Joseph von Eichendorff
Dichter und ihre Gesellen
Joseph von Eichendorff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Ein schweres Gewitter zog eben an dem Gebirge hin und sandte seine Regenschauer in die Ebenen hinaus, während Fortunat, durchnäßt und lange vom Wege abgekommen, über ein weites, in Regen und Abenddunkel verhülltes Feld dahintrabte. Da hörte er unerwartet den Gesang einer schönen Männerstimme von fern herüberschallen, wovon er nur folgende Worte verstehen konnte:

Bei dem angenehmsten Wetter
Singen alle Vögelein,
Klatscht der Regen auf die Blätter,
Sing ich so für mich allein.
Denn mein Aug kann nichts entdecken,
Wenn der Blitz auch grausam glüht,
Was im Wandeln könnt erschrecken
Ein zufriedenes Gemüt.

Er gab seinem Pferd die Sporen und erreichte in kurzer Zeit ein Häufchen Wanderer, die neben einem Paar Pferde einherschritten, auf denen zwei junge Frauenzimmer saßen. Mit freudiger Überraschung erkannte er sogleich die abenteuerlichen Gestalten der Schauspieler wieder, die an Victors Stammburg vorübergezogen waren, von denen aber jetzt die Dunkelheit nur die ungefähren Umrisse erraten ließ.

Fortunats Gruß fand nur eine halbe Erwiderung, die Gesellschaft schien in üblem Humor zu sein, und langsam und schweigend, wie ein schwerer Traum, bewegte sich das Ganze weiter. Endlich unterbrach der Voranschreitende, welcher soeben gestolpert war, die Stille mit einem derben Fluche, prustete und glitt gleich wieder aus und kam gar nicht aus der Wut. – »Das haben wir davon«, hub die eine Dame zu Pferde zu der andern Reiterin an, »das haben wir nun von eurer schönen Natur. Brächen die Herren nicht ihren Flaschen auf das Wohlsein jeder alten Burg die Hälse, so wäre uns allen jetzt wohler und wir säßen im Trocknen, denn unser Wagen ist gewiß längst in der Stadt.« – Dabei breitete sie mühsam einen, wie es schien, nicht sonderlich konditionierten Regenschirm über sich aus. Aber der Wind verarbeitete ihn sogleich mit solcher Fertigkeit, daß ihre berittene Nachbarin laut auflachte und die Dame ihre Segel erbost wieder einziehen mußte. Fortunat, welcher hier heimlich auf ein ergötzliches Gezänk hoffte, ermahnte die Gesllschaft, den beiden Damen in diesem Kampfe mit den Elementen durch ein gemeinschaftliches, angemehmes Gespräch galant unter die Arme zu greifen. Die Männer antworteten gar nicht darauf, die Dame mit dem Regenschirme aber fragte: ob er vielleicht auch ein Künstler sei und es so gut haben wolle wie sie? »Oh«, setzte sie spitzig nach ihrer Nachbarin gewendet hinzu, »Liebhaberrollen sind hier jederzeit zu haben.« – »Bitte sehr«, erwiderte die Nachbarin mit einer wohlklingenden Stimme, »bei Ihnen ist ja diese Stelle seit geraumer Zeit vakant.« – Ein plötzlicher Blitz beleuchtete hier auf einen Augenblick ein schönes, feines, aber bleiches Gesichtchen, über welches zu beiden Seiten lange schwarze Haare triefend herabhingen. – »Mein Gott, was ist das für eine Wirtschaft um das bißchen Regen!« rief einer der jungen Männer aus, »quamquamsint sub aqua, sub aqua maledicere tentant!« – »Sparen Sie doch Ihr Latein«, sagte die Dame mit dem Schirm, »Sie memorieren wohl eben den Bettelstudenten?« Sie wollte noch mehr sprechen, aber der Literatus fiel schnell in das Lied wieder ein, das Fortunat schon vorhin von fern gehört hatte, und übersang sie lustig:

Frei von Mammon will ich schreiten
Auf dem Feld der Wissenschaft,
Sinne ernst und nehm zuzeiten
Einen Mund voll Rebensaft.
Bin ich müde vom Studieren,
Wann der Mond tritt sanft herfür,
Pfleg ich dann zu musizieren
Vor der Allerschönsten Tür.

