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Achtzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 18:

Oh, sir, the loftiest hopes on earth
Draw lots with meaner hopes: heroic breasts,
Breathing bad air, ran risk of pestilence;
Or, lacking lime juice when they cross the Line,
May languish with the scurvy.


Nach dieser Unterhaltung vergingen einige Wochen, bevor die Frage der Besetzung der Kaplanstelle eine practische Bedeutung für Lydgate erlangte, und ohne sich selbst über die Gründe dieses Verhaltens Rechenschaft zu geben, verschob er die Entscheidung darüber, für welche Partei er stimmen werde. Die Sache würde ihm in der That völlig gleichgültig gewesen sein, das heißt, er würde sich unbedenklich für die bequemere Wahl entschieden und seine Stimme Tyke gegeben haben, wenn er nicht ein persönliches Interesse an Farebrother genommen hätte.

Aber seine Neigung zu dem Pfarrer von St. Botolph hatte bei näherer Bekanntschaft nur noch zugenommen. Daß Farebrother so ganz auf seine Stellung als die eines neuen Ankömmlings, der seine eigenen Berufszwecke zu verfolgen habe, eingegangen und mehr darauf bedacht gewesen war, ihn vor der Wahrnehmung seines, Farebrother's Interesse zu warnen als dafür zu gewinnen, zeugte von einer ungewöhnlich edlen Gesinnung und Delikatesse, für welche Lydgate's Natur sehr empfänglich war.

Diesen Eigenschaften gingen andere selten schöne Züge in Farebrother's Charakter zur Seite, welche sein ganzes Wesen jenen südlichen Landschaften ähnlich erscheinen ließen, die auf den Beschauer zugleich den Eindruck großer Naturschönheit und vernachlässigter socialer Zustände machen. Es giebt gewiß wenige Männer, welche sich so kindlich und so ritterlich wie er gegen eine Mutter, eine Tante und eine Schwester benommen haben würden, deren Abhängigkeit von ihm sein Leben in vielen Beziehungen für ihn selbst unbehaglich gestaltet hatte. Wenige Männer, welche unter dem Drucke kleiner Bedürfnisse seufzen, haben die edle Entschlossenheit Farebrother's, ihre unvermeidlich selbstsüchtigen Neigungen nicht durch angeblich bessere Motive herauszuputzen. Hinsichtlich dieser Seite seines Lebens war er sich bewußt, die strengste Prüfung aushalten zu können, und vielleicht gab ihm dieses Bewußtsein den Muth, der kritischen Strenge von Leuten gegenüber, deren intimes Verhältniß zum Himmel keinen günstigen Einfluß auf ihr Benehmen im Hause zu üben schien und deren hohe Ziele nicht immer mit ihrer Handlungsweise in Einklang standen, etwas herausfordernd aufzutreten.

Ferner waren seine Predigten geistreich und markig wie die Predigten in der englischen Kirche zur Zeit ihres kräftigen Mannesalters und er trug sie frei vor. Leute, die nicht zu seinem Kirchspiele gehörten, kamen, ihn predigen zu hören; und da es allgemein für die schwierigste Berufspflicht eines Geistlichen galt, seine Kirche zu füllen, so lag für Farebrother in dieser Beliebtheit nur eine weitere Veranlassung, sich sorglos dem Gefühl einer gewissen Ueberlegenheit hinzugeben.

Ueberdies war er ein liebenswürdiger Mensch von sanftem Temperament, von schlagfertigem Witz, von offenem Wesen, ohne die sauer-süßen Ausbrüche einer verhaltenen Bitterkeit oder andere angenehme Eigenheiten, welche die Unterhaltung mit so Vielen unter uns zu einem Kreuz für unsere Freunde machen.

Lydgate hatte ihn sehr gern, und wünschte ihn zum Freunde zu haben. Von diesem Gefühle beherrscht fuhr er fort, seine Entscheidung in Betreff der Kaplanschaft zu verschieben und sich zu überreden nicht nur, daß die Sache ihm eigentlich ganz fern liege, sondern auch, daß die leidige Nothwendigkeit seine Stimme abzugeben, wahrscheinlich gar nicht an ihn herantreten werde.

Auf Bulstrode's Verlangen entwarf er Pläne für die inneren Einrichtungen des neuen Hospitals und beide beriethen oft mit einander. Der Bankier glaubte noch immer im Allgemeinen auf Lydgate's Beistand rechnen zu können, kam aber nicht speziell auf die bevorstehende Entscheidung zwischen Tyke und Farebrother zurück.

Als Lydgate jedoch benachrichtigt wurde, daß der Gesammtvorstand des Hospitals beschlossen habe, die Frage der Kaplanschaft einer aus den Directoren und Aerzten bestehenden Commission zur Entscheidung zu überweisen und daß diese Commission am nächsten Freitage zusammentreten werde, empfand er es mit Verdruß, daß er nun doch in dieser kleinlichen Middlemarcher Angelegenheit zu einem Entschlusse kommen müsse. In seinem Innern vernahm er, ohne dieser Stimme sein Ohr verschließen zu können, die sehr bestimmte Erklärung, daß Bulstrode Premierminister, und daß die Tyke-Angelegenheit für seine Anstellung eine Lebensfrage sei, und er konnte sich einer ebenso entschiedenen Abneigung, der Aussicht auf diese Anstellung zu entsagen, nicht erwehren. Denn seine Beobachtungen bestätigten ihm fortwährend Farebrother's Versicherung, daß der Bankier ihm ein oppositionelles Verhalten nicht nachsehen würde.

