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Siebenzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 17:

The clerkly person smiled and said,
Promise was a pretty maid,
But being poor she died unwed.


Farebrother, welchen Lydgate am nächsten Abend besuchte, wohnte in einem alten steinernen Pfarrhause, dessen ehrwürdiges Aussehen ganz zu der Kirche paßte, auf welche es blickte. Auch die ganze Einrichtung des Hauses war alt, wenngleich aus einer jüngern Zeit als dieses selbst, aus der Zeit des Vaters und des Großvaters Farebrother's. Da standen lackirte Stühle mit vergoldeten Blumen und Polstern von verblichenem rothen Seidendamast, in denen es nicht an Rissen fehlte; an den Wänden hingen Kupferstiche, Portraits von Lordkanzlern und andern berühmten Juristen des vorigen Jahrhunderts und altmodische Wandspiegel reflectirten diese Kupferstiche, nebst Sofas (die nur langgestreckte unbequeme Stühle zu sein schienen), und kleinen Tischen von Atlasholz, – welches Alles sich wie Reliefs von dem Tafelwerk der Wand abhob. Das war die Physiognomie des Wohnzimmers, in welches Lydgate geführt wurde.

In demselben empfingen ihn drei Damen, welche gleichfalls altmodisch aussahen und den Eindruck einer etwas verschossenen aber ächten Respectabilität machten: Frau Farebrother, die Mutter des Pfarrers, eine silberhaarige noch nicht siebenzigjährige rüstige, munter in die Welt blickende Matrone, deren Kopftuch und Halskrause von der ausgesuchtesten Sauberkeit waren, Fräulein Noble, ihre Schwester, eine kleine alte Dame von bescheidnerem Aeußern, mit Halskrause und Kopftuch, welche ersichtlich mehr getragen und gestopft waren, und Fräulein Winifred Farebrother, die ältere Schwester des Pfarrers, gleich ihm von stattlichem Aeußern, aber etwas geducktem und demüthigem Wesen, wie es alte Mädchen, welche ihr Leben in ununterbrochener Abhängigkeit von älteren Mitgliedern ihrer Familie verbringen, leicht anzunehmen pflegen.

Lydgate war auf eine so sonderbare Gruppe nicht gefaßt gewesen; da er nur wußte, daß Farebrother Junggeselle sei, hatte er erwartet, in eine behagliche Studirstube geführt zu werden, in welcher Bücher und die Gegenstände einer Naturaliensammlung die Hauptbestandtheile des Mobiliars bilden würden. Der Pfarrer selbst schien ihm heute anders auszusehen, wie es die meisten Menschen für neue Bekannte thun, wenn diese sie zum ersten Male in ihrem eignen Hause sehen; Einige nehmen sich dabei, wie ein Schauspieler, den man in muntern Rollen zu sehen gewohnt ist und den man nun in einem neuen Stück zum ersten Mal den Geizhals spielen sieht, unvortheilhaft aus. Das war aber bei Farebrother nicht der Fall: er erschien eine Nüance milder und schweigsamer; seine Mutter führte das Wort und er beschränkte sich darauf, dann und wann eine gutmüthig mäßigende Bemerkung einzuschalten.

Die alte Dame war ersichtlich gewöhnt, ihren Hausgenossen ihre Ansichten zu dictiren, und es für nothwendig zu halten, jede in ihrer Gegenwart geführte Unterhaltung, es sei über welchen Gegenstand es wolle, zu leiten. Sie hatte volle Muße für diese dirigirende Thätigkeit, da Fräulein Winifred für alle kleinen Bedürfnisse ihrer Mutter sorgte. Das schmächtige Fräulein Noble trug über dem Arme einen kleinen Korb, in welchen sie, mit scheuen Blicken umhersehend, ein Stückchen Zucker legte, nachdem sie dasselbe zuvor wie unversehens in ihre Untertasse hatte gleiten lassen, um sich dann mit einem leisen bescheidenen Geräusch, wie ein furchtsames Thierchen wieder ganz ihrer Theetasse zuzuwenden.

