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Die alte Frau Buchberg kränkelte seit einiger Zeit. Der ungewöhnlich früh und rauh einsetzende Winter, der oben auf dem Plateau, auf dem das kleine Haus zwischen den Kirschbäumen stand, sich doppelt fühlbar machte, hatte es ihr angetan. Der Herbsthusten, der sie alljährlich überfiel, artete in einen heftigen Katarrh aus, zu dem sich zeitweise Lungenstiche gesellten. Im übrigen lastete die Einsamkeit und die verminderte Tätigkeit auf ihr und machte sie wenig widerstandsfähig.
Hatte Lorenz sie mit Rücksichten nicht sonderlich verwöhnt, so hatte sie doch, solange er bei ihr gewesen war, die Freude und Genugtuung gehabt, ihn an ihrem Tisch zu haben, ein paarmal täglich sein hübsches Gesicht zu sehen, ihm über das dichte pechschwarze Haar zu streicheln, für ihn sorgen zu können und zuletzt von einer großen Zukunft mit ihm zu träumen.
Gleich ihrer zukünftigen Schwiegertochter hatten sie die kärglichen Nachrichten seit seiner Abwesenheit sehr enttäuscht. Wie dem Mädchen, so schien er auch ihr durch seine Schweigsamkeit ganz plötzlich in eine unerreichbare Ferne gerückt zu sein, die außer jedem Verhältnis zu der in Wirklichkeit zwischen ihnen liegenden Meilenzahl stand.
In den Augen der alten Frau waren Kamilla Prätorius und ihr Sohn unzertrennlich verknüpft. Sie hatte sich früher und auch noch in der ersten Zeit des heimlichen Verlöbnisses eine andere, wohlhabendere Frau für ihren Sohn gewünscht, die ihm die Lebenssorgen nicht vermehrt, sondern erleichtert hätte; allgemach aber hatte sie sich mit Lorenz' Wahl ausgesöhnt und das schöne, liebe Geschöpf herzlich liebgewonnen. Um so mehr bekümmerte es sie, daß Kamilla so selten den Weg zu ihr fand. War sie Lorenz nicht mehr so gut wie früher, oder kränkten seine seltenen Nachrichten sie so tief, daß sie's auch ihr, der mitleidenden Mutter nachtrug?
An einem eiskalten Nachmittag um Ende November – die Fenster an dem kleinen Haus am Ende der Kirschallee waren so fest zugefroren, daß man von der vorüberführenden Straße nichts mehr sah – rief die alte Frau ungeduldig und gereizt nach der Magd, die laut in der Küche hantierte.
Es war heut ein böser Tag für Frau Buchberg gewesen. Ein Hustenanfall war dem andern gefolgt, mehr als einmal hatte sie zu ersticken vermeint. Dazu war eine große Unruhe und gereizte Ungeduld über sie gekommen, die sie sonst selten überfiel. Weshalb kümmerte sich niemand um sie? Weshalb war sie so allein? Weshalb ließ Milla sich nicht bei ihr sehen? Weshalb schrieb Lorenz nicht? Ja, warum kam er nicht endlich zu Besuch, wie er es für den Herbst fest versprochen hatte?
Da die Magd nicht gleich hörte, klinkte sie heftig die Tür nach der Küche auf. »Lassen Sie alles stehen und liegen, Nette, und laufen Sie zu der Petersen herum. Meine Schwiegertochter soll kommen, aber gleich vor Abend noch.«
Nette, die sich reichlich Zeit nahm, um die paar Schritte bis zur Petersen zu kommen, fand die ›beiden Fräuleins‹ beim Vesperbrot. Das derbe Mädchen hatte keinen sonderlichen Respekt vor der Braut des jungen Herrn mehr, seit sie mit dem ›wilden Mangold‹ von Haus und Hof fortgemußt und bei der kleinen schiefen Tafeldeckerin in Kost und Logement stand, wie Nette sich ausdrückte. Sie war mit den dicken Pantinen lärmend durch den ziegelgepflasterten Flur gestampft und richtete nun ohne sonderliche Umstände den Auftrag ihrer Herrin aus, das »gleich und vor Abend noch« extra stark betonend, als sie bemerkte, daß das junge Fräulein bei der dringenden Botschaft heftig erschrak.
»Es ist doch mit Frau Buchberg nichts geschehen – oder etwa –« – sie würgte an den Worten – »schlechte Nachricht aus München?«
Nette zog den Mund von einem Ohr zum andern. »Nee, daß ich nicht wüßte. Aber kommen Sie man, sonst setzt es was. Die Alte ist heute höllisch falsch.«
Lene Petersen verwies dem jungen dreisten Ding die freche Rede. »Geh voran und sag', Fräulein Prätorius würde gleich kommen.«
Nette trabte mit einer schnoddrigen Redensart und einem breiten Grinsen davon. Die beiden konnten ihr noch lange nicht imponieren.
Lene half der aufgeregten Milla in ihr kurzes, vertragenes, schwarzes Winterjackett und wickelte ihr den Schal sorglich um Stirn und Haar. »Nur keine Angst, liebes, gutes Fräulein Milla. Was soll denn so plötzlich passiert sein? Die alte Frau verlangt mal nach Ihnen. Das ist doch ganz was Natürliches.«
»So plötzlich? So eilig?« stammelte Milla, den Schal unter dem Kinn festknüpfend, – »wenn Lorenz –«
»Herr Buchberg hat doch erst gestern geschrieben, Millachen – und noch dazu einen Brief –« Kamilla seufzte gepreßt auf. »Nun, dann will ich nur gehen.«
»Ich hab' noch ein paar Besorgungen, Millachen. Wenn Sie zuerst kommen sollten, den Schlüssel leg' ich, wie immer, unter die Strohdecke. Vielleicht bleiben Sie aber auch zum Abendessen bei Frau Buchberg.«
Kamilla nickte verstört und gedankenabwesend und schritt dann auf die Straße hinaus. Sie kam von dem Gedanken nicht los, daß es irgend etwas mit Lorenz sein müsse, was die Mutter veranlaßte, sie so eilends zu rufen. Hatte er auch ihr geschrieben? Ähnliches wie in dem Brief an sie, vielleicht verschärfter noch? Hatte er der Mutter die ganze Wahrheit gesagt, die er ihr etwa schonend verschwieg? Hatte er der Mutter geschrieben, daß er nicht nur jetzt nicht, daß er überhaupt nicht zurückzukehren gewillt war? Sollte sie aus dem Munde der alten Frau erfahren, was Lorenz ihr nicht einzugestehen wagte?
An der Ecke des Staketenzauns, da, wo sie an jenem sonnenüberglänzten Maienmittag mit Lorenz zusammengetroffen war, blieb sie einen Augenblick schwer atmend stehen. Ein dunkles Angstgefühl, wie es sie an jenem Abend am Seeufer gepackt hatte, als sie Lorenz zu den Birken entgegenging, schnürte ihr die Brust zusammen. Die kalte Schneeluft versetzte ihr den Atem.
In ihrer Nähe schlug ein Hund laut und kläffend an. Das riß sie aus ihrer Erstarrung. Sie eilte den Staketenzaun entlang bis zu der kleinen Eingangspforte.
Nette stand schon in der offenen Tür und nahm ihr die Sachen ab. Dabei grinste sie mit offnem Munde, wie es Milla erschien, frech geheimnisvoll, als ob sie etwas wisse, was ihr eine geheime, ungeheure Schadenfreude bereitete.
Die alte Frau saß in ihrem Lehnstuhl an dem runden Mahagonitisch unter der Hängelampe. In ihren welken Händen klirrten die Nadeln. Sie war ein bißchen ruhiger geworden, nachdem Nette ihr gemeldet hatte, daß Fräulein Prätorius gleich kommen werde.
Milla trat zu ihr und umarmte sie. Dann fragte sie hastig, ohne erst auf eine Anrede zu warten: »Hast du Nachrichten von Lorenz für mich?«
Die Alte schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommst du darauf? Wenn er dir nicht mal schreibt, wird er für mich alte Frau schwerlich Zeit übrig haben.« – Sie sagte es wehmütig bitter.
Milla atmete auf, wie von einer schweren Last befreit. Schnell und eifrig fiel sie der Alten in die Rede. »Ich hatte einen Brief, gestern erst« – gleich darauf aber fiel ihr ein, daß sie wenig Grund habe, dieses Briefes mit besonderm Nachdruck zu erwähnen.
Das Gesicht der Alten hatte sich ein wenig aufgeheitert. »Erzähl' doch, Kamillachen. Es geht ihm doch gut?«
»O sehr – ja – so gut« – Kamilla schluckte schwer – »daß er nicht daran denkt, sich von München zu trennen, und einen ehrenvollen und einträglichen Vorschlag Meilsheims, wieder bei ihm einzutreten, ein für allemal abschlägt.«
Die Alte sah verwundert auf ihre Schwiegertochter, die jetzt plötzlich in einem so seltsam scharfen und bittern Ton sprach, wie sie ihn noch niemals von dem weichen, sanften Geschöpf vernommen hatte. Dann, da sie nicht gleich wußte, wo das Ganze hinaus sollte, sagte sie zögernd: »Am Ende kannst du ihm das nicht verdenken, daß er nicht wieder Tapetenzeichner werden will.«
Kamilla schüttelte den Kopf. »Liebe Mama, davon ist nicht die Rede.« Und sie erzählte, um welche Aussichten es sich handelte.
Frau Buchberg hörte aufmerksam zu. Sie hatte das klappernde Strickzeug beiseite gelegt und rieb, wie es ihre Gewohnheit in besondern und wichtigen Lebenslagen war, die Spitzen ihrer Finger mit einer kurzen nervösen Bewegung unaufhörlich gegeneinander. Als Kamilla geendet hatte, sagte sie bedächtig, was nicht hindern konnte, daß auch ihre Stimme einen bittern und scharfen Klang annahm: »Darin hast du recht, daß es der Mühe wert gewesen wäre, herzukommen und die Sache in der Nähe zu besehen. Das wäre er auch uns beiden schuldig gewesen.«
Eine lange, beklommene Pause folgte. Jede der beiden Frauen fühlte tief die Lieblosigkeit, die in Lorenz' schroffer Ablehnung selbst eines kurzen Besuchs im Städtchen lag, aber keine wollte sich von der andern ins Herz sehen lassen, jede wollte es sich vorbehalten, für den Abtrünnigen bei Gelegenheit eine Entschuldigung, eine Beschönigung in Bereitschaft halten zu können.
So verfolgten sie die Angelegenheit in ihren Gesprächen äußerlich nicht weiter. Aber als sie sich abends trennten, umfingen sie sich innerlich wärmer, als es seit langem der Fall gewesen war. Das gemeinsame Leid hatte diese beiden Vereinsamten enger zusammengeführt.
Lorenz Buchberg hatte sich das Leben in München ebenso behaglich wie abwechslungsreich eingerichtet. Trotz seines Ehrgeizes arbeitete er nicht allzu stark. Er hatte, kaum daß er den kleinen und engen Verhältnissen des Heimatstädtchens entronnen war, rasch genug herausgefunden, daß die Persönlichkeit des Menschen mindestens eine ebenso wichtige Rolle in seiner Laufbahn spielt wie seine Kunst. Nach dieser schnell begriffenen Weisheit hatte er sein Leben eingerichtet, und, wie es schien, nach jeder Richtung hin mit rasch wachsendem Erfolg.
Zunächst hatte ihn bald nach seiner Übersiedelung nach München ein glücklicher Zufall vorteilhaft in die Gesellschaft eingeführt. In der Familie seines Meisters sollte ein Gartenfest mit allerlei künstlerischen Veranstaltungen und dekorativen Wirkungen gefeiert werden. Einer der ältern Schüler, der schon jahrelang den Posten des Veranstalters bei diesen alljährlich mehrmals wiederkehrenden Festen innehatte, war plötzlich, noch ehe man über die Vorbesprechungen hinausgekommen war, ernsthaft erkrankt. Lorenz, der schon seit der ersten Unterrichtsstunde seines frischen Zugreifens halber bei dem Meister einen Stein im Brett hatte, erbot sich, an die Stelle des Erkrankten zu treten, und er machte seine Sache nicht nur einigermaßen, sondern übertraf seinen Vorgänger noch um ein Erhebliches.
