Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gegen einen Kaufpreis von 48 000 Mark war das alte Prätoriussche Anwesen, Baulichkeiten und Grund und Boden, in den Besitz der Firma Max Schellbach, Berlin, übergegangen.

Mit 34 000 Mark war der alte Klosterbau belastet gewesen, von denen auf den Agenten Hippold allein 23 000 fielen. An sonstigen Schulden hatte Mangold Prätorius noch nahezu 14 000 Mark zusammengerechnet.

Wenn Schellbach die Kaufsumme bar ausgezahlt haben würde, blieb Prätorius nicht das Hemd auf dem Leibe.

Er saß auf Millas Fensterplatz, um sich Schuldscheine und alte Rechnungsbücher aufgetürmt, aber er sah längst nicht mehr hinein, sondern durch die niedern, offenstehenden Fensterscheiben in den grauen Strichregen hinaus, der schon seit der Nacht ununterbrochen niederging. Er saß da, ohne sich zu rühren, stumpf, regungslos. Seit der Würfel gefallen war, lebte er beinahe apathisch dahin. Nichts und niemand vermochte ihn aus seinem dumpfen Brüten aufzureißen.

Ohne daß Mangold Prätorius es bemerkte, wurde die Tür hinter ihm leise ausgeklinkt. Schlurfende, ungleiche Tritte wurden hörbar.

Lene Petersen, die seit vier Wochen täglich stundenlang im Hause war und Milla und Mangold Prätorius versorgte, war eingetreten und setzte einen Teller mit Obst und belegten Brotschnitten vor den Gedankenabwesenden hin.

Mit einer schwerfälligen, ungeduldigen Bewegung schob er den Teller von sich, zuerst wortlos, dann, als die Petersen ihn eifrig zu drängen begann, sagte er mit müdem, verdrossenem Ton: »Lassen Sie mich endlich in Ruh'! Ich mag nicht essen. Wenn Sie einen anständigen Kognak für mich hätten –«

Lene schüttelte sehr energisch den kleinen Kopf mit dem fahlblonden, leicht ergrauten Haar. »Is nicht, Herr Prätorius. Aber essen werden Sie – wenn nicht jetzt, denn in ein paar Stunden. Übrigens« – sie griff in ihre Schürzentasche – »hier ist ein Telegramm.«

Er bewegte abwehrend die Hand. »Geben Sie's meiner Tochter, Petersen.«

»Fräulein Milla ist oben bei Frau Buchberg für den ganzen Tag. Die alte Frau hat heute Geburtstag. Sie hat schon zweimal nach Fräulein Milla geschickt. Es sind gute Nachrichten aus München vom Herrn Lorenz da. Was haben wir jetzt? August! Richtig. Nu denken Sie bloß an, Herr Prätorius, seit Mai ist der junge Mensch erst da in diesem München und bloß Schüler und hat schon ein kleines Bild verkauft. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Wer weiß, Herr Prätorius, vielleicht macht Fräulein Milla an dem noch mal eine gute Partie!«

Mangold schlug so heftig auf den Tisch, daß der Teller auf der Platte klirrte und das Messer in weitem Bogen auf die Erde flog. »Fangen Sie auch noch an, ja! Das fehlte noch! Ich habe immer gemeint, Sie wären ein vernünftiges Frauenzimmer, sonst hätte ich Sie gar nicht hier geduldet. Marsch, Pascholl! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Aber Lene Petersen rührte sich nicht. Sie blieb ruhig vor Prätorius stehen und sagte, so freundlich lächelnd, daß die kleinen Falten um ihre schmalen Lippen ordentlich Leben bekamen: »Ne, wie mich das freut, Herr Prätorius, daß Sie mal wieder ordentlich grob und wütend werden können. Fräulein Milla und ich waren schon so bang. Wir haben geglaubt –«

Mangold hatte die kleine Person so scharf angesehen, daß sie sich nun doch plötzlich unterbrochen hatte. »Es wäre nicht ganz richtig mit mir!« Er lachte scharf und höhnisch auf: »Das könnte schon sein.« – Er legte den Kopf in beide Hände und stöhnte laut.

Mitleidig legte die Petersen ihm die große, zerarbeitete Hand auf die breite Schulter. »Lassen Sie man gut sein, Herr Prätorius. Es kommt auch wieder anders. Das ganze Leben kommt mir immer wie 'ne Wippe vor. Einmal unten und einmal oben, nur daß die Fidelen länger oben bleiben und sich da oben eins singen. Na, und nu machen Sie mal das Telegramm auf. Vielleicht steht was Gutes drin.«

Prätorius löste die kleine, blaue Marke: Komme heute nachmittag zu kurzer Unterredung. Schellbach.

Die Faust sank Prätorius schwer aus den Tisch. Was wollte er schon wieder, der Satte, Feine, Vornehme, bei ihm, dem heimatlosen Vagabunden? Sich ergötzen an seinem Elend? Hatte er ihn nicht genug gequält mit seiner Gegenwart, solange sie unumgänglich gewesen war; jetzt, da der Würfel gefallen, was wollte er noch von ihm? Die paar Wochen, da er das Dach seiner Väter noch überm Kopf hatte, durfte er ihm schon seine Ruhe lassen.

Seine Ruhe? Prätorius war laut lachend aufgestanden und ging mit großen, schweren Schritten in dem kahlen Gemach auf und ab. Dann blieb er mit einer plötzlichen Wendung vor Lene Petersen stehen. »Gehen Sie aufs Telegraphenamt, Petersen, aber rasch –«, er kramte in den Taschen nach kleinen Münzen, konnte aber augenscheinlich nichts finden. »Telegraphieren Sie, ich wäre krank oder verreist, was Sie wollen, daß er mir nur nicht ins Haus kommt. Adresse: Schellbach, Berlin, Linkstraße 7.«

Aber die kleine Petersen schüttelte wieder mal sehr energisch den Kopf. »Es ist bald zwölf, Herr Prätorius. Der Mann sitzt wohl schon auf der Bahn. Und dann, Sie wissen ja gar nicht, was er von Ihnen will. Vielleicht setzt er sich unten auf die Wippe, und Sie fliegen nach oben und werden fidel und singen! Immer sachte dem Schicksal seinen Lauf lassen. Nicht zwischen die Räder fassen, pflegte meine Mutter selig zu sagen, und die war nicht auf den Kopf gefallen.«