»Land! Land!« schrie hier plötzlich der Voranschreitende dazwischen, und man erblickte zu allgemeiner Freude von weitem Mauern und Türme, die sich wie dunkle Riesen immer deutlicher aus dem trüben Grau aufrichteten. Einzelne Lichter schimmerten schon den Reisenden trostreich entgegen, ein jeder strengte neu belebt seine letzten Kräfte an, und so waren sie bald an dem Tore eines kleinen Städtchens angelangt. – Wie Zugvögel mit begossenen, hängenden Flügeln strichen sie stumm durch die engen, finsteren Gassen, wo sich die Lichter aus den Fenstern blendend und verwirrend im Wasser spiegelten, während der Regen von den Dächern aus abenteuerlich vorgestreckten Drachenköpfen auf sie herabstürzte.

So kamen sie endlich in den Hof eines Wirthauses. Hier war der Reisewagen der Gesellschaft, den man unterwegs umgeworfen hatte, auch soeben erst angelangt. Der Theaterprinzipal Sorti, ein kleines, fixes Männchen, rannte eifrig hin und her, vom Wagen wurden Burgen, Drachen und lange Kamelhälse eilig über den Hof getragen, die Hofhunde bellten, überall war ein Rufen, Drängen und Schimpfen in der undurchdringlichen Finsternis, die nur von einzelnen Blitzen manchmal durchkreuzt wurde. Mitten aus diesem Rumor hob der Literatus die jüngere Reiterin schnell vom Pferde und trug sie auf seinem Arme in das Haus. Das Mädchen war arg durchnäßt, mit dem dünnen, vom Regen knapp anliegenden Kleide, mit den lang herabhängenden, tröpfelnden Locken sah sie wie ein Nixchen aus, das eben den Wellen entstiegen. Sie hielt beide Hände vor das Gesicht, um sich vor dem plötzlich aus dem Hause dringenden Lichte zu schützen, aber zwischen den kleinen Fingern funkelten zwei schwarze Augen hindurch, die Fortunaten im Vorüberfluge durchdringend anblickten.

Dieser konnte nur mit Mühe ein besonderes Stübchen gewinnen, wo er schnell seine Kleider wechselte, während draußen nach und nach ein gewaltiges Türzuwerfen, Streiten und Lachen von einzelnen Operntrillern und Laufern durchschwirrt, das ganze Haus erfüllte. Unterdes hatte auch das Wetter sich wieder verzogen, und der Mond trat klar zwischen dem zerrissenen Gewölk hervor. Er verließ daher gar bald seine enge, schwüle Kammer wieder und eilte zwischen den Reifröcken, Rüstungen, Fahnen und Miedern, die über dem Treppengeländer zum Trocknen ausgehängt waren, in den Garten hinab. Ein einsames Frauenzimmer saß dort vor der Haustür auf der Bank, an dem etwas verbrauchten Federhut, dem hohen Kragen und der ganzen Haltung erkannte er die Dame mit dem Schirme wieder. – »Ich bin mir selbst noch Genugtuung schuldig«, hub sie sogleich an, als sie Fortunaten bemerkte, »Sie werden vielleicht eine ungünstige Meinung von mir gefaßt haben; aber Sie glauben nicht, welche Verleugnung es einem zarteren Gemüt kostet, mit den rohen Scherzen dieser Menschen, wenn auch nur zum Schein, gleichen Schritt zu halten.« – »In der Tat«, erwiderte Fortunat, »der Lateiner schritt wacker und lustig aus.« – »Lustig?« sagte die Dame, »Sie kennen diesen Wilden noch nicht, er hat keine Ahnung von jener geistigen Seelenlust, die schon diesseits die Gipfel der Menschheit erklimmt -« «Und jenseits rücklings wieder herunterschurrt«, fiel hier der feindliche Literatus ein, der eben mit einer Gitarre aus dem Hause tretend, das letzte Kapitel von der Lust mit angehört hatte und, einzelne Akkorde anschlagend, sich nun weiterhin auf dem Platze im Dunkel verlor. Fortunat lachte, denn ein leiser Zornesblitz zuckte plötzlich über das Gesicht der Dame und brachte die ganze Muskeldekoration in eine augenblickliche, widerliche Unordnung, zumal da gleich darauf auch die andere hübsche Reiterin aus der Tür guckte, ihr Näschen rümpfte, da sie die beiden beisammen erblickte, und dann gleichfalls in den Garten an ihnen vorüberschlenderte. – »Die arme Kleine! Sie hat keinen ganzen Strumpf«, bemerkte die Dame hämisch. Und in der Tat, auch der Mond hatte das schon bemerkt, und beleuchtete wohlgefällig ein Streifchen des zierlichsten Beinchens, das blendend über dem Schuhe hervorblickte, während die hochgeschürzte Kleine unbefangen unter den Linden bemüht schien, Blüten von den herabhängenden Zweigen zu streifen.

