Artur Conan Doyle
Das Geheimnis von Cloomber-Hall
Artur Conan Doyle

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Zehntes Kapitel.

Nachdem ich diese Streiflichter auf meine Geschichte geworfen habe, kehre ich zu der Ankunft des wilden Landstreichers, der sich Korporal Rufus Smith nannte, zurück. Dieses Ereignis trug sich gegen Ende September zu, und ich bemerke zur Vergleichung der verschiedenen Taten, daß Dr. Easterlings Besuch in Cloomber etwa drei Wochen früher stattfand. Während dieser ganzen Zeit befand ich mich in einer wenig beneidenswerten Stimmung, denn ich hatte, seitdem der General unsere Zusammenkunft gewahr geworden war, weder von Gabriele noch von ihrem Bruder etwas gesehen.

Zweifelsohne wurden sie irgendwie gewaltsam zurückgehalten, und der Gedanke, daß meine Schwester und ich ihnen diesen neuen Kummer verursacht hatten, war uns beiden sehr schmerzlich.

Unsere Sorgen wurden jedoch einige Tage nach meiner letzten Unterredung mit dem General durch den Empfang eines Briefes von Mordaunt Heatherstone gemildert. Er wurde uns durch einen zerlumpten kleinen Knirps, den Sohn eines Fischers, überbracht, und letzterer erzählte uns, daß er ihn von einer alten Frau – vermutlich der Köchin – am Torwege von Cloomber erhalten habe.

»Meine lieben Freunde,« las ich, »Gabriele und ich haben uns sehr gegrämt bei dem Gedanken, wie besorgt Ihr unseres langen Stillschweigens wegen sein müßt. Tatsache ist, daß wir gezwungen sind, zu Hause zu bleiben. Und dieser Zwang ist nicht physisch sondern moralisch. Unser armer Vater, der mit jedem Tage nervöser wird, hat uns das Versprechen abgenommen, daß wir bis nach dem 5. Oktober nicht ausgehen dürfen, und um seine Befürchtungen zu beschwichtigen, haben wir ihm das gewünschte Gelöbnis gegeben. Anderseits hat er uns versprochen, daß wir nach dem 5. Oktober – das heißt also, in weniger als einer Woche – frei sein sollten, zu gehen und zu kommen, wie es uns beliebt, so daß wir doch etwas zu hoffen haben. Gabriele sagte mir, sie habe Dir erzählt, daß unser Vater nach diesem Tage, an dem seine Befürchtungen ihren Höhepunkt erreichen, wieder wie ein anderer Mann ist. Er hat augenscheinlich diesmal noch mehr Ursache als gewöhnlich anzunehmen, daß seiner unglücklichen Familie Unheil droht, denn ich habe ihn nie solch umfassende Vorbereitungen treffen und ihn noch nie so vollständig entnervt gesehen. Wer würde beim Anblick seiner gebückten Gestalt und der zitternden Hände glauben, daß er derselbe Mann sei, der vor einigen Jahren zu Fuß in den Terai-Dschungeln Tiger schoß und die furchtsameren Jäger verlachte, welche Deckung ihrer Person auf dem Elefanten suchten. Ihr wißt, daß er das Viktoriakreuz trägt, das er in den Straßenkämpfen von Delhi gewonnen hat; und hier, in dem friedlichsten Winkel der Welt, bebt er vor Furcht und fährt bei jedem Geräusch in die Höhe. O, es ist zum Erbarmen, West! Bedenke, was ich Dir einmal schon sagte: Es ist keine eingebildete oder erdichtete Gefahr, sondern, wie wir jeden Grund haben anzunehmen, eine wirklich vorhandene. Sie ist indessen solcher Natur, daß sie weder abgewendet noch deutlich mit Worten beschrieben werden kann. Wenn alles gut geht, werdet Ihr mich am 6. Oktober in Branksome sehen. Mit tausend Grüßen für Euch beide verbleibe ich auf ewig Euer

Mordaunt.«

Der Brief brachte uns eine große Erleichterung, da wir jetzt wußten, daß die Geschwister unter keinem Zwange zu leiden hatten. Aber unsere Hilflosigkeit und Unfähigkeit, die Gefahr, von der unsere Freunde bedroht waren, auch nur zu verstehen, war geradezu zum Tollwerden.

