Marie von Ebner-Eschenbach
Das Gemeindekind
Marie von Ebner-Eschenbach

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19

Die Nachricht, die Pavel aus der Stadt erhalten sollte, traf ein und lautete sehr unbefriedigend. Die Frau Baronin ließ sagen, noch könne ihm die Erlaubnis, seine Schwester zu besuchen, nicht erteilt werden; aus welchem Grunde, solle er später erfahren und sich vorläufig in Geduld fassen.

Bald darauf kam ein Brief von Milada, in welchem sie Pavel bat, sein Kommen aufzuschieben. Auf das liebreichste dankte sie im vorhinein für die Erfüllung ihrer Bitte, vertröstete ihn auf das Frühjahr, versicherte, daß es ihr von Tag zu Tag besser gehe, und schloß mit der Kunde, daß ihre Einkleidung, auf welche sie sich unaussprechlich freue, im Mai stattfinden werde.

So mußte Pavel sich bescheiden und tat es: doch wurde es ihm nicht leicht. Jede Woche wenigstens einmal ging er ins Schloß und fragte: »Ist die Frau Baronin zurückgekommen?« und erhielt immer zur Antwort: »Nein.« – »Hat sie auch nicht geschrieben?« – »Das wohl – um Anordnungen zu treffen, die auf eine neue Verzögerung ihrer Rückkehr schließen lassen.«

Mit der Heirat Slavas, die ihr pflichtgemäß angezeigt worden, hatte sie sich einverstanden erklärt, dem Mädchen die erbetene Entlassung und ein Geschenk gegeben, das nicht nur hinreichte, um die Kosten der Hochzeit zu bestreiten, sondern auch, um ein rundes Sümmchen für die Wirtschaft zu erübrigen. Dies alles, weil Slava, obwohl von früher Jugend an verwaist und auf eigenen Füßen stehend, sich stets brav geführt und nun unbescholten an den Altar treten konnte.

Am dritten Sonnabend nach Ostern fand die Trauung statt. Pavel fungierte als Brautführer. Er hatte sich schwer dazu entschlossen, tat es aber dann in guter Haltung und mit Stolz auf seinen über sich selbst errungenen Sieg. Anton der Schmied vertrat die Stelle des Brautvaters, Vinska die der Brautmutter. Sie war trotz des großen Witwentuches, das sie sich über den Kopf gezogen hatte, schöner als die Braut selbst. Der Herr Pfarrer sprach die Traurede mit ganz ungewöhnlicher Wärme, beehrte auch die Neuvermählten mit seiner Gegenwart beim Festessen im Wirtshause. Der Doktor, der Verwalter, der Förster, der Bürgermeister und einige große Bauern kamen, ihren Glückwunsch zu bringen und den Dank des jungen Paares für die ihm ins Haus geschickten Geschenke zu empfangen. Alles ging ohne unanständigen Lärm, einfach, aber – »urnobel« zu.

Nach dem Essen wurde getanzt, und nun ereignete sich das Erstaunliche: Virgil, der seit Jahren nur noch schleichen konnte, führte mit einer ungefähr im gleichen Alter wie er stehenden Magd eine Redowatschka an. – Als die Musik auf sein Geheiß die Weise des längst aus der Mode gekommenen Tanzes angestimmt, hatten sich die Gesichter aller anwesenden alten Leute erheitert. Die Männer standen auf, jeder winkte der »Seinigen«, sie legten die schwieligen Hände ineinander und schwenkten sich im Tanze hinter dem Hirten und seiner grauen Partnerin. Einmal wieder kamen sie in freundlicher Eintracht zusammen, die alten Paare, die vielleicht längst nichts mehr kannten als Hader oder Gleichgültigkeit. Da spielte ein verschämtes Lächeln um manchen welken Frauenmund, da blitzte es unternehmend aus manchem trüben Männerauge. Bei der lieben Redowa erinnerten sie sich der Tage, in denen sie jung gewesen waren und einander sehr gut, und tanzten sie unter dem Applaus ihrer Kinder und Enkel durch bis ans Ende.