Denke aber deshalb Niemand übel von Fräulein Noble! Der Korb enthielt, was sie sich an leicht transportabeln Bissen bei ihren Mahlzeiten am Munde absparte, um es den Kindern ihrer armen Freunde zu geben, welche sie an schönen Vormittagen trippelnd aufzusuchen pflegte; die zärtlich besorgte Pflege aller bedürftigen Geschöpfe gewährte ihr ein so echtes Vergnügen, daß ihr dabei fast zu Muthe war, als fröhne sie einem angenehmen Laster. Vielleicht überkam sie bisweilen die geheime Lust, die, welche viel hatten, zu bestehlen, um es denen zu geben, welche nichts hatten, und sie empfand diesen unterdrückten Wunsch wie eine auf ihrem Gewissen lastende Schuld. Man muß arm sein, um die Seligkeit des Gebens zu kennen!

Frau Farebrother begrüßte den Gast mit beflissener Förmlichkeit und Gemessenheit. Sie theilte ihm alsbald mit, daß man in ihrem Hause nicht oft ärztlichen Beistandes bedürfe. Sie habe ihre Kinder von Jugend auf daran gewöhnt, Flanell zu tragen und sich nicht zu überessen, welche letztere Gewohnheit nach ihrer Ansicht hauptsächlich daran Schuld sei, daß die Leute den Doctor brauchten. Lydgate suchte ein gutes Wort für diejenigen einzulegen, deren Väter und Mütter zuviel gegessen hätten, aber Frau Farebrother hielt diese Anschauungsweise für gefährlich: Die Natur sei gerechter. Wenn man diese Auffassung gelten lassen wolle, würde ja jeder Verbrecher sich darauf berufen können, daß seine Vorfahren statt seiner hätten gehängt werden müssen. Wer schlechte Eltern gehabt habe und selbst schlecht sei, werde doch für seine eigne Schlechtigkeit gehängt. Man brauche sich nur an das zu halten, was man vor Augen habe.

»Meine Mutter ist wie der alte Georg III.,« bemerkte der Pfarrer, »sie ist keine Freundin von metaphysischen Betrachtungen.«

»Ich bin keine Freundin von dem, was unrecht ist, Camden. Ich sage: haltet Euch an ein paar einfache Wahrheiten, und beurtheilt Alles nach diesen. In meiner Jugend, Herr Lydgate, gab es nie einen Zweifel über Recht und Unrecht. Wir wußten unsern Katechismus auswendig und das war genug; wir lernten unser Glaubensbekenntniß und unsere christlichen Pflichten. Alle zur Kirche gehörenden respectabeln Leute hatten dieselben Ansichten. Aber wenn Sie heutzutage auch mit den Worten des Gebetbuchs reden, müssen Sie doch darauf gefaßt sein, daß man Ihnen widerspricht.«

»Das macht unsere Zeit recht angenehm für die, welche gern auf ihren eigenen Ansichten bestehen,« sagte Lydgate.

»Aber meine Mutter giebt immer nach,« bemerkte der Pfarrer mit einem schlauen Lächeln.

»Nein, nein, Camden, Du mußt Herrn Lydgate in Betreff meiner nicht irre leiten. Ich werde den Respect vor meinen Eltern nie so weit aus den Augen setzen, daß ich das, was sie mich gelehrt haben, verläugne. Wozu der Meinungswechsel führt, kann man ja alle Tage beobachten. Wer einmal von seiner Ueberzeugung abfällt, der kann es auch noch zwanzigmal thun.«

»Es wäre doch denkbar, daß Jemand gute Gründe hätte, seine Meinung einmal zu ändern, ohne daß er ebenso gute Gründe fände, diesen Wechsel zu wiederholen,« bemerkte Lydgate, welchen die Entschiedenheit der alten Dame ergötzte.

»Bitte um Vergebung. Wenn Sie von Gründen reden, an denen fehlt es nie, wenn Einer seine Unbeständigkeit beschönigen will. Mein Vater hat seine Ansichten nie geändert; er hielt einfach moralische Predigten ohne Gründe und war ein braver Mann, wie es wenig bessere giebt. Zeigen Sie mir, wie man mit Gründen einen braven Mann zu Stande bringt, und ich will Ihnen ein gutes Mittagessen schaffen, indem ich Ihnen etwas aus dem Kochbuche vorlese. Das ist meine Ansicht von der Sache, und ich denke, alle Mägen werden dabei auf meiner Seite stehen.«

»In Betreff des Mittagessens sicherlich, Mutter,« bemerkte Farebrother.

