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Mit diesem zweiten Bande von Emersons Essays giebt der Übersetzer ein Werk heraus, dem er seine Kraft nicht immer gewachsen fühlte. Englische Kritiker sagen, daß Emerson nichts Orakelhafteres geschrieben, und in der That finden sich nirgends so viele Stellen, die sich gegen eine Übersetzung sträuben. Es wäre vielleicht nicht unzweckmäßig gewesen, die Übersetzung gleichzeitig mit einem fortlaufenden Kommentar zu versehen, aber nach einiger Überlegung wurde diese Idee aufgegeben und den kommenden Zeiten überlassen, in denen ein solcher Kommentar nicht ausbleiben wird; wie er bei großen Schriftstellern, deren Worte für Generationen ihren Wert behalten und infolge des überreichen Inhalts, der in sie gedrängt ist, mannigfacher Deutung und jedenfalls einer Erläuterung durch breitere Sätze fähig sind, nie ausgeblieben ist.
In einem solchen Übermaß an Gedanken liegt zumeist auch die Dunkelheit, die Emerson so oft zum Vorwurf gemacht wird. Was seinen Geist erfüllt, ist zu viel und zu sein für den Ausdruck. Autoren sind dunkel, wenn sie ihrem Gegenstande nicht gewachsen sind. Bei Geringeren liegt das darin, daß sie nicht fähig sind, die klare Erscheinung darzustellen, daß ihre Einsicht und Ausdrucksfähigkeit um einen Schritt hinter der Erscheinung zurückbleibt. Emerson ist dunkel, weil er um einen Schritt tiefer als die anderen unter die Oberfläche der Dinge eingedrungen ist, weil er so gern das Wesen der Erscheinungen und ihre geheimen Zusammenhänge, so weit sie unserer Empfindung sich offenbaren, in Worte fassen möchte.
Wir alle wissen, daß wir nicht den hundertsten Teil dessen, was wir empfinden, sagen, nicht den tausendsten von dem, was, wie wir klar erkennen, unser Leben ausmacht, in Worten zur Darstellung bringen können. Unsere Worte und Sätze, unsere Rede, ja unsere Bücher und Wissenschaften sind immer nur armselige Fäden, die wir aus dem großen Weltgemälde, das sich um uns aufrollt, herausziehen. Unsere prägnantesten Ausdrücke sind nur Schlagwörter, die kaum einmal das Richtige treffen und meist nur näher oder ferner an der Sache vorbeifahren. Die wichtigsten Einflüsse, die in unserem Leben sich geltend machen, das Tiefste, was uns bewegt, ist auch meist das Geheimste: es geht gleichsam subkutan vor sich, unter jener Oberfläche, die unserer klaren Rede zugänglich ist. Emersons Specialität ist es nun, möchte ich sagen, diese subkutanen Einflüsse aufzuspüren und auszusprechen – schärfer, klarer, als ein Mensch es vor ihm gethan. Aber sie spotten des Ausdrucks überhaupt, und so wird er dunkel, nicht, wie gesagt, weil er um einen Schritt hinter dem Tageslicht der anderen zurück ist, sondern weil er den meisten um einen Schritt voraus ist, aber dabei auf ein Gebiet gekommen ist, wo volles Licht und Klarheit nicht mehr menschenmöglich sind.
Wirklich dunkel in einem Sinne, in dem das Wort einen Vorwurf für den Autor enthält, ist nur der erste Aufsatz des vorliegenden Buches. Es hat dies zum Teil seinen Grund in Emersons Art zu arbeiten. Er setzte sich selten wie andere Schriftsteller hin, über ein bestimmtes Thema das angesammelte oder zuströmende Gedankenmaterial zu verarbeiten, indem er das Ganze in eine Form goß, einen Bau von Grund aus aufführte, in dem jeder Stein und jeder Pfeiler zur Stufe des darüberliegenden dient, wo alle Spalten mit Kitt und Mörtel verstrichen sind, und zuletzt ein Anwurf das Ganze glatt und einheitlich erscheinen läßt, sondern er brachte Tag für Tag jeden Gedanken, der ihm beim Studium, auf Spaziergängen oder sonst einfiel, in möglichst präciser Form zu Papier, sammelte auf diese Weise unzählige Sätze und Absätze an, welche dann, so weit sie sich mehr oder minder auf ein Thema bezogen, unter dem Titel desselben vereinigt und, so gut es gehen wollte, verbunden wurden. Die Folge ist nicht nur der übervolle, aphoristische Stil – seine Häuser sind, wie ihm einmal ein Landsmann sagte, »aus lauter Medaillen erbaut« – sondern auch der undeutliche Aufbau! ein Gerippe, eine Disposition, eine Inhaltsangabe eines Emersonschen Essays zu geben ist beinahe unmöglich. Man kann in seinen Werken, wenn man sie einigermaßen kennt, mit Leichtigkeit die Stellen unterscheiden, wo er in einem Zuge fortschrieb und wo er jene mosaikartige Arbeitsweise verwendete.
Wo nun das Thema ein greifbares ist, wie die Darstellung der Werke eines Menschen, oder wo es sich wenigstens um eine allgemein zugängliche einheitliche Frage handelt, wie in dem Aufsatze »Bücher« oder in der Theologischen Vorlesung, da ist der Zusammenhang trotz des losen Materials immerhin gewahrt und erkennbar. In einem Aussage jedoch, wo Emerson sich gleichsam vergeblich abmüht, das allertiefste Thema des Menschengeschlechts, seine Entwicklung, seine Ziele, seine Bedeutung in Worte zu fassen, wo er den aufblitzenden und gleich wieder versinkenden Intuitionen vergeblich Ausdruck zu geben versuchte, da wo dem Leser der Weg durch das schwierige und dunkle Gebiet durch hundert Brücken und Treppen und Wegweiser erleichtert werden müßte, da wird diese Zusammenhangslosigkeit ein fühlbarer Mangel. Es handelt sich darum, die Bedeutung der großen Männer für die Geschichte und für die Entwicklung der Menschheit, für jeden einzelnen und dessen Entwicklung, ja ihren Zusammenhang mit dem ganzen Bau der Natur zu untersuchen, und es ist nicht Emersons Art, irgend eine Frage mit ein paar gewöhnlichen und allgemeinen Sätzen, ein paar flachen Vergleichen abzuthun; er möchte bis ins Innerste des Geheimnisses dringen, keine Falte, keinen noch so geheimen Zusammenhang, keinen Faden, der sich aus fernster Vorzeit in die unsere zieht, unaufgespürt lassen. Die Resultate, zu denen er dabei gelangt ist, sind nach der oben erwähnten Weise in Aphorismen gefaßt und diese in einer selbst für Emerson abrupten Weise zusammengestellt. Wir wollen im folgenden versuchen, seinen Gedankengängen nachzugehen und die Brücken, die der Leser in diesem ersten Aufsatze oft betroffen vermissen wird, so gut es geht, herzustellen. Wenn ein Teil, speciell die ersten Absätze dieser Ausführungen, banal erscheint, so möge man bedenken, daß ich damit gleichsam Not- und Holzbrücken über ein Diamantenfeld zu bauen suche.