»Also Sie wollen nicht?«

»Nein.«

»Wie's beliebt.« Er warf sich in den nächstbesten Stuhl, daß das alte, morsche Holz in den Fugen knackte, und zuckte mit den Schultern. »Schließlich, was liegt daran, wenn der ganze Kram ohnedies verpfuscht ist.«

Lene Petersen hatte ihm den Teller mit den Butterbroten nochmals dicht vor die Nase gerückt. »Um zwei Uhr bring' ich Mittag, Herr Prätorius, denn nachher geh ich nach Hause, Hammelfleisch mit Krautsalat, Ihr Leibgericht, Herr Prätorius. Ich bitte mir aber auch aus, daß Sie essen. Und den Kaffee mach' ich auch gleich für den Herrn Schellbach mit. Die Lina braucht ihn nachher bloß aufzuwärmen. Und das Geschirr stell' ich bereit.«

»Schön, schön«, schrie Prätorius gereizt und stieß ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Und wann wird meine Tochter die Gnade haben, nach Hause zu kommen?«

»Ich denke, so um neun 'rum wird die Feier oben zu Ende sein.«

»Daß ich nicht lache! Bilden Sie sich ein, ich werde mit dem zudringlichen Berliner den Nachmittag über allein sitzen? Um fünf ist mir die Milla zu Hause, dafür werden Sie sorgen, Petersen.«

Die Kleine zuckte mit den spitzigen Achseln. »Wenn Sie durchaus so wollen, Herr Prätorius! Aber schön finde ich's nicht von Ihnen, der Milla die paar magern Vergnügungen zu mißgönnen, die das arme Mädel hat.«

Prätorius brummelte etwas vor sich hin, das Lene zwar nicht verstand, aber schlau zu Millas Gunsten auslegte. »Sehen Sie, das ist nett von Ihnen, Herr Prätorius. Also um achte, sag' ich ihr, soll sie runterkommen.«

Damit huschte Lene Petersen zur Tür hinaus, ohne auf den groben Nachruf des gereizten Mannes zu achten.

Gegen vier Uhr klingelte es an dem alten schweren Haustor von der Grauen Gasse her. Lina, die kleine, schlumpige Aushilfsmagd, die Lene während ihrer Abwesenheit vertrat und das Haus hüten half, meldete grinsend: »Der Herr aus Berlin.«

Schellbach folgte ihr auf dem Fuß. Er begrüßte Prätorius wärmer, als es sonst der Fall gewesen war. Dann blickte er betroffen auf den Mann, der in den vier Wochen, daß er ihn nicht gesehen hatte, um Jahre gealtert schien. Überdies sah er herabgekommen und vernachlässigt aus. Haar und Bart waren ungepflegt. Unter der graugrünen Jagdjoppe sah nur das lockere, graue Flanellhemd ohne Weste, Kragen und Krawatte hervor. Seine sonst so stramme Haltung war müde und gebückt. »Ist Ihnen nicht gut, Herr Prätorius? Sie sehen angegriffen aus.«

Der andere wehrte, nur mühsam seiner gereizten Stimmung Herr werdend, ab. Wie bitter und ironisch die Antwort klang, daß es ihm im Gegenteil ganz vortrefflich gehe, wußte er selbst wohl kaum. Er bot seinem Gast einen Stuhl und eine Zigarre an.

Nachdem Lina klappernd den kaum erwärmten Kaffee aufgetragen hatte, fragte Mangold nervös nach dem Grunde von Schellbachs Kommen.

Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit nahm der Ingenieur das Wort. »Sie wundern sich, Herr Prätorius – ja – ich dachte mir's fast, da wir mit den Geschäften ja ganz klar sind. Die ganze Summe wird, wie vereinbart, am 1. September ausgezahlt. Wenn Ihnen indes davon heute vielleicht schon ein paar tausend –«

Prätorius schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, lassen wir die Dinge, wie sie einmal ausgemacht sind.«

Weshalb, dachte Prätorius bei sich, soll Hippold, der Blutsauger, schon heut anfangen, seinen Raub beiseite zu bringen? Ausschnüffeln tut's der Kerl ja doch gleich.

Schellbach hatte die Hand wieder von der Brusttasche genommen. Er machte eine kleine Pause, ehe er fortfuhr. Augenscheinlich lag ihm daran, das, was er zu sagen hatte, sorgfältig in die richtige Form zu kleiden. »Wir haben bisher immer nur von Geschäften miteinander gesprochen, Herr Prätorius, heut komm' ich, wenn ich so sagen darf, als Freund – um –«

Mangold fuhr zusammen. Er hatte eine heftige Abwehr auf den Lippen, aber er zwang sich mühsam zu dem Versuch, in die alte Apathie zurück zu verfallen, die ihm während der letzten Wochen wenigstens so etwas wie Ruhe nach dem Sturm gebracht hatte.

Schellbach war inzwischen Mangold um ein paar Schritte breit näher gerückt und sagte nun halblaut: »Wenn ich fragen darf, Herr Prätorius, ist Fräulein Kamilla zugegen?«

»Nein.« – Prätorius' Gesicht fing an, sich ein wenig aufzuhellen. »Handelt es sich etwa um eine Überraschung für meine Tochter, um den zu erhaltenden Mittelbau?«

»Auch das, Herr Prätorius. Es ist mancherlei darüber besprochen, zum Teil auch schon festgesetzt worden. Indes der Bau wird zwei Jahre in Anspruch nehmen, bis dahin wird auch der Mittelbau nicht wieder bewohnbar sein.«

»Und wenn er fertig ist, Herr Schellbach, werden wir die Miete dafür nicht zahlen können!« fuhr Mangold bitter heraus.

»Mein werter Herr,« beruhigte Schellbach, »das findet sich alles später. Vorerst handelt es sich um die nächsten zwei Jahre – und da wollte ich mir erlauben, einen freundschaftlichen Rat zu geben, oder vielmehr, eine Bitte auszusprechen –«

»Eine Bitte – Sie an mich? Ich höre wohl nicht recht, Herr Schellbach?«

»Eine Bitte, ja, Herr Prätorius, Sie haben mich ganz richtig verstanden. Eine große, herzliche Bitte.«

Prätorius traute noch immer seinen Ohren nicht. Sollte er sich in diesem Mann so gründlich getäuscht haben? Sollte er nicht den Besitzenden, auf der Höhe des Lebens Stehenden, herausbeißen wollen? Sollte ihn wirklich etwas anderes herausgetrieben haben, als der Wunsch, sich an dem Elend des Herabgekommenen zu werden?

