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Alle in Erwartung
An dem Eindrucke, den die schnell bekannt gewordene Geschichte des Duells bei unserer ganzen vornehmen Gesellschaft machte, war das Merkwürdigste die Einmütigkeit, mit der alle sich beeilten, sich rückhaltlos auf Nikolai Wsewolodowitschs Seite zu stellen. Viele seiner früheren Feinde erklärten sich jetzt mit aller Entschiedenheit für seine Freunde. Den Hauptgrund dieses überraschenden Umschwungs der öffentlichen Meinung bildeten einige sehr treffende Worte, die von einer bis dahin sehr zurückhaltenden Persönlichkeit laut ausgesprochen waren und mit einemmal dem Ereignis eine Deutung verliehen, welche dem größten Teile unserer Gesellschaft höchst interessant war. Das trug sich folgendermaßen zu. Gerade am Tage nach jenem Ereignisse kam bei der Gemahlin des Adelsmarschalls unseres Gouvernements, die ihren Namenstag feierte, die ganze Stadt zusammen. Unter den Anwesenden befand sich auch Julija Michailowna, oder, richtiger gesagt, sie hatte unter ihnen den Vorsitz; sie war mit Lisaweta Nikolajewna gekommen, die von Schönheit und besonderer Heiterkeit strahlte, was vielen unserer Damen diesmal sogleich sehr verdächtig vorkam. Beiläufig gesagt: an ihrer Verlobung mit Mawriki Nikolajewitsch konnte kein Zweifel mehr bestehen. Auf die scherzhafte Frage eines verabschiedeten, aber sehr angesehenen Generals, von dem weiter unten die Rede sein wird, antwortete Lisaweta Nikolajewna selbst an diesem Abend geradezu, daß sie Braut sei. Und was geschah? Keine unserer Damen mochte an diese Verlobung so recht glauben. Alle blieben hartnäckig bei der Vermutung, daß da irgendein Roman vorliege, eine bedeutsame, geheimnisvolle Familiengeschichte, die sich in der Schweiz und, wie man aus irgendwelchem Grunde mit Bestimmtheit annahm, unter Julija Michailownas Mitwirkung abgespielt habe. Es ist schwer zu sagen, warum sich diese Gerüchte oder, richtiger gesagt, diese Phantasien mit solcher Hartnäckigkeit hielten, und warum man mit solcher Sicherheit Julija Michailowna mit hineinflocht. Sowie sie eintrat, wandten sich alle mit seltsamen, erwartungsvollen Blicken zu ihr hin. Es muß bemerkt werden, daß man von dem Duell, sowohl weil es erst kurz vorher stattgefunden hatte, als auch wegen gewisser Begleitumstände desselben an diesem Abend noch mit einiger Vorsicht und nicht laut sprach. Außerdem wußte man noch nichts von den Maßnahmen der Behörde. Die beiden Duellanten waren, soweit es bekannt geworden war, unbehelligt geblieben. Alle wußten zum Beispiel, daß Artemi Petrowitsch früh morgens ohne jede Behinderung nach seinem Gute Duchowo gefahren war. Indessen lauerte man natürlich darauf, daß jemand als der erste anfinge, davon zu reden, und dadurch für die Ungeduld der ganzen Gesellschaft die Schleusen öffnete. Namentlich hoffte man auf den obenerwähnten General, und man hatte sich nicht getäuscht.
Dieser General, eines der vornehmsten Mitglieder unseres Klubs, ein nicht sehr reicher Gutsbesitzer, aber ein Mann von tadelloser Denkart, ein altmodischer Courmacher der jungen Damen, liebte es unter anderm sehr, in großen Gesellschaften mit generalsmäßigem Aplomb gerade von solchen Dingen laut zu reden, über die alle bis dahin nur in vorsichtigem Flüstertöne gesprochen hatten. Das war sozusagen seine Spezialität in unserer Gesellschaft. Dabei zog er die Worte besonders in die Länge und bediente sich einer süßlichen Aussprache; entlehnt hatte er diese Angewohnheit entweder solchen Russen, die im Auslande gereist waren, oder jenen vormals reichen russischen Gutsbesitzern, die infolge der bäuerlichen Reform ganz heruntergekommen waren. Stepan Trofimowitsch machte sogar einmal die Bemerkung, je mehr ein Gutsbesitzer heruntergekommen sei, um so süßlicher lispele er und um so mehr ziehe er die Worte in die Länge. Auch er selbst reckte übrigens die Worte in süßlicher Manier und lispelte; aber an sich bemerkte er das nicht.
Der General begann auf Grund seiner besonderen Kompetenz davon zu reden. Denn er war nicht nur mit Artemi Petrowitsch weitläufig verwandt (obwohl er mit ihm in Streit lebte und sogar mit ihm prozessierte), sondern hatte überdies früher einmal selbst zwei Duelle gehabt und war sogar wegen des einen zum Gemeinen degradiert und nach dem Kaukasus geschickt worden. Jemand erwähnte Warwara Petrowna, die bereits zum zweitenmal »nach der Krankheit« wieder ausgefahren sei; eigentlich aber erwähnte der Betreffende nicht sie selbst, sondern das vorzügliche Zusammenpassen ihrer vier grauen Kutschpferde von eigener Stawroginscher Zucht. Der General bemerkte auf einmal, er sei heute »dem jungen Stawrogin« begegnet, der zu Pferde gewesen sei ... Alle verstummten sofort. Der General schmatzte mit den Lippen und ließ sich folgendermaßen vernehmen, wobei er seine goldene Tabaksdose, ein Geschenk von hoher Stelle, zwischen den Fingern herumdrehte:
»Ich bedaure, daß ich nicht vor einigen Jahren hier gewesen bin ... ich war nämlich in Karlsbad. Hm ... Mich interessiert dieser junge Mann sehr, über den ich nachher so viele Gerüchte von allerlei Art vorfand. Hm ... Wie ist das? Ist es wahr, daß er geistesgestört ist? Damals behauptete es jemand. Auf einmal hörte ich neulich, daß ihn hier ein Student in Gegenwart seiner Kusinen beleidigt habe und er vor ihm unter den Tisch gekrochen sei; und gestern höre ich von Stepan Wysozki, daß Stawrogin sich mit diesem ... Gaganow duelliert habe. Und einzig und allein in der kavaliermäßigen Absicht, dem wütenden Menschen seine Stirn darzubieten, um nur von ihm loszukommen. Hm ... Das war in den zwanziger Jahren bei der Garde so Sitte. Verkehrt er hier bei jemandem?«
Der General schwieg, wie wenn er eine Antwort erwartete. Für die Ungeduld der Gesellschaft waren nun die Schleusen geöffnet.
»Was kann einfacher sein?« sagte auf einmal Julija Michailowna mit erhobener Stimme; sie war gereizt darüber, daß alle plötzlich wie auf Kommando die Blicke zu ihr hingewandt hatten. »Es ist doch nicht weiter zu verwundern, daß Stawrogin sich mit Gaganow geschlagen, dem Studenten aber sich nicht gestellt hat. Er konnte doch seinen früheren Leibeigenen nicht zum Duell fordern!«
Das waren bedeutsame Worte! Ein einfacher, klarer Gedanke, der aber niemandem bis dahin in den Sinn gekommen war. Diese Worte taten außerordentliche Wirkung. Aller skandalöse Klatsch, alles Kleinliche und Anekdotenhafte trat mit einem Schlage in den Hintergrund. Die Sache gewann auf einmal ein ganz anderes Gesicht. Es erschien auf dem Plan eine neue Persönlichkeit, in der sich alle bisher geirrt hatten, ein Mann von fast idealer Strenge der Denkweise. Tödlich beleidigt von einem Studenten, also von einem gebildeten, nicht mehr leibeigenen Menschen, verachtet er die Beleidigung, weil der Beleidiger sein früherer Leibeigener ist. In der Gesellschaft ruft dieses Verhalten Aufsehen und häßliches Gerede hervor; die unbesonnen urteilende Gesellschaft blickt geringschätzig auf einen Menschen, der sich hat ins Gesicht schlagen lassen; er verachtet die Meinung der Gesellschaft, die sich nicht zu einer richtigen Anschauungsweise erheben kann und doch über solche Dinge urteilt.
»Und da sitzen nun wir beide da, Iwan Alexandrowitsch, und reden über die richtige Anschauungsweise,« bemerkte ein altes Klubmitglied mit edler Erregung über die eigenen Mängel zu einem andern.
»Jawohl, Peter Michailowitsch, jawohl!« stimmte ihm der andere mit einer Art von Genuß bei. »Und da redet man noch von der Jugend!«
»Hier ist nicht von der Jugend im allgemeinen die Rede, Iwan Alexandrowitsch,« mischte sich ein dritter ein. »Hier handelt es sich nicht um die Jugend im allgemeinen, sondern um ein Meteor, nicht um einen beliebigen jungen Menschen; so muß man die Sache auffassen.«
»Das ist es gerade, was wir brauchen; wir haben Mangel an wirklichen Männern.«
Die Hauptsache war dabei, daß der »neue Mann« nicht nur ein »unzweifelhafter Edelmann«, sondern überdies auch einer der reichsten Grundbesitzer des Gouvernements war und folglich als eine kräftige Stütze der Gesellschaft angesehen werden mußte. Übrigens habe ich auch schon früher die Stimmung unserer Gutsbesitzer beiläufig erwähnt.