Wohl fünfzigmal täglich fragten wir uns selbst und einander, von woher diese Gefahr zu erwarten sein könnte. Aber je mehr wir nachdachten, desto entfernter erschien die Lösung des Rätsels. Vergebens verglichen wir unsere Beobachtungen und stückten jedes Wort zusammen, das von den Lippen irgendeines der Bewohner von Cloomber gefallen war und das vielleicht direkt oder indirekt auf den Gegenstand Bezug haben konnte. Müde der fruchtlosen Bemühungen, hätten wir uns schließlich gern die ganze Geschichte aus dem Kopfe geschlagen. Wir trösteten uns mit dem Gedanken, daß in einigen Tagen alle Beschränkungen beseitigt sein würden und daß wir dann von den Lippen unserer Freunde selbst erfahren werden, was sie bedrohte. Diese paar Tage, dachten wir, würden inzwischen freilich langsam und langweilig genug dahinschleichen.

Das wäre auch der Fall gewesen, hätte sich nicht ein neues und unerwartetes Ereignis zugetragen, das uns unsere Sorgen aus dem Sinne schlagen und unsere Gedanken anderweitig beschäftigen sollte.

Der Monat Oktober war glückverheißend mit hellem Sonnenschein und unbewölktem Himmel ins Land gekommen. Am Morgen hatte eine leichte Brise geweht, und hier und dort sah man kleine Dunstringe, wie die verstreuten Federn eines Riesenvogels, dahinschweben. Aber im Laufe des Tages legte sich der leichte Wind vollständig, und die Luft wurde drückend und schwül.

Die Sonne brannte mit einer für die späte Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze, so daß die Luft über den höher gelegenen Mooren zu zittern schien und die irischen Berge jenseits des Kanals unseren Blicken verbarg. Das Meer hob und senkte sich in langen schweren Wellen, die langsam landeinwärts rollten, um sich dann mit dumpfem, einförmigem Krachen an der felsenumgürteten Küste zu brechen. Dem Unerfahrenen schien alles ruhig und friedlich, aber für die, welche die Warnungen der Natur zu lesen gewöhnt sind, enthielten Luft und Himmel und Meer eine düstere Drohung.

Meine Schwester und ich gingen am Nachmittag aus und wanderten langsam am Rande der großen sandigen Landzunge dahin, die in das Irische Meer hinausragt und auf der einen Seite die großartige Bay of Luce bildet, auf der anderen die weniger bekannte Bucht von Kirkmaiden, an deren Strande Branksome liegt.

Es war zu schwül, um weit zu gehen. Wir setzten uns deshalb bald auf einen der mit verblaßten Grasbüscheln überwachsenen kleinen Hügel nieder, die sich am Strande hinziehen und einen natürlichen Teich gegen die Anmaßungen des Meeres bilden. Unsere Ruhe wurde bald durch das Knirschen von schweren Schritten auf dem Sand unterbrochen, und Jameson, der alte Matrose, den ich schon Gelegenheit gehabt habe, zu erwähnen, erschien auf der Bildfläche, das flache, kreisförmige Netz, das er zum Granatenfischen gebrauchte, auf dem Nacken. Als er uns erblickte, kam er auf uns zu und sagte in seiner rauhen, freundlichen Weise: er hoffe, wir würden es nicht übelnehmen, wenn er uns eine Schüssel Granaten zum Tee nach Branksome schickte.

»Ich mache vielleicht einen guten Fang vor dem Sturme,« bemerkte er.

»Sie glauben also, daß wir einen Sturm haben werden?« fragte ich.

»Das kann sogar ein Seesoldat sehen,« antwortete er, und staute einen großen Priemen Tabak in seine Backe. »Das Moor drüben bei Cloomber ist förmlich weiß von Seemöven. Weshalb, meinen Sie, daß die aufs Land kämen, außer daß ihnen die Federn nicht vom Leibe geblasen werden. Ich weiß noch, als ich unter Charles Napier an einem solchen Tage vor Kronstadt lag. Wir wurden fast unter die Kanonen der Forts geblasen, trotz unserer Maschinen und Schrauben.«

»Wissen Sie, ob hier jemals Schiffe gescheitert sind?« fragte ich.

»Na, und ob! Die Gegend ist bekannt dafür. In der Bucht drüben sanken zwei von König Philipps Linienschiffen mit Mann und Maus im Spanischen Kriege. Wenn die Wasser hier und in der Bay of Luce drüben sprechen könnten, was könnten die nicht erzählen! Am Jüngsten Tage wird das Wasser hier geradezu schäumen von den vielen Opfern, die aus der Tiefe heraufkommen werden.«

»Ich hoffe, daß kein Schiff scheitert, während wir hier sind!« sagte Esther ernst.

Der alte Mann schüttelte seinen grauen Kopf und schaute mißtrauisch auf den dunstigen Horizont.

