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V.

Nach dem Weggang seines Freundes hatte der Graf von Kehlmark keine Ruhe mehr gehabt. Es litt ihn nicht auf einem Platze. Seine Unruhe wuchs, je mehr sich der Kirmeßtrubel seinem Gipfelpunkt näherte. Er fühlte Atembeklemmungen wie vor dem Ausbruch eines dräuenden Unwetters.

»Welche wilde, gewaltsame Lust!« sagte er zu Blandine, die mild und mütterlich wie immer sich Mühe gab, seine Besorgnis zu zerstreuen. »Niemals haben sie einen solchen Hexensabbat gefeiert! Nach ihrem Geschrei zu urteilen, vergnügen sie sich damit, sich die Hälse abzuschneiden!«

In früheren Jahren hatte das abscheuliche Tongewirr, der Jahrmarktslärm, das Knallen der Schüsse, das Gellen der Pfeifen, das Schmettern der Pistons, das Dröhnen der Orgeln nur in einzelnen charakteristischen Stößen zu ihm zu dringen vermocht. Heute jedoch war diese elektrische Atmosphäre noch geladen mit allerhand Düften, es roch nach verschiedenen Speisen und Getränken, nach Schweiß und nach Brunst.

Das wurde noch immer schlimmer, als die Sonne sank und das erotische Halali der Trompeten von einem Ende von Smaragdis bis zum anderen widerhallte; es war, als ob ein kupfriger metallischer Nebel das blutige Rot des sterbenden Himmels verstärken wollte. Und menschliche Stimmen, noch schneidender und greller, nahmen das rasende Signal der Fanfaren auf und schwellten es immer wilder und toller an, als wollten sie die Finsternis zu hellen Flammen entzünden ...

Da hielt es Kehlmark nicht länger. Er benutzte einen Augenblick, wo Blandine draußen mit den Vorbereitungen zum Abendessen beschäftigt war, und stürzte in den Park. Plötzlich übertönte ein gellender, herzzerreißender Laut, ein Schrei, der noch durchdringender war, als der Appell der Klapptrompete Guidos am Abend ihrer ersten Begegnung, das Getöse der Instrumente.

Kehlmark erkannte sofort die Stimme seines Freundes.

»Er ist es! Man bringt ihn um!«

Vorwärts getrieben durch diese schreckliche Gewißheit eilte er außer sich durch die Nacht nach der Richtung hin, wo das Geschrei und die Klagerufe her klangen.

Als er den Rand des Parkes erreichte, bereit sich dorthin zu stürzen, wo das Verbrechen vor sich ging, hörte er einen neuen Ausbruch von Gebrüll und Hohngelächter, und er vernahm den Namen des Heißgeliebten in diesem Zeter-Mordiogeschrei.

Einen Augenblick später durchbrach er die Menge; seine Kräfte verzehnfachten sich; er stieß die hindernden Gaffer bei Seite, während er die Kannibalen verjagte und zu Boden schlug.

Mit dem Schrei einer gereizten Löwin stürzte er sich auf den Körper seines Lieblings und befreite ihn; bewußtlos, zerfetzt und blutüberströmt, unzuchtbefleckt und geschändet lag Guido auf der Erde; Heinrich beugte sich über ihn und küßte ihn, dann hob er ihn in seinen Armen hoch empor.

Seine Gestalt erschien riesengroß.

Mit seinem Rohrstock ließ er fürchterliche Hiebe durch die Luft sausen. Um ihn erweiterte sich der Kreis, und langsam, das Antlitz den Gebändigten und den rasenden Weibern zugekehrt, schritt er nach dem Park zurück.

Aber Klaudia und Landrillon, obwohl auch vorübergehend durch dieses majestätische Einschreiten erschreckt und bestürzt, wollten ihr Spiel nicht so leicht verloren geben.

Von neuem hetzten sie die Menge zum Kampf.

Diese drang wiederum zum Angriff vor. Die allgemeine Stimme der Verurteilung, die Wut des Volkes kehrte sich von dem jungen Govaertz ab, um den Deichgrafen zu zerschmettern. Keiner stellte sich auf seine Seite. Seine getreusten Anhänger, die jungen Strolche aus Klaarwatsch, welche die Anklage vernommen hatten, die auf ihm lastete, standen stumm und teilnahmslos mit Armensündermienen bei Seite und wagten nicht, Partei zu ergreifen.