Unterdes ging ein frisches Wehen durch die Wipfel, die letzte Wolkendecke zerriß und die alte Stadtmauer und die Waldberge darüber standen plötzlich wunderbar beglänzt. Die Dame hatte sich erhoben und unter der Linde vor der Bank eine malerische, melancholisch-heroische Stellung genommen. Das Haupt in die rechte Hand an den Baum gestützt, sah sie eine Zeitlang, wie in Gedanken verloren, nach den Höhen – »Tiedge!« – sagte sie endlich bedeutungsvoll, und drückte Fortunaten leise die Hand. – Fortunat, den die ganze wunderliche Wirtschaft dieses Polterabends schon lange innerlichst aufgeregt hatte, sprang rasch auf. »O Gott, wahrhaftig!« rief er, ihre Hand festhaltend, aus, »da schwebt er dahin als ein Veilchenduft, die Sterne scheinen ihm durch den Leib – o hören Sie nichts? – nun lispelt er mit jemand, wie gedämpfte Musik der Sphären, es ist Lafontaine, mit dem er kost, er hat einen perlendurchwirkten Schlafrock an, aber die Perlen alle sind Tränen – sie wandeln miteinander auf der Milchstraße – aber was ist das!« – »Wo!« sagte die Dame erschrocken und versuchte verbeglich, ihm ihre Hand zu entwinden. – »Sehen Sie die bärtige Wolke dort«, fuhr er fort, »da kommt ihnen Kotzebue auf einem Ziegenbock entgegen, ach, Lafontaine weint, daß ihn der Bock stößt – oh, es ist keine Tugend mehr auf der Welt!« – Hier hatte die Dame sich endlich losgemacht, sie hielt ihn längst für betrunken oder wahnsinnig, stammelte verlegen eine kurze Entschuldigung und stürzte in das Haus zurück. Er aber sprach noch immer fort, bis sie ihr Zimmer erreicht und die Tür eilfertig hinter sich abgeschlossen hatte.

Lachend warf er sich nun wieder auf die Bank hin, die Wälder rauschten in der plötzlichen Stille von den Bergen herüber, hin und her erwachten einzelne Nachtigallen, in einiger Entfernung hörte man den Literatus singen:

Die fernen Heimatshöhen,
Das stille, hohe Haus,
Der Berg, von dem ich gesehen
Jeden Frühling ins Land hinaus,
Mutter, Freunde und Brüder,
An die ich so oft gedacht,
Es grüßt mich alles wieder
In stiller Mondesnacht.