Niemals waren bei den Festen im Hause des Meisters der Garten, die Vorhallen und die Veranden mit soviel Geschmack und soviel neuen verblüffenden Tricks geschmückt gewesen, niemals waren die lebenden Bilder so schön und zugleich so echt zur Geltung gekommen. Die stärkste Seite seines Talents, Phantasie und eine robuste Art des Auftragens – der Engelfries und Millas Köpfchen waren Ausnahmen von der Regel gewesen – kamen Lorenz Buchberg bei der Anordnung des Festes in so hohem Maße zustatten, daß alle Welt zunächst verblüfft, dann entzückt war, und der junge Mann, dessen Name zuvor nie ein Mensch gehört hatte, plötzlich zum Mittelpunkt eines Festes wurde, das in München eine nicht geringe Rolle spielte.
Besonders die Frauen verwöhnten Lorenz Buchberg seit diesem bedeutsamen Tage in der ausfälligsten Weise. Die Lebhaftigkeit seines Wesens, der ausgesprochen italienische Typ seiner Erscheinung, die beide in origineller Gegensätzlichkeit zu seinem ausgeprägt norddeutschen Dialekt standen, die leichte liebenswürdige Art, jeder Dame den Hof zu machen, ohne eine vor der andern besonders auszuzeichnen, gewannen ihm binnen kurzem die Gunst der Frauen und Mädchen.
Besonders Frau Meta Bartholdy, die junge Frau seines Meisters, zeichnete ihn auf jede erdenkliche Art aus. Sie war es auch gewesen, die ihm sein erstes Bildchen abgekauft hatte, eine unbedeutende kleine Studie, die trotz des spöttischen Einspruchs ihres Gatten in ihrem Boudoir zwischen wertvollen Bildern erster Meister ihren Platz gefunden hatte. Nach seinem ersten, zündenden Erfolg zog sie Lorenz Buchberg zu all ihren Festen und deren Vorbereitungen heran. Sein Vorgänger war vergessen. Frau Bartholdy führte ihren jungen Schützling auch in ihr befreundete Familien ein, und wenn Lorenz Buchberg dort auch nicht dieselbe bevorzugte Rolle spielte wie im Hause seines Meisters, so war er doch überall ein gern gesehener Gast, der mit seinen harmlosen Späßen und drolligen, dem Ohr des Süddeutschen doppelt drollig klingenden ›Holdrios‹ eine Gesellschaft wohl zu unterhalten vermochte.
Außerdem hatte er sich, wie er es von einem älteren Maler, einem Allerweltsmann, an einem Künstlerabend gesehen, ein Merkbuch angelegt, das er stets in der Tasche trug. Es enthielt die Schlagworte kleiner, zuweilen sehr pikanter Anekdötchen, die er, sobald die Unterhaltung ins Staksen geriet, geschickt anzubringen wußte, oder, wenn sie sich nicht für aller Ohren schickten, einer reifen Schönheit liebenswürdig ins Ohr zu plaudern verstand.
In diese Zeit der Gesellschaftsschwelgerei und nebenbei durchaus anhaltender Fortschritte in der Klasse des Meisters war der erste Brief Millas mit dem Vorschlag Meilsheims gefallen. So undenkbar und unmöglich schien Lorenz der Gedanke, jemals wieder als Ansässiger in das kleine Städtchen auf dem Plateau zurückzukehren, jemals wieder sich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu begeben, daß er geneigt gewesen wäre, das Anerbieten – er nannte es eine Zumutung – als einen Scherz, eine Mystifikation anzusehen, wenn Millas kummervolle Briefe ihn nicht daran gemahnt hätten, daß der Vorschlag in der Heimat durchaus ernst genommen wurde.
Um sich die schönen Münchener Tage nicht zu verderben, hatte er nach seiner ersten kurzen, flüchtigen Ablehnung Millas schwermütige Briefe bequem ignoriert und ihr nur dann und wann durch heitere Karten, die ein ernsthaftes Eingehen auf Millas Herzensnöte ausschlossen, Nachricht gegeben.
Erst um das Ende des November entschloß er sich dann, Milla mitzuteilen, daß aus Meilsheims Plan und ihren Wünschen durchaus nichts werden könne. Er gedenke mindestens die zwei Jahre, die dafür angesetzt gewesen seien, in München zu bleiben und seine Studien auch nicht für Tage zu unterbrechen. Habe er in diesen zwei Jahren erreicht, was er sich vorgesetzt, um so besser, dann könne man den Zukunftsplänen nähertreten. Es sei aber auch nicht ausgeschlossen, daß noch ein drittes Studienjahr, etwa in Italien, Spanien oder Paris – er neige am meisten dem letzteren zu – nötig werde.
Lorenz hatte noch niemals ernsthaft daran gedacht, Kamilla Prätorius aufzugeben, aber er wollte es allein in der Hand haben, den Zeitpunkt ihrer Heirat sowohl, als alle Nebenumstände zu bestimmen, und bis dahin ungestört sein Leben genießen, seiner Kunst leben und sich durch nichts und niemand die Freude daran trüben lassen. Millas traurige Sehnsucht verdarb ihm zum mindesten die gute Laune, und das sollte nicht sein.
Zuweilen, wenn er in die reichen und prächtigen Häuser der Münchener Hautefinance kam – auch bei den Bartholdys und ein paar reich gewordenen Berufsgenossen des Meisters – überkam ihn wohl der Gedanke, daß es eigentlich eine Narrheit sei, sich an ein armes Mädel zu binden. Frei bleiben noch eine lange Reihe von Jahren, bis das Leben und der Erfolg ausgekostet waren, und dann ein reiches Mädchen heiraten, zum mindesten ein wohlhabendes, damit man für alle Fälle vor der Misere des Daseins geschützt war, das wäre das einzig Gescheite, Gesunde gewesen.
Bei dem Gedanken, daß er trotz allem und allem kein freier Mann sei, pflegte er dann wohl ungeduldig aufzuseufzen, bis ihn zwei Umstände trösteten: Millas sanfte Schönheit, die er trotz seines lebhaften Verkehrs mit hübschen und pikanten Frauen kein zweites Mal wiedergefunden hatte, und der Gedanke, daß sich zwischen heute und der Zeit in zwei bis drei Jahren noch allerhand Möglichkeiten ergeben konnten, die jetzt noch niemand zu übersehen vermochte.
Inzwischen hatte er seinen Brief geschrieben und klar und verständig die Gründe seiner Ablehnung auseinandergesetzt. Damit war den Dingen für jetzt genug geschehen. Niemand würde ihm den Vorwurf machen können, daß er nicht korrekt gehandelt habe.
Millas Antwort auf diesen Brief hatte seiner Eitelkeit allerdings nicht eben geschmeichelt. Sie war kurz und kalt ausgefallen. Einen Augenblick lang hatte Lorenz dieser Sprache gegenüber seinen Augen nicht getraut, sich empfindlich getroffen gefühlt, dann aber hatte er sich rasch getröstet.
Es war das Beste und Bequemste, in diesem Stil weiter zu korrespondieren. Milla würde ihm auf diese Weise das Herz mit ihrem Kummer und ihrer weichen Zärtlichkeit nicht mehr schwer machen. Er war fernerer Gewissenspein überhoben und durfte ohne Bedenken leichten Herzens in den Tag hineinleben. So hatte er den Brief sorglos in die Tasche gesteckt, ohne auf die Nachschrift zu achten, die er enthielt.
Sehr erstaunt war er, als etwa zwei Wochen später eines Abends mit der letzten Post über Berlin ein Brief von Lene Petersen eintraf. Er enthielt, gleichfalls kurz und traurig, die Nachricht, daß es seiner Mutter erheblich schlechter gehe und daß sie es für ihre Pflicht erachte, ihm diese Mitteilung zu machen. Fräulein Prätorius habe in ihrem letzten Briefe bereits Nachricht von der Erkrankung Frau Buchbergs an Lungenentzündung gegeben.
Lorenz war gerade im Begriff gewesen, einen weißen Schlips über dem tadellosen ungestärkten Batisthemd zur Schleife zu knoten – der Frack hing über der Stuhllehne bereit – als ihm seine Wirtin, Frau Huppfeld, den Brief der Petersen brachte.
Lorenz zog die Stirn unter dem dichten, glatten, schwarzen Haar kraus. Was sollte er anfangen? Die Gesellschaft bei Bartholdys fahren lassen, sich umkleiden und auf die Bahn setzen? Er sah auf die Uhr, er hätte den Schnellzug nicht mehr erreicht, und mit dem Bummelzug zu fahren, hatte keinen Zweck. Die paar Stunden, die er früher ankam, waren die endlose Karrerei nicht wert. Er konnte schlimmstenfalls den raschen Morgenzug über Nürnberg und durch Thüringen benutzen, dann war er abends bei guter Zeit in Berlin und bekam noch Anschluß nach Hause. Wahrscheinlich war es aber überhaupt nicht nötig, und die Petersen übertrieb wie alle alten Weiber. Jedenfalls wollte er erst einmal nachsehen, was Milla über die Krankheit geschrieben hatte. Er hatte es wahrhaftig ganz übersehen.
Er kramte eine ganze Weile in seinem Schreibtischfach, bis er Kamillas letzten Brief zwischen Rechnungen, Einladungen und kleinen Stadtpostbriefen fand. Er überflog rasch die kalten, knappen Zeilen. Richtig, da war eine Nachschrift, die er übersehen hatte. »Von Deiner Mutter kann ich dir wenig Gutes melden: ihr Katarrh ist in Lungenentzündung ausgeartet. Ich bin so viel als möglich bei ihr.«
Er pfiff leise durch die Zähne, während er den Brief wieder weglegte und den von Lene Petersen dazu warf. Fatal, sehr fatal! Die gute Alte würde sich nach ihm sehnen. Vielleicht war der Fall auch wirklich ernst. In ihrem Alter pflegen Lungenentzündungen nicht ohne Gefahr zu sein. Er sah das kleine, vertraute Schlafzimmer vor sich und darin die kranke Frau, an ihrem Bett Kamilla mit traurigen, angstvollen Augen.
Er schloß die seinen und machte eine ungeduldige Bewegung. Dann ging er daran, seinen Anzug zu beenden. Da sich heut abend doch nichts mehr machen ließ, wollte er Frau Meta nicht warten lassen, sondern, wie er ihr versprochen hatte, eine Stunde vor den Gästen da sein und die Überraschungen des Abends mit ihr vorbereiten.
Das Wetter war so abscheulich, daß er nach Frau Huppfeld klingelte, damit sie ihm eine Droschke besorge. Gleichzeitig händigte er ihr ein Fünfmarkstück ein. Er hatte nebenan im Blumengeschäft ein paar leicht zusammengebundene Rosen für Frau Bartholdy bestellt, die sollte sie ihm gleich mit heraufbringen.
Die Zeit, bis die kleine flinke Frau wiederkam, schien ihm kein Ende nehmen zu wollen. Wie ein gefangenes Tier lief er in seinem hübschen behaglichen Zimmer umher, Verwünschung auf Verwünschung ausstoßend. Er wollte nicht länger das kleine verschneite Haus in der Kirschallee sehen, und hinter den schmalen, niedern Scheiben das Stübchen, in dem die Mutter krank lag und sich vielleicht stöhnend auf ihrem Lager wand. Er wollte heitere Bilder haben: Bartholdys glänzend elegante, mit Kunstschätzen und lebenden Blumen gefüllte Salons, Meta Bartholdy, die ihm lächelnd entgegentrat, die schlanke Gestalt in kostbare Stoffe gekleidet, das blonde Haar mit blitzenden Steinen geschmückt. Er wollte Licht und Farbe, kein graues Düster sehen.
Endlich kam die kleine Frau atemlos angelaufen und legte die Rosen vor ihn hin. Man habe nebenan die Bestellung vergessen gehabt, und auch ein Wagen sei bei dem Matschwetter schwer zu haben gewesen. Dann hängte sie ihm eilends den warmen, weichen Ulster über den Frack und begleitete ihn die etwas steile Stiege hinunter.
Erst als die Droschke sich in Bewegung gesetzt hatte, fiel es Lorenz ein, daß er vergessen hatte, das Wecken zu bestellen. Jetzt war es zu spät, umzukehren. Er konnte Frau Bartholdy nicht noch länger warten lassen. Nun, mit dem festen Willen aufzustehen, würde er die Zeit gewiß nicht verschlafen. – –
*
Frau Buchberg war von ihrem quälenden Husten, von ihren Lungenstichen, von ihrer Einsamkeit und von dem Kummer über die Schweigsamkeit ihres Sohnes erlöst worden. In derselben Nacht, in der Lorenz mit Frau Bartholdy lebende Bilder gestellt, hatte ein Lungenschlag ihrem Leben ein Ende gemacht.