Manches hübsche Mädchen hatte Pavel schon angeblinzelt und gefragt: »Was ist's mit dir? Kannst nicht tanzen?«

»Weiß nicht«, gab er zur Antwort, »hab's noch nie probiert.«

»So probier's jetzt.«

Aber das wollte er nicht, um nichts in der Welt sich da lächerlich machen vor einer so großen Versammlung; er blieb dabei und widerstand sogar den Bitten Slavas, die durchaus wenigstens einmal mit ihm getanzt haben wollte an ihrem Ehrentage.

Dem Beispiel, das er im Entsagen gab, folgte die Vinska. Sie drohte sogar, das Fest zu verlassen, als der stürmischste ihrer Freier sie zwingen wollte, mit ihm in den Reigen zu treten. Pavel und sie wechselten hie und da ein Wort; von seiner Seite, wenn nicht in Freundschaft, so doch in Frieden, von der ihren in tiefem Dank dafür, daß er mehr als verziehen – daß er vergessen hatte.

So war es auch; mit der Liebe zu ihr war die Erinnerung an das Leid erloschen, das er durch sie erfahren. Und wenn es ihm gelungen, sagte er sich, diese erste Liebe, die im Kern seines Daseins gewurzelt hatte, mit ihm gewachsen und stark geworden war, zu besiegen, sollte es ihm nicht ein Leichtes sein, der zweiten, über Nacht an seinem Lebensbaum erblühten Herr zu werden? – Ein paar schmerzliche Regungen galt es noch zu überwinden, und er war ein freier Mensch – für immer, so Gott will, einsam und frei. Daß er sich in dieser Freiheit wohlfühlte, dazu trug heute alles bei. Der Tag war nicht nur für Arnost und Slava, er war auch für ihn ein Ehrentag. Zum ersten Male stand Pavel auf gleich und gleich mit den Besten, die er kannte, unter einem Dach. Angesehene Bauern grüßten ihn, der Förster sprach lange mit ihm in fast väterlicher Güte, der Herr Pfarrer holte seine Meinung in einer landwirtschaftlichen Frage ein, der Schmied wollte durchaus die Geschichte von der Maschine öffentlich erzählen und ließ sich nur aus Rücksicht für Vinska davon abhalten. Arnost beteuerte ihm laut und begeistert seine Dankbarkeit und ewige Freundschaft.

Das Gemeindekind bewegte sich in einer Atmosphäre von Achtung und Wohlwollen, die es einsog durch alle Poren und um so inniger genoß, als eine leise Stimme in seinem Innern mahnte: Freu dich dieser Stunde, sie wiederholt sich dir vielleicht nie... Mit der Achtung, mit dem Wohlwollen wird es aus sein, wenn die Mutter kommt... Und sie kann morgen kommen – wer weiß? sie kann schon da sein. Er kann sie finden, wenn er sein Haus betritt, in seiner Stube, an seinem Herd...

Da faßte es ihn mitten in seinem stillen, schwermütigen Glücke mit übermächtigem Drang: Hinweg! überlaß der Mutter Hütte und Feld, und du wander fort, weit, weit in die Welt, unter fremde Menschen, die nichts von dir und nichts von deinen Eltern wissen. Lerne und werde – wenn auch später als ein anderer, mehr als die anderen.

Diese Gedanken hafteten, begleiteten ihn heim, waren seine letzten, als er einschlief, und seine ersten, als er erwachte.

Am Morgen jedoch, als er seine im Herbst gepflanzten Kirschbäume besuchen ging und sah, wie die meisten von ihnen schon Blüten über Blüten angesetzt hatten, und als er sein Feld abschritt, auf dem die erste von ihm gesäte Frucht grünte, da fühlte er, daß ihm das Scheiden doch schwer sein würde. Und dann, wenn seine Schwester Milada, wenn Habrecht von den Fluchtgedanken, die er hegte, wüßten, was würden die wohl sagen? -

»Kleiner Mensch, bleibe in deinem kleinen Kreise und suche still und verborgen zu wirken auf die Gesundheit des Ganzen.«

Das war auch einer der Aussprüche des Freundes gewesen, der im Augenblick, in dem er getan wurde, von Pavels Verständnis empfangen worden war wie das Samenkörnlein des Evangeliums vom Felsengrunde. Jetzt aber glich seine Seele nicht mehr dem steinigen Boden, sondern einem guten Erdreich, und das Samenkörnlein keimte und ging auf und mit ihm eine Fülle von Erwägungen...

