Ernst Eckstein
Gesammelte Schulhumoresken
Ernst Eckstein

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Der Bierparagraph.

Die Art und Weise, wie die Schüler der oberen Gymnasialklassen von den Schulgesetzen in abstracto und ihren einzelnen Lehrern in concreto behandelt werden, hat, streng genommen, etwas Naives, denn sie basiert auf Voraussetzungen, die eine merkwürdige Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse bekunden. Es waltet hier teils der himmelschreiendste Irrtum, teils der unbegreiflichste Optimismus vor. Die ernsten Männer, die in ihrer Eigenschaft als Oberstudienräte die Zusammenstellung jener Gesetzesparagraphen beaufsichtigt haben, verstanden sehr viel von der theoretischen Pflicht, aber sehr wenig von dem praktischen Leben. Das moderne Gymnasialgesetz verwechselt den Begriff einer öffentlichen Lehranstalt, die nur zu gewissen Stunden besucht wird, mit dem eines Pensionats, das die Schüler sozusagen mit Leib und Seele aufnimmt und nicht allein ihren Unterricht, sondern ihre moralische und gesellschaftliche Erziehung leitet. Es ist lächerlich, die Befugnisse des Gymnasiums in der angedeuteten Richtung zu erweitern, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil seine Mittel nicht zur Durchführung ausreichen. Wo die Kontrolle fehlt, da ist alles Befehlen und Verbieten ein zweischneidiges Schwert. Anstatt sich also damit zu begnügen, den Gymnasiasten während der Lehrstunden im Zaume zu halten, ihm gelegentlich die christlichen Tugenden einzuprägen und die Norm aufzustellen: Sobald du irgendwie einen öffentlichen Skandal erregst, gleichviel durch welche Handlung, so wanderst du auf den Karzer, – anstatt sich dieser klugen Reserve zu befleißigen, mischt sich das Gymnasium in Dinge, die nicht nur über seine vernunftgemäßen Befugnisse, sondern in der Regel sogar über die Möglichkeit einer Beaufsichtigung weit hinausgehen.

So erklärt die Gymnasialordnung das Besuchen von Wirtshäusern für unmoralisch und ahndet die Zuwiderhandlung mit mehr oder minder beträchtlichen Freiheitsstrafen. Was man bei diesem Verbot beabsichtigt, liegt klar zutage: nicht den Wirtshausbesuch an sich, sondern den daraus erwachsenden Mißbrauch wolle man hintertreiben. Naiv und idealistisch wie sie sind, glauben die Oberstudienräte diesen Zweck durch ein Radikalverbot zu erreichen; aber sie haben nur eins erreicht: der anständige Gebrauch eines an sich harmlosen Instituts ward zum Verbrechen gestempelt, ohne daß der unanständige Gebrauch, der Mißbrauch, ernstlich verringert würde. In der Tat läßt sich nicht absehen, warum es für den achtzehnjährigen Primaner eine Sünde sein soll, gelegentlich ein Glas Bier zu trinken, während der Kommis schon in früheren Jahren das gleiche leistet, ohne darum die Achtung seiner Mitbürger einzubüßen. Weit richtiger und wirkungsvoller würde es sein, wenn das Gymnasium den allgemeinen Grundsatz aufstellte: »Benehmt Euch anständig!« – ohne weiter auf die Details einzugehen. In jedem einzelnen Falle würde dann das freie Ermessen des Lehrers darüber entscheiden, ob dieses erste und vornehmste Gebot des Gymnasiasten befolgt oder verletzt worden wäre. Ein solcher Appell an das Taktgefühl der jungen Leute bei theoretischer Anerkennung ihrer unbedingten Selbständigkeit müßte auch moralisch von ungleich günstigeren Erfolgen sein, als die alberne und demütigende Methode, die jetzt noch vielfach im Schwunge ist.