Kamilla Prätorius saß mit Sadus in dem kleinen Vorderstübchen neben dem engen Schlafzimmer der alten Frau, in dem sie, noch auf dem Bett ausgestreckt, nun als Tote ruhte.
Es war am Morgen nach der Sterbenacht. Auf Kamillas Wunsch hatte Sadus an Lorenz telegraphiert. Nichts als die nackte Tatsache. Ob er jetzt noch kam oder nicht kam, war von keinem sonderlichen Belang mehr und konnte ihm selbst überlassen bleiben. Der alten Frau, die mit der ungestillten Sehnsucht nach ihm davongegangen war, würde er damit nicht wohl und nicht wehe mehr tun.
Nette war zum Telegraphenamt gegangen. Die beiden saßen ganz allein bei der Toten. Kamilla still und in sich versunken, doch mit mehr Ruhe und Fassung, als Sadus erwartet hatte. Erst der Wunsch, daß er statt ihrer Lorenz die Trauerbotschaft Mitteilen solle, war gereizt und aufgeregt zum Ausdruck gekommen.
Außer Lene Petersen und Nette wußte noch niemand um den plötzlichen Todesfall. Eine kurze Stunde etwa würde in dem kleinen Erdgeschoß noch Ruhe sein, ehe die Neugier und die Teilnahme an die niedere Tür klopften.
Milla war gleich, nachdem sie die Tote auf Stirn und Hände geküßt, zu dem Gärtner in die Anlagen hinuntergegangen und hatte Hände voll Grün und roter Beeren und ein paar volle weiße Chrysanthemen geholt. Da sie für ihre Tafelsträußchen und Gewinde alle paar Tage einmal um Grün und Früchte und Blumen bei ihm vorsprach, war ihr Einkauf nicht aufgefallen. Jetzt saß sie neben Sadus an dem kleinen runden Sofatisch, an dem sie während der letzten vierzehn Tage so oft mit der alten Frau gesessen hatte, und wand mit ihren schmalen, blassen Fingern das Grün und die Beeren und die großen weißen Chrysanthemen zu einer letzten Liebesgabe für die Tote zusammen. Sadus sah ihr schweigend zu. Nachdem das Nötigste besprochen worden war, stockte die Unterhaltung fast gänzlich. Nach einer langen Weile, als Kamilla die Hände einen Augenblick ruhen ließ, fragte Sadus, ob sie ihren Vater schon benachrichtigt habe.
Milla schüttelte den Kopf. »Nein, ich will selbst zu ihm fahren«, sagte sie leise.
Sadus sah sie besorgt und verwundert an. »Wird es nicht zu viel für Sie werden, in zwei Tagen zweimal diese lange Fahrt, bei der Kälte und dem starken Schneefall, der auf dem platten Lande noch immer herrscht?«
Milla schüttelte abermals mit dem Kopf, aber sie wandte sich dabei ein wenig und sah Sadus gerade und ruhig ins Gesicht. »Ich werde nicht wiederkommen,« sagte sie sehr leise und bestimmt, »wenigstens in den nächsten Tagen nicht. Ich werde beim Begräbnis nicht zugegen sein.«
»Milla!« Er rief es erschreckt und verbesserte sich dann rasch und verlegen: »Fräulein Prätorius, Sie werden beim Begräbnis nicht zugegen sein – ist es – hat er –? Sie und Lorenz –?«
Sie machte eine leise Bewegung mit den Achseln. Die Farbe kam und ging in ihrem zarten Antlitz, ihre graublauen Augen waren verschleiert, um ihren halbgeschlossenen Mund zuckte es wie von bitterm Weh. Dann nahm sie ihre Arbeit schweigend wieder auf.
Eine Viertelstunde später kreischte der Schlüssel in dem Schloß der kleinen Flurtür. Nette kam vom Telegraphenamt zurück. Milla stand auf und ging ihr entgegen, die Stubentür hinter sich schließend.
»Waren Sie beim Fuhrmann, Nette?«
»Ja, Fräulein. Um Punkt zweien wird er vorfahren, und er meint, er schafft es in drei Stunden bis zum Vorwerk.«
»Gut, Nette. Fräulein Petersen kommt her, sobald ich fort bin, sie wird auch für Kaffee und Kuchen für die Kondolenzvisiten sorgen. Bis Herr – Lorenz hier ist, halten Sie sich an Herrn Sadus, der das Begräbnis schon bestellt hat – und –
Milla hatte sich umgewandt und betrachtete angelegentlich einen Fleck auf der häßlichen Tapete. »Ja, was ich sagen wollte, sorgen Sie auch ordentlich für den jungen Herrn.«
Nette fuhr sich mit den dicken, blauroten Fäusten, über denen sie keine Handschuhe trug, über die vom Weinen verquollenen Augen. »Aber Fräulein kommen doch wieder?«
Milla antwortete Undeutliches und ging dann zu Sadus zurück, der zum Fortgehen bereitstand.
»Sie sind nun nicht mehr allein, Fräulein Prätorius, da will ich auf ein paar Stunden in die Fabrik. Alles Notwendige wird besorgt. Wann seh' ich Sie wieder, Fräulein Kamilla?«
»Bald, Herr Sadus. Mein Vater wird mich nicht lange beherbergen können. Und – falls Lorenz nicht kommt, bitte, schicken Sie mir ein Telegramm. Die Adresse ist Vorwerk Hammerfest bei Pelzow. Ich bitte dann meinen Vater, daß er mit mir zum Begräbnis kommt.«
Sadus stand und sah sie an und hielt ihre Hand still in der seinen.
»Wollen Sie es nicht noch überlegen, Fräulein Kamilla? Vielleicht warten Sie doch auf Lorenz? Im Angesicht des Todes ist schon oft Friede geworden zwischen den Lebenden.«
Sie schüttelte rasch und mit starker Abwehr den Kopf. »Nein, nein,« und leise fügte sie hinzu: »Lorenz weiß ja, wo ich zu finden bin.«
Pünktlich um zwei Uhr fuhr Fuhrmann Linkes Schlitten vor Lene Petersens Tür vor. Lene hatte ihren Gast bis an die Nasenspitze in Decken eingewickelt. Unter den Sitz hatte sie einen großen, mit Eßwaren vollgestopften Korb gestellt, und während der Fuhrknecht ungeduldig mit der Peitsche knallte – die Braunen stampften aufgeregt den glatten, kalten Boden der Kirschenallee –, nahm die kleine, um ihren Liebling ängstlich besorgte Person Milla das heilige Versprechen ab, tüchtig zuzulangen und sich auch draußen in Hammerfest nichts abgehen zu lassen, so weit es in der Wildnis da möglich sei.
»Sie haben's nötig, wirklich, Sie haben's nötig, Fräulein Millachen, acht auf sich zu geben.«
Kamilla nickte der treuen alten Seele freundlich zu. Dann, mit einem lauten Hü und Ho und einem scharfen Peitschenknall auf den Rücken der Braunen, setzte sich der Schlitten in rasche Bewegung.
Der Knecht fuhr durch die Anlagen und die Graue Gasse ins freie Feld hinaus. Einen raschen Blick hatte Milla auf den jetzt stilliegenden Bau geworfen, der seit jenem Oktobertag, an dem sie mit Walter Schellbach im Klostergärtchen gewesen war, keine sonderlichen Veränderungen zeigte. Dann, als sie auch die Fabrik im Rücken hatten, schloß sie die Augen, und während die kalte Luft ihr prickelnd ins Gesicht stach, gab sie sich ganz den Gedanken an ihr Vorhaben hin.
Erst nach einer vollen Stunde, als sie von den holperigen Ackerwegen und von der Chaussee ab in den Wald einfuhren, der schon zu Pelzower Gebiet gehörte, sah Kamilla wieder um sich. Es war ein schmaler Waldweg, den sie fuhren; eng schlossen sich die weißbeschneiten Bäume über ihm zusammen, wie durch einen kristallenen Dom glitt das kleine Gefährt. Die Luft ging hier im Schutz des Waldes nicht so scharf wie draußen im freien Feld. Milla ließ ein paar der Hüllen fallen, in die die Petersen sie sorglich gewickelt hatte, freier konnte sie um sich sehen. Über dem glänzenden Geäst hatte sich der Himmel gelichtet. Leicht bewegt zogen die Wolken, da und dort, wurde ein lichtblaues Fleckchen sichtbar, bis am Ende die Sonne durchs Gezweig brach und den schweigenden glänzenden Wald in rotgoldene Gluten tauchte.
Milla atmete tief und zog mit weitem entzücktem Blick das wundervolle Bild in sich ein. Wie schön war die Heimat, und wie sehr liebte sie sie! Die schimmernden dunkelgrünen Kiefern mit ihren Lasten von Schnee, das fest an den Zweigen klammernde rostbraune Buchenlaub, von feinen Kristallen überzogen, das knorrige Eichengeäst, das die Sonne goldrot überflutete! Und rings Stille, köstliche, wundervolle Stille! Nichts als das Knacken eines Astes, geheimnisvolles Rascheln im Gezweig, das Flattern eines aufgescheuchten Vogels.
An einer scharfen Biegung lief ein Reh über den Weg, rasch und ängstlich, dicht an den Hufen der Braunen vorbei. Kamilla erinnerte sich, daß sie als Kind einmal, sehr wider Willen, mit dem Vater hier draußen zur Jagd gewesen war. Es hatte sich kein Wild gezeigt, und der Vater war grimmig heftig geworden über den verlorenen Jagdtag. Sie aber war froh gewesen, daß ihnen kein Reh und kein Hase in den Weg gekommen war; es hätte ihr allzu weh getan, die armen Geschöpfe verbluten zu sehen.
Und noch eine andere Erinnerung an den winterlichen Wald wurde in Kamilla lebendig. Es war an einem Sonntag um die Weihnachtszeit gewesen: sie waren auf die Waldmühle zugegangen, der Vater und sie, und wie von ungefähr war Lorenz Buchberg ihnen begegnet. Es war um die Zeit ihrer noch uneingestandenen Liebe gewesen. Verstohlen und verschämt hatten sie einander die Hände gedrückt und waren dann rot und verlegen auseinander gefahren. Eines hatte des andern Blick gesucht, und wenn die Augen sich gefunden hatten, waren sie rasch wieder andere Wege gegangen, als ob sie auf verbotenen sich ertappt. Welch eine holde Zeit des Suchens und Sichfindens, des scheuen Auseinandergehens, der herzverzehrenden Sehnsucht nach dem Beisammensein! Was war alles über sie hingegangen seit diesem Wintertage im Walde vor nun drei langen Jahren!
Hoffnung und Erfüllung, Glück und unaussprechliches Leid! Und heut, an einem Wintertage, sonnenüberglänzt, kristallschimmernd wie jener andere, fuhr sie von ihm fort, rang sie mit dem Entschluß, ihn aufzugeben, ihn, an den sie sich unlöslich gebunden gehalten, ohne den das Leben nicht Leben mehr war.
Liebte sie Lorenz Buchberg nicht mehr? Kamilla Prätorius machte vor dieser Frage nicht halt. Sie beantwortete sich diese Frage hier draußen in der verschneiten Waldeinsamkeit ebensowenig, wie sie sie sich in ihrem Stübchen bei Lene Petersen, am Totenbett der alten Frau beantwortet hatte.
Aber vor ihr stand unausweichlich, gleich einem ehernen Gebot, dem nicht zu trotzen war, das eine: Sie mußte diese Probe auf seine Liebe machen. Allzuoft hatte sie ihn schon vergebens gerufen, als daß sie ein Wiedersehen mit ihm von dem traurigen Zufall hätte abhängig machen sollen, der ihn unabhängig von ihrem Ruf und ihren Bitten in die Heimat zurückbrachte. Er würde, er mußte ja verstehen, daß und warum sie hatte gehen müssen! Er würde den Weg zu ihr finden, wenn er sie noch liebte. Ließ diese Zuversicht sie im Stich – kam er nicht –, dann, ja dann – Kamilla wollte nicht weiter denken. Trüben Auges starrte sie in die starre, erfrorene Weite, aus der, nachdem die Sonne niedergegangen, alles Licht und alle Farbe ausgelöscht war.
Bald nach fünf Uhr, es dunkelte schon, hielt der Schlitten an dem kleinen, einsamen Vorwerk. In dem niedrigen, einstöckigen Backsteinbau waren alle Fenster dunkel; nichts rührte und regte sich, obwohl der Fuhrknecht schon mehrmals laut und scharf mit der Peitsche geknallt hatte. Kamilla hatte die Decken abgeworfen und war aus dem Schlitten gesprungen, als von der Rückwand des Hauses her eine bis an die Nasenspitze vermummte Frauengestalt langsam und verdrossen angeschlurft kam. Sie hielt eine Laterne in der Hand, mit der sie Kamilla ungeniert ins Gesicht leuchtete.