Emerson bespricht zuerst, wie tief die Verehrung großer Männer uns im Blute liegt, wie wir die Völker nach den großen Männern schätzen, die sie hervorgebracht, wie die Religionen auf diesem Kultus beruhen, wie die Gottesidee selbst nur die ins Riesenhafte, ins Unendliche hinaus geworfene Projektion des menschlichen Geistes ist. Wie kommt es, fragt er, daß wir einzelnen Menschen solch eine Bedeutung zumessen? Was sind sie für uns? Was können andere Menschen überhaupt für uns sein? – Er geht davon aus, daß die sociale, die gesellige Existenz uns das Leben in materieller und geistiger Beziehung erleichtert: in geistiger, weil wir durch andere erst zur Klarheit über uns selbst und unsere eigenen Gedanken kommen, weil sie eben so viele »Linsen sind, durch die wir die Welt schauen.« Je origineller, je reicher die Begabung des anderen ist, desto mehr wird er mich anregen, desto mehr wird er für mich leisten. Jede Zeit wirft Fragen auf, die desjenigen harren, der, nachdem das Material zur Lösung sich gehäuft hat, diese Lösung findet. Wenn der rechte Mann kommt, setzt er gleichsam wie das Kommandowort des erwarteten Feldherrn die bereite Armee, das angehäufte Willensmaterial der Generation in Bewegung. Tiefe direkten Dienste, die uns die großen Entdecker, Erfinder, Gesetzgeber und Denker erweisen, liegen ziemlich klar. Es sind ihre geringsten, denn »alles Schenken ist den Gesetzen des Weltalls zuwider«. Die Sache muß tiefer gefaßt werden.
Der Mensch hat sich nie mit dem bloßen Leben begnügt. Es war stets den Weisesten wie den Geringsten ein Bedürfnis, nach einem tieferen »Wozu« zu fragen. Das Leben ist für alle ein Rätsel und eine Aufgabe gewesen, die ihre Lösung nicht ohne weiteres in sich selbst trug. Und auf die immer wieder gestellte Frage: Was ist unsere Aufgabe, und was ist das Menschenmögliche, was sollen und können wir aus uns machen? scheinen diejenigen eine Art Antwort zu geben, deren Leben wir am meisten bewundern, die ein solches Leben geführt haben, daß Mit- und Nachwelt sich unwiderstehlich gedrängt fühlen, es aufs genaueste kennen zu lernen und immer wieder für sich und andere darzustellen. Das sind diejenigen, welche wir große Menschen nennen. Was drängt uns so dazu? Fühlen wir, daß wir einen Anteil an ihnen haben? Sagt das Epitheton »groß«, das wir ihnen geben, nicht, das; sie Menschen wie wir, mir mit größeren geistigen Dimensionen waren? Daß sie das waren, was wir so gern sein wollten? Vielleicht ist die Erkenntnis ihres Lebens und ihrer Werke nur ein Umweg, aus welchem wir über uns selbst und unser Leben klar werden wollen. Denn sie haben in dem ihren viel zum Ausdruck gebracht, was auch wir drängend empfinden, aber weder in Worten noch in Thaten aussprechen können: »Sie sind mehr wir selbst, als wir es sind.« Die Anlage, die in uns im Keime liegt, war ihnen frei gegeben; geistige Strömungen, die auch uns mit fortrissen, haben in dem oder in jenem großen Manne geradezu einen Kopf, einen Mund, eine Hand gefunden, sie haben sich in ihm geradezu inkarniert. Er ist die typische Personifikation des Talentes, das wir bewundern, der Idee, die uns bewegt. Dies ist teilweise der Sinn jener Worte, die sich auf der vierten Seite des Aufsatzes finden und gleichsam das Leitmotiv des ganzen Buches enthalten: »Auch die großen Menschen sind Repräsentanten, erstens von Dingen und zweitens von Ideen.« Wir freilich sind alle nur Andeutungen dessen, was sie in so hohem Maße sind. Aber vollkommen sind auch sie nicht, keiner von ihnen ist der ganze Mensch, keiner entspricht der »Idee« des Menschen völlig – jeder zeigt uns eine Seite mächtig entwickelt, aber auf Kosten der anderen, – die Menschen kräftiger That sind »die Opfer und Sklaven ihrer Thaten«, ihre Energie selbst ist meist die Frucht einer gewissen Beschränktheit, dem Denker erlahmt die Thatkraft, die Mängel der Dichter sind uns wohl bekannt, wir kennen die Beschränktheit der großen Gläubigen und Propheten, und der Skeptiker, was bringt er zustande? Jedes Genie ist zugleich auf das Gebiet beschränkt, aus dem es so Wunderbares hervorbringt, und selbst demjenigen, der das Weiteste umfaßt, sind immer noch zahlreiche andere wie mit Brettern vernagelt. Der vollkommene Mensch müßte Regent und Philosoph, Gelehrter und Dichter, Skeptiker und Gläubiger, Mystiker und Rationalist zugleich sein, ja fast müßte er Frevelhaftigkeit und Tugend, Gnade und Unerbittlichkeit in sich vereinen. Aber einen solchen können wir uns gar nicht vorstellen. Der Poet muß sich wohl in jeden hineinfinden können, aber wollte er einen solchen geeinten Menschen darstellen, so käme ein Monstrum von Widersprüchen, eine Puppe, der alle möglichen Gewande aufgebunden sind, zum Vorschein. Wollen wir ein Bild des Menschen oder konkreter gesprochen der Menschheit bekommen, so müssen wir die Einheit in der Vielheit erforschen, wir müssen eine Anzahl charakteristischer Individualitäten herausgreifen, und wenn wir die richtigen auswählen, dann werden wir vielleicht aus ihnen allen ein solches Bild bekommen, etwa wie ein Parlament uns ein gewisses je nach seiner Zusammensetzung allerdings mehr oder minder verzerrtes Bild des Volkes giebt; und so wie im Parlament die Repräsentanten des Volkes sitzen, so haben wir hier die Repräsentanten der Menschheit.