»Was vom Mittagessen gilt, gilt auch von Männern. Ich bin beinahe siebenzig Jahre alt, Herr Lydgate, und ich rede aus Erfahrung. Ich werde schwerlich der Gefahr unterliegen, neuen Lehren zu folgen, obgleich hier daran so wenig Mangel ist wie anderswo. Ich sage Ihnen, diese neuen Lehren sind mit den gemischten Stoffen aufgekommen, die sich weder gut waschen noch gut tragen. In meiner Jugend war das anders: wer zur Kirche gehörte, gehörte zur Kirche, und ein Geistlicher war, wenn nichts Anderes, gewiß ein Gentleman. Aber jetzt ist er vielleicht nichts Besseres als ein Dissenter und will meinen Sohn unter kirchlichen Vorwänden bei Seite schieben. Aber wer ihn auch immer bei Seite schieben möchte, ich sage es mit Stolz, Herr Lydgate, mein Sohn kann sich mit jedem Prediger im ganzen Königreiche messen, gar nicht zu reden von dieser Stadt, die in dieser Beziehung nur wenig zu bedeuten hat – wenigstens nach meiner Meinung; denn ich bin in Exeter geboren und erzogen.«

»Mütter sind nie parteiisch,« sagte Farebrother lächelnd. »Was denkst Du wohl, was Tyke's Mutter von ihm sagt?«

»Ach die arme Frau! nun wahrhaftig!« sagte Frau Farebrother, deren Schärfe für den Augenblick durch ihr zuversichtliches Vertrauen auf die Unfehlbarkeit des mütterlichen Urtheils gemildert wurde. »Sie sagt sich selbst die Wahrheit über ihn, darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Und was ist die Wahrheit?« fragte Lydgate. »Das möchte, ich gern wissen.«

»O durchaus nichts Schlimmes,« erwiderte Farebrother. »Er ist ein eifriger, aber nicht sehr gelehrter und nicht sehr kluger Mensch, – wie mir scheint, weil ich nicht seiner Meinung bin.«

»Weißt Du, Camden,« sagte Fräulein Winifred, »daß mir Griffin und seine Frau erst diesen Morgen erzählt haben, Tyke habe ihnen erklärt, sie würden keine Kohlen mehr bekommen, wenn sie dich noch ferner predigen hörten.«

Frau Farebrother legte ihren Strickstrumpf, den sie nach einer kurzen Pause des Theetrinkens wieder zur Hand genommen hatte, bei Seite und sah ihren Sohn an, als wolle sie sagen: »da hörst Du es!«

Fräulein Noble sagte: »O die armen Leute« – vermuthlich im Hinblick auf den zwiefachen Verlust der Predigt und der Kohlen.

Aber der Pfarrer antwortete rasch: »Das hat er gesagt, weil sie nicht zu meinem Kirchspiele gehören, und ich glaube nicht, daß meine Predigten so viel für sie werth sind wie eine Last Kohlen.«

»Herr Lydgate,« sagte Frau Farebrother, welche diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen konnte, »Sie kennen meinen Sohn nicht, er unterschätzt sich immer selbst; ich sage ihm immer, er unterschätzt damit den lieben Gott, der ihn geschaffen, und zwar zu einem ganz vortrefflichen Prediger geschaffen hat.«

»Es wird wohl Zeit, Mutter, daß ich Herrn Lydgate in mein Studirzimmer führe,« sagte der Pfarrer lachend. »Ich habe versprochen, Ihnen meine Sammlung zu zeigen,« fügte er gegen Lydgate gewandt hinzu, »wollen Sie sie sich ansehen?«

Alle drei Damen protestirten, Herr Lydgate dürfe nicht zum Fortgehen gedrängt werden, bevor er noch eine zweite Tasse Thee habe trinken können. Fräulein Winifred habe noch reichlich guten Thee in ihrem Theetopfe. Warum denn Camden solche Eile habe, einen Besucher in seine Höhle zu führen? Da gebe es ja nichts als eingemachtes Gewürm und Schubfächer voll Fliegen und Motten und nicht einmal ein Bischen Teppich auf dem Fußboden, Herr Lydgate müsse das entschuldigen. Eine Partie Grabuge würde viel besser sein.