Nachdem sie das junge, schöne Gesicht einen Augenblick lang kurz und mißbilligend betrachtet hatte, sagte sie grob: »Auf Damenbesuch sind wir in Hammerfest nicht eingerichtet. Fahren Sie man wieder hin, wo Sie hergekommen sind. Solche Zicken werden dem Herrn Drehws hier draußen nicht durchgelassen.«
Kamilla Prätorius war dunkelrot geworden bei der dreisten Rede der Alten. Am liebsten hätte sie sich wirklich wieder in den Schlitten gesetzt und in Pelzow im Blauen Adler übernachtet. Aber daran war nicht zu denken. Sie mußte ihren Vater sprechen. Und wer weiß, ob es ihr in einem wildfremden Hause in der fremden Stadt nicht noch schlechter ergangen wäre, als auf Hammerfest, wohin der Vater ja doch wohl bald zurückkehren würde. So faßte sie sich ein Herz und erklärte der rabiaten Alten, die in ihren wilden Schmähreden fortfuhr, den Zweck ihres Besuches.
Als die Frau erfuhr, wen sie vor sich hatte, besänftigte sich ihr Zorn.
»Fräulein Prätorius, so! Und den Vater wollen Sie besuchen? Na, da ist ja nichts gegen zu sagen, obwohl, wie gesagt, auf Damenbesuch sind wir nicht eingerichtet. Und was wollen Sie –?« wandte sie sich kurz an den Fuhrknecht, der den dampfenden Braunen die Decken umgehängt hatte. »Hierbleiben oder nach Pelzow zurückfahren?«
»Ich bleib' schon lieber hier. Vielleicht fährt das Fräulein morgen gleich wieder mit zurück?«
Kamilla wehrte hastig ab. Die Alte hatte eine kleine Pfeife aus den Brustfalten ihrer Jacke unter dem dunkeln Umschlagetuch gezogen und setzte sie an den zahnlosen Mund, ein paar kurze, scharfe und sehr laute Töne hervorstoßend.
»Warten Sie, Fuhrmann. Der Knecht wird bald kommen und Ihnen nach dem Stall leuchten. Ich will derweilen das Fräulein ins Haus lassen, sonst macht mir der Herr Prätorius nachher 'nen Krach.« Sie zog einen großen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür, zu der ein paar ausgetretene Steinstufen aufwärts führten.
»Wo sind denn der Vater und Herr Drehws?«
Die Alte zuckte verächtlich mit den Achseln. »Wo werden sie sein? In Pelzow im Blauen Adler, Karten spielen und Grog trinken.« Dabei stellte die Alte die Laterne auf den ziegelgepflasterten Flur und schloß die Haustür von innen wieder ab.
»Werden sie bald zurück sein, Frau –?«
»Inkommodieren Sie sich nicht, Fräulein, Kanitzke, das genügt. Im übrigen, da ist nichts Gewisses zu sagen, 'mal so, 'mal so, je nachdem.«
»Wie meinen Sie das, Frau Kanitzke?« fragte Kamilla ängstlich, indem sie hinter der Alten her die steile Treppe Hinaufstieg.
»Je nachdem, ob sie gewinnen oder verlieren. Gewinnen sie, wollen sie noch mehr einsacken und kommen erst spät bei der Nacht, verlieren sie, dann machen sie sich ja manchmal bald auf und davon, manchmal auch nicht. Jedenfalls rat' ich Ihnen, warten Sie nicht auf den Vater. Sie können ja aufstehen, wenn er kommt. Überhören werden Sie's nicht«, fügte sie mit gereiztem Nachdruck hinzu.
Sie waren oben angekommen. Frau Kanitzke öffnete eine Tür, der Treppe gerade gegenüber, setzte die Laterne auf einen Stuhl neben der Tür, zog eine Schachtel mit Streichhölzern aus der Tasche und steckte eine auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers stehende Lampe an, die einen durchdringenden Petroleumgeruch verbreitete. Die Flamme, aus einem schwarzen, ungleich verschnittenen Docht schlagend, flackerte in dem blinden Zylinder unruhig hin und her. Überdies schien das ganze Zimmer in Tabakrauch förmlich eingehüllt, eine so dicke, qualmige Luft schlug Kamilla aus dem engen Raum entgegen.
»So, das ist dem Herrn Prätorius sein Zimmer. Darin lassen Sie sich's nur man gefallen, bis ich Ihnen die Mansarde hier gerade drüber zurecht gemacht habe und es ein bißchen verschlagen geworden ist. Verdammt vorzeitiger Winter, dieser Winter.« Dabei nahm Frau Kanitzke die Laterne wieder in die Hand und verließ das Zimmer.
Kamilla atmete schwer und beklommen. Mein Gott, welch ein entsetzlicher Aufenthalt! Hier hauste der Vater! Sie nahm die qualmende Lampe vom Tisch, nachdem sie sich vergeblich bemüht hatte, ihr durch Drehen und Schrauben ein etwas helleres und ruhigeres Licht zu geben, und leuchtete im Zimmer umher. An der der Tür gegenüberliegenden Wand stand das Bett unordentlich und zerwühlt, mit rasch und flüchtig übergeworfener buntgewürfelter Decke. In der Wandecke daneben ein kleiner wackeliger Waschtisch, der nur gerade Raum für die Waschschüssel bot, in der das gebrauchte Wasser stehengeblieben war. Zwischen den beiden dicht zusammenliegenden Fenstern stand, ein wenig schräg gerückt, der Arbeitstisch, zum mindesten schien dies seine ursprüngliche Bestimmung zu sein. Augenblicklich lagen über den Rechnungsbüchern und den in blaue Aktendeckel gehefteten Schriftstücken eilig abgelegte Kleidungsstücke, Pfeifen, eine Reitpeitsche und aus einem Teller mit benutztem Besteck eine angeschnittene Mettwurst. Ein Paar kotige Reitstiefel standen auf einem Stuhl daneben. Rechts von der Tür, durch die die Kanitzke Kamilla eingelassen hatte, fand sich ein Schrank mit offenstehenden Türen. In dem unteren Teil, vollgestopft bis zum Boden des Oberteils, hatte Mangold Prätorius seine gebrauchte Wäsche untergebracht. Der obere Teil zerfiel in zwei Abteilungen, die beide mit Schnapsflaschen, leeren, vollen und halbvollen gefüllt waren. Zwischen den Flaschen unausgewaschene Gläser, Tabak, Zigarren, ein paar Stöße aufgestapelter Bücher, ein Haufen schmutziger Spielkarten, Würfel und Becher. Den übrigen Raum im Zimmer nahmen unordentlich umherstehende defekte Stühle und der kleine Mitteltisch ein, auf dem die Lampe gestanden hatte und der im übrigen wunderbarerweise leer geblieben war.
Kamilla stellte die Lampe an ihren alten Platz zurück. Dann ging sie zu den Fenstern und versuchte sie zu öffnen. Beide, verklammt und verquollen, widerstanden ihrer Anstrengung. In tiefer Niedergeschlagenheit setzte sich Kamilla an den Tisch. Ein schwerer Selbstvorwurf nach dem andern stieg in ihr auf. Wenn sie nach den Erzählungen der Kanitzke, nach der Physiognomie dieses Zimmers auf das Leben, das der Vater auf Hammerfest führte, schließen konnte, wohin war es dann in der kurzen Zeit der Trennung mit ihm gekommen? Wenn es so war, wie es den Anschein hatte, konnte sie sich dann freisprechen von der Mitschuld an diesem Niedergang?
Widersetzlich seinem Wunsch, Schellbachs Werbung ohne weiteres anzunehmen, ganz versunken in ihren eigenen Kummer, nur beschäftigt mit Lorenz und ihrer Liebe, hatte sie ihre Pflichten gegen den Vater aufs gröblichste verabsäumt. Ihre Weigerung, Schellbach anzugehören, die es dem Vater unmöglich erscheinen ließ, in Berlin in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm zu treten, hatte ihn in diese Wildnis hier, in die Gesellschaft des fatalen Drehws getrieben! Zumindest, da der Vater von dem Vorhaben nicht abzubringen gewesen war bis zu ihrer endgültigen Entschließung in Hammerfest zu bleiben, hätte sie mit ihm hinausfahren, der Kanitzke sein Wohl ans Herz legen müssen, wäre es ihre Pflicht gewesen, in diesen langen zehn Wochen nach ihm zu sehen!
Sie errötete über sich selbst. Sie fühlte sich tief in der Schuld des Vaters. Nun kam sie freilich, ihm zu sagen: ein Teil deiner Hoffnung hat sich erfüllt, ich bin Lorenz nicht mehr bedingungslos zu eigen. Aber würde diese halbe Erfüllung genügen, um ihn zur Umkehr von den wüsten und wilden Wegen zu vermögen, die er vielleicht nur in der Verzweiflung über ihre Weigerung, Schellbach zu erhören, eingeschlagen hatte? Immer schwerer atmete sie. Immer düsterer und umflorter ward ihr Blick. Von ihrem eigenen Schicksal wandte sie sich ab, ganz dem des Vaters zu. Sie wog und zählte nicht, was Schuld, was Schicksal war. Sie fühlte nur mit ihm, der unglücklich, ja verzweifelt sein mußte, da er sich in diese Einöde vergrub und gegen sein besseres Selbst wütete.
Die Tür knarrte und knirschte in den Angeln. Frau Kanitzke kam zurück. Kamilla hatte ihren leisen, schlurfenden Katzentritt überhört.
»Wenn Fräulein Prätorius nun hinaufkommen wollten. Es ist jetzt soweit, wie man's eben geben kann. Wie gesagt, auf Damenbesuch sind wir hier nicht eingerichtet.«
Milla erhob sich müde, an allen Gliedern zerschlagen. Die Kanitzke, der die veränderte Haltung auffiel, leuchtete ihr mit der Laterne neugierig ins Gesicht. »Nee, wie sehen Sie nur plötzlich aus, Fräulein Prätorius? Ganz käsig und verglast. Sie sollten 'n Happen essen. Oder vielleicht was zu trinken gefällig? Kleiner Schlummerpunsch?« Sie zeigte grinsend auf das offenstehende Fach mit den Schnapsflaschen, »Sie sehen, wir haben Vorrat.«
Milla lehnte dankend ab. Dabei aber fiel ihr ein, daß sie wirklich seit ein Uhr keinen Bissen über die Lippen gebracht hatte und Lene Petersens Vorratskorb ganz vergessen war.
»Wenn Sie nur so gut sein wollen, Frau Kanitzke, und meine Tasche und den Korb, der unter dem Sitz im Schlitten steht, heraufbesorgen lassen.«
»Ist schon geschehen«, brummte die Kanitzke.
Sie stiegen die enge, immer schmaler und steiler werdende Treppe zu der Mansarde hinauf. Die Kanitzke öffnete die Tür, gerade dem Treppenabsatz gegenüber. Eine kalte, dumpfige Luft schlug Kamilla entgegen, obwohl im Ofen Feuer brannte.
»Wie man's eben geben kann! Der Ofen ist seit drei Jahren nicht geheizt worden. Gottes Wunder, daß er überhaupt brennt und nicht raucht. Wäre sonst noch was?«
Kamilla schüttelte gedankenabwesend den Kopf. Sie war totmüde und hatte nur den einen Gedanken, allein zu sein.
»Na denn –«
Ja richtig, sie hatte der Alten noch nicht einmal gedankt.
»Besten Dank, Frau Kanitzke, für Ihre Bemühungen, und es ist ja alles ganz schön und gut so.«
»Lampens haben wir keine zwei.« Sie deutete auf die angezündete Kerze, die auf einem Tischchen neben dem Bett stand. »Aber Sie werden ja nun auch wohl schlafen gehen. Was soll man sonst hier anfangen, und wie gesagt, auf den Vater warten, das ist 'n ungewisses Ding.«
Da Kamilla nicht antwortete, blieb die Alte auf der obersten Treppenstufe noch einmal stehen. »Wie gesagt, wegen 'nem warmen Getränk! Ich laß mir von Herrn Prätorius nicht gern Krach machen.«
»Ich werde dem Papa sagen, daß Sie mich sehr gut versorgt haben, Frau Kanitzke.«
Zufrieden vor sich hinbrummelnd, zog die Alte ab. Aus Furcht, daß sie noch einmal umkehren möchte, blieb Kamilla in der offenen Stubentür stehen, bis ihr Ohr den Tritt der Alten die Treppen hinunter erfaßt hatte, und unten im Flur eine Tür, vermutlich die Küchentür, zugeschlagen worden war. Dann erst schloß Kamilla die Tür ihrer Dachkammer und drehte den Schlüssel im Schloß. Gott sei Dank, sie war wenigstens wieder allein.