Die zierliche Reiterin hatte sich bald nach den ersten Klängen dem Sänger genähert. »Du, du« – sagte sie mit dem Finger drohend, »du hast heute wieder deine melancholische Stunde!« – »Ach«, erwiderte der Literatus, halb unwillig abbrechend, »was weißt du davon, wie einem Gelehrten manchmal zumute ist!«

Ein plötzliches Getümmel an der Haustür verhinderte hier Fortunaten, mehr von dieser Unterredung zu vernehmen. Ein ganzer heller Haufe von Schauspielern kam nämlich samt einem langen, mit Weinflaschen und Gläsern besetzten Tische, den sie alle mühsam trugen, zum Hause heraus, der Gastwirt, voll Besorgnis um seine Gläser, ihnen auf dem Fuße nach. »Der liebe Gott hat hier draußen den Vorhang wieder aufgezogen«, sagte der eine zum Wirt, »seht da, Menschenkind, den prächtigen Saal! Ein Reverbère, der bis auf einige verjährte Rostflecke ziemlich blank ist, eine Unzahl von Lichtern, die sich selber putzen, an allen Wänden ganze Mondlandschaften al fresco.« – Die Gesellschaft hatte sich unterdes nicht ohne bedeutenden Tumult um den Tisch gelagert. Ein starker, wohlleibiger Mann von gesetzten Jahren zündete qualmend seine lange Pfeife an dem flackernden Lichte an, das in einer Glaskugel auf dem Tische stand und in dessen Widerschein sein vom Wein und Wetter verbranntes Gesicht sich noch dunkelroter ausnahm, es schien derselbe, der vorhin im Regen der Gesellschaft voranschreitend, verschiedentlich gestolpert und geflucht hatte. – »Sie sollten auch Komödie spielen, mein Herr Wirt«, sagte er, mit der Pfeife in breiter Behaglichkeit auf dem Stuhle zurückgelehnt. – Der Wirt äußerte Bedenklichkeiten gegen seine Geschicklichkeit. – »Ach, Flausen!« fiel ihm der Schmauchende in die Rede, »sehen Sie, so wie ich hier vor Ihnen sitze, so sitz' ich auch auf dem Theater als Oberförster, als gutmütig polternder Alter usw., ich rauche, ich plaudere und trinke mein Gläschen Wein so gut wie hier.« – »Das würd' ich allenfalls wohl auch treffen«, meinte der Wirt. – »Nun, so seid kein Tor!« fuhr jetzt jener fort, »wollt Ihr gratis Eure Schlafmütze aufsetzen, Euer Abendpfeifchen schmauchen, Euren Kindern rührende Ermahnungen geben? Laßt's Euch bezahlen, Mensch!«