Man ereiferte sich sogar:
»Nicht genug daran, daß er den Studenten nicht gefordert hat, er hat sogar die Hände auf den Rücken gelegt; beachten Sie das noch ganz besonders, Exzellenz!« betonte ein anderer.
»Auch hat er ihn nicht vor ein neumodisches Gericht gezogen,« fügte wieder ein anderer hinzu.
»Obgleich der Student von einem neumodischen Gerichte wegen tätlicher Beleidigung eines Edelmannes zu fünfzehn Rubeln verurteilt worden wäre, he-he-he!«
»Nein, ich will Ihnen ein geheimes Mittel angeben, das bei den neumodischen Gerichten von Nutzen ist,« sagte einer ganz wütend. »Wenn jemand gestohlen oder betrogen hat und abgefaßt und klar überführt ist, dann muß er so schnell wie möglich, solange es noch Zeit ist, nach Hause laufen und seine Mutter totschlagen. Sofort wird er von allem freigesprochen, und die Damen auf den Tribünen winken mit ihren batistenen Taschentüchern. Das ist die volle Wahrheit!«
»Ja, das ist die Wahrheit! Das ist die Wahrheit!«
Interessante Geschichtchen durften natürlich nicht fehlen. Man erinnerte sich an Nikolai Wsewolodowitschs Beziehungen zum Grafen K***. Die scharfen, isoliert dastehenden Ansichten des Grafen K*** über die letzten Reformen waren bekannt. Bekannt war auch seine merkwürdige Tätigkeit, die in der letzten Zeit allerdings etwas nachgelassen hatte. Und nun wurde es allen auf einmal unzweifelhaft, daß Nikolai Wsewolodowitsch mit einer der Töchter des Grafen K*** verlobt sei, obgleich nichts einen bestimmten Anlaß zu einem solchen Gerüchte gab. Was aber die wunderbaren Abenteuer mit Lisaweta Nikolajewna in der Schweiz anlangte, so redeten die Damen davon überhaupt nicht mehr. Wir erwähnen bei dieser Gelegenheit, daß Drosdows gerade in dieser Zeit alle bisher von ihnen unterlassenen Besuche nachgeholt hatten. Über Lisaweta Nikolajewna hatten sich alle bereits die feststehende Meinung gebildet, sie sei ein ganz gewöhnliches Mädchen und kokettiere mit ihren kranken Nerven. Ihre Ohnmacht am Tage von Nikolai Wsewolodowitschs Ankunft erklärte man jetzt ganz einfach als eine Folge des Schrecks über das ungeheuerliche Benehmen des Studenten. Man betonte sogar übermäßig den prosaischen Charakter eben des Begebnisses, dem man vorher eine Art von phantastischem Kolorit zu geben gesucht hatte; und an eine gewisse lahme Frauensperson dachte man überhaupt nicht mehr; man genierte sich, sie auch nur zu erwähnen. »Und wenn auch hundert lahme Frauenspersonen da wären, – wer ist nicht einmal jung gewesen?« hieß es. Man hob Nikolai Wsewolodowitschs respektvolles Benehmen gegen seine Mutter hervor, fand an ihm diese und jene Tugenden und sprach wohlwollend von dem Wissen, das er sich in den vier Jahren auf deutschen Universitäten erworben habe. Artemi Petrowitschs Verhalten wurde entschieden als taktlos bezeichnet, als eine Verkennung der Pflichten gegen einen Standesgenossen; Julija Michailowna erklärte man für eine überaus scharfsinnige Dame.
So kam es, daß, als endlich Nikolai Wsewolodowitsch selbst erschien, alle ihm mit dem naivsten Ernste begegneten und in allen Augen, die auf ihn gerichtet waren, die ungeduldigste Erwartung zu lesen war. Nikolai Wsewolodowitsch hüllte sich sogleich in das strengste Schweigen, was alle selbstverständlich weit mehr billigten, als wenn er eine Unmenge zusammengeredet hätte. Kurz, alles glückte ihm; er war in die Mode gekommen. Wer sich einmal in der Gesellschaft der Gouvernementsstadt gezeigt hatte, konnte sich nachher auf keine Weise wieder verbergen. Nikolai Wsewolodowitsch begann wieder wie früher alle gesellschaftlichen Gebräuche der Gouvernementsstadt auf das peinlichste zu erfüllen. Man fand ihn nicht heiter: »Der junge Mann hat viel gelitten,« hieß es; »er ist ein anderer Mensch wie andere Leute; er hat allen Anlaß, nachdenklich zu sein.« Selbst sein Stolz und seine launenhafte Unzugänglichkeit, um derentwillen er bei uns vier Jahre vorher so gehaßt worden war, wurden jetzt geachtet und gefielen wohl.
Am meisten triumphierte Warwara Petrowna. Ich kann nicht sagen, ob sie sich über die Zerstörung ihrer Zukunftsträumereien in betreff Lisaweta Nikolajewnas sehr grämte. Auch der Familienstolz half dabei natürlich sehr mit. Eins war merkwürdig: Warwara Petrowna war auf einmal ganz fest davon überzeugt, daß Nikolai tatsächlich bei dem Grafen K*** »seine Wahl getroffen« habe; aber (und das war das Allermerkwürdigste) sie war davon nur auf Grund von Gerüchten überzeugt, die ihr wie allen anderen der Wind zugetragen hatte; Nikolai Wsewolodowitsch selbst zu fragen fürchtete sie sich. Ein paarmal allerdings konnte sie sich doch nicht beherrschen und machte ihm in heiterem Tone unter vier Augen Vorwürfe, daß er ihr gegenüber nicht recht offen sei; Nikolai Wsewolodowitsch lächelte und fuhr fort zu schweigen. Das Schweigen faßte sie als Zeichen der Zustimmung auf. Aber bei alledem wurde sie den Gedanken an die Lahme nicht los. Dieser Gedanke lag ihr wie ein Stein, wie ein Alp auf dem Herzen und ängstigte sie durch sonderbare Träume und Ahnungen, und das alles zusammen und gleichzeitig mit den hoffnungsvollen Vermutungen in betreff der Töchter des Grafen K***. Aber davon wird noch später die Rede sein. Selbstverständlich begann man in der Gesellschaft sich gegen Warwara Petrowna wieder mit außerordentlicher Zuvorkommenheit und Hochachtung zu benehmen; aber sie nutzte das nur wenig aus und machte nur sehr selten Besuche.
Indessen stattete sie der Frau Gouverneur eine feierliche Visite ab. Natürlich konnte niemand von den oben angeführten bedeutsamen Worten, welche Julija Michailowna auf der Abendgesellschaft bei der Frau Adelsmarschall gesprochen hatte, in höherem Grade entzückt und bezaubert sein als sie: diese Worte hatten ihr viel Kummer aus der Seele genommen und mit einem Male vieles beseitigt, was sie seit jenem unglücklichen Sonntage so gequält hatte. »Ich habe diese Frau nicht verstanden!« äußerte sie und sagte mit dem ihr eigenen Ungestüm zu Julija Michailowna geradezu, sie sei gekommen, um ihr zu danken. Julija Michailowna fühlte sich geschmeichelt, vermied es aber, familiär zu werden. Sie fing in jener Zeit bereits sehr an, sich ihres eigenen Wertes bewußt zu sein, vielleicht sogar etwas zu sehr. Sie äußerte zum Beispiel im Laufe des Gespräches, sie habe noch nie etwas von Stepan Trofimowitschs Tätigkeit und Gelehrsamkeit gehört.
»Ich empfange natürlich den jungen Werchowenski und bin freundlich gegen ihn. Er ist unbesonnen; aber er ist ja auch noch jung; übrigens besitzt er solide Kenntnisse. Aber jedenfalls ist er nicht so ein verabschiedeter ehemaliger Kritiker.«
Warwara Petrowna beeilte sich sogleich zu bemerken, daß Stepan Trofimowitsch überhaupt niemals Kritiker gewesen sei, sondern vielmehr sein ganzes Leben in ihrem Hause zugebracht habe. Berühmt sei er durch die »in der ganzen Welt bekannten« Umstände zu Beginn seiner Laufbahn und in der letzten Zeit durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der spanischen Geschichte; auch wolle er über den jetzigen Zustand der deutschen Universitäten schreiben und, wie es scheine, auch etwas über die Dresdner Madonna. Kurz, Warwara Petrowna wollte im Gespräch mit Julija Michailowna auf Stepan Trofimowitsch nichts kommen lassen.