Eine Stimme, die seinen Namen rief, weckte Pavel plötzlich aus seinem Sinnen; auf ihn zugelaufen kam ein herrschaftlicher Stallpage, winkte von weitem und rief: »Die Frau Baronin hat einen Boten geschickt, du sollst gleich zu ihr in die Stadt, du sollst fahren.«

»Ich werd doch gehen können«, erwiderte Pavel, dem es vor Überraschung, Freude, Schrecken heiß und kalt durch die Adern lief; »warum denn fahren?«

»Daß du früher dort bist vermutlich; mach nur, es wird schon eingespannt.«

Hastig wechselte Pavel die Kleider und rannte ins Schloß. Die Fahrgelegenheit wartete bereits; ein paar kräftige Wirtschaftspferde, vor einen leichten Wagen gespannt, brachten ihn in kurzer Zeit nach der Stadt, an die Pforte des Klosters, wo ihn auf sein Schellen die Pförtnerin mit den Worten empfing: »Ich soll Sie zu der Frau Baronin führen.«

»Ist meine Schwester bei ihr?... Wie geht's meiner Schwester?« fragte Pavel mit versagendem Atem.

Die Nonne antwortete nicht, sie schritt ihm schon voran über eine Treppe, durch einen bildergeschmückten Gang, an dessen Ende, einer dunklen Doppeltür gegenüber, ein lebensgroßer Heiland am Kreuze hing.

»Wie geht's meiner Schwester?« wiederholte Pavel.

Die Pförtnerin deutete nach dem dornengekrönten Haupte des Erlösers, sprach: »Denken Sie an Seine Leiden«, öffnete die Tür und hieß ihn eintreten. Pavel gehorchte und befand sich in einem saalähnlichen, feierlichen Gemach, in dem die Frau Baronin und die Frau Oberin standen, die alte Dame auf den Arm der Freundin gestützt.

»Gott zum Gruße«, sagte die ehrwürdige Mutter; die Baronin wollte reden, vermochte es aber nicht und brach in Tränen aus.

Auch Pavel konnte nur stammeln: »Um Gottes willen, um Gottes willen, was ist's mit meiner Schwester?... Ist sie krank?«

»Sie ist genesen«, sprach die Oberin. »Eingegangen zum ewigen Lichte.«

Pavel starrte sie an, mit einem Blicke der Qual und des Zornes, vor dem ihre schönen ruhigen Augen sich senkten.

»Was heißt das?« schrie er auf in seiner Pein.

Da machte die kleine Greisin sich los von dem Arm ihrer starken Freundin und schwankte auf Pavel zu mit ausgestreckten zitternden Händen: »Armer Bursche«, schluchzte sie, »deine Schwester ist tot, mein liebes Kind ist mir vorangegangen, mir Alten, Müden.«

Die Knie versagten ihr, sie war im Begriff umzusinken; Pavel fing sie auf, und die alte Gutsfrau weinte an seiner Brust.

Er geleitete sie behutsam zu einem Lehnsessel und half ihr, sich darin niederzulassen; dann, am ganzen Leibe bebend, wandte er sich zur Oberin: »Warum hat meine Schwester mir geschrieben, daß es ihr besser geht von Tag zu Tag?«

»Sie hat es geglaubt, und wir durften ihr diesen Glauben lassen, bis die Zeit kam, sie zum Empfang der heiligen Wegzehrung vorzubereiten...« sie hielt inne.

»Vorzubereiten«, wiederholte Pavel und drückte die Hand an seine trocknen, glühenden Augen, »sie hat also gewußt, daß sie sterben muß?«

Die Oberin machte ein bejahendes Zeichen.

»Und hat sie nicht gesagt, daß sie mich sehen will, nicht gesagt: Ich will meinen Bruder noch sehen? – Frau Baronin«, rief er die Greisin mit erhobener Stimme an, »hat sie nicht gesagt, ich will meinen Bruder noch sehen?« -

»Sie hat dich tausend- und tausendmal grüßen und segnen lassen, aber dich zu sehen, hat sie nicht mehr verlangt«, lautete die Antwort, und die ehrwürdige Mutter fiel ein: »Sie war losgelöst von allem Irdischen, sie gehörte schon dem Himmel an... Sie sah ihn offen in ihrer letzten Stunde, sah Gott in seiner Herrlichkeit und hörte den jauchzenden Gesang der Engelchöre, die sie willkommen hießen im Reiche der Glückseligen.«

»Wann ist sie gestorben?« würgte Pavel hervor.