Fortunat, dem der Mann gar nicht übel dünkte, verließ hier seine Bank. »Aber mein Bester« – sagte er, sich mit an den Tisch setzend – »wird Euch denn nicht manchmal angst, daß die neuere Poesie Eure Oberförstereien aufhebt und Euch Eure häuslichen Vergnügungen legt?« – »Keineswegs«, entgegnete der Oberförster sehr ruhig, »im Gegenteil, die neuesten kurzen Dramen machen sich wieder ganz vernünftig und familiär. Und wenn ich auch in Versen spreche oder vielleicht gar ein Ritterwams anlege, ich bleibe doch der alte. Oh, mein Herr, solange noch deutsche Biederkeit waltet, und Bier getrunken und Tabak geraucht wird, steht mein Charakter unerschütterlich, wie auf Elefantenfüßen.« – Hier mischte sich ein junger, blasser Schauspieler mit in das Gespräch, der bisher für sich allein an dem Stümpfchen Licht in einem Buche gelesen hatte, ohne an dem Lärm der andern teilzunehmen. »Bester Herr Ruprecht«, redete der den Oberförster an, »wer Sie so zum erstenmal schwatzen hört, könnte leicht an Ihnen irrewerden. Ich aber weiß es wohl, wie Sie, gleich jenem Herrn, in der Kunst nur das Edlere, das Ideale schätzen.« – Ruprecht, der sich nicht wenig damit wußte, daß er in seiner Jugend die Kantische Philosophie gehört hatte, räusperte sich und rückte sich soeben wohlgefällig in seinem Stuhle zurecht, als plötzlich die kleine Reiterin herbeisprang und ihm von hinten den Mund zuhielt. »Um Gottes willen«, rief sie, »fangt nicht wieder von dem langweiligen Zeuge an, ihr guten Leute und schlechten Philosophen!« – »Armer Shakespeare!« entgegnete der Blasse, mit einem unsäglich verachtenden Blicke. – »Oh«, fiel ihm Kordelchen – so hieß die Reiterin – in die Rede, »der Ruprecht ist ein eingefleischter Shakespeare, hat er sich nicht schon allmählich Bardulphs feurige Nase anstudiert?« – Und in der Tat, seine Stolze Nase leuchtete immer schöner, je trüber das Licht in der Glaskugel zu verlöschen begann. Er begab sich für einen Augenblick der feierlichen Gravität, in die ihn die Erinnerung an seine akademischen Studien versetzt hatte, und, täppisch Kordelchen zu sich zerrend, rief er: »So komm und gib deinem Bardulph einen Kuß, du süße Dortchen Lakenreißer!« – Da gab ihm Kordelchen, durch diese unzeitige Vergleichung beleidigt, geschwind eine derbe Ohrfeige, Ruprecht aber sprang zornig ihn festzuhalten. Bei der allgemeinen Bewegung warfen sie mit ihren Ellbogen einige Stühle und mehrere volle Gläser um, der Blasse, der ganz entrüstet sein Buch retten wollte, fiel über ein Stuhlbein, der hinzugesprungene Wirt über den Blassen, Ruprecht mit seinen Verfolgern über den Wirt, und so war auf einmal alles wie ein Rattenkönig von wundersam durcheinanderarbeitenden Armen und Beinen. In diesem Augenblick hörte man Säbelscheiden über die Hausschwelle klirren, und zwei bärtige Polizeidiener traten in den Garten. »Was für eine skandalöse Aufführung!« rief der eine die Erschrockenen an, »ist das jetzt die Zeit, durch schnöden Lärm eine gesittete Bürgerschaft zu turbieren, die, nach sauer erfüllter Berufspflicht, soeben schon den einen Fuß in das Bett gesetzt hat -« »Und die durchreisenden Herrschaften! Da fährt eben eine ehrwürdige Matrone erschrocken empor«, fiel sein Gefährte ein, indem er auf ein Fenster wies, wo die Dame mit dem Schirm neugierig hervorguckte, bei dieser Apostrophe aber schnell wieder verschwand. – »Nur nicht noch gar räsoniert!« – fuhr der andere zornig fort, da die Schauspieler reden wollten – »wir kennen uns, wir sind verwegene Schuldenmacher, denen kein Gläubiger mehr glauben will.« – Rasch an das Licht tretend und ein Papier entfaltend, las er: »Da ist Herr Ruprecht – feurig von Nase, erhaben von Nase, blühend von Nase – was? Nichts als lauter Nase! – Herr Lothario dann, auch Literatus genannt. – Charakter: erster Tenor; besondere Kennzeichen: verdrehte Schleife am Halstuch, ungekämmtes Haar, spricht am vernünftigsten, wenn er betrunken ist, in summa: großes Genie. – Aber der Teufel mag aus der Beschreibung klug werden, ich verhafte in dem Klumpen da die ersten besten Beine. – Greif zu!« – Sein Gefährte packte nun ohne weiteres den Ruprecht an den Füßen, der in dem Gedränge vergeblich bemüht war, seine Stiefeln in den Händen des Häschers zu lassen und sich auf die Strümpfe zu machen. Unterdes hatten sich endlich auch die anderen eiligst vom Boden aufgerafft, der Direktor Sorti, schon halb entkleidet, flog in größter Bestürzung herzu, der Hofhund dicht an seinen Waden hinter ihm drein, Kordelchen lachte, der Wirt schimpfte, der Blasse deklamierte fortwährend von persönlicher Freiheit und unverletzlichen Menschenrechten.