»Es handelt sich nämlich darum – ich möchte den Versuch machen, Sie zu überreden, Herr Prätorius –, mit Ihrer Tochter während dieser zwei Jahre nach Berlin überzusiedeln!«

Mangold lachte laut und hart auf. »Sie scheinen nicht zu wissen, Herr Ingenieur, daß von der gesamten Kaufsumme mir nicht ein roter Heller bleibt.«

»Ich weiß es sehr wohl«, erwiderte Schellbach mit ernster Freundlichkeit, in die er sich hütete, auch nur etwas von dem Mitleid zu legen, das er für den gebrochenen Mann empfand. »Und gerade darum schlag ich Ihnen vor, nach Berlin zu kommen. Ich denke, es findet sich in meinen Werken ein geeigneter Posten für Sie –«

Mangold schüttelte den Kopf. »Mit meinen fünfzig Jahren und der rastlosen Lebensweise, die ich geführt, findet sich für mich nichts mehr. Ich hab's da drüben versucht –« er wies mit dem Finger nach der roten Backsteinmauer der Fabrik – »sie haben mich bald genug wieder weggeschickt.«

»Berlin ist ein anderer Boden, Herr Prätorius. Er bietet Ihnen manches, in dem Sie sich ausleben können, sozusagen das Gegengewicht für ungewohnte seßhafte Arbeit.«

Mangold schüttelte so heftig den Kopf, daß sein dichtes graues Haar ihn wie eine Mähne umwallte. »Berlin ist kein Boden für uns, Herr Schellbach. Es mag gut gemeint sein von Ihnen, aber selbst wenn ich mich entschließen könnte, auf ein paar Jahre die Graue Gasse zu verlassen, meine Tochter wird sich schwerlich dazu bereit finden lassen.«

Schellbach erschrak. Ein fahler Schein rann über sein Gesicht. »Wie meinen Sie das, Herr Prätorius? Gerade Ihre Tochter würde sich nie entschließen? Nur unter diesen besonderen Verhältnissen nicht, oder überhaupt – niemals?«

»Ja, wer soll das wohl entscheiden, Herr Ingenieur! Soweit ich mein Mädel kenne, taugt sie ihrer ganzen Natur nach nicht in die große Stadt. Sie ist wie alle Prätorius' eng mit dem kleinen Nest und der Grauen Gasse verwachsen. Aber sie ist noch jung, eben zwanzig. Wer will wissen, was da noch kommen mag.«

Es klang wie ein schwacher Seufzer der Erleichterung von den Lippen des andern her. Dann rückte er unruhig mit dem Stuhl, stand auf, ging ein paarmal langsam durch das Zimmer, trat ans Fenster, vor dem der Regen noch immer strichweise niederging, und stellte sich dann vor Prätorius hin. »Daß ich's nur endlich ehrlich heraussage, Herr Prätorius, es treibt mich noch ein andrer Wunsch als mein eben geäußerter Vorschlag her. Würden Sie geneigt sein, eine Werbung um die Hand Ihrer Tochter zu unterstützen? Glauben Sie, daß Fräulein Kamilla sich entschließen würde, meine Frau zu werden, ihrer Jugend, meinen halberwachsenen Kindern, meinen fünfundvierzig Jahren zum Trotz?«

Prätorius war aufgeschnellt. Wenn die alten, dicken Klostermauern rings um ihn krachend und polternd eingestürzt wären, hätte er nicht fassungsloser dastehen können. Dieser Mann, von dem er nicht einmal geahnt hatte, daß er frei sei, dieser Mann, wohlhabend, angesehen, soweit er es beurteilen konnte, hervorragend gebildet, eine schöne, vornehme Erscheinung, bewarb sich um Millas Hand? Der letzte Prätorius sollte nicht wie ein Hund in irgendeinem schmutzigen Winkel verenden? Er sollte das Haupt wieder erheben, stolz auf sein Kind, auf ein kommendes Geschlecht blicken dürfen, das, wenn auch nicht seines Namens, doch seines Blutes war! Er griff mit der Hand an die Stirn, fuhr sich über Augen und Schläfen – ja, lebte er denn – oder hatte sein elendes Dasein plötzlich ein jähes Ende genommen – und was er sah und hörte, sah und hörte er das aus einer bessern Welt, an die er sich in verzweifelten Stunden zuweilen geklammert hatte?

Stammelnd und stotternd stieß er abgerissene Worte hervor, aus denen etwa vernehmbar war, daß er von einer Witwerschaft Schellbachs nichts geahnt habe und daß er ganz gewiß dafür sorgen werde, daß seine Tochter –

Schellbach unterbrach den Aufgeregten mit ruhiger Freundlichkeit. »Ich bin nicht Witwer, sondern von meiner Frau geschieden. Fräulein Kamilla ist dieser Umstand zuerst durch meinen Sohn bekanntgeworden. Die äußeren Verhältnisse liegen so, daß meine Frau keinerlei Ansprüche mehr an mich hat und beide Kinder mir zugesprochen sind. Meinen Walter kennen Sie. Es hat mich sehr glücklich gemacht, daß offenkundig schon beim ersten Zusammensein eine herzliche Sympathie zwischen ihm und Fräulein Kamilla wach geworden ist. Auch meine Tochter« – er stutzte einen Augenblick und sagte dann etwas hastig – »dürfte kein Hinderungsgrund für ein glückliches Familienleben sein. Wenn beide Kinder auch grundverschieden sind, so bin ich doch überzeugt, daß gerade eine Frau von dem Charakter und der Wesensart Fräulein Kamillas« – ein stilles Lächeln flog über das Gesicht des ernsten Mannes – »der kleinen Auswüchse und Ecken in der Natur dieses Kindes, dem vor allem die Mutter fehlt, mühelos Herr werden wird.«

Schellbach machte eine kleine Pause, dann wandte er sich voll zu Mangold Prätorius, der noch immer wie erstarrt und versteinert ihm gegenüberstand. »Ich möchte aber gleich von vornherein betonen, mein lieber Herr Prätorius, daß ich in Fräulein Kamilla nicht in erster Stelle eine Mutter für meine Kinder, sondern eine Frau nach meinem Herzen suche und von Ihnen erbitte.«

Er hatte Prätorius die Hand entgegengestreckt, die der von dieser plötzlichen Schicksalswendung bis in die Grundfesten erschütterte Mann mit beiden Händen ergriff. »Ich danke Ihnen, Herr Schellbach. Was mich betrifft, so sage ich von ganzem Herzen ja. Ich kann mir kein besseres Glück für mein Kind wünschen. Bei Ihnen wird sie die Graue Gasse ja auch wohl vergessen lernen.« Mit allem, was drum und dran ist, fügte er für sich hinzu und warf einen kurzen, ingrimmigen Blick zu dem roten Fabrikschornstein hinüber.