»Hol' der Henker ihre Localpolitik!« Das war einer seiner Hauptgedanken bei dem zu Reflectionen so geeigneten Prozeß des Rasirens an drei aufeinander folgenden Morgen, als er sich der Ueberzeugung nicht länger verschließen konnte, daß er wirklich über diese Angelegenheit mit seinem Gewissen zu Rathe gehen müsse.

Sicherlich ließen sich triftige Gründe gegen Farebrother's Wahl geltend machen; er hatte bereits zu viel zu thun, besonders wenn man in Betracht zog, wieviel Zeit er auf nicht geistliche Beschäftigungen verwendete. Dann aber drängte sich Lydgate immer wieder der Gedanke auf, daß der Pfarrer offenbar um des Geldes willen spiele, daß er zwar das Spiel an und für sich gern habe, es aber doch ersichtlich eines bestimmten Zweckes wegen cultivire und dieser Gedanke beeinträchtigte fortwährend seine Achtung vor dem Pfarrer. Farebrother war der Verfechter einer Theorie, nach welcher alle Spiele sehr empfehlenswerth seien, und behauptete, daß der Mangel an Spielen die geistige Schwerfälligkeit der Engländer erkläre.

Lydgate aber war fest überzeugt, daß Farebrother selbst viel weniger spielen würde, wenn er es nicht des Geldes wegen thäte. Im »Grünen Drachen« war ein Billardzimmer, welches einige ängstliche Mütter und Frauen als die schlimmste Versuchung in Middlemarch betrachteten. Der Pfarrer war ein vorzüglicher Billardspieler, und obgleich er den »Grünen Drachen« nicht regelmäßig frequentirte, liefen doch Gerüchte um, daß er einige Male am hellen Tage dort gespielt und Geld gewonnen habe. Und was die Kaplanschaft betraf, so erklärte er ja selbst, daß ihm nur der vierzig Pfund wegen an derselben gelegen sei.

Lydgate war weit entfernt von puritanischer Strenge, aber er machte sich nichts aus dem Spiel und der Geldgewinn im Spiel war ihm immer als etwas Niedriges erschienen; überdies schwebte ihm ein Ideal des Lebens vor, welches ihm diese Abhängigkeit von dem Gewinn kleiner Summen durchaus verächtlich erscheinen ließ. Für seine eigenen Bedürfnisse war bisher, ohne daß er sich darum zu kümmern gehabt hatte, ausreichend gesorgt gewesen, und er war immer sehr freigiebig mit halben Kronen, als einer für einen Gentleman unbedeutenden Münze, umgegangen; es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, auf einen Plan bedacht zu sein, wie er sich wohl in den Besitz von halben Kronen setzen könne. Er hatte zwar immer gewußt, daß er nicht reich sei, aber er hatte nie Veranlassung gehabt, sich arm zu fühlen, und war ganz unfähig, sich eine Vorstellung von der Rolle zu machen, welche der Mangel an Geld bei der Bestimmung der menschlichen Handlungen spielt.

Niemals hatte ein Geldinteresse bei ihm das Motiv einer Handlung abgegeben. Daher war er wenig geneigt, Entschuldigungen für diese absichtliche Verfolgung des Gewinns kleiner Summen Gehör zu geben. Die Sache war ihm durchaus zuwider, und er ließ sich nie dazu herbei, sich von dem Verhältniß der Einnahme des Pfarrers zu seinen mehr oder weniger nothwendigen Ausgaben genaue Rechenschaft zu geben. Möglicherweise würde er sich von diesem Verhältniß bei seinen eigenen Angelegenheiten keine gehörige Rechenschaft gegeben haben.

Und jetzt, als die Frage der Abstimmung an Lydgate herantrat, machte sich sein Widerwille gegen jene Art des Geldgewinns entschiedener zu Farebrother's Ungunsten geltend, als es bisher der Fall gewesen war. Wir würden viel besser wissen, was wir zu thun haben, wenn die Charaktere der Menschen mehr aus einem Gusse wären, und besonders wenn unsere Freunde immer die nöthige Befähigung für jedes Amt besäßen, das sie zu bekleiden wünschen. Lydgate hielt sich für überzeugt, daß er, wenn keine triftigen Gründe gegen Farebrother's Wahl gesprochen hätten, ohne Rücksicht auf Bulstrode's Ansichten, für ihn gestimmt haben würde: er war nicht gemeint Siehe oben: »er hatte nicht die Absicht,  …«, »er war nicht gesonnen …«. – Anm.d.Hrsg., sich zu einem Vasallen Bulstrode's zu machen.