»Wenn es von Westen her bläst,« meinte er, »wird es manchen von den Segelschiffen da wenig spaßhaft vorkommen, hier in dem engen Nordkanal gefangen zu sein. Nehmen Sie zum Beispiel die Barke da an. Ich möchte wetten, daß ihr Kapitän sicher gern in der Clyde wäre.«

»Sie scheint ganz unbeweglich dazuliegen,« bemerkte ich, und sah mir das fragliche Schiff, dessen schwarzer Rumpf und schimmernde Segel sich mit dem Schlagen des Riesenpulses unter ihnen hoben und senkten, näher an. »Vielleicht irren wir uns, Jameson, und wir werden doch keinen Sturm haben.«

Der alte Matrose lachte überlegen in seinen Bart hinein und schlürfte mit seinem Granatnetz davon, während meine Schwester und ich nach Hause zurückkehrten.

Ich ging nach meines Vaters Studierzimmer hinauf, um zu sehen, ob der alte Herr noch Aufträge zu geben hätte, denn er hatte sich in ein neues Werk über orientalische Literatur vertieft, und die praktische Verwaltung des Gutes fiel mir daher vollständig zu.

Ich traf ihn an seinem viereckigen Schreibtische, der so mit Büchern und Papieren beladen war, daß von der Tür aus von ihm nur ein Büschel weißen Haares sichtbar war.

»Mein lieber John,« sagte er, als ich eintrat, »es ist mein größter Kummer, daß du nicht besser im Sanskrit beschlagen bist. Als ich in deinem Alter war, konnte ich mich nicht nur in jener edlen Sprache, sondern auch in den tamulischen, lohitischen, gangelischen, taischen und malaiischen Dialekten, die alle Sprößlinge des turanischen Zweiges sind, unterhalten.

»Ich bedaure ungemein,« antwortete ich, »daß ich nicht dein wunderbares Sprachgenie ererbt habe.«

»Ich habe mir etwas zu tun vorgenommen,« erklärte er, »das den Namen West unsterblich machen würde, wenn es nur in unserer Familie von Generation zu Generation bis zu seiner Vollendung fortgeführt werden könnte. Ich habe nämlich vor, eine englische Übersetzung der Buddhistischen Dscharmas zu veröffentlichen, mit einem Vorworte, das den Standpunkt des Brahmanismus vor Sakjamunis Kommen erläutern würde. Bei großem Fleiße ist es möglich, daß ich selbst noch einen Teil des Vorworts beendige, bevor ich sterbe.«

»Und bitte,« fragte ich, »wie lange würde es dauern, bis das ganze Werk fertig würde?«

»Die gekürzte Ausgabe in der kaiserlichen Bibliothek zu Peking«, sagte mein Vater, seine Hände reibend, »besteht aus 325 Bänden, jeder in einem durchschnittlichen Gewicht von fünf Pfund. Dann könnte das Vorwort, das eine Erklärung der Kig-Veda, der Sama-Veda, der Yagur-Veda und der Atharva-Veda mit den Brahmanas umfassen muß, kaum in weniger als zehn Bänden beendet werden. Wenn wir nun auf jeden Band ein Jahr rechneten, so wäre zu hoffen, daß die zwölfte Generation unserer Familie das Werk im Jahre 2250 beendigen würde, während die dreizehnte sich dann mit den Indern beschäftigen könnte!«

»Und wovon würden unsere Nachkommen während der Arbeit an diesem großartigen Unternehmen leben?« fragte ich lächelnd.

»Das ist das schlimmste bei dir, John!« rief mein Vater empfindlich. »Du bist so unpraktisch! Anstatt deine ganze Aufmerksamkeit auf die Ausführung meines Planes zu beschränken, machst du allerhand lächerliche Einwürfe. Es ist ganz nebensächlich, wovon unsere Nachkommen leben, solange sie nur an den Dscharmas arbeiten. Jetzt möchte ich aber gern, daß du nach Fugus Mc. Donals Hütte hinaufgingst und nach dem Dache sähst. Und Willi Fullerton schrieb mir, daß es mit seiner Milchkuh schlecht ginge. Du könntest auf dem Wege dort vorsprechen und nachfragen.«

Ich machte mich auf, um diese Sachen zu besorgen; aber ehe ich ging, sah ich nach dem Barometer an der Wand. Das Quecksilber war auf 28 Zoll – etwas ganz Außerordentliches – gefallen. Der alte Matrose hatte sich augenscheinlich nicht getäuscht. Als ich abends über das Moor zurückkam, blies der Wind in kurzen, zornigen Stößen, und der Horizont war im Westen mir düsteren Wolken bedeckt, die ihre Fangarme bis zum Zenit emporstreckten. Auf diesem dunklen Hintergrunde hoben sich ein oder zwei große, blasse, schwefelfarbene Kleckse drohend und gehässig ab, und die Oberfläche des Meeres, die vorher wie poliertes Quecksilber aussah, hatte die Farbe gestampften Glases angenommen. Ein leises, dumpfes Stöhnen stieg von der See auf, als wüßte sie, was ihr bevorstände. Weit draußen im Kanal sah ich ein einsam hastendes Dampfboot Belfast Lough zueilen, und die große Barke, die ich am Morgen beobachtet hatte, kreuzte noch immer nahe der Bucht umher, in dem Bemühen, nach Norden hin zu entschlüpfen.