»Über die Dresdner Madonna? Sie meinen die Sixtinische? Chère Warwara Petrowna, ich habe zwei Stunden lang vor diesem Gemälde gesessen und bin enttäuscht weggegangen. Ich verstand seine Berühmtheit nicht und war höchst verwundert. Karmasinow sagt auch, es sei schwer zu begreifen. Jetzt finden alle nichts daran, sowohl die Russen als auch die Engländer. Diesen ganzen Ruhm haben dem Bilde nur die alten Leute durch ihr Geschrei verschafft.«
»Da ist also jetzt eine neue Mode aufgekommen?«
»Ich bin der Ansicht, daß man die jungen Leute der Jetztzeit nicht verachten darf. Da schreit man nun, sie seien Kommunisten; aber meiner Meinung nach muß man sie rücksichtsvoll behandeln und ihren Wert anerkennen. Ich lese jetzt alles: alle möglichen Zeitungen, Sozialistisches, Naturwissenschaftliches; ich verschaffe mir das alles; denn man muß doch schließlich wissen, wo man lebt, und mit wem man zu tun hat. Man kann doch nicht sein ganzes Leben auf den Berghöhen der Phantasie wohnen. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt und es mir zum Grundsatz gemacht, gegen die jungen Leute freundlich zu sein und sie gerade dadurch am Rande des Abgrundes festzuhalten. Glauben Sie, Warwara Petrowna, daß nur wir, die Gesellschaft, durch unsern wohltätigen Einfluß und namentlich durch Freundlichkeit sie an dem Abgrunde festhalten können, in den sie die Unduldsamkeit all dieser alten Leute hineinstößt. Übrigens freue ich mich, von Ihnen etwas über Stepan Trofimowitsch gelernt zu haben. Da geben Sie mir einen Gedanken ein: er kann bei unserer literarischen Vorlesung nützlich sein. Wissen Sie, ich arrangiere ein Vergnügen, das einen ganzen Tag dauern soll, auf Subskription, zum Besten armer Gouvernanten aus unserem Gouvernement. Sie sind über ganz Rußland zerstreut; man zählt ihrer allein schon sechs aus unserem Kreise; dazu kommen noch zwei Telegraphistinnen; ferner studieren zwei junge Mädchen auf der Universität, und andere würden wünschen, es ebenfalls zu tun, haben aber nicht die Mittel dazu. Das Los der Frau in Rußland ist schrecklich, Warwara Petrowna! Diese Frage wird jetzt auf den Universitäten viel behandelt, und es hat sogar schon eine Sitzung des Reichsrates darüber stattgefunden. In unserem sonderbaren Rußland kann man alles tun, was einem beliebt. Und daher könnten wir, wieder nur durch Freundlichkeit und unmittelbare warme Teilnahme der ganzen Gesellschaft, diese große, gemeinsame Angelegenheit auf den richtigen Weg bringen. O Gott, haben wir denn etwa viele illustre Persönlichkeiten? Allerdings gibt es solche; aber sie sind zerstreut. Schließen wir uns zusammen, und wir werden stärker sein. Kurz, es wird bei mir zunächst eine literarische Matinee stattfinden, dann ein leichtes Frühstück, dann eine Pause, und an demselben Tage abends ein Ball. Wir wollten den Abend eigentlich mit lebenden Bildern beginnen; aber es scheint, daß das zuviel Ausgaben verursachen würde, und daher sollen für das Publikum nur eine oder zwei Quadrillen in Masken und Charakterkostümen getanzt werden; die Kostüme sollen bestimmte literarische Richtungen darstellen. Diese scherzhafte Idee hat Karmasinow in Vorschlag gebracht; er ist mir sehr behilflich. Wissen Sie, er wird bei uns sein letztes Werk vorlesen, das noch niemand kennt. Er legt die Feder nieder und wird nicht mehr schreiben; dieser letzte Artikel ist sein Abschied vom Publikum. Es ist ein reizendes Sächelchen mit dem Titel: ›Merci. Ein französischer Titel; aber er findet das scherzhafter und sogar feiner. Ich habe ihm ebenfalls dazu geraten. Ich denke, Stepan Trofimowitsch könnte auch etwas vorlesen, wenn es nur kurz ist und ... nicht allzu gelehrt. Peter Stepanowitsch und sonst noch jemand werden ebenfalls etwas vorlesen, wie es scheint. Peter Stepanowitsch wird zu Ihnen herankommen und Ihnen das Programm mitteilen; oder gestatten Sie mir lieber, daß ich es Ihnen selbst bringe!«
»Und Sie bitte ich um die Erlaubnis, mich auch in Ihre Liste eintragen zu dürfen. Ich werde es Stepan Trofimowitsch mitteilen und ihn selbst darum bitten.«
Warwara Petrowna kehrte ganz entzückt nach Hause zurück; sie war zu einer glühenden Verteidigerin Julija Michailownas geworden und war aus nicht recht klarem Grunde jetzt auf Stepan Trofimowitsch sehr aufgebracht; aber der arme Mensch saß ahnungslos zu Hause.
»Ich bin in sie verliebt; ich begreife nicht, wie ich mich in dieser Frau so habe irren können,« sagte sie zu Nikolai Wsewolodowitsch und zu Peter Stepanowitsch, der am Abend bei ihr vorsprach.
»Sie müssen sich doch mit meinem alten Herrn versöhnen,« meinte Peter Stepanowitsch; »er ist ganz verzweifelt. Sie haben ihn sozusagen wie ein Kind in die Küche verwiesen. Gestern begegnete er Ihrem Wagen und verbeugte sich; aber Sie wandten sich weg. Wissen Sie, wir wollen ihn herausholen und in Bewegung bringen; ich habe so meine Absichten mit ihm, und er kann noch nützlich sein.«
»Oh, er wird schon etwas vorlesen.«
»Ich meine nicht das allein. Ich wollte sowieso heute zu ihm herangehen. Soll ich ihm also davon Mitteilung machen?«
»Wenn Sie wollen. Übrigens weiß ich nicht, wie Sie das arrangieren können,« sagte sie unentschlossen. »Ich beabsichtigte, mich selbst mit ihm auszusprechen, und wollte ihm dazu einen Tag und einen Ort bestimmen.«
Sie machte ein sehr finsteres Gesicht.
»Nun, erst noch einen Tag zu bestimmen, das ist nicht nötig. Ich werde es ihm einfach bestellen.«
»Meinetwegen, bestellen Sie es ihm! Aber fügen Sie hinzu, daß ich ihm jedenfalls einen Tag zu einer Aussprache bestimmen werde! Fügen Sie das unter allen Umständen hinzu!«
Peter Stepanowitsch lief lächelnd davon. Überhaupt war er, soviel ich mich erinnere, in dieser Zeit ganz besonders boshaft und erlaubte sich sogar fast allen gegenüber unerträgliche Unarten. Merkwürdig, daß ihm das niemand übelnahm. Aber es hatte sich überhaupt über ihn die Meinung gebildet, daß man an ihn einen besonderen Maßstab anlegen müsse. Ich bemerke, daß er über Nikolai Wsewolodowitschs Duell sehr aufgebracht war. Die Nachricht davon war ihm ganz überraschend gekommen; er wurde ordentlich grün im Gesicht, als es ihm erzählt wurde. Möglicherweise fühlte er sich dabei in seiner Eitelkeit verletzt: er erfuhr es erst am andern Tage, als es bereits allen Leuten bekannt war.
»Aber Sie hatten doch kein Recht sich zu duellieren,« flüsterte er Stawrogin zu, als er mit diesem erst am fünften Tage zufällig im Klub zusammentraf.
Sonderbarerweise waren sie in diesen fünf Tagen einander nirgends begegnet, obwohl Peter Stepanowitsch bei Warwara Petrowna fast täglich vorsprach.
Nikolai Wsewolodowitsch sah ihn schweigend mit zerstreuter Miene an, wie wenn er gar nicht verstände, um was es sich handelte, und ging ohne stehen zu bleiben an ihm vorbei. Er durchschritt den großen Klubsaal und begab sich nach dem Büfett.
»Sie sind auch bei Schatow gewesen ... Sie wollen Ihre Ehe mit Marja Timofejewna bekanntgeben,« fuhr Peter Stepanowitsch fort, indem er hinter ihm herlief und ihn wie in der Zerstreuung an der Schulter faßte.
Nikolai Wsewolodowitsch schüttelte seine Hand von sich ab und drehte sich mit drohend gerunzelter Stirn zu ihm um. Dieser blickte ihn an und lächelte in einer sonderbaren, starren Weise. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick. Nikolai Wsewolodowitsch ging weiter.