Was nun andererseits den Gegencandidaten Tyke anlangte, so war das ein Mann, der ganz der Erfüllung seiner geistlichen Pflichten lebte; er war nur Pfarrgehülfe an einer Filialkirche in St. Peters Kirchspiel und hatte Zeit, noch neben der Wahrnehmung seines Amts besondere Pflichten zu übernehmen. Niemand konnte etwas gegen Herrn Tyke sagen, außer daß die Leute ihn nicht leiden konnten und ihn für scheinheilig hielten. In der That konnte man nicht anders, als Bulstrode von seinem Standpunkte aus Recht geben.

Aber so oft Lydgate sich der einen oder andern Seite zuzuneigen anfing, stieß er auf etwas, dem er auszuweichen suchte, und diese Notwendigkeit, sich mit etwas abzufinden, verletzte seinen Stolz und erbitterte ihn. Es widerstrebte ihm, die Erreichung seiner besten Zwecke auf's Spiel zu setzen, indem er sich mit Bulstrode schlecht stellte; es widerstrebte ihm aber auch, gegen Farebrother zu stimmen und so dazu mitzuwirken, daß dieser um Amt und Gehalt gebracht werde. Und an dieses Gehalt knüpfte sich für Lydgate wieder die Frage, ob nicht die Zulage von vierzig Pfund zu seiner Einnahme den Pfarrer vielleicht von der unwürdigen Beflissenheit, beim Kartenspiel Geld zu gewinnen, befreien würde.

Ueberdies war es für Lydgate ein unangenehmes Bewußtsein, daß er, wenn er für Tyke stimme, augenscheinlich für die seinem Interesse förderlichere Seite stimmen würde. Aber war denn schließlich wirklich sein Interesse im Spiel? Jedenfalls würden es die Leute behaupten, und würden von ihm sagen, daß er sich bei Bulstrode einzuschmeicheln suche, um sich wichtig zu machen und sich sein Fortkommen in der Welt zu sichern.

Was also thun? Er war sich bewußt, daß, wenn es sich nur um seine persönlichen Aussichten gehandelt hätte, er sich nicht im mindesten um die Freundschaft oder Feindschaft des Bankiers gekümmert haben würde. Was ihm aber wirklich am Herzen lag, das war eine Handhabe für die Ausführung seiner Ideen, ein Förderungsmittel seines Werks – und war er nicht am Ende verpflichtet, den Zweck, ein gutes Hospital zu erlangen, in welchem er die specifischen Unterschiede der verschiedenen Fieber würde demonstriren und Heilmethoden würde erproben können, höher zu halten, als irgend etwas, das mit der Besetzung dieser Kaplanstelle zusammenhing?

Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Lydgate den lästigen, wie ein Gewirre von Fäden wirkenden Druck kleiner gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre hemmende Complizirtheit. Sein innerer Kampf endigte damit, daß er, als er sich nach dem Hospital begab, sich mit der Möglichkeit tröstete, daß die Discussion der Frage doch noch eine andere Gestalt geben und eine der beiden Schalen so zum Sinken bringen könne, daß er der Nothwendigkeit zu stimmen ganz überhoben sein werde. Ich denke mir, er vertraute im Geheimen auch ein wenig auf die Energie, welche die Umstände erzeugen, denn der Drang der Umstände wirkt auf einige Menschen belebend und erleichtert ihnen Entschlüsse, welche ihnen durch kaltblütige Ueberlegung nur erschwert worden wären.

Aber wie dem auch sei, es stand noch im letzten Augenblick nicht fest bei Lydgate, für wen er stimmen wolle; klar empfand er nur den Verdruß über das ihm aufgezwängte Joch. War es nicht wie ein Hohn auf alle Logik, daß er mit seiner Entschlossenheit, sich beim Erstreben hoher Ziele seine Unabhängigkeit zu bewahren, an der Schwelle seiner Laufbahn in die Klauen einer kleinlichen Alternative gerieth, deren beide Seiten ihm widerstrebten? Als Student hatte er sich sein sociales Wirken zum Voraus ganz anders zurecht gelegt.

Lydgate hatte sich spät auf den Weg gemacht, aber Doctor Sprague, die beiden andern practischen Aerzte und mehrere von den Direktoren hatten sich schon zeitig versammelt, während Herr Bulstrode, welcher Schatzmeister und Vorsitzender war, gleichfalls noch fehlte. Aus der Unterhaltung der Herren schien sich zu ergeben, daß der Ausgang des bevorstehenden Wahlkampfes noch problematisch und daß das Vorhandensein einer Majorität für Tyke keineswegs so sicher sei, wie man angenommen hatte.

