselben Minute finden wollen, in welcher ich Ihnen das Geheimnis verrate. Lassen wir das, mein bester Graf, und erlauben Sie mir, in dieser Sache anderer Ansicht zu sein und zu bleiben als Sie, vielleicht nur, weil ich nicht zum deutschen Adel gehöre.« – »Ich erinnere mich, daß die Sage ging, Sie seien schwedischer Abstammung.« – »Ganz richtig; das Abendblatt erzählte, da ich mein hiesiges Engagement antrat, ich käme aus fabelhaft hohem Norden, etwa aus Isenland, wie die grimmige Brunhild, meine rothaarige Ahnfrau. Worauf die Morgenzeitung halboffiziell berichtigte, meine Heimat sei vielmehr Sizilien, mein Geschlecht normannischen Ursprungs. Beide waren gleich gut unterrichtet, wie das zu geschehen pflegt. Ich bin eine Schottin.« Seraphine schloß die kleine Schatulle auf und legte ein Päckchen Briefe, vergilbte, zum Teil schwarz geränderte Blätter, das Porträt eines Greises und die Bleifederzeichnung eines hochländischen Schlosses auf den Tisch. »Hier haben Sie die Adresse, das Bild meines Vaters, hier mein Vaterhaus. Nehmen Sie, lesen Sie!« Sie senkte noch tiefer ihr Haupt und verhüllte mit beiden Händen die blauen Nixenaugen.
Graf Wallenberg ergriff mit einiger Scheu das dargebotene Rätsel. Auf den Briefen stand: To the Earl of Menteith, Menteith-Castle, near Callander, Scotland. Das Porträt, eine verblichene Miniatur, zeigte ein Gesicht mit strengen, düsteren Zügen, Haar und Brauen schneeweiß; in die Stirne gedrückt die schottische Mütze, blau und weiß gesäumt, mit der Spielhahnfeder; um die Schultern geschlungen den blau und weiß gewürfelten Plaid. Menteith-Castle erschien als ein grauer, halbverfallener Bau, mit hohen Mauern und schweren Türmen, mitten im Moor und Heide gelegen; im Hintergrunde ein melancholischer See, von Bergen überragt und beschattet.
Nachdem der Graf geraume Zeit in die moderduftigen Zeugnisse einer fernen, fremden Vergangenheit geblickt hatte, begann er mit leiser Stimme: »Ich begegne hier einem der ehrwürdigsten Namen aus der schottischen Geschichte.« – »Er ist gestrichen,« erwiderte die Sängerin in dumpfem Tone, »aus dem goldenen Buche des Adels der drei vereinigten Königreiche, aus der Reihe der Lebendigen. Der letzte Graf von Menteith liegt begraben in der Gruft seiner Ahnen auf Inch-machome, das heißt auf der Insel der Ruhe, im See von Menteith. Seine einzige Tochter, Lady Mary Menteith, ist für die Welt ertrunken in den Tiefen des Loch Lomond... Sie sitzt vor Ihnen, Wallenberg!« – »Seraphine!?« – »Seien Sie ruhig, mein Freund! Wenn ich Ihnen mein Leben ausführlich erzählen wollte, würden Sie keine Kriminalgeschichte neuesten Stiles hören, allerdings aber ein Stück Romantik aus Walter Scotts Schule, oder auch die Sensationsnovelle eines neuenglischen Blaustrumpfs. Ich könnte anfangen wie Lady Milford in der großen Szene des zweiten Aktes... Doch ich will Sie nicht erschrecken, Herr Major Ferdinand von Walter. Es kommt kein Fürst in dem ziemlich einfachen und kurzen Roman vor. Sie müssen ihn kennen, um nicht irre an mir zu werden. Der Schluß – bleibt Ihnen vielleicht anheimgegeben.