Der kleine, eisigkalte Raum mit seinen schrägen, feuchten Wänden war schnell überblickt. Ein schmales Bett, daneben der kleine Tisch mit der Kerze und einem Glas mit Wasser. An der sonst ganz kahlen, weißgetünchten Wand gegenüber, ein Waschtisch, mit dem Allernotwendigsten versehen, zwei rohgezimmerte Stühle, das war die ganze Einrichtung. Milla klapperte vor Frost. Dennoch bereute sie es nicht, Frau Kanitzkes Anerbieten, ein warmes Getränk heraufzubringen, abgelehnt zu haben. Stärker noch als das körperliche Unbehagen war das seelische Bedürfnis, mit ihren schweren Gedanken allein zu sein. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes und wickelte sich in eine von Lene Petersens Decken, die mit der Tasche und dem wohlverschlossenen Korb heraufgekommen waren. Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie, aber sie wehrte sich tapfer gegen den Schlaf. Sie wollte nicht schlafen, sie wollte den Vater erwarten um jeden Preis. Eine lange Weile hatte sie so gesessen, wie lange, wußte sie nicht. Irgendwo hatte sie einmal eine Uhr schlagen hören, neun oder zehn Schläge, dann war wieder alles still gewesen, totenstill. Auch die Holzscheite im Ofen knackten nicht mehr. Das Feuer war ausgebrannt, ohne zu wärmen.
Ganz plötzlich aus der tiefen Stille heraus wurden laute Stimmen, schwere stampfende Schritte hörbar. Milla fuhr zusammen, wie aus tiefem Schlaf aufgeschreckt. Sie rieb die Augen, die Kerze war bis über die Hälfte niedergebrannt. Sie richtete sich aus ihrer in sich versunkenen Haltung auf, warf die Decke von sich und lauschte, die Tür zu einem Spalt öffnend, hinunter. Aus dem lauten, wüsten Gewirr unterschied sie jetzt deutlich eine Stimme, die Stimme des Inspektors.
»Zum Donnerwetter, sind Sie taub geworden, Kanitzke, altes Schwein! Wenn Prätorius seine Tochter sehen will, so werden Sie sie eben herunterholen.«
Ein kurzer, pfeifender Laut fuhr durch die Luft. Dann schrie die Kanitzke auf.
»Ich werde dir Beine machen, verdammtes – den Rest des Satzes verschlang das Geheul der Alten.
Angstbebend stand Kamilla auf der kalten Treppe. Da hörte sie ihren Vater in beinahe ruhigem, besänftigendem, aber seltsam schwankendem Tonfall sagen: »Hör' doch auf mit dem Radau, Drehws. Ich werde selbst nach Kamilla sehn. Werde rauf gehn.« Dann ein merkwürdiges kehliges Lachen – und den Nachsatz: »Weiß schon, warum sie kommt. Ist ein gutes kleines Ding, die Milla.« Des Vaters letzte Worts klangen wie von Tränen erstickt.
Mein Gott, wie weit hatte sie ihn gebracht! Mit der schmalen, vornehmen, feinfingerigen Hand fuhr sie über Stirn und Augen. Sie wollte versuchen, ihm kein vergrämtes, verhärmtes Gesicht zu zeigen. Sie wollte versuchen, ihm Mut und Zuversicht einzuflößen. Laut und polternd stolperte er die sich plötzlich zur Hälfte erhellende Stiege herauf. Drehws oder die Kanitzke mochten vom ersten Stock her dem Vater heraufleuchten. Dann an der Biegung ward Mangold Prätorius' große, schwerfällige Gestalt sichtbar.
Kamilla flog ihm die paar Stufen entgegen. »Papa, ach Papa!«
Kaum aber, daß sie ihn umfaßt hatte, wich sie entsetzt von ihm zurück, ein so widerwärtiger Dunst von Wein und Branntwein ging von seinem raschen, keuchenden Atem aus.
Mangold Prätorius schien diese Bewegung seiner Tochter nicht bemerkt zu haben. Er legte den rechten Arm, Halt suchend, schwer um ihre Schulter, während er mit der linken Hand das Geländer gefaßt hielt.
»Gutes Kind, gutes Kind,« murmelte er mit heiser belegter Stimme, »laß uns nur erst oben sein, dann dank' ich dir schon.«
In der kleinen Mansarde, deren kalte Luft ernüchternd auf den Trunkenen einzuwirken schien, ließ er sich auf den Bettrand fallen. Das tief heruntergebrannte Licht flackerte über ihn hin und zeigte Kamilla ein in der kurzen Zeit ihrer Trennung seltsam verändertes, von Sorgen und Leidenschaften zerwühltes Gesicht. Sie mußte an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen.
Ihre Scheu überwindend, trat sie ganz nahe zu ihm hin und ergriff seine Hand, die schlaff über den Bettrand herabhing. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Papa, es war unrecht von mir, dich nicht einmal zu besuchen.«
»Laß nur, laß. Was hättest du hier gesollt in dem verdammten Schweinestall.«
Sie sah ihm traurig und ängstlich ins Gesicht. Was sollte sie anfangen, wenn er roh und brutal wurde wie Drehws unten?!
Er fühlte ihren Blick und zuckte unter ihm zusammen. Mit der schweren, breiten Hand fuhr er sich übers Gesicht und griff dann nach dem Glas Wasser, das neben der Kerze stand. In einem Zuge goß er das eiskalte Getränk hinunter. Ein instinktives Gefühl, seinen Zustand vor der Tochter entschuldigen zu müssen, überkam ihn.
»Das Wirtshaus und die Karten – ja, ja« – murmelte er trübselig in jenem seltsam schwankenden Tonfall, den Kamilla schon von unten her aufgefangen hatte – »aber was bleibt einem sonst bei diesem verfluchten Hundeleben – du siehst das ein, Milla, nicht wahr?« Und beinahe weinend: »Sag mir, daß du es einsiehst, Milla, daß du mir verzeihst.«
»Alle Kraft, die ihm geblieben war, nahm das schwache, zärtliche Geschöpf zusammen, ihr Grauen und ihren Ekel zu überwinden, den niedergebrochenen, lasterverfallenen Mann wieder aufzurichten. Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen der rohgezimmerten Stühle, nahm seine Hände zwischen die ihren und sah ihm fest ins Auge.
»Lieber Papa, das Leben hier wird und muß ein Ende für dich haben.«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte er müde und demütig, die verschwommenen Augen zu ihr aufschlagend.
»Du wirst Schellbach heiraten, und dann werde ich in seinen Dienst treten, dann werde ich der Angestellte meiner Tochter sein.«
Milla erschrak. Durfte sie ihn glauben machen, daß die Entscheidung schon gefallen, daß sie nur zu diesem Zweck zu ihm gekommen war, heute schon, da ihr Hoffen sich immer noch an Lorenz Buchberg klammerte, da die Zuversicht, daß er sie zu sich holen würde, noch immer nicht ganz erstorben war?
Mangold Prätorius hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Mit erhöhter Stimme, aus der plötzlich alles Schwankende ausgelöscht schien, fragte er: »Wann wirst du Schellbach – heiraten?«
Sie wich seinem Blick aus, der sie furchtbar dünkte, hoffend, heischend, befehlend zugleich.
»Wann wirst du Schellbach heiraten?« fragte er noch einmal, und seine Stimme dröhnte durch den engen Raum.
Kamilla zitterte am ganzen Leibe. »Ich werde ihn heiraten, Papa, wenn –« das übrige verschlangen ihre hervorbrechenden Tränen.
Prätorius war sofort besänftigt. »Siehst du, ich wußte es ja – du bist mein gutes Kind«, sagte er weinerlich und zog sie in seine Arme.
Sie entzog sich ihm, ohne daß er auch nur etwas davon verspürte. Er wollte noch etwas sagen, aber die Worte versagten ihm. Die Müdigkeit überwältigte ihn. Wie gefällt sank er auf das schmale Bett zurück und fiel in einen bleiernen Schlaf. Milla deckte ihn mit einer von Lene Petersens warmen Decken zu. In die andere wickelte sie sich selbst; dann setzte sie sich auf den Stuhl an der kahlen, feuchten Wand dem Bett gegenüber und rührte sich nicht, bis der Morgen graute.
In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch war Frau Buchberg gestorben. Am Mittwoch abend war Kamilla in Hammerfest eingetroffen. Für den Sonnabend nachmittag hatte Sadus das Begräbnis bestellt. Es war anzunehmen, daß Lorenz am Donnerstag oder Freitag spätestens zu der Feier eintreffen würde.
Milla hatte außer mit Sadus mit Lene Petersen abgesprochen, daß, wenn Lorenz wider alles Erwarten nicht kommen sollte, sie Milla unverzüglich benachrichtigen würde. Dann wollte sie an seiner Statt die alte Frau zur letzten Ruhe betten helfen. Vor Freitag abend oder Sonnabend früh erwartete Milla keine Nachricht, weder die im tiefsten Grunde des Herzens noch immer heiß ersehnte von Lorenz selbst, noch die von Lene versprochene Botschaft.
Als bis Sonnabend am frühen Vormittag nichts eingetroffen war, befiel Milla eine große Angst. Auf Lene durfte sie sich verlassen. Wenn Lorenz nicht eingetroffen wäre, hätte sie ihr zuversichtlich rechtzeitig einen Boten herausgeschickt; ebensowenig würde Sadus mit dem Telegramm gezögert haben. So war er also gekommen, ohne sogleich nach ihr zu rufen, ohne sie zu bitten oder bitten zu lassen, mit ihm am Grabe der Mutter zu stehen! Wie im Fieber lief Milla stundenlang auf der verschneiten, verödeten Chaussee von Pelzow her, auf der der Bote kommen mußte, auf und nieder. Daß sie im geheimsten Winkel ihrer Seele keinen Boten, sondern Lorenz selbst erwartet, gestand sie nicht einmal sich selbst.
Als es von dem Stallgebäude her Mittag schlug, ließ sie jede Hoffnung fahren. Um drei Uhr war das Begräbnis angesetzt. Es würde niemand mehr kommen, sie zu holen. Sie war vergessen, verlassen!
Einen Augenblick dachte sie daran, den Vater um den alten Schlitten zu bitten, der hinten im Stall stand. Der starke Braune würde sie in drei Stunden mühelos zur Stadt gebracht haben; aber sie verwarf den heiß in ihr aufgestiegenen Gedanken sofort wieder. Sie hatte Lorenz und ihr Schicksal auf diese letzte Probe gestellt, sie wollte fest bleiben.
Von der Tür her rief Frau Kanitzke laut und gellend zu Tisch. Kamilla schlug den Rückweg ein. Über der endlosen, glatten weißen Ebene der verschneiten Acker stand fahlgelb die Dezembersonne. Kamilla blickte auf das verschleierte, umwölkte Gestirn. Ihre Augen feuchteten sich. Mußte sie jede Hoffnung begraben? War nicht noch die Möglichkeit geblieben, daß Lorenz zuerst der Toten, dann erst dem lebendigen Leben den Zoll seiner Zärtlichkeit zahlen wollte? Noch einmal rief die Kanitzke. Kamilla Prätorius wischte mit der Hand über die Augen und beschleunigte ihren Schritt. –
Am Sonntag nachmittag traf ein reitender Bote mit einem Schreiben auf Hammerfest ein. Milla saß mit ihrem Vater in dem notdürftig aufgeräumten Zimmer beim Kaffee, als die Kanitzke das Schreiben herausbrachte.
Das Mädchen wurde bleich bis in die Lippen, als es eine Aufschrift auf dem Umschlag sah, die nicht von Lorenz' Hand geschrieben war. Sie umklammerte den Brief mit bebenden Fingern und verließ dann wortlos das Zimmer. Auf der Treppe zur Mansarde hörte sie ihren Vater mit dem Boten aus dem geöffneten Zimmer sprechen. Was er ihm zurief, verstand sie nicht. Vor ihren Ohren summte und brauste es. Vor ihren Augen tanzten dunkle Flecken, wanden sich schwarze Schlangen. Mit zitternden Knien sank sie auf den Stuhl an der kahlen, weißen, feuchten Wand. Einen Augenblick starrte sie auf den Brief, auf dem sie jetzt Lene Petersens Hand erkannte, dann riß sie den Umschlag voneinander, aus dem ihr zwei voll beschriebene Bogen entgegenfielen.