Schellbach hatte den Druck der Hand warm erwidert. Dann hatte er seinen Hut genommen und schickte sich an, sich von Prätorius zu verabschieden.

»Wie denn, Herr Schellbach, Sie wollen nicht auf Kamilla warten?«

Schellbach schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie nicht überrumpeln. Ich möchte ihr Zeit lassen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie soll in nichts einen Zwang empfinden. Sie ist noch sehr jung. Nach Art der jungen Mädchen hat sie jedenfalls einen andern Zukunftstraum geträumt, als die Frau eines soviel ältern Mannes, die Mutter von zwei halberwachsenen Kindern zu werden. Noch einmal, lassen wir ihr Zeit! Die freundliche Gesinnung, die Fräulein Kamilla mir gezeigt hat, läßt mich hoffen, daß sie mit der Zeit meine Zuneigung erwidern wird. Sie werden am besten wissen, mein lieber Herr Prätorius, was und wieviel von dem, was wir gesprochen haben, Sie Ihrer Tochter sagen können. Ich lege mein Glück in Ihre Hand.«

Er verabschiedete sich rasch. Mangold war kaum zum Bewußtsein gekommen, daß der Ingenieur nicht mehr neben ihm stand, als er das schwere Haustor auch schon ins Schloß fallen hörte. – –

*

Der graue Strichregen hatte mit kurzen Unterbrechungen den ganzen August und darüber angehalten. Erst jetzt um die Mitte September lachte der von Wolken und Dünsten gründlich reingefegte Himmel wieder in köstlicher Bläue über der Landschaft.

Vor dem durchbrochenen eisernen Gittertor der Fabrik hielt ein schwerfälliger, altmodischer Viersitzer, mit zwei starken Braunen bespannt. Schon über eine Viertelstunde hatte der junge Mensch auf dem Kutscherbock in die Sonne geblinzelt, ohne, daß sich in der sonntäglichen Stille etwas geregt hätte.

Die Braunen fingen trotz ihrer scheinbaren Schwerfälligkeit bereits ungeduldig mit den Hufen zu scharren an, als sich die kleine Tür am Verwaltungsbureau öffnete und der Direktor mit Sadus die niedern Stufen hinabstieg.

Meilsheim trat an den Wagen und gab dem Kutscher Weisung, ihn auf der Prebitzer Chaussee zu erwarten. »Sie wissen, Jochen, bei der großen Kreuzung, wo Sie schon ein paarmal auf die Kinder gewartet haben, wenn sie von der Waldmühle kamen.«

Jochen nickte kurz. Er war froh, mit seinen Braunen endlich von der Stelle zu kommen. Dann zog er die Zügel an und fuhr in scharfem Bogen links ab.

Meilsheim hatte sich zu Sadus zurückgewandt, der wartend an der Treppe stehengeblieben war. »Es ist Ihnen doch recht, Sadus, wenn ich Sie ein Stückchen begleite? Es plaudert sich famos beim Gehen, und wenn man die ganze Woche gesessen hat wie wir beide, ist es eigentlich Selbstpflicht, einen so herrlichen Sonntag auszunutzen.«

»Sie wissen, Herr Direktor, das ist von jeher mein Prinzip gewesen, nur ist es mir leider in den drei Jahren, daß ich bei Ihnen bin, noch immer nicht gelungen, Sie dazu zu bekehren.«

Meilsheim zuckte die Achseln und sagte in erkünstelt klagendem Ton: »Lieber Gott, bei einem Gatten und Familienvater großen Stils gehen die Dinge nicht immer so, wie man will. Bald gibt es dies, bald gibt es das. Ja, ihr Junggesellen habt's gut! Besser, als ihr's verdient.«

Sadus lachte. »Und doch haben Sie sich in den acht Tagen, seit Ihre Frau Gemahlin mit den Kindern in Prebitz ist, kreuzunglücklich gefühlt.«

Auch der Direktor fing zu lachen an. »Sie übertreiben, mein Lieber. Aber was Wahres ist dran. Drum hole ich mir die ganze Bande auch heute zurück.«

Sie waren in der Richtung, die Jochen mit den Braunen eingeschlagen hatte, an den See hinuntergegangen und schritten an dem leise rauschenden Röhricht entlang dem Walde zu. »Ja, also, lieber Sadus, um unser voriges Gespräch wieder aufzunehmen, irgend etwas muß geschehen, unsere jungen Leute auf den Damm zu bringen, sie künstlerisch anzuregen. So, wie jetzt bei uns gearbeitet wird, halten wir die Konkurrenz kaum aus, geschweige denn, daß wir uns zu einem hervorragenden Platz in der Branche aufschwingen, und das soll und muß in künstlerischer sowohl als in materieller Hinsicht geschehen, und zwar bald.«

Meilsheim, dessen Ton anfangs durchaus leicht gewesen, war nach und nach ernster und am Ende sehr bestimmt geworden.

»Unsre jungen Leute sind in diesem Nest eben gar zu weit vom Schuß«, sagte Sadus entschuldigend. »Jede Fortbildungsmöglichkeit, jede Anregung durch erweiterte Anschauung fehlt ihnen. In großen oder Mittelstädten ist das eben anders – es fehlt ihnen –«

Meilsheim schlug mit dem eleganten Spazierstock, den er in der Hand trug, heftig auf einen im Wege liegenden Stein. »Lorenz Buchberg, das ist das ganze Geheimnis. Ich war ein Esel, ihn gehen zu lassen. Er mit seinem künstlerischen Temperament war mehr wert als hundert Museen und Sammlungen und anderer Kram. Nicht allein mit dem, was er selbst leistete, sondern vor allem mit dem Einfluß, den seine ganze Persönlichkeit unbewußt auf die verschlafene Bande ausübte. Nichts für ungut, Sadus« – Meilsheim legte seinem Mitarbeiter und Vertrauten die Hand auf die Schulter – »Sie mögen dem Jungen und meinetwegen der Kunst einen Gefallen getan haben, der Fabrik haben Sie keinen getan.«