Der Bierparagraph war auch mir in den Tagen meiner Gymnasiastenschaft ein fortwährender Grund des Verdrusses und der Erbitterung. Wenn ich so an heißen Juliabenden bei den Hecken des Lohseschen Felsenkellers vorüber kam und den Direktor Samuel Heinzerling erblickte, wie er im Kreise seiner zahlreichen Familie ein Seidel nach dem andern hinter die schwarze Krawatte goß, so war mir zu Mut wie einem Pariser Vorstadtbewohner, der im zerlumpten Kittel durch das Bois de Boulogne schlendert und die prunkvollen Equipagen des Quartier Saint Germain vorbeieilen sieht. Warum schwelgte dieser graue Epikuräer im vollen, während ich, ein Kind der Entbehrung, fernab an der Böschung stand und meine Sehnsucht bändigen mußte? Wäre ich jetzt kühnlich auf die Plattform gewandert, hätte ich unbekümmert um Samuel und seine Töchter Ismene, Winfriede, Laura und Vitriaria vor einem der braun gestrichenen Tische Platz genommen und einen Schnitt bestellt, so war mein Schicksal besiegelt. Am andern Morgen hätte der strenge Autokrat mich in folgender Weise apostrophiert:

»Eckstein! Sä waren mer gestern wäder mal auf dem Felsenkeller! Sä haben dä Ongeböhrlichkeit Ähres Benehmens so weit geträben, daß Sä sogar, ohngeachtet Sä mäch bemerkt haben, einen Schnätt bestellten. Sä gehen mer zwei Tage auf den Karzer! Knebel, schreiben Sä änmal äns Tagebooch: Eckstein, weil er an einem öffentlichen Bärlokal einen Schnätt bestellte, mit zwei Tagen Karzer bestraft. Heppenheimer, rofen Sä den Pedellen!«

Das sieht fast wie ein tableau chargé aus, aber es ist eine Photographie, streng nach der Natur. Samuel Heinzerling hatte nur selten das Glück, einen Schüler wegen »Wärtshausbesochs« abzufassen, denn wir kannten die Lokale, die er zu frequentieren pflegte, und vermieden sie: aber wenn er einen ertappte, so übte der rector illustrissimus in der oben geschilderten Weise Justiz, und die Form seines »Eintrags« im »Tagebooch« variierte nur wenig. Niemals ist es erhört worden, daß er einem kneipenden Schüler die Strafe erlassen hätte; es war, als fürchte er, der Durst seiner Primaner könnte die Befriedigung seines eigenen Durstes in Frage stellen, wie er denn in der Tat stets in den Herbstmonaten, wenn das sogenannte Salvatorbier ausgetrunken und durch eine geringere, später gebraute Sorte ersetzt war, düsterer und grämlicher dreinschaute als in der eigentlichen Saison.

Trotz dieser exklusiven Richtung unseres Direktors zechten wir schon in Sekunda ganz wacker. Wir hatten eine Stammkneipe, deren Inhaber, von der Ungehörigkeit der Gymnasialgesetze im tiefsten Innern durchdrungen, alles anstrebte, um uns das Joch unserer Schülerschaft nach Möglichkeit zu erleichtern. Leider bot sein Lokal nicht unbedingte Sicherheit, da sich mitunter auch ein Lehrer in diese traulichen Räume verirrte. Der alte Lorenz wußte uns in solchen Fällen rechtzeitig von der drohenden Gefahr zu verständigen. Es war hergebracht, daß wir vor dem Eintreten an den Schalter klopften. Lorenz zog dann die Klappe weg und grinste. Dieses Grinsen bedeutete so viel als: die Luft ist rein. War Lorenz nicht am Faß tätig, so versah einer von seinen Söhnen das Amt des Schenkwirts interimistisch, und diese Söhne bewerkstelligten jenes orientierende Grinsen weit unzuverlässiger als der Vater; daher es sich denn hin und wieder ereignete, daß wir unseren Peinigern ahnungslos in die offenen Arme liefen.