Mein Vater, der letzte Graf von Menteith, war ein schottischer Edelmann von echtem Schrot und Korn, katholischen Glaubens, ein begeisterter Anhänger der Überlieferungen seines Hauses und seines Volkes. Wie der Häuptling eines Clans saß er auf seinem Stammschloß, in steter Fehde mit den Nachbarn, auf Händen getragen von den Seinigen, denen er als ein vortrefflicher Gutsherr, ein Laird von altem Schlage, in patriarchalischem Regiment vorstand. Wenn er seinen erblichen Sitz in der Pairskammer zu London einnahm, machte er dem Ministerium eine ziemlich unfruchtbare, aber desto erbittertere und hartnäckigere Opposition. Er haßte Graf Derby und Lord Palmerston mit gleicher Glut, donnerte gegen die Hochkirche und schwärmte, mit Kindeseinfalt und Greisenblindheit zumal, für eine unmögliche Selbständigkeit Schottlands unter einem eigenen, rechtgläubigen König, für Herstellung der Clans, der Adelsvorrechte, für Staats und Gesellschaftsformen, die Märchen geworden sind und niemals wieder zur Wirklichkeit werden können.
Zweimal war er vermählt gewesen, ohne einen Erben zu sehen. Seine stattlichen Besitzungen fielen, wenn er ohne männliche Nachkommenschaft verstarb, an Verwandte, zwar auch Schotten, aber protestantischer Religion und englischer Politik. Ein unerträglicher Gedanke für ihn. Im sechzigsten Lebensjahre schritt er zu einer dritten Ehe. Vier Jahre später fühlte sich Lady Menteith gesegneten Leibes. Sein Jubel kannte keine Grenzen. Daß das Kind ein Knabe sein mußte, stand über jedem Zweifel. Die Halle von Menteith-Castle wurde nicht leer von Gästen, von Freudenfesten. Aus den entlegensten Gegenden stiegen sie herab, die Söhne des Clans, um ihren Laird zu beglückwünschen, auf die Gesundheit des jungen Herrn zu trinken. Sein Name war schon bestimmt: David, der Name der alten Könige Schottlands. Zimmer wurden für ihn hergerichtet, die sonnigsten des finsteren Schlosses, kleine Gebirgspferde eingestellt zu seinem Dienst, eine Amme geworben, die kein Wort Englisch sprach, ein Erzieher, bei dem er aus Ossian, nach dem Urtext lesen lernen sollte. Lady Menteith verging vor Angst und Sorge über das tolle Gebaren, das sie Gott versuchen nannte; sie war ein schwaches Weib, das vor dem Earl zitterte, unterwürfiger als ihre niedrigste Magd. Da ihre Stunde gekommen, gab sie – mir das Leben und verlor das ihrige aus Schreck über die furchtbare Täuschung. Zehn Tage nach ihrer Entbindung ward sie zur Ruhe gebettet, auf dem Eilande der Ruhe, neben ihren beiden Vorgängerinnen.
Ich bin fünf Jahre alt geworden, Wallenberg, ohne meinen Vater zu sehen... Er hat mich gehaßt, Wallenberg. Wenn ein Schrei seines unschuldigen Kindes zufällig sein Ohr traf, geriet er in schäumende Wut. Meine Wärterin, die, mich im Arme tragend, ihm eines Tages auf der Wendeltreppe des Wasserturmes begegnete und nicht rasch genug ausweichen konnte, jagte er mit der Hetzpeitsche aus dem Hause, obwohl sie ihre Schürze über mich geworfen hatte... Vorüber, o vorüber!