Von Warwara Petrowna ging er sogleich schnell zu seinem Vater, und wenn er sich so beeilte, so tat er das lediglich aus Bosheit, um sich für eine frühere Beleidigung zu rächen, von der ich bis dahin noch keine Kenntnis gehabt hatte. Die Sache war die, daß bei ihrem letzten Zusammensein, nämlich am Donnerstag der vorhergehenden Woche, Stepan Trofimowitsch, der übrigens den Streit selbst angefangen hatte, schließlich seinen Sohn mit dem Stocke hinausgejagt hatte. Diese Tatsache hatte er mir damals verheimlicht; aber als jetzt Peter Stepanowitsch hereingelaufen kam, mit seinem steten naiv-hochmütigen Lächeln und mit seinem unangenehm neugierigen, in allen Ecken herumhuschenden Blicke, da machte mir Stepan Trofimowitsch sofort ein geheimes Zeichen, ich möchte das Zimmer nicht verlassen. Auf diese Weise enthüllten sich mir ihre augenblicklichen Beziehungen; denn diesmal hörte ich das ganze Gespräch mit an.
Stepan Trofimowitsch saß, halb liegend, auf einer Chaiselongue. Seit jenem Donnerstage war er abgemagert und gelblich geworden. Peter Stepanowitsch setzte sich mit der familiärsten Miene neben ihn, wobei er ungeniert die Beine unter den Leib schlug und auf der Chaiselongue weit mehr Platz einnahm, als sich mit dem Respekt gegen seinen Vater vertrug. Stepan Trofimowitsch rückte schweigend und würdevoll zur Seite.
Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch. Es war der Roman: »Was ist zu tun?« Von dem Nihilisten Tschernyschewski, erschienen im Jahre 1863. Anmerkung des Übersetzers. Leider muß ich hier eine sonderbare Schwäche unseres Freundes bekennen: der Gedanke, daß er aus seiner Vereinsamung heraustreten und die letzte Schlacht liefern müsse, gewann in seiner irregehenden Phantasie immer mehr die Oberhand. Ich erriet, daß er sich diesen Roman einzig und allein zu dem Zwecke beschafft hatte und nun studierte, um bei dem mit Sicherheit erwarteten Zusammenstoße mit den »Schreiern« im voraus ihre Methode und ihre Argumente aus ihrem eigenen Katechismus kennen zu lernen und, so vorbereitet, alle seine Gegner vor den Augen seiner Gönnerin zu widerlegen. Oh, wie quälte ihn dieses Buch! Er warf es manchmal in Verzweiflung hin und ging, von seinem Platze aufspringend, ganz außer sich im Zimmer hin und her.
»Ich gebe zu, daß der Grundgedanke des Verfassers richtig ist,« sagte er zu mir in fieberhafter Erregung; »aber das ist ja um so schrecklicher! Es ist derselbe Gedanke, den wir ausgesprochen haben, genau unser Gedanke; wir, wir sind die ersten gewesen, die ihn gepflanzt und großgezogen und ausgestaltet haben, – und was könnten sie nach uns noch Neues sagen! Aber, mein Gott, wie haben sie das alles ausgedrückt, entstellt, verdreht!« rief er, mit den Fingern auf das Buch klopfend. »Sind das die Resultate, nach denen wir gestrebt haben? Wer kann da den ursprünglichen Gedanken wiedererkennen?«
»Du klärst dich wohl auf?« fragte Peter Stepanowitsch, der das Buch vom Tische ausgenommen und den Titel gelesen hatte, lächelnd. »Das hättest du schon längst tun sollen. Ich werde dir noch Besseres bringen, wenn du willst.«
Stepan Trofimowitsch beobachtete wieder ein würdevolles Stillschweigen. Ich saß in einer Ecke auf dem Sofa.
Peter Stepanowitsch erklärte schnell den Anlaß seines Besuches. Natürlich war Stepan Trofimowitsch maßlos überrascht und hörte diese Mitteilung mit einem Schrecken an, in den sich ein gut Teil Unwille mischte.
»Und diese Julija Michailowna rechnet wirklich darauf, daß ich zu ihr hinkomme und etwas vorlese!«
»Das heißt, eigentlich hat sie dich überhaupt nicht nötig. Sie tut es vielmehr nur, um dir eine Freundlichkeit zu erweisen und sich dadurch bei Warwara Petrowna einzuschmeicheln. Aber selbstverständlich wirst du es nicht wagen, die Vorlesung abzulehnen. Ich glaube auch, du hast selbst große Lust dazu,« fügte er lächelnd hinzu. »Ihr alten Herren habt ja alle einen höllischen Ehrgeiz. Aber hör mal, du darfst es nicht langweilig machen. Du hast wohl etwas fertig, spanische Geschichte, wie? Gib es mir doch auf drei Tage zur Durchsicht; sonst bringst du womöglich die Zuhörer zum Einschlafen.«
Die unverhüllte Grobheit dieser eilig vorgebrachten Sticheleien war offenbar beabsichtigt. Er tat, als könne man mit Stepan Trofimowitsch überhaupt nicht in feinerer Ausdrucks- und Denkweise reden. Stepan Trofimowitsch beharrte standhaft dabei, die Beleidigung nicht zu bemerken; aber die ihm mitgeteilten Tatsachen versetzten ihn in immer steigende Aufregung.
»Und sie selbst, sie selbst hat dich beauftragt, mir dies zu bestellen?« fragte er erblassend.
»Das heißt, siehst du, sie will dir Tag und Ort zu einer gegenseitigen Aussprache bestimmen; das ist noch so ein Überrest von eurer Sentimentalität. Du hast zwanzig Jahre lang mit ihr kokettiert und ihr die lächerlichsten Manieren angewöhnt. Aber beunruhige dich nicht; die Sache liegt jetzt ganz anders; sie sagt selbst alle Augenblicke, sie fange jetzt erst an ›klar zu sehen‹. Ich habe ihr geradezu auseinandergesetzt, daß eure ganze Freundschaft nur ein wechselseitiges Begießen mit Spülicht war. Sie hat mir vieles erzählt, mein Lieber; pfui, was für eine Bedientenstellung hast du diese ganze Zeit her innegehabt! Ich bin ordentlich rot geworden, so habe ich mich über dein Verhalten geschämt.«
»Ich hätte eine Bedientenstellung innegehabt?« brauste Stepan Trofimowitsch auf.
»Sogar eine noch schlimmere; du bist ein Parasit gewesen, das heißt ein freiwilliger Bedienter. Zu faul zum Arbeiten, haben wir doch Appetit auf Geld. All das durchschaut auch sie jetzt; wenigstens hat sie mir schrecklich viel über dich erzählt. Na, mein Lieber, und wie habe ich über deine Briefe an sie gelacht! Die sind ja gräßlich, zum Schämen! Aber ihr Parasiten seid sittlich so verdorben, sittlich so verdorben! Im Almosenempfangen liegt doch etwas, was den Menschen für immer zugrunde richtet. Dafür bist du ein eklatantes Beispiel!«
»Sie hat dir meine Briefe gezeigt?«
»Alle. Das heißt, natürlich, wie könnte ich sie durchlesen? Donnerwetter, was hast du ihr für eine Menge Briefe geschrieben; ich glaube, es sind über zweitausend Stück da ... Aber weißt du, Alter, ich glaube, es hat bei euch einmal einen Augenblick gegeben, wo sie bereit war, dich zu heiraten. Du hast dir die Gelegenheit höchst dummer Weise entgehen lassen! Ich sage das natürlich von deinem Standpunkte aus; aber es wäre doch besser gewesen als jetzt, wo man dir wie einem Hausnarren eine Braut gibt, damit du für Geld fremde Sünden zudeckst.«
»Für Geld! Sie, sie sagt: ›Für Geld!‹« jammerte Stepan Trofimowitsch schmerzerfüllt.
»Aber was ist denn dabei? Was willst du denn? Das habe ich zu deiner Verteidigung angeführt. Das ist ja der einzige Weg, um deine Handlungsweise zu entschuldigen. Sie sieht das selbst ein, daß du Geld brauchtest, wie jeder Mensch, und daß du von diesem Gesichtspunkte aus am Ende recht getan hast, so zu verfahren. Ich habe ihr mathematisch bewiesen, daß ihr von eurem Zusammenleben alle beide Vorteil gehabt habt: sie als Kapitalistin und du als ihr sentimentaler Hausnarr. Übrigens ist sie des Geldes wegen nicht weiter ärgerlich, obgleich du sie gemolken hast wie eine Ziege. Sie ist bloß darüber wütend, daß sie dir zwanzig Jahre lang geglaubt hat, und daß du sie mit deiner vornehmen Gesinnung so betrogen und sie gezwungen hast, so lange zu lügen. Daß sie von selbst gelogen hat, wird sie nie eingestehen; aber du sollst jetzt doppelt dafür gestraft werden. Ich begreife nicht, daß du dir nicht gesagt hast, es müsse doch notwendigerweise einmal zur Abrechnung mit dir kommen! Du hattest ja doch immer einigen Verstand. Ich habe ihr gestern geraten, dich in ein Armenhaus zu geben; beruhige dich, in ein anständiges; darin wird für dich keine Beleidigung liegen; ich glaube, sie wird es auch tun. Erinnerst du dich an den letzten Brief, den du mir vor drei Wochen nach dem Gouvernement Ch*** schriebst?«
»Hast du ihr den wirklich gezeigt?« rief Stepan Trofimowitsch und sprang erschrocken auf.