Eines nachmittags – es war im August des Jahres 18** – hatte uns Samuel Heinzerling durch eine furchtbare Auseinandersetzung über das Wesen des lateinischen Konjunktivs gemartert und am Schlusse seiner Rede ein neues Thema für den lateinischen Aufsatz gegeben: » Quaeritur utrum Alexander dignus fuerit cognomine Magni necne«. Am Schlusse der Lehrstunde verspürte ich einen unwiderstehlichen Durst, und mein Freund Wilhelm Rumpf teilte diese Empfindungen, so daß er meinen Vorschlag, in der Schenke des alten Lorenz ein Seidel zu schlürfen, ohne weiteres genehmigte. Arm in Arm schritten wir über den Ludwigsplatz. Vor der Engelhardtschen Buchhandlung begegnete uns Wilhelm Rumpfs angeheirateter Onkel, ein liebenswürdiger alter Herr, der gern seinen Spaß mit uns trieb und auch heut nicht umhin konnte, uns mit einer scherzhaften Phrase dingfest zu machen. Wir kannten zwar die humoristischen Redensarten des Onkels seit lange auswendig; aber die selbstgefällige Freude, mit der er sie immer und immer wieder vortrug, verfehlte nie ihre Wirkung. Besonders tiefsinnig schien ihm der anachronistische Scherz von den Kanonen des Hannibal, und er besaß ein bewundernswürdiges Talent, von jedem beliebigen Gesprächsthema auf dieses Bonmot abzulenken. – Als er uns nach längerer Kauserie wieder freigab, hatte unser Durst gewaltige Dimensionen angenommen, und im Geschwindschritt eilten wir der Stätte zu, wo wir so oft gegen die Paragraphen des Gymnasialgesetzes gefrevelt hatten.

Wir klopften an den Schalter. Der alte Lorenz war diesmal wieder »dienstlich verhindert«, und sein ältester Sohn Fritz stand vor dem Schenktische.

Der Bursche warf uns einen beruhigenden Blick zu, und so schritten wir denn ahnungslos ins Lokal und suchten mit jener prüfenden Unsicherheit, die jedem Neueintretenden eigen ist, nach einem Tische, um uns niederzulassen.

Da – wer beschreibt unser Erstaunen, unsere Verwirrung, als wir in der entferntesten Ecke des langen, bandartigen Kneipzimmers die nur allzu wohlbekannte Gestalt Samuel Heinzerlings wahrnahmen! Der Vortrag über den lateinischen Konjunktiv schien nicht allein uns durstig gemacht zu haben, denn das Seidel, das der Direktor vor sich stehen hatte, war bis auf einen traurigen Rest ausgeschlürft. Samuels Angesicht glühte in dunkler Röte. Ich schwankte, ob ich dies Echauffement der Glut des Augusttages oder dem Zorn über unser vermessenes Eintreten zuschreiben sollte: beide Umstände mochten in gleicher Weise mitgewirkt haben. Ich ergab mich schon stillschweigend in mein Schicksal. Die zwei Tage Karzer dünkten mir ebenso unvermeidlich, wie dem Delinquenten, der unter dem Fallbeil liegt, die Enthauptung. Auch Samuel Heinzerling schien von der Notwendigkeit dieser Lösung durchdrungen, denn jetzt spielte um seine Lippen ein halb verdrießliches, halb siegesgewisses Lächeln, und mit grimmigem Finger rückte er an der großen rundglasigen Brille.

Aber wir hatten die Rechnung ohne Wilhelm Rumpf gemacht. Ehe ich noch ahnte, was er vorhatte, faßt er mich am Arm, und sagte mit einer Stimme, in der die Fülle der höchsten seelischen Genugtuung widerklang:

»Komm, da sitzt ja der Herr Direktor! So habe ich mich doch nicht getäuscht.«

Samuel Heinzerling starrte uns an, als habe die Vermessenheit Rumpfs ihn versteinert.

»Wälhelm« aber schritt kühn auf ihn zu, zog die Mütze und verneigte sich mit einem artig gelispelten: »Guten Tag, Herr Direktor, verzeihen Sie gütigst, wenn wir Sie stören!«

»Rompf, was onterstehn Sä sich?«

»Entschuldigen Sie gütigst«, stammelte Rumpf mit verbindlichem Lächeln.

»Was haben Sä här zo sochen? Äch kann mer schon denken, was för Nächtsnotzigkeiten Sä wäder auf'm Korn haben!«

»Ich habe Sie auf dem Korn, Herr Direktor. Ich wollte mir nur die ganz ergebene Frage erlauben, ob wir den Aufsatz: » Quaeritur utrum Alexander dignus fuerit cognomine Magni necne« auch in Dialogform behandeln dürfen. Mein Freund da behauptet, nein; ich aber bin in der Ansicht, daß diese Form sich ganz besonders für ein derartiges Thema eignet, denn, sagen Sie selbst, Herr Direktor: wenn man so die Tugenden und die Laster Alexanders des Großen gegeneinander abwägen will, so ergibt es sich ganz natürlich, daß man jeder dieser verschiedenen Auffassungen eine Person substituiert. Hat nicht z. B. Lessing in seinem Gespräche über Freimaurerei . . .«

»Schon goot!« unterbrach ihn Samuel Heinzerling.