Kurz; es war klar, daß der Pfarrer von seiner weiblichen Umgebung als die Blüthe der Menschheit und Priesterschaft verehrt und doch ihrer Leitung für sehr bedürftig gehalten wurde. Lydgate wunderte sich mit der gewöhnlichen Oberflächlichkeit eines unverheiratheten jungen Mannes, daß Farebrother die Frauen nicht besser erzogen habe.

»Meine Mutter ist nicht gewöhnt, Leute bei mir zu sehen, welche irgend ein Interesse an meinen Liebhabereien nehmen können,« sagte der Pfarrer, »als er die Thür seines Studirzimmers öffnete, welches in der That aller Behaglichkeit so baar war, wie es die Damen angedeutet hatten, es wäre denn, daß man eine kurze Porzellanpfeife und einen Tabakskasten, als wohnlichen Zimmerschmuck betrachten wollte.

»Männer Ihres Berufs pflegen nicht zu rauchen,« bemerkte er beim Eintreten.

Lydgate lächelte und schüttelte den Kopf.

»So wenig wie die Männer meines Berufs schicklicherweise rauchen sollten. Sie werden von Leuten wie Bulstrode und Genossen diese Pfeife gegen mich geltend machen hören; sie wissen nicht, wie sehr sich der Teufel darüber freuen würde, wenn ich das Rauchen aufgäbe.«

»Ich verstehe Sie, Sie haben ein reizbares Temperament und bedürfen eines Beruhigungsmittels. Ich bin schwerfälliger organisirt und würde träge davon werden. Ich würde dem Müßiggange verfallen und darin geistig stagniren.«

»Und Sie wollen Ihren Geist ganz auf Ihre Arbeit concentriren. Ich bin zehn oder zwölf Jahre älter als Sie und bin dahin gelangt, ein Compromiß mit meinem Geiste zu schließen. Ich nähre ein paar Schwächen, damit sie sich nicht zu mausig machen. Sehen Sie einmal,« fuhr der Pfarrer fort, indem er mehrere kleine Schubfächer öffnete, »ich bilde mir ein, erschöpfende Studien über die Insekten dieser Gegend gemacht zu haben; ich beschäftige mich gleichmäßig mit der Fauna und mit der Flora; meine Insektensammlung ist aber jedenfalls gut. Wir sind besonders reich an Gradflüglern. Ich weiß nicht, wie es kommt ... ach, Sie besehen sich diese gläserne Kruke und haben kein Auge für meine Schubfächer. Haben Sie wirklich kein Interesse für diese Dinge?«

»Nicht, so lange ich dieses reizende gehirnlose Monstrum vor Augen habe. Ich habe nie Zeit gehabt, mich viel mit Naturgeschichte zu beschäftigen. Schon in frühen Jahren erweckte die Anatomie mein Interesse und das Studium derselben steht ja im genauesten Zusammenhang mit meinem Berufe. Ich habe außerdem kein Steckenpferd; das ist aber auch ein unbegrenztes Feld.«

»Ach, Sie sind ein glücklicher Mensch,« erwiderte Farebrother, indem er sich auf den Fersen herumdrehte und anfing, seine Pfeife zu stopfen. »Sie wissen nicht, was es heißt, geistlichen Tabak consumiren müssen: – schlechte Emendationen alter Texte, kleine Bemerkungen über eine Varietät der Blattlaus mit der wohlbekannten Unterschrift Philomicron – in › Twaddlers Magazine‹, oder eine gelehrte Abhandlung über die Insekten der fünf Bücher Mosis, mit Inbegriff aller darin nicht erwähnten, aber von den Juden bei ihrem Zuge durch die Wüste wahrscheinlich angetroffenen Insekten; eine Monographie über die Ameise, zum Beweise der Uebereinstimmung der Sprüche Salomonis in ihren von der Ameise handelnden Stellen mit den Resultaten der modernen Wissenschaft. Es ist Ihnen doch nicht unangenehm, daß ich Sie einräuchere?«