An körperlicher Pflege ging mir nichts ab. Ich wuchs gedeihlich auf unter den Kindern der Schloßdienerschaft, der Fischersleute am See Menteith. Am Abend meines sechsten Geburtstages holte mich der alte Kammerdiener des Earls, im stillen mein zärtlicher Freund, in die Bibliothek. ›Ihr sollt zum Laird kommen, Miß Maria,‹ sagte er. – ›Warum soll ich?‹ – ›Er ist Euer Vater, wißt Ihr.‹ – ›Ich weiß.‹ – ›Ihr müßt ihn lieb haben.‹ – ›Muß ich?‹ – Er seufzte, ergriff meine Hand und führte mich hinauf. Er war viel bewegter als ich, da wir zusammen die steinernen Stufen langsam emporstiegen und in das hohe, dunkle Zimmer traten. Der Earl saß im Lehnstuhl am Kamin, in welchem ein mächtiges Feuer loderte. Ich sehe ihn noch, den weißen Kopf wie mit Blut übergossen vom Widerschein der Flammen. Scheu stand ich an der Tür, die Walter, der Kammerdiener, hinter mir geschlossen hatte. Wir waren allein. Mir graute aber gar nicht. Da sich der alte Mann im Lehnstuhl nicht rührte, ging ich gerade auf ihn los und sagte in gälischer Mundart laut, was mir Walter auf der Treppe einstudiert hatte: ›Gott segne meinen lieben Herrn und Vater!‹ – Mit einem Male fühlte ich mich von zwei bebenden Armen emporgehoben, an seine Brust gedrückt, daß ich vor Schmerz hätte aufschreien mögen, und meine Stirn von einem Tränenstrom überschwemmt, so heiß, daß mir ist, als brennten mir heute noch die Tropfen bis in alle Haarwurzeln hinein.
Von dieser Dämmerstunde an bis zu der Nacht, worin mein Vater starb, bin ich wenig mehr von seiner Seite gekommen. Er hat mir später gesagt, daß der Ton meiner Stimme ihn so mächtig bewegte, ihn bekehrte zu dem neuen Leben, das für uns beide begann. Ich schlief neben seinem Schlafgemach, teilte seine Mahlzeiten, folgte ihm auf einem sicheren Pony zur Jagd, fuhr mit ihm in den See, zu fischen und Wasservögel zu schießen. Oftmals, wenn ich in gestrecktem Galopp ohne Bügel mit fliegendem Haare in den Schloßhof sprengte, nachdem ich mein Pferdchen in die Schwemme geritten, oder mit meiner kleinen Büchse ein Rebhuhn mitten aus der aufgehenden Kitt herunterlangte, klopfte der Vater freudestrahlend meine glühenden Wangen und sagte zu Walter: ›Würde sie nicht einen kapitalen Buben gegeben haben?‹ Worauf sich der alte Getreue immer abwandte und schmerzhaft seufzte. Allmählich lernte ich Sinn und Grund dieses Wunsches begreifen, der unwillkürlich aus dem gebrochenen Herzen meinet armen Vaters hervorquoll, wie Blut aus einer schlecht geheilten Wunde. Ich erinnere mich, daß es eine Zeit gab, wo ich niemals mein Nachtgebet sprach, ohne aus eigener Erfindung hinzuzufügen: Maria, heilige Mutter Gottes, gebenedeite Schutzpatronin, laß mich doch morgen früh als ein Knabe aufwachen, damit Pa, mein lieber Pa nicht mehr traurig ist! Dieser kindliche Wunsch verwuchs so fest mit mir, daß ich, auch nachdem ich zu reiferen Jahren gelangt, mich ernsthaft fragte, ob es einem Mädchen gar zu schwer fallen würde, die Eigenschaften eines Knaben zu erwerben? In allen männlichen und ritterlichen Übungen tat ich es dem wildesten Jungen gleich: ich ritt, fuhr, focht, schwamm, schoß mit jedem um die Wette und war dabei mit zwölf Jahren eine vollkommen entwickelte Jungfrau. Von weiblichen Künsten und Fertigkeiten besaß ich hingegen nur eine: Gesang und Musik; ein Erbstück meiner Mutter, die eine vorzügliche Harfenspielerin gewesen war und schottische Balladen vorzutragen wußte wie eine Meisterin. Allein im Spinnen, Stricken, Nähen, Sticken blieb ich schauderhaft zurück; ich erinnere mich, daß eine Jagdtasche, die ich Papa auf seinen Namenstag verehrte, mit zwei Kaninchen durch meiner Hände Arbeit verherrlicht, den alten Herrn in die ausgelassensten Lachkrämpfe versetzte.