»Wir dürfen's also in Dialogform behandeln?« fuhr Wilhelm Rumpf fort. »Ich wollte mich doch gleich vergewissern. Wir sahen Sie da eben hereintreten, und da ich die Absicht habe, noch heute Abend an die Disposition zu gehen . . .«

»Rompf, Sä sänd ein Schelm; aber es läßt säch nächt leugnen, Sä haben säch got herausgebässen. Än Zokonft warten Sä mer höbsch draußen, bäs äch wäder hänaus komme. So lange hat Ähre Däsposätion wohl Zeit. Kennen Sä nächt dä Vorschräft des Gämnasialgesetzes, daß es den Schölern unserer Anstalt verboten äst, öffentläche Lokale zo besochen?«

»Entschuldigen Sie, Herr Direktor,« sagte Rumpf im Tone eines Gekränkten, »es ist den Schülern verboten, die Lokale allein zu besuchen; wenn sie aber wissen, daß sie innerhalb dieser Lokale einen Lehrer oder gar den Direktor der Anstalt treffen, so scheint es mir den Gesetzen des Gymnasiums durchaus nicht zuwider zu laufen, wenn man in der Absicht einer wissenschaftlichen Anfrage . . .«

»Schwätzen Sä säch den Hals nächt noch trockener, als er schon äst! Äch wäderhole Ähnen, Sä haben säch got herausgebässen, ond non wäll äch Ähnen erlauben, daß Sä mät Anstand än Glas Bär tränken. Hören Sä? Aber nor ein Glas: von där däalogischen Form wollen wär än däsem Falle absehen.«

»Herr Direktor sind zu gütig, aber ich versichere Sie, wir dachten durchaus nicht . . .«

»Frätz!« unterbrach ihn Samuel Heinzerling, »brängen Sä mal drei Seidel! So, ond non lassen Sä säch's got schmecken. Warhaftig Rompf, wenn Sä änmal später än den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens so väl Geistesgegenwart an den Tag legen, wä jetzt bei Ähren leider nor zo oft wäderholten Lompenstreichen, so werden Sä ein berühmter Mann werden.«

Wir nahmen Platz und ließen uns das unter so gefährlichen Umständen erworbene Bier trefflich munden. Nach Verlauf von zehn Minuten erhob sich unser jovial-liebenswürdiger Direktor vom Sitze, was für uns natürlich das Signal war, ein gleiches zu tun. Draußen vor dem Tore trennten wir uns. Nach zehn Schritten machte Heinzerling Kehrt.

»Non, Rompf, Sä haben ja noch keine Antwort wägen der däalogischen Behandlung? Es scheint, daß Ähre Däsposätion doch nächt so große Eile hat, wä Sä vorgeben?«

» Qui tacet, consentire videtur«, sagte Rumpf mit unerschütterlicher Gelassenheit. »Sie haben meine Frage unbeantwortet gelassen, also schließe ich daraus, daß Sie meine Ansicht billigen. Die Grundzüge des Aufsatzes habe ich mir bereits beim Bier überlegt.«

»Nochmals, Sä sänd ein Schelm,« lachte Samuel, indem er den breitkrempigen Hut in die Stirne zog. »Aber nähmen Sä säch än acht! Äch för mein Teil habe Sänn för Humor, und lasse mer ab ond zo selbst eine kleine Dommheit gefallen, wenn sä mät Grazie ond attischem Salz gewörzt ist. Äch känne jedoch Leute, dä för dä Reize der Komäk ongleich weniger empfänglich sänd! Da könnten Sä mät Ähren olämpischen Konstgräffen sehr öbel anlaufen! Danken Sä Gott, daß äch här gesässen habe: wäre äch zom Beispiel mein Schwägersohn, der Ordänarius von Obersekunda gewäsen, so hätten Sä kein Bär, sondern Cachot gekrägt! Märken Sä säch das!«

Und mit würdevoller Gelassenheit schritt er den heimischen Laren zu.


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