Um neun Uhr war es noch eine scharfe Brise. Um zehn Uhr hatte der Wind sich zum Sturm gesteigert, und vor Mitternacht wütete der schrecklichste Orkan, den ich je an dieser sturm- und wettergepeitschten Küste erlebt habe.

Ich saß eine Zeitlang in unserem eichengetäfelten Wohnzimmer und horchte auf das Kreischen und Heulen des Sturmes und das Geklapper der kleinen Steinchen, die gegen unsere Fenster geschleudert wurden. Der Natur grausiges Orchester spielte sein uraltes Stück, in das sich der tiefe Baß der Brandung mit dem Tremolo aufgeschreckter Sturmvögel und das unheimliche Geknister losbrechender Schindeln mischte.

Einmal öffnete ich auf einen Augenblick das Fenster; aber eine Flut von Regen schoß sofort herein, und der Wind schleuderte einen Haufen nassen Seetangs hindurch, so daß es auf den Tisch niederfiel. Kaum konnte ich das Fenster wieder schließen.

Meine Schwester und mein Vater hatten sich auf ihre Zimmer zurückgezogen, aber meine Gedanken ließen mich noch nicht schlafen, und so blieb ich bei dem glimmenden Kaminfeuer sitzen und rauchte meine Pfeife.

Was ging jetzt wohl im Schlosse vor, dachte ich. Was dachte Gabriele von dem Sturm? Und welche Wirkung hatte er auf den alten Mann, der in der Nacht in dem alten Hause umherwanderte? Hieß er die furchtbaren Naturkräfte willkommen, weil sie seinen eigenen stürmischen Gefühlen entsprachen?

Es waren jetzt nur noch fünf Tage bis zu dem Datum, das, wie man uns versicherte, eine Krisis in seinem Leben bedeutete. Würde er dieses plötzliche Unwetter als einen Vorboten des geheimnisvollen Schicksals betrachten, das ihm drohte?

Über alles dies und vieles andere noch grübelte ich, als ich vor den glimmenden Kohlen saß, bis sie nach und nach hinstarben und die frostige Nachtluft mich mahnte, daß es Zeit sei, mich zur Ruhe zu legen.

Ich mochte ein paar Stunden geschlafen haben, als ich durch ein heftiges Rütteln an der Schulter geweckt wurde. Ich richtete mich im Bette auf und sah bei dem dämmerigen Lichte, daß mein Vater halbangekleidet vor mir stand, und daß es sein Griff war, den ich fühlte.

»Steh auf, steh auf!« rief er aufgeregt. »Ein großes Schiff ist in der Bucht aufgelaufen, und die armen Leute werden alle ertrinken. Komm herunter, mein Junge, und laß uns sehen, was wir tun können.«

Der gute alte Mann schien vor Aufregung und Ungeduld fast außer sich zu sein. Ich sprang aus dem Bette und warf schnell einige Kleidungsstücke über, als ein dumpfes, krachendes Geräusch das Heulen des Windes und das Donnern der Brandung übertönte.

»Da ist es wieder!« rief mein Vater. »Es ist ihre Signalkanone. Arme Kerle! Jameson und die Fischer sind unten. Zieh deinen Ölrock an und hole deinen Südwester. Komm, komm, jede Sekunde kann ein Menschenleben kosten!«

Wir eilten zusammen fort und kämpften unsern Weg in Gemeinschaft mit etwa einem Dutzend der Einwohner von Branksome zum Strande hinunter.

Der Sturm hatte an Heftigkeit eher zu- als abgenommen, und der Wind heulte mit einem wahren Höllenlärm um uns herum. – So furchtbar war seine Gewalt, daß wir unsere Schulter dagegen stemmen und uns geradezu hindurchbohren mußten, während der Sand uns ins Gesicht peitschte.

Es war gerade hell genug, um die dahinschießenden Wolken und den weißen Schaum der Brandungswellen unterscheiden zu können. Darüber hinaus war alles pechschwarze Finsternis.

