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Jede Thatsache der Welt hat zwei Seiten, eine sinnenfällige und eine, die dem Geiste angehört. Und das Spiel der Gedanken besteht darin, sobald eine dieser zwei Seiten erscheint, die andere zu finden, wenn die obere gegeben, die untere zu entdecken. Kein Ding ist so dünn und fein, das nicht diese zwei Seiten hätte; und wenn der Beobachter die ihm zugekehrte gesehen, dreht er es herum, die Reversseite zu betrachten. Das ganze Leben vergeht mit diesem Pfennigwerfen: Bild oder Schrift! Wir werden dieses Spiels nie müde, denn immer noch ergreift uns ein leichter Schauder des Erstaunens über das Auftauchen des anderen Gesichts und über den Kontrast der beiden Gesichter. Da geht ein Mann, aufgeregt von seinen Erfolgen, und denkt nach, was dieses Glück eigentlich bedeuten mag. Er führt seinen Gewinn durch die Straßen; aber es zeigt sich bald, daß auch er gekauft und verkauft ist. Die Schönheit eines Menschenantlitzes fällt ihm auf, und er fragt nach dem Grunde dieser Schönheit, der ja noch schöner sein muß. Er schmiedet sein Glück, er schützt das Gesetz, er liebt seine Kinder, aber er fragt sich selbst: Warum? und Wozu? Dieses »Bild« und diese »Schrift« werden in der Sprache der Philosophie bald das »Endliche« und das »Unendliche,« bald das »Absolute« und das »Relative«, die »Erscheinung« und das »Reale« und mit noch vielen anderen schönen Namen benannt.
Jeder Mensch, der da geboren wird, bringt die Anlage für die eine oder die andere dieser zwei Seiten mit auf die Welt, und es kann leicht geschehen, daß wir Menschen begegnen, welche sich der einen oder der anderen ganz hingegeben haben. Der einen Klasse ist eine besondere Wahrnehmungsgabe für die Differenzierungen eigen, ihre Welt sind die Tatsachen und Oberflächen, Städte und Personen, ihre Aufgabe ist es, gewisse Dinge zum Geschehen zu bringen: es sind die Menschen des Talents und der Aktion. Anderen ist die Erkenntnis der Identität gegeben, und sie sind die Männer des Glaubens und der Philosophie, die Männer des Genies.
Jeder von diesen Reitern reitet zu schnell. Plotinus glaubt nur an Philosophen, Fénélon an Heilige, Pindar und Byron an Poeten. Man muß nur die hochmütige Sprache lesen, in der Plato und die Platoniker von allen Leuten sprechen, die sich nicht mit ihren gleißenden Abstraktionen befassen: andere Leute sind für sie wie Ratten und Mäuse. Die Männer der Litteratur bilden meist eine stolze und exklusive Klasse. Die Korrespondenz Popes und Swifts schildert die Menschen ihrer Umgebung ungefähr, wie man Ungetüme schildert, und diejenige Schillers und Goethes, in unserer Zeit, ist kaum liebevoller.
Es ist nicht schwer zu erkennen, woher diese Anmaßung kommt. Der erste Blick, den das Genie auf irgend einen Gegenstand wirft, der macht es zum Genie. Hat sein Auge schöpferische Kraft? Halten ihn Ecken und Farben nicht auf, sieht er den Urplan des Dinges – – er wird in der Folge den wirklichen Gegenstand unterschätzen. In kraftvollen Augenblicken hat sein Geist die Werke der Natur und der Kunst in ihre Grundideen aufgelöst, sodaß die Werke selbst plump und fehlerhaft erscheinen. Er hat die Vorstellung einer Schönheit, die kein Bildhauer verkörpern kann. Bild, Statue, Tempel, Eisenbahn und Dampfmaschine existierten zuerst im Geiste des Künstlers ohne Flecken, Fehler oder Reibung, die das ausgeführte Modell beeinträchtigen. So war es auch mit der Kirche, dem Staat, der Schule, dem Hof, den socialen Kriegen und allen Institutionen. Es ist kein Wunder, daß diese Leute, die das im Geiste haben, was sie von Ideen gescheut und gehofft, verächtlich die Superiorität der Ideen verfechten. Da sie zu gewissen Zeiten gesehen, daß die glückliche Seele potentiell alle Künste in sich trägt, fragen sie: wozu uns mit überflüssigen Realisationen belasten? Und gleich träumenden Bettlern versuchen sie so zu sprechen und zu handeln, als ob jene Werte bereits Wirklichkeiten geworden wären.