Sadus war darauf vorbereitet gewesen, daß dieser Augenblick einmal kommen würde; Meilsheims wachsende Unzufriedenheit mit den Leistungen seiner Zeichner hatte schon lange darauf hingedeutet. So war Sadus auch lange auf die Antwort vorbereitet, die er in diesem Augenblick zu geben hatte. »Richten wir eine Zeichenklasse ein, lieber Direktor. Die Kunstgewerbeschule in Berlin wird uns sicherlich einen geeigneten jungen Mann zur Verfügung stellen können, der sich für den Posten eines Leiters schickt. Mag er gleich ein paar Schüler mitbringen, die sich für unsere Branche auszubilden gedenken. Das gibt frisches Blut in unsere augenblickliche Stagnation, die übrigens wirklich nicht so schlimm ist, wie Sie sie machen.«

Meilsheim antwortete nicht gleich. Nachdenklich und auch ein wenig ärgerlich schlug er mit dem Stock in den weichen Seesand, daß er aufstäubte. Dann sagte er mit einem gewissen kleinlichen Eigensinn, der den großzügigen, zielbewußten Mann zuweilen befiel: »Glauben Sie, daß Buchberg die Stelle eines solchen Leiters annehmen, würde?«

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Sadus unwillig und sehr bestimmt. »Und das wäre auch durchaus verfehlt, für alle Teile, und ein großes Unrecht, wollte man Buchberg aus einem Boden wieder herausreißen, in dem er kaum festen Fuß gefaßt haben wird.«

»Er kann ja in seinem München noch gar nicht warm geworden sein«, brummte Meilsheim. »Wissen Sie nichts von ihm?«

»Wenig, Herr Direktor.«

»Und Fräulein Prätorius? Oder bestehen diese Beziehungen nicht mehr?«

»Ich denke doch; ich habe Fräulein Kamilla lange nicht mehr gesprochen.«

Meilsheim führte, kurz ehe sie in den Wald abbogen, einen weiteren Hieb gegen den weißen Sandboden aus. »Wie wär's, Sadus, wenn Sie mal mit dem Fräulein sprächen? Ich habe meinen Plan durchaus nicht als einen Gewaltakt gedacht. Vielleicht geht die Sache in München doch nicht so, wie der Jüngling sich's gedacht hat, oder er sehnt sich wenigstens nach einer zeitweiligen Rückkehr in die Graue Gasse. Wenn man eine Braut von der Schönheit des Fräulein Prätorius besitzt –! Was meinen Sie dazu, Sadus, wollen Sie dem Mädchen mal auf eines seiner entzückenden Zähnchen fühlen?«

Über Sadus' Gesicht war eine Wolke gegangen. Nur zögernd meinte er: »Wenn Sie so wollen, Herr Direktor, spreche ich gelegentlich mit Fräulein Prätorius. Aber ich weiß von vornherein, es wird vergebens sein. Wie ich Buchberg kenne, hält er zähe fest und soll es auch.«

»Nun, nun, wie gesagt, es handelt sich um keinen Gewaltakt, Sadus. Wenn Sie dem Fräulein vorschlagen, daß sich Buchberg auf ein paar Tage hier sehen läßt – diese beiden von Habenichtse werden ja gegen ein Wiedersehen auf meine Kosten nichts einzuwenden haben –«

»Schwerlich, Herr Direktor.«

»Man könnte sich dann mal mit dem Jungen aussprechen – bekäme Fühlung, ob man ihm wirklich was Erkleckliches raubte, wenn man ihn überredete, in eine bevorzugte Stellung zurückzukehren. Es braucht ja nicht auf immer zu sein. Nur daß wir die Karre mal aus dem Dreck kriegen. Also, klopfen Sie mal an, Sadus. Übrigens, was wird zunächst aus dem Prätorius? Ich höre, der Handel mit dem Berliner ist seit dem Ersten perfekt?«

»Ja, die Übergabe ist zugleich mit der Ausbezahlung der Gesamtsumme am ersten September erfolgt. Um Anfang Oktober müssen Vater und Tochter den alten Raubbau verlassen.«

»Und was ist dem wilden Mangold zum Leben geblieben?«

»Nicht ein roter Heller. Das letzte hat Hippold in seine weite Tasche gesteckt!«

»Verflucht! Was fangen die Leute nun an?« Sadus zuckte die Achseln. Meilsheim schmunzelte und schlug dem Freund auf die Schulter.

»Wenn Sie gescheit sind, Sadus, reden Sie bei Ihrer warmen Freundschaft für die Prätorius meinem Vorschlag das Wort. Ich gebe dem Jungen ohne weiteres ein Monatsgehalt, daß er die schöne Kamilla vom Fleck weg heiraten kann.«

Sadus antwortete nicht. Schwerbedrückt ging er neben dem Direktor her.

»Wo werden Vater und Tochter ihr Haupt niederlegen, wenn die Dinge so stehen?«

»Soweit ich unterrichtet bin, geht der Alte mit seinem neuen Intimus Drehws, den der Dochower an die Luft gesetzt hat, als Verwalter auf ein Vorwerk hier in der Nähe. Fräulein Kamilla will vorerst den Winter über hierbleiben. Die Petersen hat ihr ein Zimmer abgetreten.«

»Armer Wurm«, brummte Meilsheim. Sie waren längst in den Wald eingebogen und schritten unter den schattigen, vollaubigen Eichen und Buchen hin, auf die Prebitzer Chaussee und die Kreuzung zu, die Meilsheim seinem Kutscher angegeben hatte. Es war noch früh am Tage und der Wald still und menschenleer. Erst um die Mittagsstunde pflegten sich die breiten Waldwege zu beleben, wurde es laut im Revier der Waldmühle.

Eine Weile gingen die beiden wortlos nebeneinander her. So still war's, daß man das Fallen eines Blattes, einer Eichel oder Buchecker, eines dürren Zweiges minutenweit vernahm. Erst kurz vor der Chaussee nahm Meilsheim das Gespräch wieder auf, ohne daß Sadus, der seinen Gedanken nachhing, näher darauf eingegangen wäre. Jochens lautes Knallen erst riß ihn aus seinem Brüten. Der Direktor sah auf die Uhr und beschleunigte seinen Schritt.

»Uijeh, es wird Zeit, daß ich zu meinen Braunen komme, wenn ich in Prebitz noch ein Mittagbrot finden will. Schwiegermama ist nicht fürs Nachservieren.«

Jochen grinste, als er seinen Herrn kommen sah. Die dicken Braunen hatten's nötig, sich endlich auf der glatten Waldchaussee auszulaufen.

Sadus hatte, nachdem er sich von Meilsheim verabschiedet, den geraden Weg nach der Waldmühle nicht weiter verfolgt. Es war erst eben elf vorüber. Um ein Uhr wollte er bei Frau Hegemann zu Mittag essen, bis dahin blieben ihm noch zwei Stunden, die er zu einem Gang nach dem tief waldeinwärts gebetteten Pechsee verwenden wollte, dem romantischsten und einsamsten Punkt in dem weiten Waldrevier.