»Gestern abend.«

Gestern abend – während er ein Fest mitfeierte, während seine Gedanken so fern von ihr waren! Mit wildem Zweifel ergriff es ihn: Es kann nicht sein, es ist ja unmöglich – - und er rief: »Wo ist sie?... Führen Sie mich zu ihr...«

»Sie ist noch nicht aufgebahrt«, versetzte die Oberin; aber Pavel ließ keinen Einwand gelten, und die Gebietende, die zu herrschen Gewohnte gab nach. -

Sie stiegen die Treppe zum zweiten Geschoß empor, durchschritten einen Gang, in welchen viele Türen mündeten. Vor der einen blieb die Oberin stehen. »Das Zimmer Marias«, sprach sie in tiefer Ergriffenheit.

Pavel stürzte vor und riß die Tür auf... In der weißgetünchten, von Sonnenlicht durchfluteten Zelle mit dem vergitterten Fenster, mit den glatten Wänden stand ein schmales Bett, eine Wachskerze in schwarzem, eisernem Leuchter brannte zu dessen Häupten und eine zu dessen Füßen, vor demselben knieten, im Gebet versunken, zwei Klosterfrauen, und auf dem Bette lag, mit einem Linnen bedeckt, eine starre, hagere Leiche. Die Oberin näherte sich ihr und zog das Tuch vom Gesicht herab.

Pavel prallte zurück, taumelte und schlug an den Türpfosten an, an dem er stehenblieb und sich wand wie ein Gefolterter. Endlich, endlich brachen Tränen aus seinen Augen, und er schrie: »Das ist nicht meine Milada, das ist sie nicht. Wo ist meine Milada?«

Er war nicht zu beruhigen, sein Schmerz spottete des Trostes.

Die Frau Baronin ließ ihn rufen, weinte, sprach von Milada, und er hatte nicht das Herz, ihr zu sagen, was er unaufhörlich dachte: Würde man sie zu rechter Zeit aus dem Kloster genommen haben, sie wäre jetzt am Leben; du hättest dein Kind noch und ich noch mein lichtes Vorbild, mein kostbarstes Gut.

Auf den Wunsch der alten Frau blieb er in der Stadt bis zum Tage des Begräbnisses, irrte in den Gassen umher, durch den ungewohnten Müßiggang seinem Schmerze ohnmächtig preisgegeben.

»Milada, meine liebe Schwester«, sprach er vor sich hin, und manchmal blieb er stehen und meinte, es müsse ihm jemand nachkommen und ihm sagen: Kehr um, sie lebt, sie fragt nach dir. Das kleine, zusammengezogene Totenangesicht, das du gesehen hast, war nicht Miladas Angesicht.

Als sie in der Kapelle aufgebahrt lag im Glanz von hundert Lichtern, weißgekleidet, mit weißen Rosen bedeckt, war er nicht zu bewegen, an den Katafalk heranzutreten. – Erst als der Sarg geschlossen wurde, der die Reste seiner Milada barg, warf er sich über ihn und betete, nicht für sie, sondern zu ihr.

Bei der Beerdigung machte der Anblick des Schmerzes seiner alten Gutsfrau ihn fast unempfindlich für seinen eigenen. Ganz gebrochen stand sie neben ihm am Grabe ihres Lieblings auf dem stillen Klosterfriedhofe und ließ nach beendeter Trauerfeierlichkeit den Zug der Nonnen vorüberschreiten, ohne sich ihm anzuschließen. Nach einer Weile erst sprach sie zu Pavel: »Führe du mich jetzt zurück auf mein Zimmer, und dann geh nach Hause und sage im Schloß, daß sie alles zu meinem Empfang vorbereiten sollen. Ordentlich – es wird ohnehin die letzte Mühe sein, die ich meinen Leuten mache. Ich glaube, daß ich nur heimkommen werde, um mich hinzulegen zum Sterben.«

Pavel widersprach ihr nicht. Er fühlte wohl, auf einen Widerspruch war es hier nicht abgesehen wie so oft bei alten Leuten, wenn sie Anspielungen machen auf ihren nahenden Tod: Es war ernst gemeint, und also wurde es aufgenommen.