Wunderbarer Weise waren die beiden consultirenden Aerzte dieses Mal einer Meinung, oder beobachteten vielmehr, wenn auch aus verschiedenen Gesichtspunkten dasselbe Verfahren. Doctor Sprague, der Schroffe, Gewaltige, war, wie Jedermann vorausgesehen hatte, ein Anhänger Farebrother's. Der Doctor war mehr als verdächtig, gar keine Religion zu haben; aber über diesen seinen Mangel drückte Middlemarch ein Auge zu, ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß er in seiner ärztlichen Kunst deshalb nur um so bedeutender erschien; denn die uralte Identificirung des bösen Princips mit Geschicklichkeit erwies sich noch äußerst wirksam in den Gemüthern selbst weiblicher Patienten, welche über Halskrausen und Gefühle sehr streng dachten. Es war vielleicht wegen dieses Skeptizismus des Doktors; daß ihn seine Nebenmenschen verstockt und trocken nannten, Eigenschaften, welche man gleichfalls der Fähigkeit, die Wirkungen von Arzeneien zu beurtheilen, für günstig hielt. Soviel ist gewiß, daß wenn einem Arzte vor seiner Niederlassung in Middlemarch der Ruf vorangegangen wäre, sehr entschiedene religiöse Ansichten zu haben, streng auf Gebete und auch in andern Beziehungen auf die Bethätigung einer frommen Gesinnung zuhalten, dadurch ein allgemeines Vorurtheil gegen seine ärztliche Geschicklichkeit erweckt worden wäre.

Daher war es auch (berufsmäßig gesprochen) ein Glück für Doctor Minchin, daß seine religiösen Sympathien von sehr allgemeiner Natur und so beschaffen waren, daß sie sich auf eine reservirte ärztliche Sanction jeder ernsten, gleichviel ob kirchlichen oder dissentirenden Gesinnung beschränkten, ohne sich für bestimmte Glaubensartikel zu erklären. Wenn Herr Bulstrode auf der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben als derjenigen bestand, mit welcher die Kirche stehen oder fallen müsse, so war dagegen Doctor Minchin fest überzeugt, daß der Mensch keine bloße Maschine und keine zufällige Verbindung von Atomen sei; wenn Frau Wimple darauf bestand, daß es eine besondere Vorsehung für ihr Magenleiden geben müsse, so zog es Doctor Minchin seinerseits vor, der Freiheit des Geistes das Wort zu reden, und widersetzte sich einer so beschränkten Anschauung; wenn der unitarische Brauer über den athanasischen Glauben spottete, citirte Doctor Minchin Pope's »Abhandlung über den Menschen.« »An Essay on Man« (1734) von Alexander Pope (1688-1744), dem englischen Dichter, Übersetzer und Schriftsteller des Klassizismus in der Frühzeit der Aufklärung. Es handelt sich dabei um einen rationalistischen Versuch, die Philosophie zu nutzen, um »die Wege Gottes zum Menschen zu rechtfertigen«. Die Grundhaltung dieses Essays wurde später von Voltaire in seinem Roman »Candide oder der Optimismus« (1759) verspottet. – Anm.d.Hrsg. Er war mit dem etwas freien Genre von Anekdoten, wie sie Doctor Sprague liebte, nicht einverstanden, er gab wohlaccredirten Citaten den Vorzug und war ein Freund des Feinen in allen Beziehungen; es war allgemein bekannt, daß er mit einem Bischof verwandt sei und seine Ferien bisweilen in dem bischöflichen Palaste zubringe.

Doctor Minchin hatte weiche Hände, einen nassen Teint und runde Formen, so daß er nach seiner Erscheinung für einen mild gesinnten Geistlichen hätte gelten können; Doctor Sprague dagegen war ungebührlich lang, seine Beinkleider zogen sich über den Knien zusammen und enthüllten den Blicken übermäßig viel von seinen Stiefeln zu einer Zeit, wo Strippen als ein unerläßliches Requisit einer würdigen Erscheinung betrachtet wurden; man hörte ihn in den Häusern aus- und ein- und hinauf- und hinuntergehen, wie einen Arbeiter, der durchs Haus geht, um nach dem Dache zu sehen.

Kurz er war ein Mann von Gewicht, dem man es zutraute, daß er eine Krankheit zu packen und zu Boden zu werfen verstehe, während man Doctor Minchin mehr die Fähigkeit zuschrieb, ein verborgenes Leiden in seinem Verstecke auszuspüren und zu überlisten. Sie genossen ungefähr im gleichen Grade das mysteriöse Privilegium des ärztlichen Rufs und wußten beide unter strenger Beobachtung der Etiquette ihre gegenseitige Verachtung für ihre Fähigkeiten geschickt zu verbergen.

Beide betrachteten sich als verkörperte Middlemarcher Institutionen und standen fest zusammen, wenn es sich darum handelte, Neuerer und Leute zu bekämpfen, welche, ohne vom Handwerk zu sein, Lust bezeigten, sich in ärztliche Angelegenheiten zu mischen. Aus diesem Grunde waren sie beide in ihrem Herzen gleich sehr gegen Bulstrode eingenommen, wiewohl Dr. Minchin ihm niemals in offener Feindseligkeit gegenüber gestanden hatte und niemals abweichende Ansichten vertrat, ohne dieselben Frau Bulstrode gegenüber, welche gefunden hatte, daß Niemand anderes als Dr. Minchin ihre Constitution verstehe, ausführlich zu rechtfertigen. Ein Laie, der den Aerzten bei der Ausübung ihres Berufs auf die Finger sah und ihnen seine Reformen immer aufdrängen wollte, war, – wenn auch den beiden consultirenden Aerzten weniger direct im Wege als den practisirenden und dispensirenden Aerzten, welche contractlich zur Armenpraxis verpflichtet waren –, nichts destoweniger der gesammten ärztlichen Zunft ein Dorn im Auge und Dr. Minchin theilte ganz die neueste Gereiztheit gegen Bulstrode, dessen offenbare Absicht, Lydgate zu patronisiren, ihn verdroß.