»Seid ihr nicht rechte Narren!« rief da auf einmal der Polizeidiener dazwischen und warf Bart, Hut und Rock von sich – es war der Literatus Lothario. Sein Gefährte aber verwandelte sich ebenso rasch in Herrn Fabitz, den Komikus der Bande.

»Ich wußt' es lange« – sagte Ruprecht, der sich zuerst von dem Schreck erholt hatte – indem er ruhig seine Pfeife ausklopfte. Die übrigen konnten den Scherz nicht so schnell verwinden, dem einen hatten sie auf das Hühnerauge getreten, ein anderer fuhr wütend mit dem Ellbogen aus dem Ärmel und behauptete, das Loch sei erst von jetzt, alle keiften auf Lothario los, während ihene Fabitz unvermerkt ihr Bier austrank. Lothario aber hatte unterdes vom Reisewagen schnell eine Trommel geholt, setzte sich damit auf den Tisch und begann lustig zu wirbeln, bald piano, bald crescendo, nach der jedesmaligen Stimmung des Redenden. Kein Mensch konnte sein eigenes Wort verstehen, die Zänker schrien sich ganz heiser und verloren die Geduld, einige lachten, Lothario trommelte immerfort, bis alle nach und nach den Platz geräumt und der letzte zornig die Haustür hinter sich zugeschmissen hatte. Nur Kordelchen war zurückgeblieben. Sie setzte sich trotzig neben Lothario auf den Tisch. »Und ich bleibe grade noch draußen«, sagte sie, »mir gefällt die Nacht. Überhaupt«, fuhr sie fort, »ich habe dir's schon oft gesagt, dieses stolze, herrische, hochfahrende Wesen sollst du mir endlich ganz lassen!« – »Ich bitte dich«, erwiderte Lothario die Trommel weglegend, »du bist sonst gescheut, und ich kann dich wohl leiden, aber mit dem Lassen und Anderswerden, Kind, da ist gar nicht die Rede davon bei mir!« – Kordelchen sah ihn eine Weile an, dann brach sie plötzlich in lautes Lachen aus. »Das wollt ich nur«, sagte sie, »es steht dir gar zu schön, wenn du zornig bist. Gute Nacht!« hiermit gab sie ihm einen Kuß und war schnell im Hause verschwunden.

Fortunat aber, der untedes an einem entfernteren Tische sein Abendessen verzehrte, war nicht wenig erstaunt, als er in Lothario, da er vorhin seine Polizeimaske abwarf und ins volle Licht getreten war, auf einmal den wunderlichen Cicerone wiedererkannt hatte, der ihn am ersten Morgen in Hohenstein durch den Garten begleitet. Er benutzte die plötzliche Stille, um den alten Bekannten zu begrüßen. Lothario schien überrascht und sah Fortunaten einen Augenblick durchdringend an. – »Hat mich sonst noch jemand dort gesehen?« fragte er endlich, und als Fortunat es verneinte, schien er noch viele Fragen auf dem Herzen zu haben, besann sich aber schnell wieder. »Ich liebe Hohenstein«, sagte er nach einer kurzen Pause, »vor allen andern Orten und mache, sooft wir in der Nähe vorüberziehen, einen Abstecher nach dem Garten. – Doch heut ist's schon zu spät, wir sprechen wohl noch morgen mehr davon.« – Hiermit schüttelte er Fortunaten die Hand und ging nach dem andern Flügel des Hauses hin.

Fortunat konnte in seiner Kammer lange nicht einschlafen. Im Hause und unter den Fenstern war alles still geworden, nur die Bäume neigten sich rauschend im Winde, während ferne Blitze zuweilen noch eine plötzliche, gespenstische Helle über den Garten warfen. Da war es ihm, als nahten sich zwei Gestalten von fern dem Hause. Er erkannte Lotharion, der mit einem fremden Manne, den er bisher in der Gesellschaft nicht bemerkt hatte, in lebhaftem Gespräch begriffen schien. Sie verloren sich bald wieder zwischen den Bäumen, nach einem Weilchen kam Lothario allein zurück, dann wurde alles wieder still.


 << zurück weiter >>