Spät am Nachmittag langte er im Dorfe an. Sein erster Gang war nach dem Schloß, wo er den Auftrag der Frau Baronin bestellte. Die Dienerschaft lief zusammen, als es hieß, er sei da; alle sahen ihn voll Neugier an, und er machte sich rasch davon, besorgend, daß Fragen über Milada an ihn gestellt werden könnten. Auf der Straße begegnete er derselben Aufmerksamkeit, die er im Schlosse erregt hatte. Einer oder der andere blieb stehen in der Absicht, ihn anzureden; aber Pavel eilte mit kurzem Gruß vorbei.

Vor dem Hause Vinskas auf einer Bank saß Virgil, der sich seit dem Ableben Peters bei seiner Tochter einquartiert hatte.

Er winkte Pavel heran: »Bist endlich da?« rief er ihm zu... »Du, dein Hund wäre verhungert, wenn ich mich seiner nicht angenommen hätt.«

»Hab mich ohnehin darauf verlassen«, erwiderte Pavel und schritt weiter; Virgil jedoch schrie aus allen Kräften: »Lauf nicht, bleib! Die Vinska hat dir was zu sagen«, und da trat sie auch schon aus der Tür, ging auf Pavel zu und sprach in der demütigen Weise, in welcher sie sich ihm gegenüber jetzt immer verhielt: »Wir haben von deinem Unglück gehört... es tut uns leid...«

»Laß, laß das!« fiel er ihr ins Wort.

»Sag ihm doch das andere«, ermahnte Virgil voll Ungeduld.

»Vinska verfärbte sich. »Lieber Pavel«, begann sie, »lieber Pavel, deine Mutter ist angekommen.«

Er zuckte zusammen: »Wo ist sie?... ist sie in meinem Hause?«

»Nein, sie hat in dein Haus nicht treten wollen, bevor du da bist. – Sie hat auch nicht zu mir kommen wollen«, setzte sie hinzu.

»Hast du sie eingeladen?-

»Ja, ich hab sie eingeladen, zu mir zu kommen und bei mir auf dich zu warten. Sie hat nicht gewollt; sie wohnt beim Wirt, aber von dir erzählt habe ich ihr den ganzen Tag, und sie hat sich gar nicht satt hören können. Dann ist sie hinaufgegangen zu deinem Haus. Sie wird jetzt dort sein.«

Pavel war zumut, als ob ein großes Stück Eis auf seine Brust gefallen wäre: »Gut«, murmelte er, »gut, so geh ich«, aber er rührte sich nicht. Sein unstet irrender Blick begegnete dem der Vinska, der angstvoll gespannt auf seinem finsteren Gesichte ruhte, und plötzlich sprach er: »Ich dank dir, daß du sie eingeladen hast.«

»Nichts zu danken«, versetzte Vinska.

Die Herzen beider pochten hörbar, deutlich las jeder in der Seele des andern. Sie fand in der seinen nicht mehr die alte Liebe, aber auch nicht mehr den alten Groll; die ihre war in allen Tiefen erfüllt von schwerer, von nutzloser Reue, hervorgegangen aus dem Bewußtsein: Was ich an dir gefrevelt habe, vermag ich nie wiedergutzumachen.

Ohne noch ein Wort zu wechseln, schieden sie.

Pavel ging langsam die Dorfstraße hinauf. – Die Sonne versank hinter den waldbekränzten Hügeln, scharf und schwarz ragten die Wipfel des Nadelholzes in die purpurfarbige Luft. Auf das Grubenhaus hatten klare Schatten sich gebreitet, sie glitten über sein ärmliches Dach, trübten den Glanz seiner kleinen Fensterscheiben und umflossen eine hohe Gestalt, die vor dem Gärtchen stand, vertieft in den Anblick des untergehenden Tagesgestirns.

Die Mutter, sagte sich Pavel – die Mutter.