Lydgate war noch mehr überrascht durch den Freimuth dieser Aeußerungen als durch ihren unzweifelhaften Sinn, daß der Pfarrer den ihm zusagenden Beruf nicht gefunden zu haben glaubte. Die sorgfältige Herstellung von Schubfächern und Börtern und der mit kostbaren Illustrationen von Gegenständen der Naturgeschichte angefüllte Bücherschrank ließen ihn wieder an die Gewinne des Pfarrers im Kartenspiel und deren Bestimmung denken. Aber er fing an zu wünschen, daß die günstigste Auslegung alles dessen, was Farebrother that, der Wahrheit entsprechen möchte. Die Offenheit des Pfarrers machte nicht den Eindruck jener widerwärtigen Art, welche aus einem unbehaglichen Bewußtsein hervorgeht und dem Urtheil Anderer zuvorzukommen sucht, sondern schien einfach der Ausdruck des Wunsches zu sein, so anspruchslos wie möglich aufzutreten. Offenbar fühlte er recht gut, daß seine freimüthige Art zu reden als unzeitig erscheinen könnte, denn er sagte gleich darauf:

»Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, daß ich im Vortheil gegen Sie bin, Herr Lydgate, und daß ich Sie besser kenne, als Sie mich. Erinnern Sie sich wohl Trawley's, der eine Zeit lang Ihr Stubenkamerad in Paris war. Ich correspondirte jener Zeit mit ihm und er erzählte mir viel von Ihnen. Ich war, als ich Sie zuerst sah, nicht ganz sicher, ob Sie derselbe seien, und war sehr froh zu finden, daß Sie es seien. Aber ich vergesse nicht, daß Sie nicht in gleicher Weise zum Voraus über mich unterrichtet sind.«

Lydgate errieth, daß diesen Aeußerungen eine gewisses Zartgefühl zu Grunde liege, aber er verstand nicht recht, um was es sich handle. »Beiläufig,« sagte er, »was ist aus Trawley geworden? Ich habe ihn ganz aus dem Gesichte verloren. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger der französischen socialen Systeme und dachte daran, in den Urwald zu gehen, um eine Art von pythagoräischer Gemeinde zu gründen. Hat er seinen Plan ausgeführt?«

»Keineswegs. Er ist Badearzt in einem deutschen Badeorte und hat eine reiche Patientin geheirathet.«

»Dann habe ich ihn also so weit ganz richtig beurtheilt,« sagte Lydgate mit einem kurzen geringschätzigen Lachen. »Er behauptete immer, die ärztliche Kunst müsse in der Praxis unvermeidlich zum Humbug werden. Ich erwiderte ihm; die Schuld liege an den Menschen, welche sich den Lügen und der Thorheit willig fügen. Anstatt extra muros gegen den Humbug zu Felde zu ziehen, wäre es richtiger, intra muros etwas für den Gesundheitszustand wahrhaft Nützliches zu leisten. Kurz – ich berichte treu, was wir mit einander sprachen –, Sie können sich darauf verlassen, daß aller gesunde Menschenverstand dabei auf meiner Seite war.«

»Und doch ist Ihr Plan sehr viel schwieriger auszuführen, als die Gründung der pythagoräischen Gemeinde. Sie haben nicht nur den alten Adam, der in Ihnen wie in jedem Menschen steckt, sondern die Abkömmlinge des wirklichen Adam gegen sich, welche die Gesellschaft um Sie her bilden. Sie sehen, ich habe zwölf oder vierzehn Jahre in der Kenntniß des praktischen Lebens mit seinen Schwierigkeiten vor Ihnen voraus. Aber« – Farebrother hielt einen Augenblick inne, und fügte dann hinzu: »Sie liebäugeln wieder mit der gläsernen Kruke. Wollen Sie einen Tausch machen? Sie sollen sie nicht umsonst haben.«

»Ich habe einige schöne Exemplare von Seemäusen Meerwürmer. – Anm.d.Hrsg. in Spiritus. Und ich will die neueste Schrift von Robert Brown – Mikroskopische Beobachtungen über den Blüthenstaub » A brief account of microscopical observations made on the particles contained in the pollen of plants« (1828) des schottischen Botanikers Robert Brown (1773-1858). – Anm.d.Hrsg. – noch in den Kauf geben, wenn Sie sie nicht vielleicht schon haben.«

»Nun, da ich sehe, wie sehnlich Sie den Besitz des Monstrums wünschen, könnte ich wohl einen noch höhern Preis fordern. Wie wäre es, wenn ich verlangte, daß Sie meine Schubfächer durchsähen und sich über alle meine neuen Species mit mir einigten?« Während er so sprach, ging der Pfarrer bald rauchend auf und ab, bald stand er mit seinen Insekten liebäugelnd vor seinen Schubfächern still. »Das wäre eine gute Schule, wissen Sie, für einen jungen Doctor, der seinen Patienten in Middlemarch gefallen will. Sie müssen lernen, sich mit Grazie ennuyiren zu lassen. Bedenken Sie das wohl. Indessen Sie sollen das Monstrum für Ihr Gebot haben.«