Aber auch damit ist die Meinung Emersons keineswegs erschöpft. Die Übersetzung des Titels ist keine völlig genaue. Emerson hat sein Buch nicht Repräsentanten der Menschheit, sondern » Representative Men« – Repräsentative Menschen – genannt. Ich hätte die letztere Übersetzung auch gewählt, wenn sie nicht im Deutschen unklar und noch überdies durch den veränderten Accent so unerträglich schleppend klingen würde. Der Unterschied ist auch kein großer, nur läßt der englische Ausdruck Emersons tiefere Auffassung mehr durchschimmern. Der Titel war im Original ein sehr glücklich gewählter, der sofort zu einem technischen Ausdruck wurde. Als das Buch im Jahre 1850 erschien und in England an allen Bahnhöfen feilgeboten wurde, war gerade Sir Robert Peel, eben noch Ministerpräsident, durch einen unglücklichen Sturz vom Pferde ums Leben gekommen, und die Zeitungen griffen den Ausdruck » Representative man« für ihn auf, und das Wort machte die Runde durch ihre Nekrologe. Aber es soll mit dem Worte noch mehr gesagt sein als die Verfasser dieser Nekrologe damit sagen wollten, und als oben rationalistischer, als Emerson es gemeint hat, interpretiert worden ist.
Die oben citierte Stelle lautet vollständig so: »Die Menschen haben eine bildliche oder repräsentative Natur und nützen uns auf geistigem Wege. Behmen und Swedenborg sahen, daß alle Dinge Symbole und Repräsentanten seien. Auch die Menschen sind Repräsentanten erstens von Dingen, zweitens von Ideen,« In dem Aufsatz über Swedenborg spricht Emerson davon, daß »die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände – Tiere, Felsen, Ströme und Lüfte, ja Raum und Zeit selbst, nicht für sich selbst existieren, noch überhaupt in ihrem materiellen Dasein resp. in ihren Beziehungen zur Materie ihre endgiltige Bedeutung haben, sondern gleichsam als eine Bildersprache da sind, um eine ganz andere Geschichte von Wesen und Pflichten zu erzählen,« und am Schlusse des Aufsatzes über Shakespeare heißt es noch schärfer, noch überraschender, noch charakteristischer: »Sie (die großen Dichter) wußten, daß der Baum einen anderen Zweck hat, als Äpfel zu tragen, daß das Korn nicht da ist, um uns Mehl zu geben, noch die Erdkugel für unseren Pflug und unsere Straßen, daß alle diese Dinge eine zweite schönere Ernte dem Geiste bringen, weil sie die Sinnbilder seiner Gedanken sind und in ihrer Naturgeschichte eine Art stummen Kommentars zum Leben der Menschen liefern.«
Die Menschen haben allezeit die Erde und ihren Reichtum unbeirrt ausgenutzt und sind immer überzeugt gewesen, daß dieselben für sie da wären, sie haben ihr Recht und ihre Herrschaft nie bezweifelt, ja sie haben sich dieselbe in ihren verschiedenen Bibeln gleichsam selbst verbrieft und beglaubigt, und es ist ihnen bis in die jüngste Zeit nie eingefallen, daß die Mäuse eigentlich ebensogut ihre Rechte an Grund und Boden, Eigentum am Korn und Löchernießbrauch einrichten könnten. Hier aber scheint ein poetischer Mensch noch kühner zu sagen: Die Welt ist dazu da, um unserem Geiste Symbole zu liefern. Das erinnert fast an das Wort, das Goethe einmal in einer übermütigen Laune ausgesprochen: »Die ratio finalis der ganzen Welt ist ihre Verwendbarkeit zur dramatischen Poesie!« Die Worte Emersons sind allerdings alles eher als übermütig gemeint. Im Gegenteil, solch eine ästhetische Weltanschauung war ihm geradezu verhaßt und hat ihm die eigentlichen Dichter schließlich doch nur als Spaßmacher höherer Ordnung erscheinen lassen. Er hat für sie eine ähnliche Verehrung und gegen sie eine ähnliche Empfindung, wie etwa Platon, der sie mit allen Ehren aus seinem Staate hinausgeleitet wissen wollte. Um genau zu verstehen, was Emerson in jenen überraschenden Sätzen meinte, muß daran erinnert werden, was in der Einleitung zum ersten Hefte dieser Sammlung von seiner Weltanschauung als von einer »völlig durchgeistigten« gesagt worden ist: daß er die Welt anders betrachtete, als wir es alltäglich thun, daß er wie Carlyle in der Erscheinung nur »einen dünnen Schleier sah, der über Abgründe gespannt ist.« Vielleicht wird folgender Gedankengang am ehesten darauf führen:
Daß alles, was wir von dieser Welt erkennen, vermutlich, ja gewiß nur ein geringer Bruchteil derselben ist, daß wir nicht mehr berechtigt sind, die Phänomene der Welt, die wir wahrnehmen, für alle, und den Zusammenhang, den wir entdecken können, für den letzten zu halten, als ein Hund oder ein Wurm berechtigt wäre, die viel geringere Zahl von Phänomenen, die ihm zugänglich sind, für die Totalsumme des Existenten zu halten, das leuchtet ein. Ebenso wissen wir, daß wir eine Reihe von Zusammenhängen, von sogenannten Naturgesetzen, von Kausalitätsreihen zu erkennen imstande sind und erkannt haben, daß wir aber nirgends noch die Enden dieser Reihen, die letzten Glieder dieser Zusammenhänge, ausfindig machen konnten. Und daß es möglich, ja sogar in hohem Grade wahrscheinlich ist, daß die Harmonien und Zusammenhänge, die »Gesetze,« die wir erkennen, in dem uns unzugänglichen Teil des All weiteren höheren »Gesetzen« untergeordnet sein mögen, etwa wie sich bei Zahlenreihen aus den Intervallen neue Reihen höherer Ordnung ergeben, und daß wahrscheinlich die ganze Reihe geistiger und sittlicher Phänomene, für welche wir annehmbare Erklärungen und Fundamente so vergeblich suchen, in solchen höheren Gesetzen ihre für uns unzugängliche Erklärung und Ursache finden. Dies zur logischen Rechtfertigung des Transcendentalismus. Von diesem Standpunkt bezeichnet Emerson den Materialismus im Essay über Montaigne kurzweg als die »Quadrupeden-Anschauung«, die eine Bekämpfung nicht wert sei.