Wir standen bis zu den Knöcheln in Schlamm und Seetang, unsere Augen mit den Händen bedeckend und in das Dunkel hinausspähend. Es kam mir vor, als ob ich flehende und angsterfüllte Menschenstimmen hörte; aber in dem Tumult der Elemente war es unmöglich, einen Laut von dem andern zu unterscheiden. Plötzlich erglänzte ein Licht inmitten des Ungewitters, und im nächsten Augenblick erhellte der wilde Schein eines Signallichtes grell den Strand und die sturmgepeitschte Bucht und inmitten derselben ein Bild, das mir den Herzschlag lähmte.

Die gescheiterte Barke lag mitten auf dem gefürchteten Hansel-Riff und neigte sich so weit herüber, daß ich alle ihre Deckplanken sehen konnte. Ich erkannte sofort die Barke wieder, die ich am Morgen im Kanal beobachtet hatte, und der Union-Jack, umgekehrt an den zersplitterten Stumpf ihres Besanmastes genagelt, deutete ihre Nationalität an.

Jede Rahe und Brasse, jedes schlängelnde Tauende zeigte sich klar und deutlich in dem grellen Lichte, das von dem höchsten Teile des Vorderdecks sprühte und flackerte. Jenseits des dem Verderben geweihten Schiffes kamen die langen, rollenden Linien schwarzer Wellen heran, nimmer endend, nimmermüde, jede mit einem zornigen Schaumkamme auf ihrem Haupte. Wenn sie in den Zauberkreis des Lichtscheins kamen, schienen sie noch mehr Kraft und Gewalt zu gewinnen, und sie eilten noch ungestümer vorwärts, bis sie brüllend und krachend auf ihre Opfer lossprangen.

An die Luvwanten geklammert, konnten wir deutlich zehn oder zwölf geängstigte Matrosen sehen, die, als uns das Licht ihre Anwesenheit verriet, uns ihre weißen Gesichter zuwandten und flehend ihre Hände erhoben. Unsere Gegenwart hatte die armen Teufel augenscheinlich frische Hoffnung schöpfen lassen, obwohl es klar war, daß ihre eigenen Boote entweder über Bord gewaschen oder so beschädigt waren, daß sie nutzlos geworden waren.

Aber die in der Takelage hängenden Matrosen waren nicht die einzigen Unglücklichen an Bord.

Aus dem Hinterdeck standen drei Männer, die von anderer Rasse und von anderem Charakter zu sein schienen, als die unsere Hilfe anflehenden Matrosen. Gegen die zerschmetterte Schanze lehnend, unterhielten sie sich so ruhig und unbefangen miteinander, als ob sie die sie umgebende Todesgefahr nicht einmal ahnten.

Als der Schein des Signallichtes auf sie fiel, konnten wir von der Küste aus sehen, daß diese unbeweglichen Fremden rote Feze trugen und ihre Gesichter von jenem großgeschnittenen Typus waren, der die orientalische Abkunft verrät.

Wir hatten jedoch wenig Zeit, von diesen Kleinigkeiten Kenntnis zu nehmen. Das Schiff brach schnell in Stücke, und irgendeine Anstrengung mußte gemacht werden, um die durchnäßte Menschengruppe, die unsere Hilfe anflehte, zu retten.

Das nächste Rettungsboot war an der Bay of Luce, zehn Meilen entfernt; aber hier hatten wir ja unser eigenes, breites, geräumiges Fahrzeug und genug wackere Fischer, um es zu bemannen.

Unser sechs sprangen zu den Rudern, die anderen stießen uns ab, und wir kämpften unseren Weg durch die strudelnden, brausenden Wassermassen. Mehrfach taumelten wir vor den dahersegelnden großen Wogen zurück, aber allmählich verminderten wir doch die Entfernung zwischen uns und der Barke.

Es schien jedoch, als ob unsere Mühe vergebens sein sollte. Als wir durch einen Wasserschwall in die Höhe gehoben wurden, sah ich eine Riesenwoge, die alle anderen überragte und ihnen wie ein Hirt der Herde folgte, auf das Schiff losstürmen und ihren schäumenden grünen Kamm über das aus den Fugen gehende Verdeck neigen. Mit einem betäubenden ohrenzerreißenden Krach barst das Schiff da, wo der schreckliche, zackige Rücken des Hansel-Riffes ihm den Kiel zersägt hatte.

Das Hinterdeck mit dem zerbrochenen Besan und den drei Orientalen sank in das tiefe Wasser zurück und verschwand, während die vordere Hälfte, ein gefährliches Gleichgewicht beibehaltend, hilflos hin und her schaukelte. Ein Schreckensruf tönte vom Wrack herüber und fand ein Echo auf dem Strande; aber eine gütige Vorsehung hielt es über Wasser, bis wir uns zu seinem Bugspriet durchgekämpft und die ganze Bemannung gerettet hatten.