Lene Petersen schrieb:
»Mein geehrtes und geliebtes Fräulein Prätorius! Gestern nachmittag haben wir die gute Frau Buchberg begraben. Es war eine schöne und würdevolle Feier und viele angesehene Leute aus der Stadt zugegen. So ziemlich meine ganze Kundschaft mit Kränzen und vielen Tränen und viel Krepp und schwarzen Schleiern. (Die Krulls Mädchen hatten nagelneue Hüte auf mit langen schwarzen Schleiern hinten, wie es jetzt modern sein soll.) Der Herr Pastor hat sehr schön gesprochen über den Bibeltext: Gott ist die Liebe.
Die Hauptsache war aber die Fabrik. Denken Sie nur, mein geliebtes Fräulein Milla, Herr Sadus war mit einer Arbeiterdeputation gekommen, um der Mutter des Herrn Lorenz die letzte Ehre zu erweisen. Sie kamen mit Musik und einer umflorten Innungsfahne! Und die beiden ältesten Arbeiter, der alte Kusemiehl und der alte Franke, trugen eine Palme mit einer großen Bandschleife voran. Auf der stand in großen goldenen Buchstaben auf der einen Seite »Ruhe sanft«, auf der andern: »Der ehrbaren Witwe Buchberg geb. Wanesse«.
Was nun kommt, mein geehrtes und geliebtes Fräulein Prätorius, ist schwer für mich auszusprechen, und nicht so schön wie der Anfang dieses Briefes. Wie Sie schon aus meinem bisherigen Schweigen erraten konnten, ist Herr Lorenz eingetroffen, und zwar kam er mit dem letzten Berliner Zug am Freitag abend. Er ist im Löwen abgestiegen und kam dann am frühen Sonnabend vom Trauerhaus zu mir, um Sie aufzusuchen. Er war sehr erstaunt, als ich ihm sagte, Sie seien auf dem Vorwerk bei dem Herrn Vater. Ich hätte ihn gern gefragt, ob wir nicht einen Boten hinausschicken wollten oder ob er nicht selbst fahren wollte, Sie zur Feier zu holen – zu tun war nichts mehr für ihn, denn Herr Sadus hatte ja schon alles wunderschön arrangiert – aber da Sie es mir verboten hatten, sagte ich nichts, und Herr Lorenz sagte auch nichts dergleichen. Er sah sehr gut und recht elegant aus. Er sah sich in unserer kleinen Wohnung um und lächelte so ein bißchen von oben herab. Dann zeigte ich ihm, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse darüber, geliebtes Fräulein Milla, ein paar von den Karten, die Sie gemalt haben, und erzählte ihm, was dazu nötig war. Er sagte: Ganz nett. Als ich dann immer noch neben ihm stand und sozusagen noch eine andere Ansprache – für Sie – von ihm erwartete, merkte er es endlich und sagte dann: »Ach so«, und zuckte die Achseln, »wenn Kamilla es nicht der Mühe wert hält, hier auf mich zu warten, und vor dem Begräbnis meiner Mutter davonläuft, dann muß ich mich eben drin schicken und kann da auch weiter nichts sagen.« Ich erzählte ihm dann noch, wie treu Sie die Frau Mutter gepflegt hätten – ein Umstand, von dem die tolpatschige Nette nicht das geringste mitgeteilt zu haben schien, was er dann aber wohl später von Herrn Sadus genügend erfahren hat – und daß er Ihnen dann doch wohl schreiben würde, wenn er nicht etwa nach dem Begräbnis zu Ihnen raus machte.
Da schüttelte er aber den Kopf und sagte, von Besuchen könne gar keine Rede sein, denn er müßte am Sonntag abend in München, und am Montag früh wieder bei der Arbeit sein; er habe Modell bestellt, und das schien eine sehr wichtige Sache zu sein. Schreiben, ja, das würde er von München aus. Einstweilen möchte ich Ihnen aber sagen, böse wäre er nicht, und vielleicht wäre es auch so für beide Teile das Beste, und wenn auch nicht alles so würde, wie sie es sich früher beide gedacht, so könnten Sie deswegen doch gute Freunde bleiben.
Beim Begräbnis sprach ich ihn dann nicht mehr. Alles drängte sich um ihn und kondolierte ihm, da wollt ich mich nicht aufdrängen. Was ich noch sagen muß, daß er sehr schön und sehr gerührt aussah. Heute, Sonntag morgen, ist er denn richtig abgereist. Herr Sadus, der herauskam, um nach Ihnen zu fragen, sagte mir so. Er hat mir ausdrücklich die besten und herzlichsten Grüße für Sie aufgetragen, und daß Sie bei der Kälte nicht zu lange in dem schlecht verwahrten Hammerfest bleiben möchten. Er hat mir auch den Boten besorgt, der Ihnen diesen Brief bringt. So um nachmittag wird er wohl bei Ihnen sein. Und nun leben Sie wohl, geliebtes und geehrtes Fräulein Prätorius, und kommen Sie baldigst zurück, damit Sie sich da draußen in der Kälte und mit dem schweren Herzen nicht etwa noch eine Krankheit holen.
In liebender Verehrung Ihre bis in den Tod getreue
Milla hatte den Brief zweimal von Anfang bis zu Ende gelesen. Wort für Wort, Silbe für Silbe. Dann saß sie da, starr und still, mit gefalteten Händen, denen die Briefblätter entglitten waren. In dem stillen, weißen Gesicht sprachen nur die todestraurigen Augen und der leise bebende, halbgeschlossene Mund, sprachen von etwas, was tief drinnen in der Seele des Mädchens zerrissen und gestorben war.
Nach einer Zeit, für die sie jedes Maß verloren hatte, stand sie auf mit schweren, zerschlagenen Gliedern. Sie zündete das Licht auf dem Nachttisch in dem inzwischen gänzlich dunkel gewordenen Gemach an. Dann trat sie an den Waschtisch, goß von dem eiskalten Wasser ins Gefäß und wusch damit Stirn und Augen. All ihren Bewegungen haftete etwas unheimlich Starres, Automatenhaftes an. Sie erschienen wie von einem außer ihr liegenden Willen diktiert. Erst als sie die Türklinke in der Hand hielt und noch einmal zurücksah, fiel ihr Blick auf die weißen Blätter, die sich noch gerade sichtbar von dem dunkeln Boden abhoben. Sie bückte sich, nahm sie auf und verschloß sie in ihre kleine Reisetasche. Dann steckte sie den Schlüssel zu sich und stieg die enge knarrende Bodentreppe bis zum ersten Stock hinunter.
Der Inspektor saß schon seit Mittag in Pelzow im Blauen Adler, Frau Kanitzke hockte hinten mit den Knechten im warmen Stall. Durch das stille Haus tönte nichts als der dröhnende Schritt Mangold Prätorius', der unruhig und beängstigt über das lange Ausbleiben seiner Tochter im Zimmer hin und her lief.
Als Kamilla die Tür öffnete, flog ein froher Schein über sein ernstes, verstörtes Gesicht. »Endlich, Milla! Nun was stand in dem Brief?«
Sie antwortete nicht. Nach einer kleinen Weile, während der Mangold Prätorius sein Kind, mit eindringlicher Frage in den müden Augen, bei beiden Händen gehalten hatte, sprach Milla leise und fest: »Wenn du willst, lieber Papa, schreibe an Herrn Schellbach und frage ihn, ob er Weihnachten mit uns in der Waldmühle verbringen will.«
Mangold Prätorius stieß einen stöhnenden Laut der Befreiung aus, der das bleiche Mädchen erbeben machte. Dann riß er seine Tochter mit stürmischer Zärtlichkeit ans Herz. Tränen fielen auf ihr schweres kastanienbraunes Haar. – –
Frau Hegemann hatte den Oberstock für ihre Weihnachtsgäste eingerichtet. Vorn heraus, mit dem Blick auf den verschneiten Wald, zwei einfenstrige Zimmer für Fräulein Milla und Herrn Mangold Prätorius. Nach hinten, mit der Aussicht auf den kleinen, erfrorenen Blumengarten und den in Frost erstarrten Bach, das große zweifenstrige Zimmer, das für gewöhnlich als Vorratsraum für den Hegemannschen Obstreichtum diente. Herr Schellbach aus Berlin und sein hübscher blasser Sohn, der im Sommer die Bewunderung der Hegemannschen Sonntagsgäste erregt hatte, würden sich hoffentlich behaglich darin fühlen.
Mit besonderer Liebe und Sorgfalt hatte Frau Hegemann sich Millas Zimmer angenommen. Alles, was sie nur an guten und bequemen Möbelstücken besaß, hatte sie hinaufgeschafft, und als sie den kleinen, behaglichen Raum am 24. Dezember morgens zum ersten Male in seinem ganzen, vollendeten, adretten Staat vor sich sah, mußte sie selbst über ihr gelungenes Werk lächeln, daß alle ihre schönen, festen, weißen Zähne zwischen den vollen Lippen schimmerten. Nur noch ein paar frische Tannenzweige da und dort zwischen die Bilder gesteckt, ein paar Blumentöpfe vor das Fenster mit den blütenweißen Vorhängen, und Fräulein Milla würde sich's bei ihr wohl sein lassen können nach dem Schmutz und Grauen der Räuberhöhle in Hammerfest, von der die Petersen ihr erzählt hatte, als sie am letzten Advent bei ihr draußen gewesen war, um das Rezept für ein neues Weihnachtsgebäck zu erbitten.
Frau Hegemann bedauerte nur das eine, daß ihre Weihnachtsgäste nicht schon heute zur Bescherung einträfen. Sie hätte sie gar zu gern mit unter dem mächtigen Familienweihnachtsbaum unten im großen Gastzimmer gehabt, das zur Verzweiflung ihrer wilden Sechse schon seit drei Tagen verschlossen war. Der heiße Sommer hatte ein gutes Jahr in der Waldmühle gegeben, da wollten die Hegemanns sich nicht lumpen lassen und hatten eine Menge außergewöhnlicher Überraschungen für ihr Doppelkleeblatt vorbereitet.
Weshalb die Gäste heute noch nicht eintreffen konnten, hatte die Petersen damit erklärt, daß Herr Schellbach eine Persönlichkeit sei, die sich nicht so ohne weiteres an einem Weihnachtsabend aus seiner Umgebung drücken könne. Dabei hatte ein geheimnisvoll freudiges Schmunzeln, das Frau Hegemann sich gar nicht zu erklären wußte, Lene Petersens alternde Züge verklärt. Dann hatte sie in scheinbar gehobener Stimmung fortgefahren, Schellbachs Personalien zum besten zu geben. Wenn das Haus Schellbach auch kein Welthaus sei, hatte die Petersen erzählt, so beschäftige der Ingenieur in seiner elektrischen Fabrik doch neben den Arbeitern eine Menge von Beamten, die es gewohnt seien, am Weihnachtsabend Gäste des Herrn Schellbach zu sein. Auch das Hauspersonal sei groß, und dann sei außer dem jungen Herrn Walter noch ein Töchterchen da, das man am Weihnachtsabend doch auch nicht so ohne weiteres verlassen dürfe.
Weshalb es denn nicht mit herauskäme in die Waldmühle, hatte die Hegemann mit einem Anflug beleidigter Würde gefragt.
Da hatte Lene Petersen die schmalen schiefen Schultern gezuckt und wieder ein wenig geheimnisvoll gemeint, darüber könne sie nicht genauer Auskunft geben. Sie habe nur so was gehört, daß das junge Fräulein bei einer Tante bliebe, die sie sehr verzöge. Im übrigen hätte sie, Lene Petersen, sich's nicht nehmen lassen, Herrn Mangold und Fräulein Milla für den Weihnachtsabend zu einer Tasse Tee zu laden, da Frau von Koppe es nicht für gut befunden habe, desgleichen zu tun. Am ersten Feiertag früh würden Vater und Tochter dann zur Waldmühle hinauswandern, falls das Wetter nicht gerade umschlüge, und so um eins herum kämen die Berliner, direkt von der Bahn, mit dem Schlitten nach.