Auf der anderen Seite wiegen die Männer der Arbeit, des Handels und des Genusses, die ganze animalische Welt, das Animalische im Philosophen und Poeten mit eingerechnet, und die praktische Welt mit all ihren peinlichen Plackereien, die dem Philosophen oder Poeten so wenig geschenkt werden wie den anderen – sie lasten schwer in der anderen Schale. Der Handelsverkehr in unseren Straßen glaubt an keine metaphysische Ursache, weiß nichts und hält nichts von der Kraft, welche die Existenz von Handelsleuten und eines handeltreibenden Planeten notwendig hervorrief, – sondern hält sich an Baumwolle, Zucker, Tuch und Salz. Die Aufsichts-Kommissionen an Wahltagen lassen sich durch keinen Zweifel am Werte ihres Scrutininiums milder stimmen. Das heiße Leben strömt immer in einer einzigen Richtung. Den Männern dieser Welt, der animalischen Kraft und animalischem Feuer, den Leuten, die über materielle Macht verfügen, wird, so lange sie darin stecken, der Mann der Ideen wie ein Vernunftberaubter erscheinen. Vernunft haben nur sie.
Auch die leblosen Dinge bringen stets ihre Philosophie mit sich; diese Philosophie ist die Klugheit. Kein Mensch erwirbt Eigentum, ohne zugleich auch ein wenig Arithmetik zu erwerben. In England, dem reichsten Land, das es jemals gegeben, gilt der Besitz an sich, gegenüber den persönlichen Fähigkeiten, mehr als in irgend einem anderen Lande. Nach dem Mittagsessen glaubt der Mann weniger und leugnet mehr; die Wahrheiten haben ein wenig von ihrem Reiz verloren. Nach dem Essen ist Arithmetik die einzige Wissenschaft, die noch gilt: Ideen sind störende, brandlegerische Thorheiten junger Leute, die vom soliden Teil der Gesellschaft zurückgewiesen werden, und der Mensch wird nur mehr nach seinen athletischen und animalischen Eigenschaften geschätzt. Spence erzählt, daß Mr. Pope eines Tages bei Sir Godfrey Kneller zu Besuch gewesen sei, als der Neffe des letzteren, ein Guinea-Fahrer, ins Zimmer trat. »Neffe,« sagte Sir Godfrey, »Sie haben die Ehre, zwei der größten Männer der Welt vor sich zu sehen.« »Ich weiß nicht, wie große Männer ihr sein möget,« sagte der Mann von Guinea, »aber ich könnte nicht sagen, daß ihr mir gerade besonders gefallt. Ich hab' schon oft einen Kerl, besser als ihr beide zusammen, einen Kerl, ganz Knochen und Muskeln, für zehn Pfund gekauft« So rächen sich die Sinnenmenschen an den Professoren und geben ihnen Verachtung für Verachtung zurück. Die ersteren schwingen sich mit einem kühnen Satz zu Schlüssen, die noch lange nicht reif sind, empor und sagen mehr, als wahr ist; die anderen machen sich über den Philosophen lustig und wägen die Leute nach dem Pfund. Sie glauben, daß Senf auf der Zunge beißt, daß Pfeffer scharf ist, daß Zündhölzchen Feuer geben, daß Revolver zu meiden sind und Hosenträger die Hosen halten, daß in einer Theekiste viel Gefühl steckt, und daß ein Mann beredt ist, wenn man ihm guten Wein zu trinken giebt. – Wenn aber einer an Zartgefühl und an Skrupeln leidet, der muß mehr Rindfleisch essen. Sie sind der Ansicht, daß Luther »Milch« im Leibe hatte, als er den Ausspruch that:
»Wer nicht liebt Weib, Wein und Gesang,
Der bleibt ein Narr sein Leben lang;«
und als er einem jungen Gelehrten, dem Prädestination und freier Wille keine Ruhe ließen, den Rat gab, sich einmal tüchtig anzutrinken. »Die Nerven sind der Mensch,« sagt Cabanis. Mein Nachbar im Schankzimmer, ein lustiger Pächter, ist der Ansicht, daß der beste Gebrauch des Geldes schnelles und sicheres Ausgeben sei: »er für seinen Teil,« sagt er, »lasse das seine durch den Hals fließen und kriege so das Gute heraus, das man davon haben könne.«