»Finden Sie nicht, daß die Menschen die Nothwendigkeit, sich Jedermanns unverständigen Grillen zu fügen, übertreiben, bis sie selbst von den Narren, denen sie sich gefügt haben, verachtet werden?« fragte Lydgate, indem er sich neben Farebrother stellte und seine etwas abwesenden Blicke über die Insekten schweifen ließ, welche in einer feinen Stufenfolge mit kalligraphisch schön geschriebenen Namensbezeichnungen aufgestellt waren. »Der kürzeste Weg zum Ziele ist immer der, seinen Werth so entschieden zur Geltung zu bringen, daß die Leute uns schon nehmen müssen, wie wir sind, gleichviel ob wir ihnen schmeicheln oder nicht.«

»Völlig einverstanden. Aber dann müssen Sie auch Ihres Werthes gewiß sein und müssen sich ihre Unabhängigkeit bewahren, und das können sehr wenige. Entweder Sie müssen sich jeder praktischen Thätigkeit enthalten und darauf verzichten, sich irgendwie nützlich zu machen, oder Sie müssen das gemeinschaftliche Joch tragen und zum guten Theil in der Richtung ziehen, in welche Ihre Fachgenossen Sie drängen. Aber sehen Sie sich doch diesen zierlichen Gradflügler an!«

Lydgate mußte sich, wohl oder übel, doch schließlich jedes Schubfach etwas genauer ansehen, da der Pfarrer, über sich selbst lachend, in der Präsentation seiner Schätze nicht nachließ.

»Apropos dessen, was Sie vorhin vom Jochtragen sagten,« fing Lydgate wieder an, als sie sich endlich gesetzt hatten. »Vor einiger Zeit habe ich mir fest vorgenommen, mich dieser angeblichen Nothwendigkeit so wenig wie irgend möglich zu fügen. Darum habe ich mich entschlossen, mich wenigstens für eine gute Reihe von Jahren von London fern zu halten. Was ich dort als Student gesehen habe, gefiel mir nicht – so viel hinderlicher Zopf und so viel leere Charlatanerie. In der Provinz haben die Leute weniger den Ehrgeiz, etwas zu wissen, und sind weniger gute Gesellschafter; aber dafür wird man auch von ihnen in seiner Eigenliebe weniger verletzt; man giebt weniger Anstoß und kann ruhiger seinen eigenen Weg gehen.«

»Ja – gut – Sie haben einen guten Anlauf genommen; Sie haben sich Ihren Beruf als den Ihnen zusagendsten frei gewählt. Nicht Allen ist es so gut geworden und die Reue kommt oft zu spät. Aber Sie müssen sich Ihrer Unabhängigkeit nicht zu sicher glauben!«

»Sie reden von Familienbanden?« sagte Lydgate, indem er wohl begriff, daß solche Bande auf Farebrother drückend lasten möchten.

»Nicht nur von diesen. Natürlich machen sie manches schwerer. Aber ein braves Weib, eine gute, nicht weltlich gesinnte Frau kann einem Manne bei der Behauptung seiner Unabhängigkeit eher förderlich sein. Da ist unter den Mitgliedern meiner Gemeinde Einer, ein vortrefflicher Mensch, der es aber schwerlich ohne seine Frau so weit gebracht haben würde; kennen Sie die Garths? Ich glaube nicht, daß sie zu Peacock's Patienten gehörten.«

»Nein; aber ein Fräulein Garth ist bei dem alten Featherstone in Lowick.«

»Das ist die Tochter, ein prächtiges Mädchen.«

»Sie ist sehr ruhig; ich habe kaum Notiz von ihr genommen.«

»Sie hat aber sicher Notiz von Ihnen genommen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Lydgate, der doch nicht füglich antworten konnte: »Natürlich.«

»O sie beobachtet alle Menschen sehr scharf. Ich habe sie auf ihre Confirmation vorbereitet; sie ist mein Liebling.«