Bei solch einer Weltanschauung kann Emerson natürlich nichts ferner liegen, als die alte Zweiteilung von Materie und Geist anzunehmen. Dennoch können wir – ohne Präjudiz – an der hergebrachten Teilung des Materiellen und Geistigen als bequemen Ausdrücken, bei welchen so ziemlich jeder weiß, was ungefähr damit gemeint ist, festhalten. Denn sobald wir die Welt vom Standpunkt eines einzigen Menschen, also eines einzigen Menschenhirns betrachten – und eigentlich giebt es ja für niemand einen anderen Standpunkt – ergiebt sich sofort dem Betrachtenden eine völlige Zweiteilung. Die Welt zerlegt sich für ihn – wenigstens scheinbar – in zwei symmetrische Hälften: die äußere Welt im Raum, die ihn umgiebt, und die Vorstellung, die er von den Dingen hat. Die Zweiteilung geschieht etwa so, wie durch eine Spiegelfläche die Welt symmetrisch in die Gegenstände vor dem Spiegel und in die Bilder hinter demselben geteilt zu werden scheint, nur mit dem Unterschied – wie Emerson in dem Essay über Shakespeare mit Bezug auf das Schaffen des Dichters bemerkt – daß die Bilder im Hirn immerhin mehr Realität haben als die im Spiegel, daß wir mit ihnen Neuordnungen und Associationen vornehmen können, was der Spiegel nicht vermag. Es läßt sich thatsächlich von den Dingen dieser zwei Welten, von den materiellen Dingen einerseits und von den Vorstellungen und Begriffen, die den Dingen entsprechen und durch sie in uns hervorgerufen sind, ein ganz verschiedener Gebrauch machen. Der Schuster hat mit dem thatsächlichen Leder und mit den Schuhen zu thun, der Bauer mit den Erdschollen und mit dem Korn, der Feldherr mit Soldaten u. s. w. Aber der Dichter z. B. arbeitet mit den Vorstellungen, mit den Bildern von diesen Dingen, die er im Kopfe trägt, und die wir im Kopfe tragen, in einer ganz anderen, freieren Art; er arbeitet mit denselben Dingen, aber auf einem höheren Felde, wo sie ihre Schwere und Materialität verloren haben, sodaß der Dichter mit Armeen, mit Korn, mit Riesensummen, mit Menschenleben, ja, wenn er will, mit der ganzen Welt spielt, gleichsam als der schöpfende, denkende Gott seiner kleinen Roman- oder Bühnenwelt. Der Dichter ist das Extrem, aber der Historiker, selbst der Naturforscher arbeitet ganz ähnlich, und im Leben jedes Menschen zeigt sich diese »doppelte ja vielfache Bedeutung und Verwertung der Dinge.« Jeder benutzt sie zu Gleichnissen, jeder zu Symbolen – und so kann auch jeder Mensch zum Symbol werden, nicht nur in der Poesie, und nicht nur die Namen großer Männer, sondern auch gewöhnliche Menschen, die wir kennen, werden uns für gewisse Ideen und für gewisse Dinge typisch. Das alles scheint beinahe Spielerei, aber alle Poesie, alle unsere Sprachen beruhen auf diesem Spiele, und in der historischen Wirklichkeit sind die großen Männer die typischen Repräsentanten von Ideen und Dingen geworden, als solche haben sie ihre Bedeutung für die Nachwelt, für uns behalten, und ihr sehr reales Leben, und nicht nur das ihre, sondern das ganzer Generationen hat sich für die Idee, die Entdeckung, die neuen Symbole, die sie vertreten, abgespielt.
Manches wird hierzu gesagt, was uns wirklich wie mystisches Spielwerk anmutet und was wir hier übergehen wollen. Was Emerson in den auf die oben citierte Stelle folgenden vier Absätzen als Grund jener »geheimen Neigungen, durch welche jeder Mensch der Interpret und Bearbeiter eines gewissen Gebiets der Natur wird,« anführt, was er über den »Elektro-Magneten, der in einem Oersted Mensch geworden sein müsse«, sagt, ist ebenso geistreich wie fragwürdig. Interessant ist daran nur, daß hier wie in vielen anderen Aufsätzen ein Transcendentalist und Mystiker zeigt, daß er alle Ideen und Resultate der modernen Naturwissenschaft sich zu eigen gemacht hat. Dem Darwinismus weiß er immer neue ethische und poetische Bedeutung abzugewinnen, und in einem Aufsatz » Science and the poets« (Die Wissenschaft und die Dichter) Im Cosmopolitan vom April 1888. hat John Burroughs darauf aufmerksam gemacht, daß Emerson bereits 1844, also lange vor den Naturforschern, aus philosophischen Gründen den Satz ausgesprochen hat, daß Wärme nichts anderes als Bewegung sei.
Was über die Bedeutung der großen Männer für die Menschheit gesagt wird, über die Verehrung und Dankbarkeit, die wir ihnen schulden, und dann wieder über ihre Grenzen und ihren unlöslichen Zusammenhang mit der übrigen Menschheit, die ja für Emerson eine große transcendentale Einheit ist, das ist verhältnismäßig klar und soll hier nicht periphrasiert werden.