Die beiden seit langer Zeit etablirten Practiker Herr Wrench und Herr Teller standen eben von den übrigen Herren abgesondert bei Seite und waren in einem Gespräch mit einander begriffen, in welchem sie übereinkamen, daß Lydgate ein Hansnarr und recht dazu gemacht sei, Bulstrode's Zwecken zu dienen. Gegen nicht ärztliche Freunde hatten sie gemeinschaftlich das Lob des jungen Practikers gesungen, welcher in Veranlassung von Herrn Peacock's Rücktritt – ohne weitere Empfehlungen als seine eigenen Verdienste und das günstige Vorurtheil, welches es für seine Berufstüchtigkeit erwecken mußte, daß er notorisch keine Zeit mit der Aneignung andrer Kenntnisse vergeudet habe – nach Middlemarch gekommen sei. Es war klar, daß Lydgate dadurch, daß er selbst keine Arzeneien verabreichte, seinen Standesgenossen einen Makel anheften und die Grenze zwischen seinem eigenen Range eines praktischen Arztes und dem Range der consultirenden Aerzte, welche sich im Interesse des ganzen Berufs für verpflichtet hielten, die Scheidung der verschiedenen ärztlichen Grade streng aufrecht zu erhalten, verrücken wollte. Wie konnten sie anders als sich gegen einen Mann erklären, der keine der beiden englischen Universitäten besucht und sich nicht der dort gebotenen anatomischen und anderen Studien erfreut hatte, sondern hier mit einer beleidigend anmaßlichen Berufung auf die Erfahrungen auftrat, welche er in Edinburg und Paris, wo allerdings reichliche, aber schwerlich gesunde Beobachtungen zu machen sein mochten, gesammelt haben wollte.

So geschah es, daß bei dieser Gelegenheit Bulstrode mit Lydgate und Lydgate mit Tyke identificirt wurden. Und Dank dieser Reihe von Namen, welche in Betreff der Kaplanfrage dasselbe Interesse zu bezeichnen schienen und in Bezug auf diese beliebig Einer für den Andern stehen konnten, gelangten verschieden gesinnte Leute zu einem übereinstimmenden Urtheil in dieser Frage.

Dr. Sprague war bei seinem Eintreten auf die bereits versammelte Gruppe von Herren ohne Weiteres mit den Worten zugegangen:

»Ich stimme für Farebrother. Das Gehalt bewillige ich mit dem größten Vergnügen. Aber warum es dem Pfarrer entziehen? Er hat es wahrhaftig nicht zu reichlich – er muß neben seinem Haushalt noch sein Leben versichern und die für einen Pfarrer unvermeidlichen Wohlthaten üben. Lassen Sie uns ihm vierzig Pfund in die Tasche stecken, wir thun damit nichts Böses. Er ist ein guter Kerl, der Farebrother, mit so wenig von einem Pastor an sich, wie sich irgend mit dem geistlichen Ornate verträgt.«

»Ho ho! Doctor,« rief der alte Herr Powderell, ein vom Geschäft zurückgezogener Eisenhändler von einigem Ansehn, in einem Tone, welcher diese Interjection halb als ein Lachen halb als einen parlamentarischen Ausdruck der Mißbilligung erscheinen ließ. »Wir müssen Sie schon reden lassen. Aber was wir zu erwägen haben, das ist nicht irgend Jemandes Einkommen, – das sind die Seelen der armen kranken Leute« – bei diesen Worten nahmen Gesicht und Stimme des alten Mannes einen Ausdruck von ächtem Pathos an. »Tyke ist ein wahrer Prediger des Evangeliums. Ich würde gegen mein Gewissen stimmen, wenn ich gegen Tyke stimmte, – das würde ich wahrhaftig.«

»Die Gegner des Herrn Tyke haben, glaube ich, noch von Niemandem verlangt, daß er gegen sein Gewissen stimme,« bemerkte Herr Hackbutt, ein reicher sehr fließend redender Gerber, welcher jetzt seine glitzernden Brillengläser und aufrechtstehenden Haare mit dem Ausdruck der Strenge dem unschuldigen Herrn Powderell zukehrte.