Nach diesen weitschweifigen Erörterungen hatten die beiden Frauen eifrig über das Festessen beraten, das den Herrschaften in dem kleinen reservierten Eckzimmer aufgetischt werden sollte. Nach langem erhitzten Streit hatte Lene Petersen zu Bouillon mit Einlauf, polnischem Karpfen, Gänsebraten mit Schmoräpfeln und einem Griespudding mit Früchten ihren Segen gegeben. – –
Durch den sonnenüberglänzten Wald gingen Mangold und Kamilla Prätorius der Waldmühle zu. Das Gesicht von dem gefrorenen See mit dem fahlbraunen Röhricht abgewendet, war Milla still neben dem Vater hergeschritten. Erst als sie in die Nähe der Birkengruppe kamen, zog sie's übermächtig, einen Blick auf die weißen Stämme zu tun, die mit ihrem kahlen, schwärzlichen, bis auf den glänzend weißen Schneeboden herabhängenden Geäst, Trägern von weit auswallenden Trauerschleiern zu gleichen schienen.
Einen Augenblick stieg Kamilla das Blut ins Gesicht, als sie der heißen Küsse, der tollen, zärtlichen Reden gedachte, die an jenem schwülen Sommerabend unter den weißen Stämmen getauscht worden waren. Mit krampfhaftem Druck rang sie die Hände in dem schützenden Muff zusammen. Tränen traten in ihre Augen. Laut auf hätte sie schreien mögen in ihrem bittern, brennenden Herzensweh. Dann kam der Stolz ihr zu Hilfe. Es durfte kein Weinen und Grämen mehr geben um ihn, der die Fülle ihrer Liebe und Hingabe mit kargender Selbstsucht vergolten hatte. Er mußte tot sein für sie, tot wie alles, was sie an ihn erinnerte. Wie im Frost schlugen die Zähne ihr gegeneinander. Die Glieder wurden ihr lahm.
»Frierst du. Milla? Bist du müde? Wir hätten doch lieber einen Schlitten nehmen sollen«, meinte Prätorius, der in seiner flauschigen, graugrünen Jagdjoppe, den Jagdhut mit der Spielhahnfeder ein wenig schief auf dem starken Haar, den dichten, rotblonden Bart frisch verschnitten, heut merkwürdig jung und elastisch schien.
»Danke, Papa, nein, es ist viel schöner zu gehen. Es ist auch schon wieder vorüber.«
Sie hatten den See im Rücken und schritten durch den dichten Wald, denselben Weg, den Milla im Sommer mit dem kaum genesenen Walter gegangen war.
Gerade kamen sie an der Stelle vorüber, an der sie damals gerastet hatten. Die Erinnerung an das kluge, feine Gesicht des Knaben wachte wieder deutlich in ihr auf. Jede Miene, jede Bewegung Walters sah sie wieder, jedes Wort klang ihr im Ohr. Langsam sank etwas von der Last, die sie bedrückte, nieder, ein weniges befreiter atmete sie auf, als sie der feinen Seele dieses Knaben gedachte.
Eine Stunde vor der Ankunft des Berliner Zuges langten Mangold und Kamilla Prätorius in der Waldmühle an.
Die kleine wilde Schar, die für Fräulein Prätorius eine ausgesprochene Schwärmerei hegte, stürzte ihr jubelnd entgegen und griff nach ihren Händen. Es half nichts, sie mußte zuerst unter den Weihnachtsbaum in das Gastzimmer und die Geschenke der Sechse bestaunen.
Dann ließ sich's die Älteste, Klärchen Hegemann mit dem langen blonden Nackenzopf, nicht nehmen, das Fräulein mit der Mutter hinaufzubegleiten. Millas ernste Augen leuchteten auf, als sie das kleine, trauliche, ganz von Tannenduft durchzogene Gemach betrat. Sie drückte Frau Hegemann stumm die Hand. Sie fühlte in diesem Augenblick tief und dankbar, es gab noch Menschen, die es gut mit ihr meinten. Es lag nun an ihr, ihr Herz nicht vor Menschengüte zu verschließen, nicht zu messen nach dem Maß, mit dem ihr von einem, von dem es am wehesten tat, zugemessen und vergolten worden war.
Klärchen Hegemann war von dem stummen Händedruck sehr enttäuscht. Die Mutter aber, der aus des Fräuleins seltsam bewegtem Blick die Ahnung von etwas Ungewöhnlichem aufgestiegen war, sagte lakonisch beim Herabschreiten: »Davon verstehst du nichts, Mädchen. Solch ein stummer Händedruck sagt etwas, für das wir beide zu dumm sind.«
Kurz vor der um zwei Uhr angesetzten Essensstunde hielt der Schlitten mit Schellbach und Walter vor der Tür. Mangold und Herr Hegemann empfingen die Gäste. Walter warf heftig die Decke weit von sich, sprang aus dem Schlitten und fragte enttäuscht und aufgeregt nach Fräulein Prätorius.
»Sie macht nur noch ein wenig Toilette, junger Herr«, erwiderte Mangold, gutlaunig beruhigend.
»Das wollen wir auch tun, Junge«, meinte Schellbach mit einem kleinen verstohlenen Blick nach der oberen Fensterreihe und ließ sich von Herrn Hegemann den Weg zu seinem Zimmer zeigen.
Um zwei Uhr fand sich die kleine Tafelrunde in dem mit zwei Tannenbäumen geschmückten Eckzimmer zusammen. Frau Hegemann hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst das Auftragen der Speisen zu besorgen; der Tölpel Trine sollte den Gästen die Stimmung nicht verderben.
Als letzte war Milla eingetreten. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Tuchkleid, am Hals und am Ärmelschluß mit einem feinen weißen Stoff verziert; im blauen Gürtelband war ein kleiner dunkelgrüner Tannenzweig befestigt. Sie war so befangen, daß sie die Augen niederschlug. Die Farbe kam und ging auf ihren Wangen. Walter wollte ihr entgegenstürzen, aber Mangold hielt den Knaben scheinbar unbeabsichtigt zurück.
Milla war an der Tür stehengeblieben. In großer Bewegung trat Schellbach auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Frohe Weihnachten, Fräulein Prätorius«, sagte er mit einem warmen, zu Herzen gehenden Ton. Und leise fügte er hinzu: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir erlaubt haben, Weihnachten mit Ihnen zu feiern.«
Walter hatte sich nicht länger zurückhalten lassen. Mit roten Backen und leuchtenden Augen sprang er auf Kamilla zu. »Nun ist es doch wahr geworden, Fräulein Kamilla! Nun sind wir doch zu Weihnachten hergekommen. Der Papa hat nicht nein gesagt! Das wird ein Fest werden!«
Kamilla erwiderte freundlich seine stürmische Begrüßung.
»Leni, das kleine Schaf, läßt Sie grüßen. Ihr macht es mehr Spaß, heute mit Tante ins ›Weihnachtsmärchen‹ zu gehen und morgen in den Zirkus.« Er lachte hell und fröhlich auf. »Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als hier draußen und mit Ihnen Weihnachten zu feiern, Fräulein Milla.« Und dabei drückte er ohne Unterlaß Millas beide Hände zwischen seinen schlanken weißen Fingern.
Zu Tisch, zu Tisch!« rief Mangold Prätorius. »Frau Hegemanns gute Suppe wird sonst kalt.«
»Aber nicht zu lange bei Tische sitzen, Papa!« bettelte Walter. »Ich möchte nach Tisch zu gern noch einen Spaziergang mit Fräulein Prätorius machen, und es wird so früh dunkel. Nicht wahr, Fräulein Prätorius, wir gehen ganz bald, wenn die Herren schlafen?«
Schellbach lachte über den Eifer seines Jungen. »Wenn du nichts dagegen hast, mein Junge, und Fräulein Prätorius es erlaubt, schließe ich mich dem Spaziergang an.«
Walter jubelte. Kamilla sah beklommen vor sich hin. Sollte die Entscheidung schon so nahe sein?
Nach dem Essen, das trotz Walters Drängen dennoch einige Zeit in Anspruch genommen hatte und durch die verschiedenen guten Tropfen, die Schellbach, in Erinnerung an das Helle Lagerbräu, den dünnen Mosel und fragwürdigen Bordeaux, aus seinem eigenen Keller mitgebracht hatte, auf mehr als eine Stunde ausgedehnt worden war, erklärte auch Prätorius, den geplanten Spaziergang mitmachen zu wollen.
Er ging mit dem jungen Schellbach voran, auf einem kleinen Schleichweg, den er von seinen Pürschgängen her kannte, nach dem Pechsee zu, den Walter gern kennenlernen wollte.
Anfangs war der junge Mensch, der sich auf die erste Plauderstunde mit Fräulein Milla unsinnig gefreut hatte, enttäuscht. Nach und nach aber ließ er sich von Prätorius' Jagd- und Forstgeschichten festhalten, der, wenn er aufgeräumt und bei Laune war wie heute, einen prächtigen Erzähler abgab.
Zuerst so nahe, daß sie jedes Wort von der Unterhaltung der beiden verstanden, dann nach und nach in immer größerer Entfernung gingen Schellbach und Milla.
Um keine schwüle oder verlegene Pause zwischen ihnen aufkommen zu lassen, um Kamilla die Beruhigung zu geben, daß es nicht nur die eine große, ihn ganz erfüllende Lebensfrage für ihn gäbe, daß er sie nicht zu drängen gedachte, sprach auch Schellbach bald eifriger und lebendiger, als es sonst seine Art war. Er erzählte von dem Bau und gab seiner Freude und Genugtuung Ausdruck, daß die Arbeit trotz der schlechten Jahreszeit schon so weit gediehen sei. »Die Wetterkundigen prophezeien einen, wenn auch kalten, doch sehr kurzen Winter. Der Februar soll schon Frühlingsahnungen bringen. Geben Sie acht, übernächsten Sommer bestellen wir Ihr Klostergärtchen neu, und wenn Sie wollen, kann der Mittelbau im Herbst übers Jahr wieder bezogen werden.«
Kamilla lächelte schwach. »Ich bin Ihnen so dankbar«, sagte sie leise. »Es ist so gut von Ihnen, auf unser Heimweh nach dem alten Hause Rücksicht zu nehmen – aber –«
Er unterbrach sie rasch. »Ich habe Ihnen die Baupläne mitgebracht. Heut abend zeige ich sie Ihnen. Sie glauben nicht, wie hübsch sich die Front macht und wie sie sich dem Stil der Grauen Gasse anpaßt, so weit es möglich ist, natürlich. Der Baumeister hat sich wirklich selbst übertroffen. Das schöne, klosterartige Getürm, die graue Verblendung, die Friese ganz im Stil mittelalterlicher Kunst gehalten, wirken ganz prächtig. Sie werden Ihre Freude daran haben.«
Schellbach hielt einen Augenblick inne. Als Kamilla nichts erwiderte, sagte er ein wenig leiser, da sie den andern wieder näher gekommen waren: »Sagen Sie, Fräulein Kamilla, besitzen Sie oder Ihr Herr Vater Porträte Ihrer Vorfahren?«
Milla sah erstaunt zu dem Fragenden hin. »Ich glaube, ja – ganz bestimmt. Der Papa besitzt ein altes kurioses Bildchen, das Mangold, den ersten Prätorius, meinen Ururvater darstellen soll. Von dem Urgroßvater Karolus und vom Großvater Ulrich Prätorius sind bestimmt Bilder in Papas Besitz.«
»Sehr schön, Fräulein Milla«, rief Schellbach erfreut und eifrig. »Wann könnte ich diese Bilder haben?« – Milla sah wiederum sehr erstaunt zu ihm hin. – »Ein Geheimnis, Fräulein Milla, aber Sie sollen die Dritte im Bunde sein. Walter und ich haben da nämlich etwas ausgeheckt, was Ihrem Vater und auch hoffentlich Ihnen Freude machen soll. Von den beiden großen Friesen am Hauptbau soll der eine die Zukunft des grauen Hauses und der Grauen Gasse, den Triumph der Elektrizität in irgendeiner hübschen, sinnvollen, symbolischen Darstellung zum Ausdruck bringen, der andere die stolze Vergangenheit des Hauses Prätorius verherrlichen. Da hätten Walter und ich für den Siegeszug der Kaufleute gegen das Raubrittertum gern ein paar markante Prätoriussche Porträte zur Verfügung, damit eine echte Familiengedenktafel aus der Darstellung wird, gleichsam ein Wappen der Prätorius, das dem Wappenschild der modernen Wissenschaft gegenüber an dem alten Stammhause sozusagen für Zeit und Ewigkeit aufgepflanzt bleibt.«
»O Gott, wie Papa sich freuen wird,« rief Kamilla mit glänzenden Augen, »natürlich muß ich Ihnen die alten Bilder so rasch als möglich schaffen. Was für liebe, schöne Ideen Sie haben, Herr Schellbach!«
Sie erschrak selbst ein wenig über den Enthusiasmus, mit dem sie ihm die Hand reichte, die er einen Augenblick fest und warm zwischen den seinen hielt.