Nicht leicht waren die Gedanken, die mit ihm gingen. Das Versprechen, das er Meilsheim gegeben, lastete schwer auf ihm. Auch nur den Versuch zu machen, Lorenz Buchberg aus der kaum begonnenen Lehrzeit herauszureißen, schien ihm unverantwortlich. Das Angebot, das der Direktor dem jungen Menschen zu machen gedachte, dünkte Sadus eine sträfliche Versuchung. Er kannte Lorenz Buchberg nicht genau genug, um beurteilen zu können, ob er einer solchen Versuchung standzuhalten fähig war oder ob er ihr unbedingt unterliegen müsse.

Wohl aber konnte er sich vorstellen, daß der Warmblütige, zu jähen Impulsen Geneigte in einem Augenblick der Unzufriedenheit mit sich selbst oder den Verhältnissen alles endlich Erreichte über den Haufen zu werfen imstande sein könne, verlockt durch eine Aussicht, die ihm die baldige Vereinigung mit Kamilla Prätorius möglich machte.

Alles in allem bedrückte es den Gewissenhaften, sich zur Vermittlung eines Antrags herzugeben, den er, streng genommen, für unmoralisch hielt.

Sadus verlangsamte den Schritt, ja, er blieb plötzlich tief in Gedanken stehen, so deutlich trat das Bild des Mädchens, das trotz allen Kampfes seine Seele noch immer erfüllte, vor ihn hin. Er sah sie, wie er sie zuletzt, unbemerkt von ihr selbst, gesehen hatte, an einem grauen Tage um das Ende August.

Bleicher noch als sonst hatte sie am Seeufer zwischen dem Röhricht gestanden. Der kalte, feuchte Wind hatte mit dem herrlichen Haar ihres unbedeckten Hauptes gespielt. Ihre Hände waren krampfhaft ineinandergeschlungen gewesen, wie zum Gebet. Die vorgebeugte, schlaffe Haltung, der matte glanzlose Blick hatten ihn tief erschreckt.

Fraß die Sehnsucht nach dem fernen Geliebten ihr so tief am Herzen? War es die Sorge um den kommenden Tag? Hatte etwas sie betroffen, was außerhalb seines Wissens lag? Er hatte das Bild seither nicht vergessen können, aber so deutlich wie jetzt hatte es nicht wieder vor ihm gestanden, seit er es leiblich vor Augen gehabt. Wollte das traurige Gesicht ihn mahnen, ihn erflehen, den zurückzurufen, der allein allem Bangen ein Ende machen konnte?

Sadus fuhr mit der Hand ein paarmal über Stirn und Augen, als ob er etwas wegwischen wollte, was nicht dahin gehörte. Schneller ausschreitend, setzte er seinen Weg fort. Nach und nach kam ein heftiger Zorn gegen sich selbst über ihn. Was ging ihn dieses junge Mädchen, diese Milla Prätorius, die Braut eines andern an? Warum war er noch immer nicht Herr über diese traurige, aussichtslose Neigung geworden? Warum verdarb er sich die kargen Feierstunden seines arbeitsreichen Daseins mit dem Gram, den sie um einen andern hegte? Warum quälte er sich mit dem Abwägen dessen, was Pflicht oder Nichtpflicht gegen diesen andern war? Fort mit den Torheiten! Er würde den Auftrag ausführen, der ihm gegeben worden war, den Auftrag des Brotherrn an den Angestellten, und zwar so rasch als möglich, damit er die Sache los war. Vielleicht konnte er heute gegen Abend noch in der Grauen Gasse vorsprechen. Ging man da und in München auf Meilsheims Vorschlag ein, dann stand ja auch die Heirat der beiden vor der Tür, und die Dinge kamen zu einem Abschluß, der ihm weder Kopf- noch Herzweh mehr bereiten würde. Er wäre ja ein Narr gewesen, dazu die Hand nicht bieten zu wollen.

Durch eine kleine Waldlichtung wurde der Pechsee sichtbar. Es war ein entzückender Blick. Ganz langsam und allmählich fiel der Weg zu der kleinen, tiefdunkeln Wasserfläche ab, die von Buchen, Eichen und dunkeln Föhren dicht umstanden war. Das Vorland, von dem Weg her gesehen, auf dem Sadus stehengeblieben war, bildete einen smaragdgrünen Wiesenteppich, mit ganz vereinzelten mächtigen Eichen- und Buchenstämmen bestanden. Der durch die Zweige hell einfallende Sonnenschein warf schillernde, goldene Flecke auf das grüne Wiesenland, über dem wolkenlos der Septemberhimmel blaute. Sadus stand noch immer und sah auf das reizende Fleckchen Erde, als plötzlich eine weibliche Stimme in seiner Nähe hörbar wurde.

Sie sprach eindringlich mit monotonem Tonfall und nicht eben wohllautendem Organ. Sadus mußte diese Stimme schon irgendwo gehört haben, im Zusammenhang mit etwas Liebem, Erfreulichem. Er tat ein paar Schritte auf dem Wege vorwärts und blickte nach rechts auf das Seeufer hinab, von dem die Stimme ihm zu kommen schien.

Das Sonnenlicht blendete auf der freien grünen Fläche unter ihm. Er mußte das stundenlang an das Waldesdunkel gewöhnte Auge erst ungewöhnlich anstrengen, ehe er einzelnes unterschied. Die Hand über die Augen legend, erkannte er unter einem kantigen Vorsprung, den der obere Weg über dem Wiesenland machte, zwei weibliche Gestalten, eine lässig ins Wiesengrün hingestreckt, die zweite aufrecht stehend mit schiefen Schultern und kleinem Kopf, der ihre Rede mit lebhaften Bewegungen begleitete – Lene Petersen.

Eine starke Bewegung, deren er vergeblich Herr zu werden trachtete, überlief den Mann oben am Wegrand. Kein Zweifel, die schlanke Gestalt im Grase da unten war Kamilla Prätorius. Mit wem sonst sollte die Petersen sich am Sonntagmorgen im Walde verlieren? Jetzt glitt, bei einer langsamen, müden Bewegung der Liegenden, ein Sonnenstrahl über das unbedeckte Haupt und vergoldete einen sattbraunen, ins Rötliche spielenden Haarknoten, der tief auf einen weißen Nacken fiel. Sadus murmelte Undeutliches vor sich hin. Einen Augenblick war er gewillt zu gehen, dann wandte er entschlossen die Schritte auf die Waldwiese am See zu. Was nützte der Aufschub, da es doch einmal geschehen mußte! Und da er sie ohne den Vater traf, umging er wenigstens den Einfluß von Mangold Prätorius auf Millas Wünsche und Entschlüsse.

