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Das Wort Examen hat für den Gymnasialschüler je nach Umständen eine sehr verschiedenartige Klangfarbe. Ernst und gewichtig tönt es an sein Ohr, wenn es die Abiturientenprüfung bezeichnet; leicht und harmlos dagegen, wenn es jene Komödie bedeutet, die sich alljährlich ein- oder zweimal vor dem Beginn der Ferien wiederholt, mit dem angeblichen Zweck, das Publikum über die intellektuellen und ethischen Fortschritte der künftigen Staatsbürger zu unterrichten.
Das Abiturienten- oder Maturitätsexamen ist, streng genommen, nur eine Form, da die Lehrer in den meisten Fällen vorher wissen, wer da bestehen und wer durchfallen wird. Es wäre auch sonderbar, wenn die paar Stunden oder Tage des Examens genauere Auskunft über den Bildungsgrad eines Schülers ermöglichen sollten, als die Monate und Jahre des regen persönlichen Verkehrs in der Klasse. Gleichwohl betritt der Abiturient mit einem seltsamen Zagen den Prüfungssaal, nicht ahnend, daß sein Schicksal schon vor der ersten Frage so gut wie entschieden ist. Der Schüler, der sich während seiner ganzen gymnasiastischen Laufbahn durch die lebhafte Betätigung eines wissenschaftlichen Sinnes ausgezeichnet und den Beweis geliefert hat, daß er wirkliche Kenntnisse besitzt, wird selbst dann nicht durchfallen, wenn er in einer Spezialität unglücklicherweise alle Fragen schuldig bleibt; viel eher ist der umgekehrte Fall denkbar, daß ein Ignorant, der sich nur oberflächlich »eingepaukt« hat, durch eine glückliche Konstellation entschlüpfe. Es liegt also nicht der geringste Grund zur Aufregung vor; aber die Tradition und der Instinkt wirken hier mächtiger als die reine Vernunft.
In dem Gymnasium meiner Vaterstadt Gröningen hatten die Abiturienten erst ein dreitägiges schriftliches Examen und dann ein mündliches von etwa sechs Stunden zu leisten. Das schriftliche war entschieden die Hauptsache. Es bestand aus drei Extemporal-Aufsätzen, einem deutschen, einem französischen und einem lateinischen. Die strengste Klausur sonderte uns während dieser Arbeiten von der Außenwelt ab. Vor Schluß seines Aufsatzes durfte keiner den Saal und die dazu gehörigen Räumlichkeiten verlassen. Gegen Mittag lieferte uns der Pedell etwas kalte Küche; den Angehörigen der Schüler war es nicht gestattet, sich bei dieser Proviantlieferung zu beteiligen, da es früher mehrfach vorgekommen war, daß man in Buttersemmeln, Würsten u. dergl. die nötigen literarischen Hilfsmittel zur Bewältigung der Themata eingeschmuggelt hatte. Trotz dieser peinlichen Vorsicht gelang es fast regelmäßig, etwas Verwendbares über die Schwelle zu paschen. Bei dem Schließen oder Öffnen des Fensters warf man einen Zettel in den Hof, der das Thema bezeichnete. Treue Freunde, die unten lauerten, beschafften sofort, was sie an früheren Bearbeitungen desselben Vorwurfs &c. &c. auftreiben konnten, und legten es im rechten Moment auf eine gewisse verschwiegene Lokalität, deren Besuch man uns doch nicht völlig verbieten konnte. Zuweilen gelang es auch, schon Tags zuvor das Thema ausfindig zu machen, sei es, daß ein Familienmitglied des Examinators die Sache verriet, sei es, daß wir listigerweise das Notizbuch des Lehrers durchforschten und so die nötigen Anhaltspunkte eroberten.
Einmal hatte der Direktor Samuel Heinzerling in Erfahrung gebracht, der Abiturient Ittmann sei am Abend vor dem Beginn der Prüfung auf wunderbare Weise in den Besitz des Themas gelangt und werde des Tags darauf eine Reihe von Manuskripten und Drucksachen mitbringen, und zwar, um der Möglichkeit einer Visitation auszuweichen, in seinen Stiefelschäften. Gott weiß, wer hier den Judas gespielt hatte: genug, Samuel Heinzerling war bis ins einzelne unterrichtet und beschloß, dem p. p. Ittmann auf eine möglichst humorvolle Weise zu Leibe zu gehen.
Es war die ganze Zeit über abscheuliche Witterung gewesen. Auch am Tage des lateinischen Aufsatzes herrschte ein großer Schmutz in den Straßen. Hierauf gründete Samuel seinen Plan.
Als Ittmann im Saale erschien, trat der Direktor freundlich lächelnd auf ihn zu und reichte dem überraschten Schüler die Hand.
»Kommen Sä, läber Ättmann,« sagte er schmunzelnd, »äch weiß, Sä neigen sehr stark zor Erkältong . . . .«
Hiermit führte er den Erstaunten nach dem Ofen, wo ein Stiefelzieher und zwei Pantoffel standen.