Nachdem ich vom Schloßkaplan die heilige Firmung erhalten, sollte ich ein Fräulein werden, in die Welt treten. Doch war von geselligem Zwang nicht viel die Rede. Wir lebten einsam, nur mit wenig Nachbarn verkehrend. Der Earl nahm mich aber von nun an mit auf weitere Reisen. Wir besuchten Edinburgh, die Seen, die Berge, die Inseln unserer herrlichen Heimat. Ich lernte ihre Geschichte kennen, und die unseres Hauses, seine glorreiche Vergangenheit, seine dunkle Zukunft. Auch in meine eigene ließ mich der Vater einen bangen Blick tun. Ich war dem Erben seines Besitztums zur Frau bestimmt, einem künftigen Herzog, dem Sohne eines schottischen Vaters, einer englischen Mutter, die in London zu leben pflegten. In den Schulferien besuchte uns einmal der Jüngling, der meines Alters sein mochte, aber ein blasses, frühreifes, wenn nicht welkes Bürschlein, mit Sitten eines Mannes und dem verweichlichten Dialekte der Hauptstadt. Er sagte statt Menteith-Castle nie anders als Menteith-Cassel, und betrachtete dasselbe, mich eingeschlossen, bereits als sein Eigentum. Bei einem Morgenritt mit mir zwang ich ihn durch Hohn und Spott, über einen Graben zu setzen, den ich mit Leichtigkeit genommen hatte. Er stürzte und brach den Arm dabei. Das vergab er mir niemals, mit um so größerem Rechte, als ich ihn noch derb auslachte und die Pflege des Kranken den Dienern und Mägden überließ. Ich war ihm zuwider, er mir. Daß er bei der Einrichtung des gebrochenen Armes ohnmächtig wurde, schien mir verächtlich. Ach, mein Freund, die Amazone ist in mir nur allzuzeitig zum Durchbruch gekommen!
In meinem fünfzehnten Jahre, seinem achtzigsten, starb mein Vater. Von London, von Edinburgh, von Glasgow berief der Telegraph die Leidtragenden, die lachenden Erben, die Advokaten, die Notare, die Schreiber; ein langer, schwarzer Zug krächzender, beutegieriger Raben. Die Totenglocke auf dem kleinen Eiland der Ruhe im Menteithsee wimmerte den ganzen Tag, bis sie ihn, mit Fackeln und auf Kähnen, hinübergeschafft in seine letzte Ruhestätte. Das Landvolk war meilenweit aus der Umgegend herbeigeströmt, ihm das Geleit zu geben und in der Halle den Leichenschmaus zu feiern. Ich stand allein, auf Gottes weiter Welt mutterseelenallein, in einem Erkerfenster des Wasserturmes und sah die Fackeln durch den Nebel glimmen wie Funken und hörte, vom Nachtwind herübergeweht, die Klänge der Totenmesse. Das war eine bange, bange Nacht!