»Aber nach meiner Ansicht geziemt es uns als Direktoren, in Erwägung zu ziehen, ob wir unsere ganze Thätigkeit darauf beschränken dürfen, Anträge, welche von einer einzigen Seite ausgehen, zur Ausführung zu bringen. Kann irgend ein Mitglied dieser Commission behaupten, daß es ihm in den Sinn gekommen sein würde, den Mann, welcher das Amt eines Kaplans hier so lange bekleidet hat, seines Amtes zu entsetzen, wenn ihm nicht der Gedanke daran von Leuten an die Hand gegeben wäre, welche jede Institution dieser Stadt gern zu einem Werkzeug für die Verwirklichung ihrer Ideen machen möchten? Ich werfe mich nicht zum Richter über irgend Jemandes Motive auf, möge er sich wegen derselben vor einem höhern Richter verantworten; ich behaupte aber, daß sich hier Einflüsse geltend machen, welche mit einer wahren Unabhängigkeit unverträglich sind, und daß eine kriechende Servilität gewöhnlich durch Umstände veranlaßt wird, zu welchen die Herren, die sich eines solchen Benehmens schuldig machen, sich weder moralisch noch finanziell würden bekennen wollen. Ich selbst bin ein Laie, ich habe mich aber ziemlich eingehend mit den verschiedenen kirchlichen Richtungen beschäftigt und …«

»O hol' der Henker die Richtungen!« unterbrach ihn heftig Herr Frank Hawley, Advokat und Stadtschreiber, der sich sonst selten in den Vorstandssitzungen blicken ließ, jetzt eben aber mit der Reitpeitsche in der Hand rasch eingetreten war. »Wir haben hier nichts mit diesen Richtungen zu schaffen. Farebrother hat bis jetzt die Arbeit, welche da zu thun war, ohne Bezahlung verrichtet, und wenn von jetzt an eine Bezahlung eintreten soll, so gebührt sie ihm. Ich nenne es einen schlechten Streich, Farebrother sein Amt zu nehmen.«

»Ich glaube, es würde ebenso angemessen sein, wenn die Herren sich bei ihren Bemerkungen aller Persönlichkeiten enthalten wollten,« bemerkte Herr Plymdale. »Ich werde für Anstellung des Herrn Tyke stimmen, ich würde aber, wenn nicht Herr Hackbutt es mir zu verstehen gegeben hätte, nicht gewußt haben, daß ich ein ›serviler Kriecher‹ bin.«

»Ich muß mich gegen die Beschuldigung, persönlich gewesen zu sein, verwahren,« erwiderte Herr Hackbutt. »Ich habe ausdrücklich gesagt, wenn ich meine Aeußerungen wiederholen und vielleicht auch zu Ende führen darf –«

»O da kommt Minchin!« rief Herr Frank Hawley, und nun wandten sich Alle von Herrn Hackbutt ab und überließen es ihm, sich mit der Ueberzeugung zu trösten, daß höhere Begabung in Middlemarch nutzlos sei. »Kommen Sie, Doctor, Sie stimmen doch für die richtige Ansicht, wie?«

»Das hoffe ich,« erwiderte Doctor Minchin, nach allen Seiten nickend und Hände drückend. »Wie sehr ich auch meine Gefühle dabei zum Opfer bringen müßte.«

»Wenn hier von Gefühlen die Rede sein kann, so sollte es sich, denke ich, nur um Gefühle für den Mann handeln, welcher bei Seite geschoben werden soll,« sagte Herr Frank Hawley.

»Ich gestehe, daß ich auch Gefühle für die andere Seite habe. Meine Achtung ist getheilt,« sagte Dr. Minchin, indem er sich die Hände rieb. »Ich betrachte Herrn Tyke als einen exemplarischen Geistlichen, ich wüßte keinen musterhafteren, und ich glaube, daß diejenigen, welche ihn vorgeschlagen haben, dabei von durchaus unverwerflichen Motiven geleitet sind. Ich meinestheils wünschte, daß ich ihm meine Stimme geben könnte. Ich muß aber nothgedrungen den ganzen Fall aus Gesichtspunkten ansehen, welche zu einer Bevorzugung der Ansprüche des Herrn Farebrother führen. Er ist ein liebenswürdiger Mann, ein guter Prediger und ist länger bei uns gewesen.«

Der alte Herr Powderell sah traurig und schweigend vor sich hin. Herr Plymdale zupfte unbehaglich an seiner Cravatte.

»Sie wollen doch hoffentlich Farebrother nicht als das Muster eines Geistlichen aufstellen,« sagte Herr Larcher, der große Fuhrwerksbesitzer, welcher eben eingetreten war. »Ich habe persönlich durchaus nichts gegen ihn, aber ich glaube, wir haben Verpflichtungen gegen das Publikum, von höheren Interessen, welche bei diesen Anstellungen in Betracht kommen, gar nicht zu reden. Nach meiner Meinung hat Farebrother zu laxe Ansichten für einen Geistlichen. Ich möchte keine Einzelheiten gegen ihn vorbringen; aber er würde sicherlich seine Thätigkeit hier auf ein möglichst geringes Maß beschränken.«

»Und das ist verteufelt viel besser als das Gegentheil,« bemerkte Herr Hawley, der für seine rücksichtslose Ausdrucksweise bekannt war. »Kranke Leute können so viel Beten und Predigen nicht vertragen und der methodistische Kram ist schädlich für die Stimmung, für das Innere der Kranken. Nicht wahr?« fügte er hinzu, indem er sich rasch nach den vier anwesenden Aerzten umwandte.