»Na, aber selbstverständlich! Vor allen Dingen! Das ist derselbe Brief, in dem du mitteiltest, sie beute dich aus und beneide dich um dein Talent; na, und dann schriebst du darin von ›fremden Sünden‹. Nun, mein Lieber, apropos, was besitzt du doch für eine Eitelkeit! Ich habe so darüber gelacht! Im ganzen sind deine Briefe allerdings langweilig; du hast einen schauderhaften Stil. Ich habe sie oft gar nicht gelesen, und einer liegt bei mir noch jetzt uneröffnet umher; ich werde ihn dir morgen zuschicken. Aber dieser, dieser dein letzter Brief, das war das Nonplusultra! Wie habe ich gelacht, wie habe ich gelacht!«
»Du Unmensch, du Unmensch!« jammerte Stepan Trofimowitsch.
»Pfui Teufel, aber mit dir kann man auch gar nicht reden! Hör mal, du fühlst dich wohl wieder beleidigt wie vorigen Donnerstag?«
Stepan Trofimowitsch richtete sich drohend auf.
»Wie kannst du es wagen, mir gegenüber eine solche Sprache zu führen?«
»Was denn für eine Sprache? Ich rede schlicht und deutlich.«
»Aber sage mir doch endlich, du Unmensch, bist du mein Sohn oder nicht?«
»Das mußt du besser wissen als ich. Allerdings neigt jeder Vater in diesem Punkte zur Selbstverblendung ...«
»Schweig, schweig!« rief Stepan Trofimowitsch, am ganzen Leibe zitternd.
»Siehst du, du schreist und schimpfst gerade wie vorigen Donnerstag, wo du sogar den Stock gegen mich erheben wolltest; ich suchte damals ein Dokument. Aus Neugier kramte ich den ganzen Abend über in deinem Koffer umher. Allerdings habe ich nichts Zuverlässiges gefunden; du kannst dich trösten. Es war nur ein Briefchen meiner Mutter an jenen Polen da. Aber nach ihrem Charakter zu schließen ...«
»Noch ein Wort, und ich gebe dir ein paar Ohrfeigen!«
»So sind die Menschen!« wandte Peter Stepanowitsch sich auf einmal zu mir. »Sehen Sie, das schreibt sich bei uns noch vom vorigen Donnerstag her. Ich freue mich, daß Sie wenigstens heute hier sind und sich ein Urteil darüber bilden können. Zuerst eine Tatsache: er macht es mir zum Vorwurf, daß ich so über meine Mutter spreche; aber hat er mich nicht selbst darauf hingestoßen? Hat er mich nicht in Petersburg, als ich noch Gymnasiast war, oft zweimal in der Nacht aufgeweckt, mich umarmt und wie ein altes Weib geweint, und was meinen Sie, was er mir da in der Nacht erzählt hat? Eben diese unsauberen Geschichtchen von meiner Mutter! Er ist der erste gewesen, von dem ich sie gehört habe.«
»Oh, ich verfolgte damals damit eine höhere Absicht! Oh, du hast mich nicht verstanden. Nichts, nichts hast du verstanden!«
»Aber doch kommt es bei dir gemeiner heraus als bei mir; das mußt du selbst zugeben. Siehst du, mir kann es ja ganz egal sein. Ich redete von deinem Gesichtspunkte aus. Von meinem Gesichtspunkte aus mache ich meiner Mutter keine Vorwürfe, da kannst du unbesorgt sein; ob du mein Vater bist oder der Pole, ist mir ganz egal. Ich kann nichts dafür, daß es bei euch in Berlin so dumm herging. Und es hätte freilich bei euch etwas verständiger hergehen können. Na, muß man unter diesen Umständen nicht sagen, daß ihr lächerliche Menschen seid? Und ist es dir nicht ganz gleichgültig, ob ich dein Sohn bin oder nicht? Hören Sie,« wandte er sich wieder zu mir, »sein ganzes Leben lang hat er auch nicht einen Rubel für mich ausgegeben; bis zu meinem sechzehnten Lebensjahre hat er mich überhaupt nicht gekannt; dann hat er mich hier ausgeplündert; und jetzt schreit er, das Herz habe ihm sein ganzes Leben lang um mich weh getan, und gebärdet sich vor mir wie ein Schauspieler. Aber ich bin ja doch nicht Warwara Petrowna; ich bitte dich!«
Er stand auf und griff nach seinem Hute.
»Ich verfluche dich!« rief Stepan Trofimowitsch, blaß wie der Tod, und streckte den Arm gegen ihn aus.
»Auf was für Dummheiten der Mensch doch verfällt!« bemerkte Peter Stepanowitsch sehr erstaunt. »Na, leb wohl, Alter; ich werde nun nie mehr wieder zu dir kommen. Das Manuskript zu der Vorlesung schick mir nur recht bald vorher; vergiß es nicht; und wenn du kannst, so gib dir Mühe, daß kein Unsinn darin steht: Tatsachen, Tatsachen, nichts als Tatsachen, und, was die Hauptsache ist, kurz. Adieu!«
Übrigens spielten hier auch noch andere Gründe mit. Peter Stepanowitsch hatte allerdings gegen seinen Vater einen bestimmten Anschlag im Kopfe. Meiner Ansicht nach beabsichtigte er, den alten Mann zur Verzweiflung zu bringen und ihn dadurch in einer gewissen Art zu einem offenen Skandal zu treiben. Daran war ihm um weiterer, andersartiger Ziele willen gelegen, von denen später die Rede sein wird. Ähnliche Pläne und Absichten mannigfacher Art hatten sich damals in großer Menge in seinem Kopfe angesammelt, allerdings hatten sie fast alle etwas Phantastisches. Außer Stepan Trofimowitsch hatte er noch einen anderen zum Märtyrer bestimmt. Überhaupt machte er nicht wenige Menschen zu Märtyrern, wie sich das in der Folge herausstellte; aber diesen hatte er besonders ins Auge gefaßt, und das war Herr v. Lembke selbst.
Andrei Antonowitsch v. Lembke gehörte zu jenem von der Natur begünstigten Volksstamme, von dem man in Rußland laut den Angaben des Kalenders einige Hunderttausende zählt, und der, vielleicht ohne es selbst zu wissen, bei uns in seiner ganzen Masse einen streng organisierten Bund bildet. Dieser Bund ist natürlich nicht planmäßig ausgedacht und ersonnen; aber er besteht in dem ganzen Volksstamm von selbst ohne Worte und Verabredungen als eine Art von moralischer Verpflichtung zu gegenseitiger Unterstützung aller Mitglieder dieses Volksstammes, immer und überall und unter allen Umständen. Andrei Antonowitsch hatte die Ehre gehabt, in einem jener vornehmen russischen Lehrinstitute erzogen zu werden, die von den Söhnen der reichsten und mit den besten Verbindungen ausgestatteten Familien besucht werden. Die Zöglinge dieser Anstalt wurden fast unmittelbar nach Absolvierung des Kursus dazu bestimmt, ziemlich bedeutende Ämter in einem Ressort des Staatsdienstes zu bekleiden. Andrei Antonowitsch hatte einen Onkel, welcher Ingenieuroberst, und einen andern, welcher Bäcker war; aber er drängte sich auf die vornehme Schule und traf dort eine Anzahl von Stammesgenossen ähnlicher Art. Er war ein munterer Kamerad; das Lernen fiel ihm ziemlich schwer; aber alle hatten ihn gern. Als er schon in den oberen Klassen war, hatten viele seiner Mitschüler, meist Russen, schon gelernt über sehr bedeutsame Fragen der Gegenwart zu disputieren, mit einer Miene, welche besagte, sowie sie würden abgegangen sein, würden sie alle diese Probleme erledigen; aber Andrei Antonowitsch fuhr immer noch fort, sich mit den unschuldigsten Schülerstreichen zu beschäftigen. Er brachte durch seine allerdings nicht sehr schlauen, mitunter nur derben Späße alle zum Lachen; aber eben dies hatte er sich zur Aufgabe gemacht. So zum Beispiel schneuzte er sich mit erstaunlichem Geräusche, wenn der Lehrer sich beim Unterrichte mit einer Frage an ihn wandte, wodurch er seine Mitschüler und den Lehrer erheiterte; oder er gab auf dem Schlafsaal ein lebendes Bild zum Besten, indem er irgendeine