Bei der Beurteilung der einzelnen Essays darf nie vergessen werden, daß es Emerson nirgends darum zu thun war, in diesen Aufsätzen biographische und kritische Portraits zu geben. Vielmehr ist jeder der besprochenen sechs großen Männer als Repräsentant einer bestimmten Geistesrichtung aufgefaßt, welche das eigentliche Thema, der eigentliche Held des Aufsatzes ist und an ihm als dem Repräsentanten nur demonstriert wird. Darum ist kein Vorwurf verkehrter als der, daß Platos Gestalt aus dem Essay nicht klar werde; daraus erklärt es sich, daß kaum ein Viertel des Aufsatzes über Montaigne sich mit Montaigne beschäftigt. An der Auswahl fällt auf, daß wir fünf Männer der Feder neben einem des Schwertes haben; es sollten eben nicht sechs Menschenklassen, sondern sechs Weltanschauungen vertreten sein. Es soll der typische Philosoph uns gezeigt werden: Plato – auf ihn folgt der religiöse Mystiker Swedenborg; diesen zwei Arten, die Welt zu deuten, tritt als dritte die Anschauung entgegen, die sich der Deutung überhaupt enthält, die dem Rätsel gegenüber ein vorsichtiges » Non liquet« ausspricht, die Anschauung des »weisen Skeptikers,« vertreten durch Michel de Montaigne. Nach der Antike und dem dogmatischen Christentum, dem »Hebraismus« in seinem modernen Gewand, nun der Skepticismus. Keine Anschauung war der Emersons entgegengesetzter und doch vielleicht keine sympathischer; nirgends zeigt sich die Doppelseitigkeit seines Wesens so vollkommen: das ehrliche Bekenntnis des Nichtswissens, das objektive Betrachten der ganzen Welt, ihrer hellen wie ihrer teuflischen Seiten und das tiefe Vertrauen auf ihr göttliches Wesen und Endziel. Er scheint völlig die Partei seines neuen Helden gegen die beiden früheren zu nehmen: »Die Antike ist uns zu kalt und zu steif, das Evangelium des Duldens zu schwächlich und zu ätherisch, wir brauchen ein Gewand aus elastischem Stahl, kräftig wie jene, geschmeidig wie dieses, wir brauchen ein Schiff, ein Muschelhaus in den Wogen, die wir bewohnen, jedes eckige, dogmatische Haus geht in Trümmer.« Dieser geschmeidige Schwimmeranzug ist die Anschauung des Skeptikers, der nichts leugnet und nichts glaubt, der die Welt nimmt, wie sie ist, und weil er nicht anders kann und in ihr so ehrlich und friedlich und genußreich als möglich zu leben sucht. Freilich, das letzte Drittel des Aufsatzes ist auf die Widerlegung dieses Standpunktes verwendet – und, um völlig ehrlich zu sein, sind die Schatten so tief als möglich gezeichnet. »Wir können nichts erkennen, aber wir müssen, wir dürfen und sollen glauben.« Das ist der wesentliche Inhalt der ganz wunderbaren Darlegung.
Diesen dreien gegenüber, die die Welt zu deuten versuchen, – denn auch in der Methode des Skeptikers liegt wider Willen ein solcher Versuch – haben wir zwei, die sie darzustellen, und einen, der sie zu leben und zu beherrschen versuchte. Shakespeare der Dichter, gewählt, weil kein anderer die Welt so unmittelbar, so ganz und so unpersönlich dargestellt hat, und Goethe der Schriftsteller, derjenige, der kein Gebiet des Lebens, vom Standpunkte höchster, leidenschaftsloser Einsicht, unerforscht und unbeschrieben läßt. Und zwischen diesen beiden als einziger Vertreter der ungeheueren Masse jener, die in der Welt lediglich das Gebiet sehen, auf dem sie Erfolg und Genuß, Ruhm und Macht und Reichtum zu suchen haben, Napoleon, der geniale Streber – denn damit wäre das Epitheton » The man of the world« vielleicht am besten übersetzt. Man sieht, Emerson hat das System der Minoritätenvertretung gründlich durchgeführt, er hat die Köpfe der Repräsentierten nicht gezählt, sondern gewogen.
Man vergleiche dagegen die ähnliche Auswahl typischer Helden in Carlyles » Hero-Worship«: Da haben wir den Helden als Gott: Odin; den Helden als Propheten: Mahomet; den Helden als Dichter: Dante und Shakespeare! den Helden als Priester: Luther, Knox; den Helden als Litteraten: Johnson, Rousseau und Burns, den Helden als König: Cromwell Napoleon. Hier ist weit mehr Gewicht auf die Thaten, auf die äußere historische Stellung des einzelnen gelegt als auf die Geistesrichtung, die er vertritt – wie es dem Wesensunterschiede Carlyles und Emersons entsprach. Aber in beiden Werken vermissen wir einen: den bildenden Künstler. Beide Bücher sind aus Vorlesungen entstanden, und Emerson hat ursprünglich, wie ich einem seiner Briefe entnehme, auch eine Vorlesung über Michelangelo gehalten, aber dieselbe scheint leider nie gedruckt worden zu sein, wenigstens ist sie in der letzten vollständigen, von J. E. Cabot, dem litterarischen Exekutor Emersons, veranstalteten Ausgabe nicht enthalten, noch habe ich sie sonst in einem Verzeichnis entdecken können. Auch Carlyle hat einmal eine Lebensgeschichte Michelangelos schreiben wollen, aber er gab die Absicht auf, weil er zu wenig Interesse für die Kunst besaß und sich zu wenig Verständnis dafür zutraute.
Carlyle verglich die » Representative Men« mit einer Reihe höchst vollendeter Stahlstiche in Linearmanier; »Portraitbilder voll Ähnlichkeit und übervoll an Material zur Belehrung und zum Nachdenken.« Der Essay über Plato sagte ihm am wenigsten zu. Wir möchten im Gegenteil gerade den Essay über Plato neben dem über Montaigne für den vorzüglichsten erklären. Die tiefsinnige Gegenüberstellung orientalischen und europäischen Geistes und die wunderbare Auseinandersetzung, wie Plato die beiden Elemente in sich vereinigte und so die Basis der europäischen Kultur und Religion schuf – die ja noch heute auf dieser zwiegeteilten Basis stehen –, die Darstellung des Höhepunktes der attischen Kultur, so wenig Worte darauf verwendet sind, vor allem aber das Portrait des Sokrates sind unvergleichlich. So oft auch bereits versucht worden ist, Sokrates zu schildern: plastischer, lebendiger hat ihn niemand gezeigt. Der Abschnitt beweist ebenso wie der Essay »Napoleon,« daß Emerson recht wohl konkret sein konnte, wenn es ihm einmal darum zu thun war. Mit der tiefsten geistigen Durchdringung – die wie eine Erläuterung zu dem schönen Bilde im »Gastmahl« von dem Satyr, in dem ein Gott steckt, scheint, – ist eine Anschaulichkeit verbunden, daß man die Straßen Athens zu sehen und den Alten mit den großen Ohren plaudern und nach irgend einem gelungenen dialektischen Streich behaglich in sich hinein lachen zu hören glaubt. Platos Stil und die Art seiner Forschung sind schwerlich jemals gründlicher und herrlicher besprochen worden. Und unbestechlich wie immer – wenn er die eine Wagschale mit allen Vorzügen und den höchsten Attributen beschwert hat – verliert Emerson nie das Urteil über den Gepriesenen, wird er nie blind gegen seine Mängel, und so deckt er auch die Platos auf und erweist – weil das Thema ja eigentlich ein viel größeres ist – an ihm die Unzulänglichkeit aller Philosophie.