Wir hatten kaum die Hälfte des Rückweges hinter uns, als eine andere große Welle das zertrümmerte Vorderteil von dem Riff hinunterfegte und mit dem Erlöschen des Signallichtes den letzten Teil des wilden Dramas unseren Augen verhüllte.

Unsere Freunde am Strande beglückwünschten und priesen uns laut, zögerten auch nicht, die Schiffbrüchigen zu bewillkommnen und aufzunehmen.

Es waren ihrer dreizehn, und eine entmutigtere und niedergeschlagenere Schar Sterblicher ist dem Tode nie durch die Finger geschlüpft. Die einzige Ausnahme bildete der Kapitän, der ein abgehärteter robuster Mann zu sein schien, der sich nicht viel aus der Geschichte machte. Einige wurden nach dieser, andere nach jener Hütte gebracht, aber die Mehrzahl kam mit uns nach Branksome, wo wir ihnen trockene Kleidung, soviel wir gerade auftreiben konnten, gaben und sie am Küchenfeuer mit Bier und Rindfleisch bewirteten.

Der Kapitän, dessen Name Meadows war, quetschte seine vierschrötige Gestalt in einen von meinen Anzügen und kam in unser Wohnzimmer hinab, wo er meinem Vater und mir die näheren Umstände des Schiffbruches erzählte.

»Wenn Sie und Ihre wackeren Jungens nicht dagewesen wären,« sagte er, mir zulachend, »so lägen wir jetzt zehn Faden tief. Was die ›Belinda‹ anbelangt, so war sie ein morscher, alter Kasten und gut versichert. Weder die Eigentümer noch ich werden uns über ihren Verlust die Augen ausweinen.«

»Ich fürchte,« sagte mein Vater traurig, »daß wir Ihre drei Passagiere nie wiedersehen werden. Ich habe die Leute am Strande gelassen, falls sie ans Land gewaschen werden sollten, aber ich fürchte, daß keine Hoffnung vorhanden ist. Ich sah sie untersinken, als das Schiff barst, und kein Mensch hätte auch nur einen Augenblick in dem schrecklichen Schwalle am Leben bleiben können.«

»Wer waren sie?« fragte ich. »Ich hätte nie geglaubt, daß Menschen angesichts so drohender Gefahr so unbefangen sein könnten.«

»Wer sie waren,« antwortete der Kapitän, nachdenklich aus seiner Pfeife paffend, »das läßt sich nicht sagen. Unser letzter Hafen war Kurrachee im nördlichen Ostindien, und dort nahmen wir sie als Passagiere nach Glasgow an Bord. Ram Singh hieß der Jüngste, der einzige, mit dem ich in Berührung kam; doch sie schienen alle ruhige, harmlose Herren zu sein. Ich habe mich nicht nach ihren Verhältnissen erkundigt, aber ich sollte meinen, es wären spanische Kaufleute aus Hyderabad gewesen, deren Geschäft sie nach Europa rief. Ich konnte nie verstehen, weshalb die Mannschaft und sogar der Steuermann, der doch mehr Verstand haben sollte, sich vor ihnen fürchtete!«

»Fürchtete?« rief ich überrascht aus.

»Ja! Sie hatten irgendeine unsinnige Idee, daß die Fremden gefährliche Schiffsgesellen wären. Ich zweifle nicht, daß, wenn wir jetzt in die Küche gingen, wir alle darin übereinstimmend finden würden, daß unsere Passagiere an dem ganzen Unglück schuld sind.«

Während der Kapitän sprach, wurde die Tür geöffnet, und der Steuermann, ein langer, rotbärtiger Seemann, trat ein. Er hatte von einem gutherzigen Fischer eine ganze Ausrüstung erhalten und kam mir in einem bequemen Jersey und gutgeschmierten Stiefeln als ein sehr günstiges Spezimen eines schiffbrüchigen Seemannes vor.

Mit einigen Worten dankbarer Anerkennung für unsere Gastfreundlichkeit zog er sich einen Stuhl an den Kamin heran und wärmte seine großen, braunen Hände am Feuer.

»Was meinen Sie jetzt, Kapitän Meadows?« sagte er dann, seinen Vorgesetzten ansehend. – »Habe ich Sie nicht gewarnt, jene Nigger an Bord zu nehmen?«

Der Kapitän lehnte sich in seinem Stuhle zurück und lachte herzlich.

»Habe ich's nicht gesagt?« rief er uns zu. »Hab' ich's Ihnen nicht gesagt?«

»Es hätte leicht anders kommen können,« bemerkte der andere gekränkt. »Ich habe eine gute Seekiste verloren und beinahe mein Leben obendrein.«

»Wollen Sie damit sagen,« fragte ich, »daß Sie den Unfall Ihren unglücklichen Passagieren zuschreiben?«

Der Steuermann riß die Augen auf.