Am nächsten Morgen hing über dem Hauptportal des Schlosses das große Trauerwappen der Earl von Menteith. Von den Türmen flatterte, mit Flor umwunden, ihr blauweißes Banner. Das Kabinett meines seligen Vaters, die Familienpapiere enthaltend, war mit mächtigen Siegeln verschlossen. Fremde Menschen gingen im Hause ab und zu, geschäftig, lärmend, zum Teil lustig. Ein Herr, den ich in Edinburgh flüchtig gesehen hatte, stellte sich mir als mein Vormund vor und kramte einen tiefen Sack voll Akten, Rechnungen, Briefen aus. ›In vier Wochen,‹ sagte er, ›wird das Testament des verlebten Earl von Menteith in der Halle feierlich eröffnet und gelesen werden. Seine Gnaden der Herr Herzog kommen zu der Handlung von London herauf.‹ Mir ward unheimlich zumute. Die schweren Türme, die dicken Mauern drückten auf mein junges, wundes Gemüt. Ich mußte fort, um jeden Preis und ohne Verzug fort. Mit Einwilligung meines Vormunds und der Anverwandten, die mir übrigens teilnehmend und gütig begegneten, zog ich mich mit Walter, der Haushälterin und meiner Jungfer zurück auf ein kleines Jagdschloß, das sich der Earl von Menteith hart am Ufer des Lomondsees erbaut hatte, und zwar an der schönsten Stelle desselben, unweit Tarbet, gegenüber der malerischen Felspartie, welche unter dem Namen: Rob-Roys Gefängnis bei allen Touristen berühmt ist. Rob-Roys-Lodge hieß die schmucke, freundliche Villa, im gefälligsten Cottagestil erbaut. Von ihren Fenstern und Galerien hat man eine wunderbare Aussicht auf den König der schottischen Seen, Loch-Lomond, und den Riesen der schottischen Berge, Ben-Lomond, der seinen breiten Fuß in die weite, glänzende Wasserfläche taucht und das spitze Haupt fast immer in graue Nebel und Wolken streckt. Dort fand ich, was ich zunächst brauchte: Ruhe und Abgeschiedenheit. Ich fing ein zweites Leben an, von dem ersten gar sehr verschieden. Meine Flinte rostete über dem Kamin, die Ponys wurden feist und faul im Stalle. Ich las, schrieb, zeichnete, sang. Nur die Seefahrten gab ich nicht auf. Mit Walter oder Jeanie, meinem Mädchen, welches Ruder und Steuer ebensogut wie ich zu führen verstand, bestieg ich den kleinen Nachen und kreuzte auf Loch-Lomond, bald längs den Ufern, bald quer hinüber, stundenlang. Man ließ mich gewähren. Erst als ich das siebzehnte Jahr erreicht hatte, entboten mich die Verwandten nach London, wo ich meine erste Saison machen, an Hof und in die Welt kommen sollte, mit allem Glanze, die der letzten Tochter der Menteith gebührte. Ich folgte ungern und nur insoweit leichten Herzens, als mein Zukünftiger nicht daheim, sondern auf dem Kontinent verweilte. Die Reise entschied über mein Leben. Im Theater der Königin hörte ich die erste Oper, eine italienische. Als der Vorhang fiel, war der in meinem Innern aufgegangen: die Bühne, nicht das stolze Herzogshaus an Belgrave-Square, stand als höchstes Ziel, unverrückbar, vor meinen flammenden Augen. Was kümmerten mich Bälle, Routs, Drawing-Rooms? Abend für Abend, bis tief in die Nacht hinein, saß ich in dem finstersten Winkel der herzoglichen Loge, das süße Gift in tiefen Zügen einsaugend; den Tag über, den lieben, langen Sommertag, hinter der Harfe und dem Flügel, die geschicktesten Meister des Gesanges, der italienischen Sprache an meiner Seite. Meine Verwandten störten mich nicht, in dem Wahne, meine Leidenschaft für die Musik sei die Tür, durch welche ich aus meiner Wildnis in die große Welt eintreten werde. Umgekehrt. Ich wollte durch sie ihrer großen Welt entschlüpfen und einer verhaßten Verbindung, deren Vollzug beabsichtigt war, sobald ich das neunzehnte Jahr erreicht haben würde.