Der mindestbekannte unter den besprochenen Denkern dürfte Swedenborg »der Mystiker« sein, der große schwedische Naturforscher, Ingenieur und Theologe. Als Repräsentant kommt er eigentlich nur in dieser letzten Eigenschaft in Betracht, denn alle Theologie ist Mystik, weil sie die flutenden Ideen an ein für allemal fixierte Symbole heftet. Das allein ist es, was die Theologie von der philosophischen Metaphysik unterscheidet, daß die letztere allgemeine, abstrakte Ausdrücke wählt, die erstere aber historische und konkrete, unter welchen ihr freilich der geistige Inhalt mit der Zeit entweicht und ihr die hohlen, starrgewordenen Symbole zurückläßt. Swedenborg und Plato sind überhaupt die zwei Schriftsteller, welche auf Emerson den größten Einfluß genommen haben, deren Schüler man ihn nennen könnte. Seine Mystik ist vielfach auf die Swedenborgs zurückzuführen; nur die dogmatische, christlich-theologische Formulierung der Swedenborgschen Mystik ist es, die er abgestreift hat und bekämpft. Er führt uns in dem Essay die ganze Größe des Mannes vor, seine kolossale Vielseitigkeit, die Kühnheit und Tiefe seiner Einsicht, aber nicht ohne die Krankhaftigkeit und eben die theologische Einseitigkeit seines Geistes zu betonen. Und so wird auch der zweite Erkenntnis-Versuch als unzulänglich verworfen, der dogmatisch-kirchliche Versuch einer künstlichen Lösung der ewigen Fragen: – »Er hält sich ans christliche Symbol, anstatt an das sittliche Gefühl, das unzählige Christenheiten, Menschlichkeiten und Göttlichkeiten im Busen trägt.« »Die hebräische Poesie hat auf diesen Mann denselben übermäßigen Einfluß ausgeübt, wie auf die Nationen Europas überhaupt.« »Palästina wird immer wertvoller als Kapitel der Weltgeschichte, immer unnützer als Erziehungs-Element.« Es ist nicht Swedenborg, es ist ein ganzes, ungeheueres, zwei Jahrtausende altes religiöses System, – nicht der Geist desselben, das System – das in dem Satze verurteilt wird: »Es sind glanzlose Landschaften für uns, Totengärten, in denen nie ein Vogel gesungen; sein Lorbeer ist zu sehr mit Cypressen vermischt, ein Leichengeruch mengt sich mit seinem Weihrauch – Knaben und Mädchen werden den Plan meiden.«
Der Essay über Napoleon ist, wie der Stoff es mit sich brachte, der einfachste von allen. Die Auffassung von Napoleons Persönlichkeit ist eine ganz eigenartige und interessante, die Charakterisierung aufs trefflichste durchgeführt. Napoleon ist für ihn ein Mann, der durchweg materielle und sinnliche, also durchaus gemeine Ziele – »gemein« im ursprünglichen Sinne des Wortes – verfolgt und diese Ziele mit Hintansetzung aller sittlichen Bedenken, die für ihn nur ideologische Hirngespinste sind, mit den Mitteln der großartigsten Begabung und durch die genialste und rücksichtsloseste Anwendung aller Mittel zu erreichen sucht und weiß. Kurz, der glänzende Typus des Strebers, der mit Genialität umkleidete Alltagsmensch, der das sucht und anstrebt, was die Alltagsmenschen insbesondere des neunzehnten Jahrhunderts anstreben – Carriere, Einfluß, Reichtum, tönenden Ruf, – der daher ihr geborener Führer ist. Ein Mann ohne jedes Attribut des Höheren und Schönen; in den Schalen dieser kolossalen Begabung steckt ein unehrenhafter, gemeiner Mensch, ein Mann, der seine Memoiren fälscht, der jeden ausbeutet, ohne einem dankbar zu sein, der dem großen Chemiker kein Laboratorium gewährt, sondern nur eine Fabrik zu errichten gestatten will, und trotz alledem eine historische Erscheinung, an der wir uns immer wieder freuen werden, die uns ewig mit Interesse erfüllen wird, weil er seiner Aufgabe so völlig gewachsen war, weil »die Menschen immer wieder ihre Freude daran haben, wenn ein aktueller König auch ein nomineller König wird.« – Aber fast noch interessanter als der Aufsatz und für Emersons Persönlichkeit noch charakteristischer ist uns der dem Wesen solcher Persönlichkeit entgegengerichtete kommunistische Schluß des Aufsatzes erschienen, in welchem die beiden großen Gegenströmungen der Zeit, die Tendenzen beider Parteien der civilisierten Welt, der erhaltenden wie der revolutionären, gleicherweise verurteilt werden. Weil beide utilitarisch sind, weil beide Interessenkämpfe führen: »Jedes Experiment, das ein sinnliches und selbstsüchtiges Ziel hat, ob es nun von Individuen oder von Massen versucht werde, wird fehlschlagen. Der friedliche Fourier wird so wenig ausrichten wie der zerstörende Napoleon. So lange unsere Civilisation wesentlich eine solche des Privateigentums, der Schranken, der Exklusivität ist, wird sie Enttäuschung auf Enttäuschung bringen. Unser Reichtum wird uns Krankheit bringen, in unserem Gelächter wird Bitterkeit sein und unser Wein wird uns im Munde brennen. Nur das Gut bringt wahren Nutzen, das wir bei offenen Thüren genießen können, und das allen Menschen in gleicherweise dient.« Es ist die alte christliche, heidnische, immer gleiche Erkenntnis der Weisen und Guten, realisierbar, sobald nur solche auf der Welt sind. Emerson sah ein, daß die Zeit noch nicht gekommen war, daß er vorläufig sich noch »der Erniedrigung unterziehen mußte, Geld in der Bank zu haben und arme Leute leiden zu sehen.« Er versuchte auf dem Wege der freisinnigsten Gastfreundschaft und äußerster Rücksicht und Fürsorge für die Dienerschaft in Haus und Gut das Seinige zu thun. Viele Experimente scheiterten oder erwiesen sich als schädlich. Am interessantesten ist wohl jener merkwürdige Versuch, ernstlich eine kleine Gemeinde auf kommunistischer Grundlage zu gründen, der im Jahre 1840 in Massachusetts unternommen wurde und als das »Brookfarm-Experiment« eine gewisse Berühmtheit erlangte; einer der vielen derartigen Versuche, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts unternommen wurden. Auch Emerson nahm daran teil, obgleich er sich dabei nicht wohl fühlte. Das Experiment scheiterte nicht nur an der privatwirtschaftlichen Einrichtung der übrigen Welt, als auch an dem mehr beschaulich-ästhetischen als aktiven Gebahren vieler Teilnehmer. Doch gestand Emerson stets, daß der geistige und sittliche Vorteil, den alle aus diesem wenn auch mißglückten Versuche eines kommunistischen Zusammenlebens von Männern und Frauen aller Stände gezogen hatten, ein ganz unschätzbarer gewesen sei.