zynische Haltung annahm, die ein allgemeines Händeklatschen hervorrief; oder er spielte lediglich mit der Nase (und zwar recht geschickt) die Ouvertüre zu Fra Diavolo. Er zeichnete sich auch durch absichtliche Unsauberkeit aus, da er dies seltsamerweise für geistreich hielt. Im letzten Jahre begann er russische Verse zu schreiben. In seiner Muttersprache beging er zahlreiche grammatische Fehler, wie viele Angehörige dieses Volkes in Rußland. Diese Neigung zur Poesie brachte ihn in Verkehr mit einem mürrischen, schüchternen Klassengenossen, dem Sohne eines armen russischen Generals, der auf der Anstalt für einen zukünftigen großen Schriftsteller galt. Dieser übernahm ihm gegenüber die Rolle eines Gönners. Aber es begab sich, daß nach dem Abgange von der Anstalt, ungefähr drei Jahre nachher, dieser mürrische Kamerad, der seine dienstliche Laufbahn um der russischen Literatur willen aufgegeben hatte und infolgedessen schon in zerrissenen Stiefeln umherstolzierte und im Spätherbst im Sommerüberzieher vor Kälte mit den Zähnen klapperte, zufällig bei der Anitschkow-Brücke seinen früheren Protégé »Lembka« traf, wie diesen alle auf der Schule genannt hatten. Er erkannte ihn beim ersten Blick gar nicht wieder und blieb erstaunt stehen. Vor ihm stand ein tadellos gekleideter junger Mann, mit einem vorzüglich gepflegten Backenbarte von rötlicher Farbe, mit einem Pincenez, Lackstiefeln, ganz neuen Handschuhen, einem von Scharmer angefertigten stattlichen Überzieher und mit einer Aktenmappe unter dem Arme. Lembke sprach mit dem Schulkameraden freundlich, gab ihm seine Adresse an und lud ihn ein, ihn abends einmal zu besuchen. Dabei stellte sich auch heraus, daß er nicht mehr »Lembka« war, sondern v. Lembke. Dennoch ging der Schulkamerad zu ihm hin, vielleicht nur aus Bosheit. Auf der Treppe, die ziemlich häßlich und ganz und gar nicht prunkvoll, aber mit rotem Tuch belegt war, begegnete ihm der Portier, fragte ihn, zu wem er wolle, und zog dann eine nach oben führende Klingel, die laut ertönte. Aber statt der Reichtümer, die der Besucher zu sehen erwartete, fand er seinen »Lembka« in einem sehr kleinen Seitenzimmerchen, das ein dunkles, altes Aussehen hatte und durch einen großen dunkelgrünen Vorhang in zwei Teile geteilt war; möbliert war es mit zwar weichen, aber sehr alten dunkelgrünen Möbeln; an den schmalen, hohen Fenstern hingen dunkelgrüne Vorhänge. Herr v. Lembke wohnte bei einem sehr entfernten Verwandten, einem General, der ihn protegierte. Er empfing den Gast freundlich und benahm sich ernst und mit auserlesener Höflichkeit. Es wurde auch über Literatur gesprochen, aber in anständigen Grenzen. Ein Diener mit weißer Krawatte brachte dünnen Tee mit kleinen, runden, trockenen Küchelchen. Der Schulkamerad bat aus Bosheit um Selterwasser. Es wurde ihm gereicht, aber mit einiger Verzögerung, da Lembke darüber verlegen zu sein schien, daß er den Diener noch einmal rufen und ihm einen Befehl geben mußte. Übrigens fragte er selbst seinen Gast, ob er nicht einen Imbiß zu sich nehmen wolle, und war offenbar zufrieden, als dieser dankte und endlich wegging. Kurz gesagt: Lembke hatte seine Karriere begonnen und wohnte bei einem Stammesgenossen, der aber ein angesehener General war.
Zu jener Zeit hatte er sich in die fünfte Tochter des Generals verliebt, und seine Neigung schien erwidert zu werden. Aber dennoch gab man Amalie, als die Zeit da war, einem alten deutschen Fabrikbesitzer, einem alten Freunde des alten Generals, zur Frau. Andrei Antonowitsch vergoß darüber nicht viele Tränen, sondern klebte sich aus Pappe ein Theater zusammen. Der Vorhang ging in die Höhe; die Schauspieler traten heraus und gestikulierten mit den Händen; in den Logen saß das Publikum; das Orchester fuhr mittels einer kleinen Maschinerie mit den Violinbögen über die Violinen; der Kapellmeister schwang den Taktstock; die Kavaliere und Offiziere im Parkett klatschten in die Hände. Alles war aus Pappe gemacht; alles hatte v. Lembke selbst ersonnen und gearbeitet; er hatte an dem Theater ein halbes Jahr gearbeitet. Der General gab expreß eine intime Abendgesellschaft; das Theater wurde zur Schau gestellt; die sämtlichen fünf Töchter des Generals, einschließlich der neuvermählten Amalie, ihr Fabrikbesitzer und viele deutsche Fräulein und Frauen nebst deren Männern nahmen das Theater aufmerksam in Augenschein und lobten es sehr; nachher wurde getanzt. Lembke war sehr zufrieden und tröstete sich bald.
Die Jahre gingen dahin, und seine Karriere gestaltete sich günstig. Er bekleidete immer Ämter, bei denen man auf ihn aufmerksam wurde, und immer unter Landsleuten als Vorgesetzten, und erreichte schließlich eine für seine Jahre sehr ansehnliche Stellung. Er hatte schon lange den Wunsch sich zu verheiraten und hielt schon lange vorsichtig Umschau. Ohne Wissen seines Vorgesetzten, sandte er der Redaktion einer Zeitschrift eine Novelle ein; aber sie wurde nicht gedruckt. Dafür klebte er einen ganzen Eisenbahnzug, und wieder kam etwas sehr Wohlgelungenes heraus: das Publikum ging mit Koffern und Reisetaschen, Kindern und Hunden aus dem Wartesaal und in die Waggons. Die Schaffner und Beamten liefen hin und her; eine Glocke ertönte, das Abfahrtssignal wurde gegeben, und der Zug setzte sich in Bewegung. Über diesem klugen Kunstwerke hatte er ein ganzes Jahr gesessen. Aber er mußte sich nun doch verheiraten. Der Kreis seiner Bekanntschaften war ein ziemlich ausgedehnter, vorzugsweise in der deutschen Gesellschaft; aber er verkehrte auch in der russischen Sphäre, natürlich bei Vorgesetzten. Endlich, als er schon achtunddreißig Jahre alt war, fiel ihm eine Erbschaft zu. Sein Onkel, der Bäcker, starb und hinterließ ihm testamentarisch dreizehntausend Rubel. Das kam ihm sehr zupaß. Herr v. Lembke war trotz seines ziemlich hohen Dienstranges ein sehr bescheidener Mensch. Er würde sich gern mit irgendeiner kleinen selbständigen Stellung begnügt haben, in der er etwa fiskalisches Holz nach seinen eigenen Dispositionen abzunehmen gehabt oder sich einer ähnlichen Annehmlichkeit erfreut hätte, und wäre darin ruhig sein Lebelang verblieben. Aber da kam ihm statt einer erwarteten Minna oder Ernestine auf einmal Julija Michailowna in den Wurf. Seine Karriere erhielt mit einem Schlage für ihn eine erhöhte Wichtigkeit. Der bescheidene, gewissenhafte v. Lembke fühlte, daß auch er selbstbewußt sein konnte.
Julija Michailowna besaß nach alter Rechnung zweihundert Seelen und erfreute sich außerdem guter Protektion. Auf der andern Seite war v. Lembke ein hübscher Mann, und sie hatte bereits das vierzigste Lebensjahr überschritten. Es ist bemerkenswert, daß er sich ganz allmählich in sie verliebte und tatsächlich um so mehr, je mehr er sich in seine Stellung als Bräutigam hineinfand. Am Morgen des Hochzeitstages sandte er ihr Verse. Ihr gefiel dies alles sehr, selbst die Verse: vierzig Jahre sind kein Spaß. Bald darauf erhielt er ein höheres Amt und einen höheren Orden und wurde in der Folge zum Gouverneur unseres Gouvernements ernannt.