In eben demselben Augenblick kam Walter angelaufen, über und über mit glitzerndem Schnee bestäubt. »Schnell, Papa, Fräulein Milla, ehe es zu dämmerig wird. Wir waren schon unten, Herr Prätorius und ich. Der See sieht zu wundervoll aus mit seinem blanken Eisspiegel und dem beschneiten Tannenkranz am Ufer.«
Der Ingenieur legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Und du, Junge, wie siehst du aus?«
Walter lachte so laut und hell, wie Schellbach seinen Jungen selten hatte lachen hören. »Wir haben einen köstlichen Spaß gehabt. Herr Prätorius hat mir vorgemacht, wie sie da oben auf der kleinen Anhöhe über dem See, auf dem Bauch liegend mal auf einen Bock gelauert haben. Ich hab's ihm nachgemacht, und da bin ich den Abhang hinuntergekugelt.«
Er klopfte und stäubte an sich herum, aber bei dem scharfen Frost waren die kleinen Kristalle nicht so schnell wieder loszuwerden.
»Lassen Sie nur, Herr Walter,« sagte Milla fröhlich im Vorwärtsschreiten, »ich taue Sie in der Waldmühle schon wieder auf.«
Schellbach bemerkte erst jetzt, als sie zu dreien über den kleinen Höhenrücken auf das gefrorene Seebecken zuschritten, daß es trotz des helleuchtenden Schnees dämmerig zu werden begann. Rascher schritt er aus.
»Der Papa bekommt's mit der Eile, Fräulein Kamilla«, neckte Walter. »Er grault sich im Dunkeln. Ohne Scherz, Papa, Herr Prätorius kennt Weg und Steg. Überdies hat er eine Jagdlaterne bei sich, zum Zusammenlegen, ein feines Ding. So was solltest du elektrisch herstellen lassen, Papa, wenn's auch nicht in dein Geschäft schlägt.«
Schellbach schüttelte verwundert den Kopf, der Junge war heute wie ausgewechselt. Sollte er eine Ahnung von der Hoffnung haben, die ihn hergeführt hatte? Von den Wünschen, die ihn ungeduldig der Erfüllung dieser Hoffnung harren ließen? Sollte er diese Wünsche, diese Hoffnungen teilen, die einem vereinsamten Hause das Weib, die Mutter wiedergeben sollten?
Bei einbrechender Dunkelheit trafen die Wanderer in der Waldmühle wieder ein. Einen Teil des Weges hatte Mangolds Laterne ihnen als Leuchte gedient. Aber die letzte verschneite Waldwiesenfläche hin hatten ihnen die hellen Lichter der im großen Gastzimmer brennenden Weihnachtstanne den Weg gewiesen. –
Trotzdem der Tag Schellbach keine Gewißheit, nicht einmal eine bestimmte Hoffnung gebracht hatte, legte er sich mit einem Gefühl von Ruhe und stiller Sicherheit schlafen. Millas liebe Gegenwart, die heitere Stimmung, die den Tag beherrscht hatte, seines Jungen herzliche Fröhlichkeit hatten das Bangen zurückgedrängt, das ihn seit Mangold Prätorius' Aufforderung, die Weihnachtstage mit ihm und seiner Tochter zu verbringen, nicht verlassen wollte. Seit die Entscheidung, die Verwirklichung seiner warmen, stillen Hoffnung näher gerückt war, hatte Schellbach Zweifel auf Zweifel überkommen, ob er mit Millas Hand nicht am Ende doch etwas erbat, was ihm, dem fast fünfundvierzig Jahre alten Manne, nicht mehr zukam.
Der nächste Morgen, an dem Milla nicht zum ersten Frühstück erschien und Prätorius keinen stichhaltigen Grund für ihr Ausbleiben vorzubringen wußte, weckte aufs neue die kaum eingeschläferten Zweifel. Er überließ es seinem Jungen, in Gesellschaft von Klärchen Hegemann ungeduldig auf Milla zu warten, und schlug allein den Weg ein, den sie gestern um die Dämmerung gegangen waren.
Die kurze Vergangenheit, in die Kamilla Prätorius ' Name für ihn eingewoben war und die im Vergleich zu den langen Strecken heißer und unermüdlicher Arbeit, bitterer Enttäuschung, trostloser Vereinsamung ihm wie ein einziger kurzer, sonnenbestrahlter Tag erschien, ließ er noch einmal an sich vorübergleiten. Er sah sie wieder, wie er sie zum ersten Male gesehen. In das graue Haus, in dem ihm ein so frostiger Empfang geworden, hatte sich mit ihr zugleich ein seltener Gast eingestellt. Ein Sonnenstrahl war durch die geöffnete Scheibe im Nebenzimmer schräg über sie hingefallen und hatte die reizende Gestalt in dem schlichten weißen Kleide mit goldig flimmerndem Schein umwoben. Er fühlte es noch heut, das frohe, warme Empfinden, das bei dem Anblick des liebreizenden Geschöpfes in ihm aufgestiegen war und ihn mit Zuversicht für die neuen ins Große, vielleicht ins Gewagte gehenden Pläne und Entscheidungen erfüllte, um derentwillen er in die Graue Gasse gekommen war.
Er dachte daran, wie er an diesem selben Mittag, dem ersten im Hause der Prätorius, mit Ungeduld den Augenblick herbeigesehnt hatte, da der aufdringliche Inspektor ihn endlich loslassen würde, damit es ihm vergönnt sei, sich mit Kamilla zu beschäftigen; wie dieser Augenblick dann gekommen war und wie schmerzlich ihn des jungen Geschöpfes blasses, trauriges Gesicht berührt hatte, als von dem möglichen Verlassen des alten Hauses die Rede gewesen war. Schon in dieser Stunde hatte er sich's fest vorgesetzt, ihr den Heimatboden zu erhalten, um jeden Preis. Dann waren sie wieder in einen leichteren Ton verfallen. Als sie davon gesprochen, immer bei dem Vater zu bleiben, hatte er sie ein wenig geneckt und gemeint, daß das Leben eines jungen Mädchens mit ziemlicher Gewißheit doch eine andere Wendung zu nehmen pflege, als es mit dem Vater zu teilen. Ein klein wenig hatte ihn schon in diesem Augenblick das Gefühl geleitet, etwa zu erfahren, ob Kamilla noch frei sei, und mit uneingestandenem Entzücken hatte ihn die energische Abwehr einer ins Auge gefaßten Ehe schon in dieser Stunde erfüllt.
Jetzt zum ersten Male kam Schellbach der Gedanke, ob diese Abwehr vielleicht keine ganz ehrliche, und der energisch betonte Entschluß, das Leben des Vaters zu teilen, kein ganz freiwilliger gewesen sei, ob sie am Ende nicht schon einen Jugendtraum begraben hatte? Dann aber schüttelte er selbst mit ernster, unwilliger Abwehr den Kopf. Kamilla Prätorius war nie aus der Grauen Gasse herausgekommen. Es war unwahrscheinlich, daß zu diesem stillen, weltverlorenen Winkel jemals jemand den Weg gefunden, der ihr Herz zu beunruhigen imstande gewesen wäre.
Einen Augenblick dachte er an den jungen Tapetenzeichner, der ihm an jenem Mittag gegenübergesessen hatte. Es war ein hübscher, rassiger Mensch gewesen, wenn auch nicht gerade vornehme Rasse, und Milla hatte nachmittags im Klostergärtchen lebhaft mit ihm geplaudert und ein paar Augenblicke lang mit ihm unter der Hängeesche gesessen.
Schellbach hatte Mangold Prätorius im Laufe jenes Nachmittags nach dem jungen Menschen gefragt. Der hatte nicht eben mit besonderer Anhänglichkeit von ihm gesprochen.
Einen unreifen Knaben mit überspannten Zukunftsplänen hatte er ihn genannt, »im übrigen schon als kleiner Junge in unserm Hause gewesen. Er ist ortsansässig, wird aber bald in irgendeine Kunststadt übersiedeln, sonst hätte ich längst einen Riegel vor den Verkehr geschoben.«
Später hatte Schellbach den jungen Menschen nicht mehr wiedergefunden, auch nicht mehr nach ihm gefragt. Wahrscheinlich hatte er bald darauf das Städtchen verlassen.
War wirklich ein Jugendtraum zwischen diesen beiden geträumt worden, so war er wohl längst aus und vergessen und brauchte weder ihn noch Milla mehr zu beschweren. Hätte aber mehr als ein frohes Jugenderinnern sie verknüpft, hätte der Mann Milla ein starkes Gefühl entgegengebracht, das ihrer Gegenliebe wert gewesen, so wäre Milla – wie er sie zu kennen glaubte – die letzte gewesen, diesem Gefühl die Treue zu brechen. Sicherlich hätte Prätorius ihn dann nicht auf Millas Geheiß herbeigerufen.
So, allgemach schwanden des Mannes Zweifel und Bedenken. Vergangenheit und Gegenwart erloschen und vor Max Schellbach stand nur die Zukunft in köstlich blühenden Farben da. Der heiße Wunsch, das junge geliebte Geschöpf hinauszuführen aus dem grauen, öden, vereinsamten Dasein in eine schöne, sonnige, farbenprächtige Welt, die frohe Zuversicht, sie glücklich zu machen durch die Kraft seiner Liebe, brach siegreich durch alles Zweifeln und Zagen. Heute noch sollte der Würfel fallen, heute noch wollte er sich Kamilla fürs Leben gewinnen.
Wie um Jahre verjüngt schritt er in die Waldmühle zurück. Mit der Hand in die Brusttasche fassend, hielt er zärtlich das kleine kostbare Angebinde umschlossen, das er Milla als Weihnachts- und Brautgabe zugedacht hatte.
Er fand sie unten am Bach, ganz dicht zwischen seinem Jungen und Klärchen Hegemann eingeschmiegt. Alle drei sahen sie über den niedern Staketenzaun zu der glatten gefrorenen Fläche nieder, auf der ein paar der jüngsten Hegemannschen Sprossen ihre erste Schlittschuhfahrt riskierten.
Schellbach blieb ein paar Augenblicke ungesehen in einiger Entfernung von den dreien stehen. Millas sanfte Stimme, die die Kleinen da unten liebevoll zur Vorsicht und Mäßigung mahnte, klang deutlich bis zu ihm hin.
»Liebe kleine Mama,« flüsterte er zärtlich, und ein zweites Mal: »Liebe kleine Mama.« Aber beim zweitenmal stockte er ein wenig, und der glückliche, zuversichtliche Ausdruck seines Gesichts umwölkte sich. Statt Klärchen Hegemanns schmiegsamen Blondköpfchens hatte er plötzlich über Millas Schulter Lenis hübsches, lebensprühendes, selbstwilliges Gesicht auftauchen sehen. –
*
Am Abend desselben Tages war die Verlobung gefeiert worden. Max Schellbach hatte nicht viel von Liebe gesprochen. Es lag nicht in seiner Art. Er würde Zeit und Gelegenheit haben, sie zu beweisen, das war die Hauptsache. Er hatte Kamilla Prätorius nur gefragt, ob sie ihm ihre Zukunft anvertrauen wolle, und sie hatte ihm fest und herzlich das Jawort gegeben.
Bis spät in die Nacht hinein hatten sie unter den beiden Tannen in dem kleinen Gastzimmer gesessen in stiller harmonischer Freude.
Der einzige, der seinen Jubel nur mühsam zu dämpfen vermocht hatte, war Walter gewesen. Was er aus tiefster Seele ersehnt, was er nicht auszudenken gewagt, hatte sich herrlich erfüllt! Wieder und immer wieder küßte er Kamillas Hände, und was sein Vater heute morgen am Bach nur leise geflüstert, sprach er zärtlich und glückselig aus: »Kleine Mama, liebe kleine Mama!«
Am nächsten Morgen früh hatte Schellbach nach Berlin zurückgemußt. Der immer größer und reicher sich entwickelnde Betrieb verlangte gebieterisch gleich am ersten Arbeitstag nach ihm.
Nach Mitternacht hatte er sich unter den Tannen von Milla getrennt. Die Hochzeit war für Ostern festgesetzt worden. Wegen seiner Anstellung in der Verwaltung würde Mangold Prätorius gleich nach Neujahr seinen Schwiegersohn in Berlin aufsuchen. – –
* * *