Diese aber wurden. jeder Antwort durch das Eintreten dreier Herren überhoben, mit welchen sich die Anwesenden mehr oder weniger herzlich begrüßten. Die drei Herren waren: der Ehrwürdige Eduard Thesiger, Pfarrer der St. Peterskirche, Herr Bulstrode und unser Freund Herr Brooke von Tipton, welcher kürzlich, als die Reihe an ihn kam, mit seiner Genehmigung unter die Directoren aufgenommen worden, aber noch nie in einer Sitzung erschienen war und dessen heutiges Erscheinen lediglich Herrn Bulstrode's angelegentlichen Bemühungen zu danken war. Lydgate war das einzige Mitglied der Commission, auf welches noch gewartet wurde.

Alle setzten sich jetzt, und Herr Bulstrode, dessen bleiche Züge wie gewöhnlich den Ausdruck der Selbstbeherrschung trugen, übernahm den Vorsitz. Herr Thesiger, ein Mann von gemäßigter kirchlicher Gesinnung, sprach sich für die Anstellung seines Freundes Herrn Tyke aus, welcher ein eifriger und fähiger Mann sei und, da er nur an einer Filialkirche fungire, keine so umfassenden seelsorgerischen Pflichten zu versehen habe, daß ihm nicht reichlich Zeit für die Wahrnehmung seines neuen Amtes übrig bleiben sollte. Er erklärte es für wünschenswerth, daß Kaplanstellen dieser Art von Männern übernommen würden, welche dabei von glühendem Eifer beseelt seien, indem sich hier eine besonders günstige Gelegenheit zur Geltendmachung geistlichen Einflusses biete, und wenn es auch zweckmäßig erscheine, eine Besoldung mit der Stelle zu verbinden, so sei es doch eben deshalb nur um so nothwendiger, ängstlich darüber zu wachen, daß die Frage der Besetzung der Stelle nicht in eine reine Gehaltsfrage verkehrt werde. Herrn Thesiger's Art und Weise hatte etwas so würdevoll Ruhiges, daß die Gegner nichts thun konnten, als sich ihren Ingrimm schweigend verbeißen.

Herr Brooke sprach seine Ueberzeugung dahin aus, daß Alle von den besten Absichten in dieser Angelegenheit geleitet seien. Er habe sich bisher persönlich nicht mit den Angelegenheiten des Hospitals befaßt, aber er nehme ein lebhaftes Interesse an Allem, was Middlemarch zum Besten gereiche, und schätze sich höchst glücklich, sich in der Berathung irgend einer öffentlichen Frage mit den anwesenden Herren zu begegnen, – »irgend einer öffentlichen Frage, wissen Sie,« wiederholte Herr Brooke mit seinem verständnißinnigen Kopfnicken. »Ich bin durch meine Thätigkeit als Friedensrichter und durch das Sammeln von documentarischen Beweisen sehr in Anspruch genommen, aber meine Zeit ist für die Wahrnehmung öffentlicher Interessen immer verfügbar, und kurz, meine Freunde haben mich überzeugt, daß ein Kaplan mit einem Gehalt – einem Gehalt, wissen Sie – etwas sehr Gutes ist und ich schätze mich glücklich, hier erscheinen und für die Anstellung des Herrn Tyke stimmen zu können, der, wie ich höre, ein tadelloser Mann ist, kirchlich gesinnt und beredt und Alles, was dahin gehört, und ich bin der Letzte, der unter den obwaltenden Umständen, wissen Sie, mit seiner Stimme zurückhalten möchte.«

»Mir scheint, Sie haben sich nur mit Gründen für die eine Seite der Frage bearbeiten lassen, Herr Brooke,« sagte Herr Frank Hawley, der sich von Niemandem imponiren ließ und ein der Wahlumtriebe verdächtiger Tory war. »Sie scheinen nicht zu wissen, daß einer der würdigsten Männer, welche wir haben, seit Jahren hier ohne Besoldung als Kaplan fungirt hat und daß Herr Tyke nur zu dem Zwecke vorgeschlagen wird, Jenen zu beseitigen.«

»Entschuldigen Sie, Herr Hawley,« bemerkte Herr Bulstrode, »Herr Brooke ist über den Ruf und die Stellung des Herrn Farebrother vollkommen unterrichtet.«

»Durch seine Feinde!« platzte Herr Hawley heraus.

»Ich hoffe zuversichtlich, daß hier keine persönliche Feindschaft im Spiele ist,« sagte Herr Thesiger.

»Und ich will schwören, daß das doch der Fall ist,« entgegnete Herr Hawley.