Wir sind auf dieses biographische Detail, das sich scheinbar von unserem Thema entfernt, eingegangen, weil es uns nicht unwichtig schien, bei Besprechung dieses Buches, in welchem Emerson die Frage der Menschheit aufwirft, auch auf seine Stellung zur socialen Frage wenigstens ein Streiflicht zu werfen. Auch giebt der Essay (Napoleon), der implicite eine Kritik der materiellen Bestrebungen unseres Jahrhunderts enthält, hierzu Anlaß genug. Er wie Carlyle war aufs tiefste davon durchdrungen, daß ohne sittliche Regeneration keine sociale möglich sei, daß nur die äußerste Selbstverleugnung von allen Seiten und Hintansetzung aller materiellen Interessen dieselbe durchführbar machen könnten. Er hat an irgend einer Stelle einen sublimen Satz ausgesprochen, der ebenso einfach, so einleuchtend wahr und doch so völlig utopisch ist; er sagt ungefähr folgendes: Unsere ganze sociale Ordnung mit all ihren Vorteilen und Schäden beruht darauf, daß jeder Mann mit gespanntester Aufmerksamkeit darauf achtet, daß kein anderer ihm ein Unrecht thue; alle Vorteile ließen sich wahren und alle Schäden vermeiden, wenn jeder Mensch es als seine erste Sorge betrachten würde, daß er keinem anderen ein Unrecht zufüge.
Am wenigsten befriedigt den deutschen Leser der Essay über Goethe. Aber auch der Engländer Garnett meint, der Versuch sei ein verfehlter gewesen, Goethes vielseitige Thätigkeit lasse sich nicht in eine Vorlesung zwingen. Es ist nicht nur das, wir haben ihm einen tieferen Vorwurf zu machen. Wir finden, daß Emerson trotz einzelner vortrefflicher Bemerkungen weder der Persönlichkeit und noch viel weniger der Weltanschauung, die sie vertritt, gerecht wird. Die Wahl des Repräsentanten, des typischen Schriftstellers, desjenigen, dem kein Gebiet des Lebens, kein Phänomen des Lebens uninteressant und undarstellbar erscheint, ist eine vorzügliche. Dasjenige, um was es sich dem Plan des Buches gemäß handelte, scheint erreicht. Aber das entschädigt nicht für ein Bild, das uns in vielen Zügen verfehlt, für Urteile, die uns schief erscheinen. Emerson hat die Genialität Goethes begriffen, aber nicht den Menschen Goethe verstanden, und diese beiden sind für uns unzertrennlich. Auch das Leben, das Goethe gelebt hat, ist für uns ein im höchsten Sinne typisches und ein ideales, ein Kunstwerk, das dem Besten, das er geschaffen, gleichkommt. Emerson findet Goethe kalt, weltlich u. s. w. Diese Beurteilung ist uns nicht neu. Auch sein Urteil über die Schriften Goethes erinnert an das Herders: »Teilnahmlose genaue Schilderung der Sichtbarkeit.« Er kann sich den Schönheiten und der tiefen Lebensweisheit im Wilhelm Meister nicht verschließen, aber er hat den sonderbaren Einfall, die »Consuelo« der George Sand dem Buch gegenüber und ethisch bei weitem höher zu stellen; er bedenkt nicht, wie leicht ethische Tiraden, wie leicht die begeisterte Überschwenglichkeit, wie viel schwerer es ist, das wirkliche tägliche, nicht romanhaft verstellte Leben mit all seinen Schatten und Negationen und Teufeleien und Enttäuschungen in einem so sonnigen Licht, in so unerschütterlich lebensmutiger und hochstrebender Weise zu betrachten und auszulegen. Er, der jeden als unvollständig hinstellt, auf die notwendigen Grenzen eines jeden stets aufmerksam macht, er fällt hier an seiner eigenen Begrenztheit, war selbst zu halb, um den Ganzesten von allen, die er bespricht, zu fassen. Diese neue Inkarnation des alten heiteren schöpferischen Jupiter war dem Enkel so vieler Theologen zu frei und groß; er ahnte nicht, daß hier eine neuartige hohe Sittlichkeit der Welt gezeigt ward, die im Grunde keine andere war, als die er selbst lehrte. Vielleicht hat er ihn nur zu jung kennen gelernt als er noch in Schranken lebte, die er später abstreifte, und das alte Vorurteil nicht mehr überwinden können. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß in den vierziger Jahren über Goethes Leben – besonders in Amerika – noch nicht so viel bekannt war, wie heute, daß Goethes Gestalt nicht so klar dastand, daß Goethe selbst die Anschauungen der Welt vielfach umwandeln mußte, ehe sie ihn begriff.
Eine ähnliche Unzulänglichkeit fällt uns gegen den Schluß des Essays über Shakespeare auf, der nebenbei bemerkt gleich dem vorigen bereits einmal von Hermann Grimm ins Deutsche übersetzt worden ist. Wir fürchten, Emerson suchte hier Gestalten zu umspannen, die ihm zu gewaltig waren, und deren Antlitz von hoch oben auf seinen ethischen Maßstab herablächelte. Es ist wieder Emersons eigener Mangel, wenn er Shakespeare vorwirft, bei der Schönheit der Welt verweilt zu haben und den tieferen Schritt zur Erkenntnis und Darlegung ihres ethischen Sinnes unterlassen zu haben. Er selbst klagt, daß diejenigen, die den Schritt gethan, alsbald die Schönheit aus den Augen verloren, daß das Leben traurig, freudlos, eine Last von Pflicht und tödlicher Entsagung, von Verbrechen und Höllenstrafen geworden. »Wir harren des Dichter-Priesters,« so schließt er, »der die Welt von beiden Gesichtspunkten betrachten und darstellen wird.« Wir meinen: entweder ist das unmöglich, oder es ist wohl schon der Fall gewesen. Solch ein Dichter-Priester war – wenn wir von der Antike absehen – zweifellos Dante, der die Schönheit sah und das Gericht nicht zurückhielt. Ohne eine Hölle ist es freilich nicht abgegangen. Und an Grenzen hat es ihm auch nicht gefehlt. Aber wann wird ein Mensch die Tausendseitigkeit der Welt in ein Buch fassen können, insbesondere wenn das Buch ein Kunstwerk sein soll! Wenn aber einer dieser unmöglichen Forderung näher gekommen ist als irgend ein anderer, dann ist es Goethe gewesen, und wir und vielleicht manche mit uns sind der Meinung, daß in ihm solch ein Versöhner und der Verkündiger einer neuen, einer gerade durch ihre sittliche Kraft froheren, einer weder asketischen noch eudämonistischen Weltanschauung erschienen ist, einer neuen Ethik, zu deren vornehmsten Vertretern Emerson selbst, ohne es zu ahnen, gehört. Doch das führt auf Fragen, die hier nicht erledigt werden können.