»Weshalb unglücklich?«

»Weil sie sicher ertrunken sind,« antwortete ich ernst.

Er rümpfte ungläubig die Nase und fuhr fort, seine Hände zu wärmen.

»Solche Leute ertrinken nie,« sagte er dann nach einer Pause. »Ihr Vater, der Teufel, beschützt sie. Haben Sie gesehen, wie sie auf dem Hinterdeck standen und sich Zigaretten drehten, als der Besan brach und die Rettungsboote zerschmetterte? Das war genug für mich. Es wundert mich gar nicht, daß ihr Landratten das nicht versteht; aber der Kapitän hier, der auf See gewesen ist, seit er drei Käse hoch war, der sollte doch wissen, daß ein Kater und ein Pfaffe die schlimmste Ladung ist, die man an Bord nehmen kann. Und wenn ein christlicher schon schlimm genug ist, dann ist ein Heidenpriester noch fünfzigmal schlimmer, denk' ich. Ich glaube noch an die alte Religion. Gott verdamm' mich!«

Mein Vater und ich konnten uns nicht enthalten, über die unorthodoxe Manier des rauhen Seemannes, mit der er sich zum orthodoxen Glauben bekannte, zu lachen. Dem Steuermann war es jedoch augenscheinlich heiliger Ernst, und er schickte sich an, seinen Standpunkt zu verteidigen.

»In Kurrachee, gleich nach ihrer Ankunft, habe ich Sie gewarnt,« sagte er vorwurfsvoll zu dem Kapitän. »Ich hatte drei buddhistische Laskaren in meiner Wache, und was taten die, als die Kerle an Bord kamen? Auf den Magen legten sie sich und rieben ihre Nasen auf dem Verdeck! So viel würden sie nicht für einen Admiral der königlichen Marine getan haben. Diese Nigger wissen, mit wem sie es zu tun haben, und ich roch Lunte, sowie ich sie auf dem Gesicht liegen sah. Ich fragte sie nachher, weshalb sie es getan, und sie antworteten, daß die Passagiere Heilige seien. Sie hörten es selbst.«

»Darin liegt doch kein Harm, Hawkins,« sagte Kapitän Meadows.

»Ich weiß nicht,« sagte der Steuermann zweifelhaft. »Der heilige Christ ist derjenige, der Gott am nächsten ist, aber der heiligste Nigger ist meiner Meinung nach der, der dem Teufel am nächsten ist. Dann sahen Sie selbst, Kapitän Meadows, wie sie sich während der Reise benahmen; sie lasen Bücher, die auf Holz anstatt auf Papier geschrieben waren, und saßen die ganze Nacht auf dem Hinterdeck zusammen und schnatterten. Weshalb hatten sie eine eigene Seekarte und bezeichneten den Kurs des Schiffes jeden Tag?«

»Taten sie denn das?« fragte der Kapitän.

Der Steuermann nickte eifrig.

»Und ob! Ich hab' es Ihnen nur nicht eher gesagt, weil Sie über alles lachen. Sie hatten ihre eigenen Instrumente. Wann sie sie gebrauchten, kann ich nicht sagen, aber jeden Tag um zwölf Uhr mittags berechneten sie die Längen- und Breitengrade und bezeichneten die Stellung des Schiffes auf einer Seekarte, die auf ihrem Kajütentische befestigt war. Ich habe es gesehen und der Steward auch von seiner Kambüse aus.«

»Ich sehe nicht, was Sie daraus schließen,« bemerkte der Kapitän, »obwohl ich gestehe, daß es sehr absonderlich ist.«

»Ich will Ihnen noch etwas Absonderlicheres sagen.« fuhr der Steuermann nachdrücklich fort. »Wissen Sie den Namen der Bucht, in der wir gestrandet sind?«

»Ich weiß von unseren guten Freunden hier, daß wir an der Küste von Wigtowashire find.« antwortete der Kapitän, »aber den Namen der Bucht habe ich noch nicht gehört.«

Der Steuermann beugte sich vorwärts und sah den Kapitän fest an.

»Es ist die Bucht von Kirkmaiden!« sagte er ernst.

Falls er erwartet hatte, Kapitän Meadows in Erstaunen zu versetzen, so gelang ihm dieses vollständig. Die Überraschung benahm dem Kapitän minutenlang die Sprache.