»So, läber Ättmann, äch habe Ähnen da ein paar Pantoffel besorgt, damit Sä säch ja nächt verderben. Zähen Sä Ähre Stäfel höbsch aus. Äch bän überzeugt, Sä haben säch nasse Föße geholt.«
»Sie sind zu gütig, Herr Direktor,« stammelte Ittmann, »aber ich habe wirklich ganz trockene Füße. Ich danke recht sehr.«
»Es wärd doch besser sein, wenn Sä dä Schohe dort anzähn. Sä sänd mär än der letzten Zeit wäderholt onwohl gewesen . . .«
»Das ist ganz vorüber, Herr Direktor. Ich fühle mich jetzt vollständig frisch.«
»Eben, weil Sä säch fräsch föhlen, sollen Sä säch nächt wäder erkälten. Machen Sä jetzt keine Omstände; äch meine es goot mät Ähnen!«
»Ohne Zweifel, Herr Direktor. Ich verspüre aber nicht den geringsten Anflug von Nässe. Lassen Sie lieber den Schierlitz die Pantoffel da anziehen: der hat einen viel weiteren Weg als ich.«
»Nein, nein! Der Schärlätz äst eine roboste Nator! Sä allein haben mär den verflossenen Wänter fortwährend öber Katarrh geklagt. Jetzt machen Sä mäch nächt ongedoldäg, ond entledägen Sä säch so rasch wä möglich Ährer Stäfel! Äch befähle es Ähnen!«
Ittmann war der Verzweiflung nahe. Seine angeborene Geistesgegenwart half ihm jedoch auch diesmal über die Klippe hinweg.
»Nun denn, Herr Direktor,« sagte er mit einer artigen Verbeugung, »so nehme ich dankbar an.«
Mit diesen Worten ergriff er die Pantoffel und den Stiefelzieher und eilte der Tür zu.
»Wo wollen Sä hän?« rief Samuel Heinzerling.
»Herr Direktor, Sie werden mir zutrauen, daß ich so viel Lebensart besitze, um meine Stiefel nicht in Ihrer Gegenwart auszuziehen. Ich verfüge mich da neben ins Konferenzzimmer.«
Samuel Heinzerling trat auf ihn zu, klopfte ihm auf die Schulter und flüsterte mit einem halbunterdrückten Lächeln:
»Wässen Sä was? Gehn Sä läber nach Hause ond wechseln Sä zo Haus Ähre Stäfel! Sä haben säch öbrägens goot herausgehauen, wärkläch, sehr goot! Das moß Ähnen der Neid lassen.«
»Aber, Herr Direktor, ich versichere Sie . . .«
»Machen Sä, daß Sä fortkommen ond versächern Sä mäch läber nächts. Äch denke, Sä wässen am besten, wo der Schoh Sä dröckt. Aber äch sage Ähnen, auf dem Fooß stehen wär nächt mäteinander, wenn das Examen anfängt! Sä sänd mär ein onreeller Kamerad! Verstehn Sä mäch?«
»Herr Direktor,« versetzte Ittmann mit einem Blick auf seine Stiefel, »ich habe heute morgen schon so viel eingesteckt, daß ich auch diesen Vorwurf einstecken und Sie um dauernde Nachsicht ersuchen will.«
Samuel Heinzerling lachte.
Ittmann aber eilte nach Hause und erschien diesmal ohne die Eselsbrücken. Sei es nun, daß das Erlebnis mit Samuel Heinzerling seinem Geiste eine besondere Elastizität verlieh, sei es, daß der Direktor ein hervorragendes Wohlwollen entwickelte, kurz, der Schüler erhielt die Note eins.
Der lateinische Aufsatz, den ich zur Bekundung meiner Reife verabfolgen mußte, betraf den Kaiser Tiberius.
Ich habe nun bereits in meiner Skizzensammlung »Aus Sekunda und Prima« hervorgehoben, daß die Weltgeschichte von je meine schwache Seite gewesen. Von Tiberius insbesondere wußte ich nur sehr wenig Positives, – etwa, daß er des Kaiser Augustus Nachfolger gewesen; daß er sich durch Grausamkeit und Willkür ausgezeichnet; daß er einen Günstling, namens Sejanus, besessen und schließlich von Macro mit einem Kissen erstickt worden sei. Nun verstand ich es zwar, solche geringfügige Anhaltspunkte möglichst ausgiebig zu verwerten: aber das Gold meines Wissens wollte diesmal, noch so breit geschlagen, nicht ausreichen, um den gewaltigen Raum eines Abiturientenaufsatzes zu bedecken.