Da warf Landrillon den ersten Stein. Man schleuderte auf den Deichgrafen, was man gerade in die Hände bekam. Schützen, die gekommen waren, um den Preis im Bogen- und Armbrustschießen zu erringen, nahmen sonder Scheu den einst so gefeierten König ihrer Gilde aufs Korn. Ein Pfeil streifte ihn an der Schulter, ein anderer durchbohrte die Kehle Guidos und ließ das Blut in hohem Bogen auf das Antlitz Heinrichs spritzen. Kehlmark, seiner eigenen Wunde nicht achtend, sog die teuren Züge des totwunden Freundes in sich ein und liebkoste unaufhörlich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck rührendster Zärtlichkeit dessen geschändeten Körper. Da traf ihn ein zweiter Pfeil dicht am Herzen, und zusammenbrechend unter seiner kostbaren Last stürzte er zu Boden.

Als sie vorstürmten, um ihm den Rest zu geben, stürzte eine weiß gekleidete Frauengestalt vor sie, breitete weit die Arme in Kreuzesform aus und bot ihre Brust den Streichen dar.

Und die Majestät ihres Schmerzes war derart, derart die heroische Ruhe und erhabene Gottergebenheit auf ihrem Antlitz, daß alle scheu zurückwichen. Klaudia stieß mit einem wilden Schrei Landrillon weit von sich, der auf sie eindrang, um den verheißenen Lohn zu fordern, um sich dann – unheilbarem Wahnsinn verfallen – ihrem Vater in die Arme zu stürzen, von wo sie dem schmutzigen Bomberg laut und gellend ins Gesicht lachte ...

Blandine sprach kein Wort, ihr entschlüpfte kein Schrei, keine Thräne stahl sich aus ihren Augen.

Aber ihre Gegenwart stählte die besseren Elemente: die fünf armen Burschen, die Kehlmark besonders ausgezeichnet hatte, besiegten ihren feigen Gehorsam gegen die öffentliche Stimme; sie hoben Kehlmark und Guido, die in gemeinsamer Agonie sich umschlungen hielten, auf ihre Schultern.

Die rohen Menschen weinten; jetzt endlich waren sie bekehrt ...

Blandine schritt ihnen zum Schlosse voran.

Um die Verwundeten nicht ins obere Stockwerk tragen zu müssen, bettete man sie auf das Billard. Die Freunde erwachten beinahe gleichzeitig aus der Ohnmacht. Als sie die Augen aufschlugen, ließen sie sie auf Konradin und Friedrich von Baden haften; dann sahen sie sich an, lächelten sich zu, erinnerten sich der Mordscene, drückten sich aneinander in inniger Umarmung und ihre Lippen aufeinander pressend erwarteten sie den Augenblick ihres letzten Seufzers.

»Und ich?« murmelte Blandine. »Sagst du mir nicht ein Wort des Lebewohls, Heinrich? Denke, wie sehr ich dich geliebt habe!«

Kehlmark wandte sich nach ihr um.

»O!« flüsterte er, »daß ich dich in der Ewigkeit so lieben könnte, wie du verdientest, schon hier auf Erden geliebt zu werden, du Edle, Reine!«

»Aber« fügte er hinzu, indem er wieder Guidos Hand ergriff, »ich möchte dich lieben, meine Blandine, ohne aufzuhören, auch diesen zu lieben, diesen herrlichen, wonnigen Jungen! ... Ja, ich möchte ich selber bleiben, Blandine! ... Nicht mehr schwanken ... Treu bleiben bis zum Ende meinem Selbst, meiner eigentlichen Natur! Wenn ich wieder aufleben könnte, würde ich wieder so lieben wollen, müßte ich auch wieder ebenso leiden, oder vielleicht noch mehr, als ich gelitten; ja, Blandine, meine Schwester, meine einzige Freundin, müßte ich auch dich ebenso leiden machen, wie ich dich leiden ließ! ... Ein Segen ist deshalb unser Tod für uns alle drei: denn wir gehen dir nur kurze Zeit voran, indem wir diese Welt verlassen; ein Segen auch unser Martyrium, weil es dazu beitragen wird, jede Art von Liebe endlich zu befreien, zu erlösen und zu erhöhen!«

Und seine Lippen hatten die Lippen seines jungen Freundes wiedergefunden, die sich den seinen hingebend entgegen streckten; dann hauchten Guido und Heinrich in einem letzten Kusse gemeinsam ihre Seele aus.

Blandine schloß ihnen allen beiden die Augen; dann betete sie, jetzt Heidin und Heilige zugleich, zu einer neuen Offenbarung, die da kommen sollte, um die Welt mit dem Lichte der Wahrheit zu erleuchten. Sie hatte kein Gefühl mehr für etwas, das auf Erden um sie vorging; nur eine unendliche Leere empfand sie in ihrem Herzen, eine Leere, die kein menschliches Bild jemals auszufüllen imstande war!

Würde Gott sie bald eingehen lassen in sein himmlisches Reich?


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