Da Lydgate kein Verlangen äußerte, mehr über die Garths zu erfahren, rauchte Farebrother eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann legte er seine Pfeife bei Seite, streckte die Beine von sich und sagte, indem er Lydgate lächelnd mit seinen hellen Augen ansah:

»Aber wir Middlemarcher sind nicht so zahm, wie Sie von uns zu glauben scheinen. Wir haben unsere Intriguen und unsere Parteien. Ich gehöre zum Beispiel zu einer Partei und Bulstrode zu einer andern. Wenn Sie mir Ihre Stimme geben, so werden Sie es mit Bulstrode verderben.«

»Was ist denn gegen Bulstrode zu sagen?« fragte Lydgate sehr nachdrücklich.

»Ich habe nicht behauptet, daß irgend etwas gegen ihn zu sagen ist, – nur daß Sie, wenn Sie gegen ihn stimmen, sich ihn zum Feinde machen.«

»Ich wüßte nicht, daß ich mich darum zu bekümmern nöthig hätte,« erwiderte Lydgate in etwas selbstbewußtem Tone, »aber er scheint gute Ideen über Hospitäler zu haben und verwendet große Summen zu gemeinnützigen Zwecken. Er kann mir vielleicht bei der Ausführung meiner Ideen sehr nützlich sein. Was seine religiösen Anschauungen betrifft, – nun, so sage ich mit Voltaire: Zaubersprüche können eine Heerde Schafe umbringen, wenn man ihnen eine gewisse Quantität Arsenik eingiebt. Ich sehe mir den Mann an, der das Arsenik eingiebt, und kümmere mich nicht um seine Zaubersprüche.«

»Sehr gut. Aber Sie dürfen nur Ihren Arsenikmann nicht erzürnen. Mich würden Sie nicht erzürnen, wissen Sie,« sagte Farebrother ganz ohne Affectation. »Ich verlange nicht von Anderen, daß sie ihre Pflichten in einer, meinen Interessen zusagenden Weise auffassen. Ich habe viele Gründe, mich in Opposition gegen Bulstrode zu befinden. Ich liebe die Art von Leuten nicht, zu denen er gehört; es sind engherzige unwissende Menschen, deren Wirken mehr zur Unbehaglichkeit als zur Besserung ihrer Nebenmenschen beiträgt. Ihr ganzes System beruht auf einer Art von weltlich-geistlichem Cliquenwesen; sie betrachten die ganze übrige Menschheit nicht anders als wie einen Leichnam, der dazu verdammt wäre, sie für den Himmel zu mästen. Aber,« fügte er lächelnd hinzu, »ich behaupte nicht, daß Bulstrode's neues Hospital ein schlechtes Unternehmen sei; und was seinen Wunsch betrifft, mich aus dem alten Hospitale zu verdrängen, so kann ich nur sagen, wenn er mich für einen verderblichen Menschen hält, so erwidert er damit nur meine Gefühle gegen ihn. Und ich bin gewiß kein Muster eines Geistlichen, sondern nur eine anständige Mittelmäßigkeit.«

Lydgate war keineswegs gewiß, daß der Pfarrer sich mit seinem Urtheil über sich selbst zu nahe trete. Ein Mustergeistlicher mußte nach Lydgate's Ueberzeugung ebenso wie ein Musterarzt seinen Beruf für den schönsten in der Welt halten und alles Wissen lediglich als Mittel betrachten, seine moralische Pathologie und Therapeutik zu vervollkommnen. Er sagte aber nur: »Welchen Grund giebt Bulstrode dafür an, daß er Sie beseitigen will?«

»Daß ich nicht seine Ansichten lehre, welche er die ›Religion der Seele‹ nennt; und daß ich nicht Zeit genug habe. Beide Behauptungen sind wahr. Zeit aber würde ich mir schaffen können und die vierzig Pfund würden mir willkommen sein. Das ist einfach der Stand der Sache. Aber reden wir nicht weiter davon. Ich wollte Ihnen nur gesagt haben, daß, wenn Sie für Ihren Arsenikmann stimmen, Sie mich damit noch nicht abgeschüttelt haben. Ich kann Sie nicht entbehren. Sie sind eine Art von Weltumsegler, der gekommen ist, sich unter uns niederzulassen, und der meinen Glauben an die Antipoden aufrecht erhalten wird. Und nun, erzählen Sie mir von den Antipoden in Paris.«



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