Beim Nahen des Mannes, den ihre kleinen, kurzsichtigen Augen nicht gleich erkannten, hatte die Petersen zu sprechen aufgehört; gleichzeitig hatte sich Kamilla aus ihrer lässigen Haltung erhoben und sich mit dem Rücken gegen den alten Baumstamm gelehnt, unter dessen Dach sie geruht hatte. Als sie Sadus erkannte, sprang sie freudig erregt auf und ging ihm entgegen. Etwas Warmes, Zuversichtliches kam über sie, als sie nach langer Zeit den Mann wiedererblickte, der ihr ein Stückchen von Lorenz Buchberg zu sein schien.

Ein zartes Rot der Freude huschte über ihr Gesicht. »Herr Sadus, welch eine frohe Überraschung!«

Er nahm die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und drückte sie freundschaftlich. »Das sag' ich auch, Fräulein Prätorius! Wir haben uns lange nicht gesehen!«

Auch die Petersen bekam ihren Teil von der Begrüßung. Aber da sie für keinen von den »Fabrikleuten« sonderlich viel übrig hatte, kam ihr diese unerwartete Begegnung nur insofern gelegen, als sie für Milla vielleicht eine Abwechslung bot, die für das einsame liebe Geschöpf dringend vonnöten war. Unendlich überflüssig kam sie sich selbst dabei vor, und so verabschiedete sie sich auf ein halbes Stündchen oder mehr, um eine bestimmte Art wohlschmeckender Pilze zu suchen, die gerade um den Pechsee zu finden waren.

Milla hatte sich wieder auf ihren Platz mit dem Rücken gegen die alte Eiche gesetzt. Sadus stand vor ihr und sah ihr in das müde, wieder bleich gewordene Gesicht, in die matten, bläulich umschatteten Augen. Wie mußte sie leiden, gelitten haben! Er setzte sich neben sie auf einen abgehauenen Stamm und erzählte ihr von diesem und jenem, von kleinen Vorkommnissen in der Fabrik, von denen er wußte, daß sie Interesse für sie hatten, von den Meilsheimschen Kindern, die seit acht Tagen bei der Großmama in Prebitz waren. Nach einer Weile sprach er von dem Direktor selbst; ganz allmählich ging er dann auf die Zeichenabteilung über und machte vorsichtig eine Bemerkung darüber, wie sehr Lorenz Buchberg im Zeichensaal vermißt werde.

Da Kamilla schweigsam blieb und halb abgewendet von ihm mechanisch mit einem Grashalm spielte, den sie aus dem Boden gerissen hatte, überfiel Sadus ein jäher Schreck: Wenn Kamilla und Buchberg einander aufgegeben hätten? Wenn es zu Ende wäre zwischen ihnen? Wenn es dies wäre, um das Kamilla litt! Wie durfte er dann an die Wunde rühren und auch nur den Namen des Verlorenen nennen! Er sah das Mädchen von der Seite an und wartete beklommen, daß sie etwas sagen würde.

Endlich, wie aus einem Traum erwachend, kehrte sie ihm das Gesicht wieder zu. »Ich habe schon lange einen Gruß von Lorenz an Sie, Herr Sadus.«

Wie von einem Alp befreit, sprang er lebhaft auf.

»Ach, das freut mich, das freut mich. Und wie geht es ihm denn?«

Kamilla zupfte wieder an dem Grashalm. »O, sehr gut – seine Mutter sagte mir gestern –« sie verbesserte sich, während ein leichtes Rot der Verlegenheit über ihre Wangen ging – »das heißt, er schrieb auch mir erst gestern, daß er sich sehr wohl fühle, daß München seine kühnsten Träume übertreffe und daß sein Meister sehr mit ihm zufrieden sei. Er hat ja auch schon ein kleines Bild gemalt und verkauft.«

Kamilla hatte bisher trübe vor sich hingesprochen. Erst als sie des verkauften Bildes gedachte, kam ein stolzer und freudiger Ton in ihre Rede.

»So haben also auch Sie allen Grund zur Zufriedenheit, Fräulein Prätorius. Darf ich mir als alter Freund Buchbergs eine kleine Mahnung erlauben?«

Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern trat ein paar Schritte auf sie zu. »Sie sollten die Trennung nicht so schwer nehmen, liebes Fräulein Kamilla! Sie sind so jung, das Leben liegt vor Ihnen, reich und schön. Diese letzte Prüfung wird auch vorübergehen!«

Ihre Augen sahen mit traurigem Blick zu ihm auf. Um ihren schönen, herben Mund lag ein Zug kaum verhehlter Bitterkeit, aber sie sprach noch immer nicht.

»Wenn ich Sie so vor mir sehe und ich vergleiche Sie dann mit dem zarten, so lebensfrohen Bildchen, das Lorenz von Ihnen gemalt hat und auf dessen Besitz ich stolz bin, dann tut es mir förmlich weh, zu sehen, was der Trennungsschmerz aus Ihnen gemacht hat.«

Durch Kamillas Körper ging ein leises Beben. Sie griff mit der Hand einen kurzen Augenblick lang, scheinbar ohne sich der Bewegung bewußt zu sein, nach ihrem Herzen. Dann fragte sie tonlos: »Sie, Sie haben das Bild, Herr Sadus?«

Betroffen sah er sie an. »Wußten Sie das nicht, Fräulein Prätorius? Lorenz gab es mir in einem Augenblick überwallender Freude und Dankbarkeit, nachdem ich ihm seine Freiheit verkündigt hatte.«

Kamilla lächelte bitter.

»Ist es Ihnen nicht recht, so stelle ich es Ihnen unverzüglich zu«, sagte Sadus kurz und entschlossen.

Kamilla wehrte ab.