Und anderseits mußte Emerson auch die Unzulänglichkeit der Kunst betonen: auch sie ist von dem weltumfassenden Standpunkt, den er in diesem Buche einnahm oder wenigstens einnehmen wollte, einseitig; sie kann darstellen, sie kann erfreuen – aber sie läßt uns zuletzt als hilflose Menschen, wie wir es vorher waren. Sie ist unvermögend wie ein Spiegel, sie zeigt uns Bilder, die schönsten, die die Menschheit beobachten oder erträumen konnte, aber es sind eben nur Bilder: sie giebt uns Freiheit im Spiel, aber wir sind nur wie der Knabe Kyros, der den König spielt, die Magier haben recht: wir werden nie zu wirkliche» Herrschern. Und das fühlte auch Goethe:
»Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen!
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach außen nichts bewegen.«
Wir haben uns nach Emersons eigenem Vorgehen gerichtet und die Mängel seines Werkes nicht minder als die Vorzüge betont. Es ist trotz jener ein ganz eigenartiges, unvergleichliches, reiches Buch. Der Übersetzer könnte sich eine erfreulichere Arbeit kaum vorstellen. Es ist eine Fülle neuer Ideen, prächtiger Bilder und wunderbarer Lebensweisheit darin enthalten. Wer hat die Tragödie unseres Lebens tiefer und poetischer ausgesprochen, als es in folgender Stelle im »Skeptiker« geschehen ist:
»Jeder jugendliche, feurige Geist klagt die göttliche Vorsehung einer gewissen Kargheit an. Sie hat jedem ihrer Kinder Himmel und Erde gezeigt und es mit einer Sehnsucht nach dem Ganzen erfüllt, einem rasenden, unendlichen Verlangen, gleich dem des Weltraums, mit Planeten erfüllt zu werden, einem Schrei des Hungers, wie der des Teufels nach Seelen. Und zur Befriedigung wird jedem Menschen ein einziger Tropfen, eine Tauperle von Lebenskraft, per Tag, gegeben, – ein Kelch groß wie der Weltraum und ein Tropfen vom Wasser des Lebens darin. Jeder erwachte des Morgens mit einem Hunger, der das Sonnensystem hätte verzehren können, einem Hunger nach Thaten und Leidenschaften ohne Grenzen, er hätte mit der Hand nach dem Morgenstern greifen, er hätte die geheimsten Rätsel der Gravitation und der Chemie ergründen mögen – und bei der ersten Bewegung lassen ihn Hand und Fuß im Stich und versagen den Dienst. Er gleicht einem Kaiser, den sein Reich verlassen, und der sich nun etwas vorpfeifen kann, ja er ist unter einen Pöbel von Kaisern gestoßen, die alle vor sich hin Pfeifen, und immer noch singen die Sirenen: »Das was uns anzieht, muß unserem Schicksale entsprechend sein.« In jedem Hause, im Herzen jedes Mädchens und jedes Knaben, in der Seele des sehnsüchtig emporverlangenden Heiligen gähnt derselbe Abgrund – zwischen dem reichsten Versprechen idealer Kraft und der armseligen Erfahrung.«
Und solchem Elend gegenüber giebt es nichts Erfrischenderes als seine Werke, als speciell diesen Hinweis auf jene, die aus diesem Leben dennoch etwas gemacht, die mit jenem einen Tropfen Lebenskraft so viel erreicht haben. Ich habe bereits an anderer Stelle In Nr. 34 der »Zeit« vom 25. Mai d. J. ausgeführt, wie sehr es nur gerade heute an der Zeit scheint, dieses Buch zu verbreiten, wie sehr gerade heute das Verständnis für das Wesen und die Bedeutung der großen Männer in der Weltgeschichte an vielen Stellen im Schwinden ist. So oft eine große Volksschichte emporstrebte, haben ihre Führer, um ihr bewußt oder unbewußt zu schmeicheln, gesagt, daß es eine wirkliche geborene geistige Aristokratie nicht gebe, daß die Menschen von Geburt aus gleich seien. Das versicherten Helvetius und seine Zeitgenossen dem dritten Stand, dasselbe sagen heute die socialdemokratischen Führer dem Vierten. Und die wissenschaftliche Theorie, die von großen Bewegungen immer mitbewegt wird, versucht vielfach, mehr oder minder bewußt, das Gleiche zu verteidigen. Und dem gegenüber kann nicht oft genug das betont werden, was Emerson und insbesondere Carlyle so oft gesagt: Die Menschheit ist von Natur aus aristokratisch eingerichtet und kann nur aristokratisch geleitet werden. Nur sind nicht diejenigen ihre Aristokraten, die man heute so nennt, und die sich gedankenlos dafür halten. Und jede Bewegung, wenn sie zum Heil der Menschheit ausschlagen soll, hat keinen anderen Zweck, als die wirklichen Aristokraten, die berufenen Führer zu erheben, keinen anderen Grund, als daß die Leitung der Unfähigen und Unberufenen unerträglich geworden ist. Und ein Buch, das uns dies aufs tiefsinnigste klarlegt, das uns eine Anzahl Männer, die solche Aristokraten unbezweifelt gewesen sind, in ihrer Stellung zur Menschheit und zum All darstellt, ein Buch, das gleichzeitig ohne Hochmut, im versöhnendsten Sinne geschrieben ist, und anerkennt, wie viel die Großen ihrerseits auch den Massen verdanken, ist heute, gerade weil es so unzeitgemäß scheint, sehr zeitgemäß.
Wien, im Herbst 1895.
D.
Karl Federn.