Hier half ich mir nun auf folgende sinnreiche Weise, die ich jedem Primaner unter gleichen Verhältnissen auf das wärmste empfehlen möchte. Ich hatte zufällig wenige Tage zuvor eine interessante Monographie über den Kaiser Augustus gelesen, deren Einzelheiten mir noch ziemlich treu im Gedächtnis hafteten. So begann ich denn meinen Aufsatz wie folgt:
»Nach dem Tode des Cäsar Octavianus Augustus bestieg der tückische, menschenfeindliche Tiberius den Kaiserthron. Es gelang ihm schon nach kurzer Frist, sich in allen Teilen des Reichs gründlich verhaßt zu machen, denn er bildete durchweg den schroffsten Gegensatz zu dem wohlwollenden, gerechten, kunst- und literaturfreundlichen Augustus. Dieser Kontrast mußte die Antipathie der Römer noch beschleunigen und vertiefen. Augustus hatte das und das getan, diese und jene Einrichtung getroffen, so und so die Verhältnisse des römischen Volkes geregelt; von alledem finden wir bei Tiberius keine Spur. Augustus und seine Freunde Messala, Pollio und Mäcenas waren Kenner der griechischen Dichter, deren Werke man in öffentlichen Bibliotheken sammelte; in der Umgebung des Tiberius dagegen finden wir weder einen Mäcenas noch einen Messala noch einen Pollio. Augustus war auch äußerlich eine sehr angenehme Erscheinung. Ein heiterer Friede ruhte auf seinem Antlitz. Er machte den Eindruck eines biederen, würdevollen und geistig bedeutenden Alten. Ganz anders Tiberius, von welchem uns dergleichen nirgends berichtet wird.«
Aus diese Weise gab ich eine sehr detaillierte Geschichte des Augustus und fügte nur von Zeit zu Zeit die Bemerkung hinzu, das sei bei Tiberius anders gewesen.
Nachdem ich so mein Wissen erschöpft hatte, schloß ich wie folgt:
»Leider ist die Zeit bereits zu sehr vorgerückt, als daß es mir noch möglich wäre, auf die übrigens allbekannten Einzelheiten der so verhängnisvollen Regierung des Tiberius näher einzugehen. Erwähnen will ich noch, daß er, wie fast alle Tyrannen, auf unnatürliche Weise endete. Ja, es gibt eine Nemesis der Weltgeschichte, deren furchtbares Walten nur der Tor leugnen wird! Est modus in rebus, sunt certi denique fines!«
Und dann sprach ich noch den üblichen Wunsch aus:
» Spero fore, ut, quae hodie conscripsi, rectori gymnasii doctissimo, illustrissimo, justissimo mire placeant.«
Meine Hoffnung ging in Erfüllung. Die umfassenden Kenntnisse, die ich im Punkte des Augustus entwickelt hatte, reichten aus, um meine tiberianische Unwissenheit zu bemänteln.
Minder glücklich war ein Abiturient namens Glaser, der einen deutschen Aufsatz über die Völkerwanderung zu schreiben hatte und, wie Sokrates, nur eins wußte: daß er nichts wußte.
Er begann sein Thema wie folgt:
»Indem ich an die heutige Aufgabe heran trete, erinnere ich mich der alten Vorschrift, daß der wahre Philosoph niemals über einen Gegenstand reden darf, ohne ihn des näheren definiert zu haben.
Was heißt Völkerwanderung? Augenscheinlich bedeutet dieser Ausdruck eine Wanderung von Völkern. Fragen wir nun zunächst: Was ist ein Volk? so liegt es klar zutage, daß sich dieser Begriff nicht so in aller Kürze fixieren läßt. Wir müssen daher etwas weiter ausholen. Schon in den ältesten Zeiten . . .«
Und nun folgte eine graziös stilisierte Musterkarte historischer Data, wie sie in dem Kopfe des pfiffigen Schülers nach und nach hängen geblieben war. Die Ägypter, die Assyrer und Meder spielten hier eine bedeutsame Rolle. Ein längerer Abschnitt war dem auserwählten Volk Gottes gewidmet, dem Volk par excellence. Dann sprach Theophil Glaser von den Volksrechten, von den verschiedenen Staatsformen usw. usw.
Die Hälfte des Aufsatzes war hiermit zurückgelegt. Der Schüler fuhr fort:
»Wir kommen nun zu dem zweiten Teile unserer Definition: Was ist eine Wanderung?« Ein Problem, das er in ähnlicher Weise löste, wie das des Volkes.
Als er endlich den Begriff der Völkerwanderung glücklich zusammengesetzt hatte, war die gegebene Frist abgelaufen, und hastig warf er die heuchlerische Phrase auf das Papier:
»Zu meinem größten Bedauern muß ich hier schließen, denn ich höre das heisere Metall des Pedellen.«
Theophil Glaser bestand zwar im deutschen Aufsatze » cum laude«. in der Geschichte aber fiel er trotz seiner glänzenden Definitionen unwiderruflich durch.
Die Lehrer wollten nicht glauben, daß nur Quaddler daran schuld war, wenn Glasers Abhandlung des versöhnenden Schlusses entbehrte.