»Das ist wirklich wunderbar,« sagte er endlich, sich an uns wendend. »Unsere Passagiere fragten uns gleich im Anfange der Reise über das Vorhandensein einer Bucht dieses Namens aus. Hawkins und ich behaupteten, sie nicht zu kennen, denn auf der Seekarte ist sie in der Bay of Luce mit einbegriffen. Daß wir schließlich hierher getrieben sind und Schiffbruch erlitten haben, ist ein außerordentlicher Zufall.«

»Zu außerordentlich, um ein Zufall zu sein!« knurrte der Steuermann. »Ich sah sie, wie sie während der Windstille gestern morgen nach dem Land an unserer Steuerbordseite hinüberzeigten. Sie wußten gut, daß dies der Hafen war, in den sie einlaufen wollten.«

»Ja, was halten Sie denn von der Geschichte, Hawkins?« fragte der Kapitän nachdenklich. »Wie erklären Sie sich die Sache?«

»Meiner Meinung nach«, antwortete der Steuermann, »können die drei Leute da gerade so leicht einen Sturm hervorrufen, wie ich meinen Grog hier trinken kann. Sie hatten ihre eigenen Gründe, weshalb sie nach dieser gottverlassenen – bitte um Entschuldigung, meine Herren – gottverlassenen Bucht wollten, und so haben sie einen Umweg vermieden, indem sie sich hier ans Land blasen ließen. So erkläre ich mir die Sache, aber was drei Buddhistenpriester in der Bucht von Kirkmaiden zu suchen haben, geht über meinen Horizont.«

Mein Vater hob seine Augenbrauen, um die Zweifel auszudrücken, denen Worte zu verleihen seine Gastfreundschaft ihm verbot.

»Ich denke, meine Herren,« sagte er, »daß Sie beide nach Ihren gefährlichen Abenteuern im höchsten Grade der Ruhe bedürfen. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie auf Ihr Zimmer geleiten.«

Und er führte sie mit altmodischer Höflichkeit nach der besten leerstehenden Kammer des Hauses. Als er nochmals zu mir ins Wohnzimmer zurückkehrte, schlug er vor, daß wir zusammen an den Strand hinabgehen und, wenn möglich, etwas Neues ausfindig machen wollten.

Das erste blasse Dämmerlicht des Morgens erstrahlte gerade im Osten, als wir zum zweitenmal den Weg nach dem Orte des Schiffbruchs antraten. Der Sturm hatte ausgetobt, aber die See ging noch hoch, und inmitten der Brandung zog sich eine kochende Linie Schaumes hin, als ob der grimmige alte Ozean aus Wut, daß seine Opfer ihm entschlüpft waren, mit seinen weißen Zähnen knirsche.

Am Strande entlang waren Fischer und Kätner beschäftigt, die Spieren und Fässer, sobald sie nur ans Ufer gespült wurden, aufs Trockene zu ziehen. Niemand hatte jedoch irgendwelche Leichen gesehen, und man erklärte uns. daß nur schwimmende Gegenstände an das Ufer gelangen könnten, da die heftige Gegenströmung alles, was unter der Oberfläche war, unfehlbar in das Meer hinaus risse.

Von der Möglichkeit, daß die unglücklichen Passagiere die Küste hätten erreichen können, wollte keiner dieser praktischen Leute auch nur einen Augenblick hören, und sie bewiesen uns haarklein, daß sie, wenn sie nicht ertrunken wären, auf dem Felsen in Stücke zerschmettert worden sein müßten.

»Wir haben alles getan, was getan werden konnte,« sagte mein Vater traurig, als wir heimschritten. »Ich fürchte, daß das plötzliche Unglück den Verstand des armen Steuermannes verstört hat. Hast du gehört, wie er von den Buddhistenpriestern sagte, daß sie den Sturm verursacht hätten?«

»Ja, ich hörte es,« antwortete ich.

»Es war mir höchst peinlich, ihm zuhören zu müssen,« meinte mein Vater. »Es soll mich wundern, ob er etwas dagegen haben würde, wenn ich ihm ein kleines Senfpflaster hinter die Ohren legte. Es würde eine etwaige Blutstockung im Gehirn abziehen. Oder am Ende wäre es das beste, ihn zu wecken und ihm zwei Leberpillen zu verabreichen. Was denkst du, John?«

»Ich denke, es wird am besten sein, du läßt ihn schlafen und legst dich selbst zur Ruhe. Du kannst ihn morgen doktorn, falls er es dann noch nötig hat.«

Mit diesen Worten stolperte ich, selbst todmüde, auf meine Kammer, warf mich auf mein Lager und war bald in einen dumpfen, traumlosen Schlaf versunken, den ich nötig haben sollte, um das Ereignis des folgenden Tages nicht etwa für die Fortsetzung eines nächtlichen Spukes zu halten – das übernatürlichste Ereignis meines Lebens.


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