»O nein, Herr Sadus, so war es nicht gemeint. Wenn es Ihnen Freude macht – und ein Geschenk von Lorenz ist.«

»Große Freude. Es ist ein entzückendes kleines Bild.«

»Ich hab' es nie gesehen.«

»Ja, ich erinnere mich jetzt. Er sagte mir, daß das Original es nicht einmal kenne. Lorenz hat bisweilen seine Marotten. Sie dürfen das nicht schwer nehmen, Fräulein Kamilla. Wenn Sie gestatten, komm' ich 'mal herüber und zeige es Ihnen; dann reden wir weiter darüber, wem es gehören soll.«

Sadus sprach absichtlich leicht und rasch, um sie ihrer schweren Stimmung zu entreißen, an der er, sehr wider Willen, zum Mitschuldigen geworden war. Vielleicht tat er gut, ihr gleich auf der Stelle von Meilsheims Vorschlag zu sprechen, wenn auch nur in gewissen Grenzen. Vielleicht bedurfte es nur eines kurzen Wiedersehens, um den müden Gram abzustreifen, der den mitfühlenden Mann bis in die tiefste Seele schmerzte.

»Eine Idee, Fräulein Prätorius. Wie wär's, wenn wir den Ausreißer auf ein paar Tage herzitierten? Wenn Sie ihm einmal ein wenig kräftig die Leviten läsen für das Verbrechen, mich Unwürdigen mit Ihrem lieben Bild zu beschenken, und etwaiger anderer Sünden halber, die er sicherlich auf dem Kerbholz hat. Was meinen Sie, Fräulein Kamilla?«

Kamilla lächelte schwach. »Es wäre sehr schön freilich, aber er wird nicht kommen! Selbst wenn er sich losreißen wollte, er hätte nicht die Mittel dazu.«

»Das wäre das wenigste«, sagte Sadus gemütlich und ließ sich auf seinem vorigen Platz auf dem Baumstumpf dicht neben Kamilla nieder.

»Nämlich, was ich Ihnen da vorher andeutete über des Direktors Unzufriedenheit mit den Leistungen der Zeichner, hat sich zu einer förmlichen Katastrophe herausgewachsen. Meilsheim will gründliche Abhilfe um jeden Preis; da hat er daran gedacht, Buchberg zu bitten, für ein paar Tage herzukommen – auf des Direktors Kosten natürlich – und mit ihm zu überlegen, wie den Dingen am besten abzuhelfen ist.«

Ein lichtes Rot war auf Kamillas schmalem Gesichtchen aufgeblüht. Mit einem Gemisch von Unglauben und heißer Hoffnung sahen ihre Augen zu dem Sprechenden hin. »Ist das wahr – kann das wahr sein –?«

Sie fragte zaghaft, beklommen, und doch lag ein unterdrückter Jubel in ihrer Stimme und ein Glanz in ihren Augen, der Sadus überwältigte.

In dem Augenblick empfand er es als unabweisbare Pflicht, dem heimlich geliebten Mädchen zu seinem Glück zu verhelfen. Buchberg stand erst an zweiter Stelle. Mochte er selbst sehen, wie er sich mit seinem künstlerischen Gewissen abfand. Milla aber sollte die ganze Wahrheit erfahren. So sagte er denn fest und ruhig: »Es ist nicht nur wahr, sondern es knüpft sich an diesen erwünschten Besuch Buchbergs ein ausgesprochen fester Plan des Direktors, für den es nur Lorenz' Einwilligung bedürfte, damit er sich von heut zu morgen verwirkliche.«

Kamilla horchte gespannt. Ihr schweres, sehnendes Herz lag in ihren Augen und schien Sadus anzuflehen: Sage mir, wonach mich verlangt! Gib mir Ruhe, gib mir Glück!

Er wandte seinen Blick von diesen flehenden Augen ab, er stockte. Einen Augenblick lang schien es ihm unmöglich, der Schmied ihres Glückes zu werden, diese beiden unzertrennlich Seite an Seite zu sehen. Dann faßte er sich und sprach ruhig, mit leicht zur Seite gewandtem Kopf weiter:

»Meilsheim möchte Lorenz ganz zurückgewinnen. Er möchte ihn als Leiter und Lehrer über eine neu zu gründende Zeichenklasse setzen und würde ihm –« Ein seltsam schluchzender, mit Gewalt aus der Kehle dringender Laut unterbrach ihn. Kamilla saß mit gefalteten Händen da. Tränen stürzten aus ihren freudeglänzenden Augen.

Der Anblick griff Sadus hart an. Dennoch fuhr er fort, er wollte auch das letzte gesagt haben. »Er würde ihm dafür ein Gehalt aussetzen, das ihm die Begründung eines Hausstandes möglich machte. Wollen Sie Lorenz in diesem Sinne schreiben, Fräulein Prätorius? Oder soll es der Direktor selbst tun?«

Kamilla versuchte ihrer Tränen Herr zu werden, aber sie kämpfte vergebens. Der stumme, schweigend getragene Gram machte sich in der ersten Stunde der Hoffnung mit elementarer Gewalt Luft, als wolle er sich schadlos halten für den unerhörten Zwang, den man ihm angetan hatte.

Sadus war aufgestanden und den schmalen Wiesenweg bis zum Wasser hinabgegangen. Hell übersonnt lag der kleine dunkle Wasserspiegel da. Vorn am Steg, auf den er unabsichtlich zugeschritten war, lag ein kleines Boot mit eingelegten Rudern. Sadus schloß die Augen. Ein brennender Wunsch und Traum zugleich überkam ihn: Der eng umgrenzte, baumumschattete See weitete sich zum uferlosen Meer. Der kleine Kahn nahm ihn auf und trug ihn weit hinaus, fort von allem, in die Leere, ins Nichts.

Schwer atmend hob er die Lider wieder. Unweit von ihm trat zwischen den Stämmen die Petersen hervor. Die kleine Gestalt mit dem nachschleppenden Fuß, das braune Merinokleid mit den weißen Tupfen, von dem sie sich auch heute nicht getrennt hatte, zu einem Beutel aufgerafft, der ihre Pilzbeute beherbergte, bot ein so grotesk realistisches Bild, daß Sadus' träumerisches Wünschen mit einem Schlage ausgelöscht war. Er ging auf die kleine, jetzt rasch und ängstlich näherkommende Gestalt zu, die aufgeregt nach Kamilla fragte.

»Fräulein Prätorius sitzt auf ihrem alten Platz. Ich habe sie nur ein paar Augenblicke verlassen, damit sie sich beruhigt. Wir sprachen von Lorenz Buchberg, und da –«

Die Kleine seufzte auf. »Es ist ein Kreuz mit dieser Liebschaft!« Dann murmelte sie etwas, wovon Sadus nur Zusammenhangloses wie »besser haben können« verstand, und setzte sich schnell in Bewegung, um zu Kamilla zurückzugelangen.

* * *

 


 << zurück weiter >>