Als sie sich anschickten, zu uns zu ziehen, begann Julija Michailowna eifrig an ihrem Gatten zu arbeiten. Er war nach ihrer Meinung nicht unbefähigt, verstand, in einen Salon einzutreten und sich in gutem Lichte zu zeigen, auch tiefsinnig zuzuhören und zu schweigen; er besaß sehr anständige Manieren, konnte sogar Reden halten, hatte sogar einige Gedankenpartikelchen aufzuweisen und trug die Politur des neuesten unumgänglich notwendigen Liberalismus. Aber doch beunruhigte es sie, daß er bereits recht unregsam war und nach einem so langen Strebertum ein entschiedenes Ruhebedürfnis zu empfinden begann. Sie wollte ihm ihren Ehrgeiz einflößen; aber da begann er auf einmal eine Kirche zu kleben: der Pastor trat heraus, um eine Predigt zu halten; die Kirchenbesucher hörten, fromm die Hände faltend, zu; eine Dame trocknete sich mit dem Taschentuche die Tränen; ein alter Mann schneuzte sich; gegen Ende ertönte ein kleines Orgelwerk, das trotz der Kosten in der Schweiz auf Bestellung angefertigt und von dort bereits hergeschickt war. Julija Michailowna bekam einen ordentlichen Schreck, als sie von dieser Arbeit erfuhr, nahm sie ihrem Manne sogleich weg und schloß sie bei sich in die Kommode ein; statt dessen erlaubte sie ihm, Romane zu schreiben, aber nur insgeheim. Von der Zeit an begann sie, nur auf sich selbst zu rechnen. Das Unglück war dabei nur, daß sie gar zu unbesonnen war und nicht Maß zu halten verstand. Das Schicksal hatte sie gar zu lange eine alte Jungfer bleiben lassen. Eine Idee nach der andern keimte nun in ihrem ehrgeizigen und etwas reizbaren Geiste. Sie schmiedete Pläne; sie wollte unbedingt das Gouvernement regieren, sah sich schon vorahnend von einer Schar von Anhängern umgeben und wählte sich eine politische Richtung. Herr v. Lembke wurde sogar ein wenig ängstlich, wiewohl er mit seinem Beamteninstinkt bald herausfühlte, daß er für sein Ansehen als Gouverneur eigentlich keinen Anlaß zu Befürchtungen habe. Die ersten zwei, drei Monate vergingen sogar in recht befriedigender Weise. Aber da erschien Peter Stepanowitsch auf der Bildfläche, und es begab sich etwas sehr Sonderbares.
Die Sache war die, daß der junge Werchowenski gleich von seinem ersten Auftreten an eine entschiedene Respektlosigkeit gegen Andrei Antonowitsch an den Tag legte und ihm gegenüber ganz sonderbare Rechte in Anspruch nahm, Julija Michailowna aber, die doch sonst immer so eifersüchtig darauf bedacht war, die Autorität ihres Gatten zu wahren, überhaupt nichts davon zu bemerken schien; wenigstens maß sie der Sache keine Bedeutung bei. Der junge Mann wurde ihr Günstling, aß und trank im Hause, ja er schlief sogar dort mitunter. Herr v. Lembke suchte sich gegen ihn zu wehren, nannte ihn in Anwesenheit anderer »junger Mann«, klopfte ihm gönnerhaft aus die Schulter, machte aber damit auf ihn keinen Eindruck. Peter Stepanowitsch lachte, selbst wenn er anscheinend ernst sprach, ihm immer geradezu ins Gesicht und sagte ihm in Gegenwart anderer die unerwartetsten Dinge. Als v. Lembke eines Tages nach Hause zurückkehrte, fand er den jungen Menschen uneingeladen in seinem Arbeitszimmer, wo er auf dem Sofa schlief. Dieser erklärte, er habe ihm einen Besuch machen wollen und sei, da er ihn nicht zu Hause getroffen habe, zufällig eingeschlafen. Herr v. Lembke fühlte sich beleidigt und beklagte sich von neuem bei seiner Gemahlin; aber diese lachte ihn wegen seiner Empfindlichkeit aus und bemerkte anzüglich, er selbst verstehe offenbar nichts den richtigen Standpunkt einzunehmen; ihr gegenüber wenigstens erlaube sich »dieser Junge« niemals Familiaritäten; übrigens besitze er »eine hübsche Naivität und Frische, wenn auch keine gesellschaftlichen Formen«. Herr v. Lembke schmollte. Diesmal brachte sie eine Versöhnung zwischen den beiden zustande. Peter Stepanowitsch bat nicht eigentlich um Entschuldigung, sondern half sich durch einen derben Witz heraus, den man unter andern Umständen für eine neue Beleidigung hätte halten können, der aber im vorliegenden Falle als ein Ausdruck von Reue aufgefaßt wurde. Der schwache Punkt lag darin, daß Andrei Antonowitsch gleich zu Beginn einen Fehler begangen, nämlich dem andern von seinem Roman Mitteilung gemacht hatte. Da er in ihm einen jungen Mann von feurigem Temperamente und poetischen Empfindungen zu erkennen geglaubt und sich schon längst einen Zuhörer gewünscht hatte, so hatte er gleich in den ersten Tagen der Bekanntschaft ihm eines Abends zwei Kapitel vorgelesen. Peter Stepanowitsch hatte zugehört, ohne seine Langeweile zu verbergen, hatte unhöflich gegähnt, an keiner Stelle ein Lob ausgesprochen, aber beim Weggehen sich das Manuskript ausgebeten, um sich in Muße eine Meinung darüber bilden zu können, und Andrei Antonowitsch hatte es ihm überlassen. Seitdem hatte er das Manuskript nicht zurückgegeben, obwohl er täglich ins Haus kam, und auf Fragen danach nur mit Lachen geantwortet; zuletzt hatte er erklärt, er habe es gleich damals auf der Straße verloren. Als Julija Michailowna davon erfuhr, wurde sie auf ihren Mann gewaltig böse.
»Hast du ihm am Ende gar auch von der Kirche etwas gesagt?« fragte sie aufgeregt und ängstlich.
Herr v. Lembke wurde entschieden nachdenklich; aber das Nachdenken war ihm schädlich und war ihm von den Ärzten verboten worden. Abgesehen davon, daß ihm die Verwaltung des Gouvernements viel Mühe und Sorge machte, wovon wir weiter unten sprechen werden, war da noch ein besonderer Umstand, und es litt dabei sogar sein Herz und nicht nur sein Ehrgefühl als hoher Beamter. Als Andrei Antonowitsch seine Ehe einging, hielt er es für ganz ausgeschlossen, daß in seiner Familie künftig einmal Streitigkeiten und Zerwürfnisse vorkommen könnten. Diese Vorstellung hatte er sein ganzes Leben über gehabt, wenn er von einer Minna und Ernestine träumte. Er fühlte, daß er nicht imstande sei, häusliche Gewitter zu ertragen. Julija Michailowna sprach sich endlich mit ihm offen aus.
»Zu ärgern brauchst du dich doch darüber nicht,« sagte sie, »schon deswegen nicht, weil du dreimal so verständig bist als er und auf der gesellschaftlichen Stufenleiter unermeßlich hoch über ihm stehst. In diesem Jungen stecken noch viele Überreste früherer freidenkerischer übler Angewohnheiten oder nach meiner Auffassung einfach viel Unart; aber so plötzlich ist dagegen nichts zu tun; da muß man Schritt für Schritt vorgehen. Man muß unsere jungen Leute achten und schätzen; ich wirke durch Freundlichkeit auf sie ein und halte sie so am Rande des Abgrundes zurück.«
»Aber er redet ganz tolle Geschichten,« erwiderte v. Lembke. »Ich kann mich nicht tolerant benehmen, wenn er in meiner Gegenwart und vor den Ohren anderer Leute behauptet, die Regierung befördere absichtlich das Branntweintrinken, um das Volk zu verdummen und dadurch von einem Aufstande abzuhalten. Stelle dir vor, was ich für eine Rolle spiele, wenn ich so etwas in Gegenwart aller Leute anhören muß!«
Als v. Lembke dies sagte, erinnerte er sich an ein Gespräch, das er unlängst mit Peter Stepanowitsch gehabt hatte. Mit der unschuldigen Absicht, diesen durch Bekundung einer liberalen Gesinnung zu entwaffnen, hatte er ihm seine eigene geheime Sammlung von allen möglichen in Rußland und im Auslande erschienenen revolutionären Proklamationen gezeigt; er hatte diese Papiere seit dem Jahre 1859 mit großer Sorgfalt gesammelt, nicht sowohl aus innerem Interesse als vielmehr einfach, weil er sich davon möglicherweise einen Nutzen versprach. Peter Stepanowitsch, der seine Absicht erriet, bemerkte grob, in einer einzigen Zeile der neuen Proklamationen stecke mehr Sinn und Verstand als in einer ganzen Regierungskanzlei, »die Ihrige nicht ausgenommen«.
Lembke fühlte sich verletzt.
»Aber das ist für uns noch verfrüht, stark verfrüht,« erwiderte er in beinah bittendem Tone, indem er auf die Proklamationen wies.
»Nein, es ist nicht verfrüht; Sie fürchten sich ja davor; also ist es nicht verfrüht.«
»Aber hier steht doch zum Beispiel eine Aufforderung zur Zerstörung der Kirchen.«
»Warum denn nicht? Sie sind ja doch ein verständiger Mensch und glauben gewiß selbst an nichts, sehen aber recht gut ein, daß der Glaube für Sie notwendig ist, damit das Volk dumm bleibt. Die Wahrheit ist ehrenhafter als die Lüge.«
»Einverstanden, einverstanden, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden; aber das ist für uns noch verfrüht, verfrüht,« versetzte v. Lembke mit gerunzelter Stirn.
»Aber was sind Sie denn für ein Regierungsbeamter, wenn Sie sich selbst damit einverstanden erklären, daß das Volk die Kirchen zerstören und mit Keulen bewaffnet nach Petersburg ziehen soll, und nur über den Zeitpunkt, wann das geschehen soll, anderer Meinung sind?«
Als v. Lembke sich in so grober Weise hatte fangen lassen, war er sehr pikiert.