»Meine Herren,« sagte Herr Bulstrode mit gedämpfter Stimme, »die für die Beurtheilung der Frage in Betracht kommenden Momente lassen sich sehr leicht darlegen, und wenn einer der Anwesenden zweifeln sollte, daß die Herren, welche im Begriff stehen, ihre Stimme abzugeben, hinreichend über den Stand der Sache unterrichtet seien, so bin ich bereit, die Erwägungen zu recapituliren, welche für beide Seiten in die Wagschale der Entscheidung fallen sollten.«

»Ich sehe nicht ein, wozu das nützen soll,« erwiderte Herr Hawley. »Ich denke, wir wissen Alle, für wen wir stimmen wollen. Wer gerecht verfahren will, wartet nicht bis zum letzten Augenblicke, um sich über beide Seiten der Frage aufzuklären. Ich habe keine Zeit zu verlieren und proponire, sofort zur Abstimmung zu schreiten.«

Aber es folgte noch eine sehr lebhafte, wenn auch kurze Debatte, bevor jeder der Anwesenden einen der beiden Namen »Tyke« oder »Farebrother« auf ein Stück Papier schrieb und dasselbe in ein großes Trinkglas warf. Während dieses Vorganges sah Herr Bulstrode Lydgate eintreten.

»Ich sehe, daß die Stimmen bis jetzt gleich getheilt sind,« sagte Herr Bulstrode mit klarer scharfer Stimme und fuhr dann zu Lydgate aufblickend fort:

»Die entscheidende Stimme soll noch abgegeben werden und diese Stimme haben Sie abzugeben, Herr Lydgate; wollen Sie die Güte haben einen Wahlzettel auszufüllen.«

»Dann ist die Sache abgemacht,« sagte Herr Wrench aufstehend. »Wir Alle wissen, wie Herr Lydgate stimmen wird!«

»Sie scheinen mit Ihren Worten etwas Besonderes andeuten zu wollen, Herr Wrench,« sagte Lydgate in einem herausfordernden Tone, mit dem Crayon in der Hand.

»Ich meine nur, daß wir darauf gefaßt sind, Sie mit Herrn Bulstrode stimmen zu sehen. Betrachten Sie diese Meinung als eine Beleidigung?«

»Sie ist vielleicht beleidigend für Andere, ich werde mich aber dadurch nicht abhalten lassen, mit Herrn Bulstrode zu stimmen.«

Und alsbald schrieb Lydgate auf seinen Zettel »Tyke«.

 

So wurde der Ehrwürdige Walther Tyke Kaplan am Krankenhause, und Lydgate fuhr fort, mit Herrn Bulstrode zu arbeiten. Er war in der That zweifelhaft, ob nicht Tyke der passendere Candidat gewesen sei, und doch sagte ihm sein Bewußtsein, daß er, wenn er sich von indirecten Einflüssen ganz frei gefühlt hätte, für Farebrother gestimmt haben würde. Die Angelegenheit der Kaplanschaft blieb ein wunder Punkt in seinem Gedächtniß als ein Fall, in welchem die kleine Welt der Interessen von Middlemarch sich zu mächtig für ihn erwiesen hatte. Wie konnte ein Mann sich durch eine Entscheidung befriedigt fühlen, welche er einer solchen Alternative gegenüber und unter solchen Umständen hatte treffen müssen?

Aber Farebrother trat ihm mit derselben Freundlichkeit wie bisher entgegen. Der Charakter des Zöllners und Sünders ist praktisch nicht immer mit dem des modernen Pharisäers unvereinbar; denn die meisten unter uns haben kaum ein schärferes Auge für die Verkehrtheit ihres eigenen Benehmens, als für die Verkehrtheit ihrer eigenen Argumente. Aber der Pfarrer von St. Botolph trug sicherlich keine Spur von dem Wesen eines Pharisäers an sich und war gerade dadurch, daß er sich selbst den übrigen Menschen zu ähnlich fand, ihnen darin auffallend unähnlich geworden, daß er es Anderen, wenn sie gering von ihm dachten, verzeihen und ihr Benehmen, selbst wenn es ihm ungünstig war, unparteiisch beurtheilen konnte.

»Ich weiß, daß die Welt für mich zu mächtig gewesen ist,« sagte er eines Tages zu Lydgate. »Aber ich bin auch kein bedeutender Mensch, ich werde nie ein berühmter Mann werden. ›Hercules am Scheidewege‹ ist eine hübsche Fabel; aber Prodikus macht dem Helden die Sache leicht, als ob es mit den ersten Entschlüssen gethan wäre. Ein anderer Mythus erzählt von Hercules, daß er am Spinnrocken gesessen und schließlich das Nessushemd getragen habe. Ich glaube, ein guter Entschluß könnte einem Menschen zum Beharren auf dem rechten Wege verhelfen, wenn ihm alle seine Mitmenschen dabei behülflich wären.«

Die Aeußerungen des Pfarrers waren nicht immer ermuthigend; der Gefahr, ein Pharisäer zu werden, war er entgangen, aber nicht der Gefahr jener zaghaften Unterschätzung des Erreichbaren, zu welcher uns das Scheitern unserer eigenen Pläne nur zu leicht verleitet. Lydgate war der Meinung, daß Farebrother an einer beklagenswerthen Willensschwäche leide.



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