Im Herbst, am Schlusse einer besonders langen und reichen Saison, kehrte ich nach Rob-Roys-Lodge zurück, den Plan meiner Flucht fertig und fest im Kopfe. Der einzige Vertraute desselben war Walter, der mich unterstützen, mich begleiten mußte. An Geld gebrach es mir nicht; aus der Freigebigkeit meines Vaters und meinen reichen Jahreseinkünften hatte ich Ersparnisse gemacht, die mich für einige Zeit jeder Sorge überhoben. Als Walters Nichte, auf seinen Namen und Paß wollte ich reisen. An einem nebligen Oktobermorgen bestiegen wir zwei das kleine Boot und fuhren über den See, an einem öden Punkte des jenseitigen Ufers unbemerkt aussteigend. Der Kahn ward in die höher als gewöhnlich gehenden Wellen zurückgestoßen, mein Hut, mein Tuch, Walters Plaid, die Ruder in das Wasser geworfen. Wurden sie gefunden, so galten wir unfehlbar für verunglückt, ertrunken. Und so geschah es denn auch. In Neapel legte mir der alte, getreue Freund meiner Kindheit und unseres Hauses mit vorwurfsvollem Kopfschütteln das englische Zeitungsblatt vor, in welchem unter der Rubrik: ›Lamentable death by accident‹ gemeldet stand, der letzte Zweig vom Stammbaume der Menteith habe in einem Sturme auf Loch-Lomond ein frühes und trauriges Ende gefunden. In Wahrheit hatte ich mit meinem neuernannten Oheim auf einer kleinen Station das Dampfboot des Sees bestiegen, Balloch, und dort die Eisenbahn nach Glasgow gewonnen, den Londoner Nachtzug erwischt, in Catherine-Wharf das bereitliegende belgische Postschiff erreicht und am nächsten Nachmittag in Ostende den Boden des Festlandes glücklich betreten. Alles mit englischer Geschwindigkeit und Genauigkeit. Von Ostende ging es über Paris, Marseille nach Neapel. Zwei Jahre später stand ich in San Carlo zum ersten Male auf den Brettern, getauft nach dem See, in dem ich untergegangen war, ungefähr zu derselben Zeit, wo ich in der Heimat hätte an den Traualtar treten müssen. Ich debütierte als Donna del Lago, als Fräulein vom See, in Rossinis köstlicher Oper. Mit welcher Empfindung ich, im Hintergrunde des Theaters in einem Kahne sitzend, die ›holde Morgenröte‹ begrüßte, welche die heimatlichen Berge um Loch-Catherine mit transparenter Theaterbeleuchtung vergoldete, brauche ich nicht zu beschreiben. Mein Walter hatte den entscheidenden Abend, leider, nicht erlebt; er starb am Heimweh oder am Herzschmerz über die unverwindbare Schmach, daß die letzte Gräfin von Menteith dem italienischen Bettelvolk für Geld was vorsingen wollte.
Ich stehe am Ende meiner Novelle, Wallenberg. Daß ich in Neapel Roland gefunden, später Sie, und wie sich von San Carlo aus meine Künstlerlaufbahn gestaltet, wissen Sie. Ob sie morgen endigt, was folgen mag...? Das weiß der Himmel.« –
Die Sängerin schwieg, erschöpft und zugleich erregt von ihren Erinnerungen. Graf Wallenberg, der ihr mit wachsender Teilnahme zugehört hatte, ergriff und küßte, sich zum Abschiede erhebend, noch einmal ihre Hand. »Ich will Ihnen jetzt nicht aussprechen, was ich empfinde,« sagte er mit gerührter Stimme, »und wie tief Ihre wunderbare, märchenhafte Mitteilung mich erschüttert hat. Doch nur mit den heitersten Hoffnungen scheide ich von Ihnen, um wiederzukehren, bald wiederzukehren. Fassen Sie Mut, meine teure Freundin, und einen Ihrer würdigen Entschluß. Der erste Teil Ihres Lebens liegt versunken in Seestiefen, ein köstlicher Hort, den ich zu heben und zu bergen gedenke. Möge den zweiten der Scheiterhaufen der Amazone am morgenden Abend weihevoll verzehren. In den dritten führt, wenn Sie mich durch ein Jawort beglücken, meine Hand Sie ein; heut übers Jahr herrscht die auferstandene Gräfin Menteith als meine angebetete Gemahlin im Botschaftshotel zu London, auf ihrem natürlichen Grund und Boden, an der Spitze des ersten Hauses der ersten Stadt der Welt.« –
Seraphine-Maria antwortete nichts. Sie neigte weder, noch schüttelte sie das schöne Haupt; sie drückte die Hand des Grafen und winkte ihm, zu gehen. Ihr Auge starrte, wie abwesend, in die Blätter, die aus der blauen Schatulle gefallen waren.