Da war sie, ungebeugt von der Last der letzten zehn Jahre, ungebrochen durch die Schmach ihrer langen Kerkerhaft. Pavel setzte seinen Weg fort – nicht mehr allein! Das unterdrückte Geräusch von flüsternden Stimmen, von Schritten, die ihm nachschlichen, schlug unsäglich widerwärtig an sein Ohr. Eine Schar von Neugierigen gab ihm das Geleite und wollte Zeuge sein der ersten Begegnung zwischen Mutter und Sohn. Er sah sich nicht um, er ging vorwärts, äußerlich ruhig, seinem Verhängnis entgegen. -

Die Mutter hatte sich gewandt, erblickte ihn, und Wonne, Stolz, erfüllte Sehnsucht leuchteten in ihren Augen auf; aber sie blieb stehen, wo sie stand, mit herabhängenden Armen, sie sprach ihn nicht an.

»Grüß Euch Gott, Mutter«, sagte er rasch und gepreßt; »warum bleibt Ihr vor der Tür, tretet ein.«

»Ich weiß nicht, ob ich soll«, antwortete sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen, aus denen eine Liebe sprach, ein glückseliges Entzücken, die wie Licht und Wärme über ihn hereinströmten. »Ich habe nicht gedacht, dich so zu finden, Sohn –« ihre Stimme bebte vor tiefinnerlichstem Jubel -, »nicht so, wie ich dich finde. Ich möchte dir nicht Schande bringen, Pavel.«

Nun faßte er ihre Hand: »Kommt, kommt, und noch einmal: Grüß Euch Gott.« Er führte sie ins Haus und sah, daß sie unwillkürlich das Zeichen des Kreuzes machte, als sie es betrat. »Setzt Euch, Mutter«, sagte er; »ich hab Euch viel zu sagen, viel Trauriges...«

Sie war seiner Aufforderung gefolgt, sah sich bewegt und staunend in der Stube um und sprach: »Was du mir sagen willst, weiß ich im vorhinein: daß ich hier nicht bleiben kann. Es ist mir nicht traurig – eine Freude nur, daß ich dich so gefunden habe, wie du bist, wie ich dich sehe... Nie wäre es mir in den Kopf gekommen, Sohn, daß ich dir beschwerlich fallen will, und wie du geschrieben hast: Ich bau ein Haus für Euch, da habe ich gedacht: Baue! und Gott segne jeden Ziegel in deinen Mauern. Baue! baue! aber für dich – nicht für mich.«

»Warum habt Ihr so gedacht?«

»Weil du mich hier nicht brauchen kannst«, antwortete sie ruhig und ohne den Schatten eines Vorwurfs. Er aber murmelte: »Was meint Ihr?«

»Wenn dich in den vielen Jahren dein Herz an die Mutter gemahnt hätte«, fuhr sie in ihrer Gelassenheit fort, »hättest du dich manchmal nach ihr umgeschaut. Du hast es nie getan, und darum bin ich auch nur gekommen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dich nicht zu sehen, und gehe wieder, heute noch.«

»Wohin? Ihr könnt doch nicht wieder in den Kerker zurück?«

»Das nicht; aber in unser Spital, wo ich Krankenwärterin bin.«

»So, Mutter, so? Seit wann?«

»Seit ein paar Monaten schon.«

»Das muß was Schweres sein, Krankenwärterin bei den schlechten Leuten.«

»Schwer und leicht; die Ärgsten werden oft die Besten, wenn sie einen brauchen... und schwer oder leicht, was liegt daran? Ich hab dort einmal mein Heim; ich bin zufrieden. Oh lieber Gott, mehr als zufrieden –« und wieder umfaßten ihre strahlenden Blicke den Sohn mit unergründlicher Liebe. »Mehr als zufrieden, weil ich dich jetzt gesehen habe, so stark, so brav, so gesund... Und mein zweites Kind, das sie dem lieben Herrgott geschenkt haben, das ich nicht sehen darf – Milada...« Pavel stöhnte -, »ist sie schon eine kleine Klosterfrau?«

»Nein, Mutter.«

»Nein?« Sie erbebte bei dem gramvollen Ton seiner Worte. »Nein«, murmelte sie mit trockenen Lippen und stockendem Atem, »noch nicht würdig befunden worden dieser höchsten Gnade?«