»So verhält sich das nicht, so verhält sich das nicht,« sagte er, in seinem Selbstgefühl verletzt und immer mehr in Eifer geratend. »Sie als junger Mensch, und namentlich bei Ihrer Unbekanntschaft mit unseren Zielen, befinden sich in einem großen Irrtum. Sehen Sie, liebster Peter Stepanowitsch, Sie nennen uns Regierungsbeamte? Richtig. Selbständige Beamte? Richtig. Aber erlauben Sie, wie verfahren wir? Auf uns liegt die Verantwortung, und alles in allem genommen, dienen wir der gemeinsamen Sache ebenso wie Sie jungen Leute. Wir stützen nur das, was Sie wankend machen, und was ohne unsere Tätigkeit nach allen Seilen auseinanderfallen würde. Wir sind nicht Ihre Feinde, durchaus nicht; wir sagen zu Ihnen: ›Gehen Sie vorwärts, wirken Sie fortschrittlich; rütteln Sie sogar an allem Alten, das der Umgestaltung bedarf; aber wir werden Sie, wenn es erforderlich ist, auch in den notwendigen Grenzen halten und Sie dadurch vor sich selbst retten, weil Sie ohne uns nur Rußland erschüttern und seines hohen Ansehens berauben würden; unsere Aufgabe aber besteht gerade darin, für die Erhaltung dieses hohen Ansehens zu sorgen. Seien Sie überzeugt, daß wir und Sie einander wechselseitig nötig haben! In England haben die Whigs und die Torys einander ebenfalls nötig. Nun also: wir sind die Torys und Sie die Whigs.‹ Das ist meine Auffassung.
Andrei Antonowitsch wurde sogar pathetisch. Er liebte es, noch von Petersburg her, verständig und liberal zu reden, und hier (was die Hauptsache war) behorchte ihn niemand. Peter Stepanowitsch schwieg und benahm sich ungewöhnlich ernsthaft. Das regte den Redner noch mehr an.
»Wissen Sie wohl,« fuhr er fort, indem er in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging, »wissen Sie wohl, daß ich, ›der Herr des Gouvernements‹, wegen der Menge meiner Obliegenheiten keine einzige von ihnen wirklich zu erfüllen vermag, andrerseits aber ebenso wahrheitsgemäß sagen kann, daß ich hier nichts zu tun habe? Das ganze Geheimnis liegt darin, daß hier alles von den Anschauungen der Regierung abhängt. Wenn die Regierung zum Beispiel aus Politik oder zur Besänftigung der Leidenschaften die Republik ausrufen und andrerseits dementsprechend die Amtsgewalt der Gouverneure vergrößern sollte, so werden wir Gouverneure uns auch mit der Republik abfinden; und was sage ich Republik: mit jeder beliebigen Staatsform werden wir uns abfinden; ich wenigstens fühle, daß ich dazu imstande bin ... Kurz, wenn mir die Regierung telegraphisch eine activité dévorante anbefiehlt, so werde ich eine activité dévorante leisten. Ich habe hier den Leuten gerade ins Gesicht gesagt: ›Meine Herren, zur Herstellung des Gleichgewichts und zum Gedeihen aller Institutionen des Gouvernements ist eines unumgänglich notwendig: die Vergrößerung der Amtsgewalt des Gouverneurs.‹ Sehen Sie, es ist notwendig, daß alle diese Institutionen, landschaftliche und gerichtliche, sozusagen ein Doppelleben führen, das heißt, es ist notwendig, daß sie existieren (ich gebe zu, daß das erforderlich ist), nun, und andrerseits ist es notwendig, daß sie nicht existieren. Immer nach der Anschauung der Regierung geurteilt. Kommt ein Erlaß, daß diese Institutionen notwendig seien, so sind sie sofort bei mir faktisch vorhanden; geht die Notwendigkeit vorüber, so wird niemand diese Institutionen bei mir finden. So verstehe ich activité dévorante, und eine solche ist ohne Vergrößerung der Amtsgewalt des Gouverneurs nicht möglich. Ich spreche mit Ihnen ganz vertraulich. Wissen Sie, ich habe bereits in Petersburg auf die Notwendigkeit einer besonderen Schildwache vor dem Hause des Gouverneurs hingewiesen. Ich warte auf die Antwort.«
»Sie brauchen zwei Schildwachen,« sagte Peter Stepanowitsch.
»Warum zwei?« fragte v. Lembke, indem er vor ihm stehen blieb.
»Ich bitte Sie, eine ist zu wenig, damit man Sie hochschätzt. Sie brauchen unbedingt zwei.«
Andrei Antonowitsch verzog das Gesicht.
»Sie ... Sie erlauben sich denn aber doch etwas zuviel, Peter Stepanowitsch. Sie mißbrauchen meine Gutherzigkeit, um Stichelreden zu führen und sozusagen den bourru bienfaisant zu spielen ...«
»Na, meinetwegen,« murmelte Peter Stepanowitsch; »Sie bahnen uns damit doch nur den Weg und ermöglichen uns den Erfolg.«
»Wen meinen Sie mit ›uns‹, und von was für einem Erfolge reden Sie?« fragte v. Lembke, ihn erstaunt anstarrend; aber er erhielt keine Antwort.
Als Julija Michailowna einen Bericht über dieses Gespräch anhörte, war sie sehr unzufrieden.
»Aber«, verteidigte sich v. Lembke, »ich konnte doch deinen Günstling nicht wie einen Untergebenen behandeln, und noch dazu unter vier Augen ... Da konnte es leicht kommen, daß ich ein Wort zuviel sagte ... aus Gutherzigkeit.«
»Aus übergroßer Gutherzigkeit. Ich habe gar nicht gewußt, daß du eine Sammlung von Proklamationen hast; tu mir den Gefallen und zeige sie mir!«
»Aber ... aber er hat mich gebeten, sie ihm auf einen Tag nach Hause zu geben.«
»Und das hast du wirklich wieder getan!« rief Julija Michailowna ärgerlich. »Was für eine Taktlosigkeit!«
»Ich werde sofort zu ihm hinschicken und sie zurückholen lassen.«
»Er wird sie nicht zurückgeben.«
»Ich werde es verlangen!« brauste v. Lembke auf und sprang sogar von seinem Platze in die Höhe. »Wer ist er, daß man sich so vor ihm fürchten müßte, und wer bin ich, daß ich nichts mehr zu tun wagen sollte?«
»Setze dich hin und beruhige dich!« hemmte Julija Michailowna seinen Zornesausbruch. »Ich will auf deine erste Frage antworten: er ist mir vorzüglich empfohlen worden; er besitzt gute Fähigkeiten und spricht manchmal sehr verständige Dinge. Karmasinow hat mir versichert, dieser Peter Stepanowitsch habe fast überall seine Verbindungen und übe auf die jungen Leute in der Residenz einen bedeutenden Einfluß aus. Wenn ich nun durch ihn alle an mich heranziehe und um mich gruppiere, dann rette ich sie vom Verderben, indem ich ihrem Ehrgeize einen neuen Weg zeige. Er ist mir von ganzem Herzen ergeben und gehorcht mir in allen Dingen.«
»Aber während man sie so freundlich behandelt, können sie ja weiß der Teufel was alles anrichten! Allerdings, das ist eine Idee ...« verteidigte v. Lembke sich immer noch unruhig. »Aber ... aber da höre ich, daß im Kreise B*** Proklamationen erschienen sind.«
»Ach, dieses Gerücht ging ja schon im Sommer; Proklamationen, falsches Papiergeld, was nicht noch alles; aber eingeliefert ist dir bisher nichts davon. Wer hat es dir gesagt?«
»Ich habe es von v. Blümer gehört.«
»Ach, verschone mich mit deinem Blümer und erwähne ihn, bitte, nie wieder!«
Julija Michailowna regte sich sehr auf und war sogar einen Augenblick nicht imstande zu reden. Herr v. Blümer war ein Beamter der Gouvernementskanzlei, den sie ganz besonders haßte. Davon später.
»Bitte, beunruhige dich nicht über Werchowenski!« schloß sie das Gespräch. »Wenn er an irgendwelchen Dummheiten beteiligt wäre, so würde er nicht so sprechen, wie er mit dir und mit allen hier spricht. Leute, die hochtönende Reden führen, sind nicht gefährlich, und ich kann sogar sagen: sollte etwas passieren, so würde ich die erste sein, die durch ihn etwas davon erfährt. Er ist mir fanatisch ergeben, ganz fanatisch.«
Den Ereignissen vorgreifend, bemerke ich, daß wenn Julija Michailowna nicht einen solchen Dünkel und einen solchen Ehrgeiz besessen hätte, vielleicht das, was diese schändlichen Burschen bei uns nachher angerichtet haben, nicht geschehen wäre. Sie trägt dabei an vielem die Schuld.