»O Mutter«, rief Pavel, »wie redet Ihr? – nicht würdig? Sie war eine Heilige... Das ist das Traurige, das ich Euch gleich habe sagen wollen – Milada ist tot.«

»Tot...« Zweifelnd, dumpf und gedehnt sprach sie es ihm nach und schrie plötzlich: »Nein, nein!«

»Seit drei Tagen, Mutter.«

Sie sank zurück, erdrückt von der Wucht eines Schmerzes, der mächtiger war als sie. – Allmählich erst kam wieder Leben in ihre Züge, und ihre Starrheit wich dem Ausdruck wehmütiger Begeisterung: »Ich glaube dir, Sohn, ich glaube dir. Sie war eine Heilige, und jetzt ist sie im Himmel, und dort werde ich sie finden, wenn es dem Herrn gefallen wird, mich abzurufen.«

»Mutter«, entgegnete Pavel zögernd, »hofft Ihr denn, daß Ihr in den Himmel kommen werdet?«

»Ob ich es hoffe? – Ich weiß es! – Gott ist gerecht.« – »Barmherzig sagt... Sagt Ihr nicht barmherzig?« Seine Mutter richtete sich auf: »Ich sage gerecht«, sprach sie mit einer großartigen Zuversicht, vor der alle seine Zweifel versanken, die einen Glauben an dieses arme, verfemte Weib in ihm entzündete, fester, treuer, seligmachender als je ein Glaube an das Höchste und Herrlichste. Er trat näher, sein Mund öffnete sich; sie erhob bittend die Hände: »Frag mich nicht mehr, ich kann dir nicht antworten... Die Frau hat am Altar geschworen, ihrem Mann untertänig zu sein und treu... Dafür wird er unserem Herrgott dereinst Rechenschaft über sie ablegen müssen. Mög ihm der ewige Richter barmherzig sein. – So bete ich, und so sollst auch du beten und schweigen und nicht fragen.«

»Nein«, beteuerte er, »nein – und ich frage ja nicht. Ich bitte Euch nur, daß Ihr es von selbst aussprecht, daß Ihr keinen Teil habt am Verbrechen des Vaters... Erbarmet Euch meiner und sprecht es aus...«

Ein schmerzliches Lächeln umspielte ihre Lippen: »Pavel, Pavel, das tut mir sehr weh... Es hat mir ja oft einen Stich ins Herz gegeben: – Wer weiß, was die Kinder denken? – Ich hab mich immer davon losgemacht wie von einer Eingebung des Bösen... Das war gefehlt.« – Sie hob das Haupt, ein ernster und edler Stolz malte sich in ihren Zügen. – »Ich hätte dir nicht über die Schwelle treten sollen, bevor ich zu dir gesagt hätte: Ich bin unschuldig verurteilt worden, Sohn.«

Da brach er aus: »Barmherziger Gott, wie schlecht war ich gegen Euch!...«

»Klage dich nicht an«, versetzte sie mit unerschütterlicher Ruhe, »du warst so jung, als ich dich verlassen mußte. Du hast mich nicht gekannt.«

»Mutter«, konnte er nur sagen, »Mutter...« und er stürzte vor ihr nieder, barg sein Haupt in ihrem Schoß, umschlang sie und wußte, daß er jetzt seinen besten Reichtum, sein Kostbarstes und Teuerstes in seinen Armen hielt. »Bleibt bei mir, liebe Mutter«, rief er. »Ich werde meine Hände unter Eure Füße legen, ich werde Euch alles vergelten, was Ihr gelitten habt. Bleibt bei mir.«

Und sie, verklärten Angesichts, einen Himmel in der Brust, beugte sich über ihn, preßte die schmale Wange in seine Haare, küßte seinen Nacken, seine Schläfen, seine Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich darf«, sagte sie.

»Der Leute wegen?«

»Der Leute wegen.«

Da sah er zu ihr empor: »Was habt Ihr eben gesagt? – Die Ärgsten werden oft die Besten, wenn sie einen brauchen. Nun, liebe Mutter, das müßt doch kurios zugehen, wenn man zwei Menschen, wie wir sind, nicht manchmal brauchen sollte. Bleibt bei mir, liebe Mutter!«


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