Diese Denkungsart hat aber den Nachteil, daß sie zur Gleichgiltigkeit und dann zum Ekel führt. Das Leben zehrt uns auf. Auch wir werden bald Fabeln sein. Bleibt doch kühl: in hundert Jahren wird es alles eins sein. Das Leben ist schon recht; aber wir werden noch einmal froh sein, aus ihm hinauszukommen; und alle werden froh sein, daß wir draußen sind. Warum uns so eilen und placken? Unser Essen wird uns morgen nicht anders schmecken als gestern, und wir werden zuletzt genug davon haben. »Ach,« sagte der blasierte Herr in Oxford, »es giebt nichts Neues noch Wahres – aber was liegt daran?«
Nur um einen Ton bitterer klingt der Seufzer des Cynikers: Unser Leben gleicht dem Esel, den sie mit einem Bündel Heu, das sie vor ihm her tragen, zum Markte locken; er sieht nichts als das Bündel Heu. »Es kostet so viel Mühe, bis einer auf die Welt kommt«, sagte Lord Bolingbrocke, »und so viel mehr Mühe und so viel Gemeinheit dazu, bis er wieder hinauskommt, daß es wirklich nicht dafür steht, überhaupt da zu sein.« Ich kenne einen Philosophen von dieser Sorte, der seine Erfahrung über die menschliche Natur in dem einen Satze kurz zusammenzufassen pflegte: »Die Menschheit ist ein verdammtes Lumpengesindel;« und dann folgt mit ziemlicher Sicherheit der natürliche Zusatz: »Die Welt lebt vom Schwindel, und ich denke desgleichen zu thun.«
Während der Abstraktionist und der Materialist sich so gegenseitig zur Verzweiflung treiben und der Spötter das Allerschlimmste des Materialismus ausspricht, bildet sich bereits eine dritte Partei, welche die Mitte zwischen beiden hält, die der Skeptiker. Der Skeptiker giebt beiden Teilen unrecht, und zwar weil sie sich in Extremen bewegen. Er strebt danach, seine Füße sicher zu stellen, er versucht es, der Balken der Wage zu sein. Er geht nicht weiter, als seine Landkarte reicht. Die Einseitigkeit der Leute auf der Straße entgeht ihm nicht; er hat keine Lust, ein Gibeonite zu sein; er vertritt die intellektuellen Fähigkeiten, einen kühlen Kopf und alles, was dazu dient, ihn kühl zu erhalten; – keinen schlechtberatenen Eifer, keine unbelohnte Selbstaufopferung, keinen Verlust an Hirn und Überarbeit! –»Bin ich ein Ochs oder ein Karren?« »Ihr verfallt beide ins Extrem,« sagt er. Ihr, die ihr alles solid wollt, für die die Welt aus Blockblei besteht, ihr unterliegt der gröbsten Täuschung, ihr glaubt euch festgewurzelt und auf Stahl gegründet; und doch, wenn wir die letzten Thatsachen unseres Wissens aufdecken, steigt ihr wie Blasen im Fluß empor, ihr wißt nicht, woher oder wohin, und ihr wohnt und kleidet und hüllt euch in Sinnestäuschungen.
Aber er läßt sich auch nicht zu den Büchern verleiten und hüllt sich nicht in den Talar des Gelehrten. Die Männer der Studien sind ihre eigenen Opfer; sie sind mager und bleich, ihre Füße sind kalt, ihr Kopf heiß, sie verbringen die Nächte ohne Schlaf, die Tage in Furcht vor Unterbrechung, – in Bleichsucht, Unsauberkeit, Hunger und Egoismus. Wenn man sich ihnen nähert und sieht, was für Einbildungen sie erfüllen – verrathen sie sich als Abstraktionisten, die Tag und Nacht mit dem Austräumen eines Traumes verbringen und sich in der beständigen Erwartung verzehren, die Gesellschaft eines Tages einem kostbaren System zu Füßen sinken zu sehen, das sie entworfen, das auf einer Wahrheit erbaut ist, dem aber die richtigen Verhältnisse in der Darstellung, die richtigen Maße zur Anwendung fehlen, und das vor allem der Entdecker mangels jeder Willensenergie weder zu verkörpern noch zu beleben imstande ist.
Ich aber sehe klar, sagt der Skeptiker, daß ich nichts sehen kann. Ich weiß, daß die Stärke der Menschen nicht in den Extremen, sondern im Vermeiden der Extreme liegt. Ich wenigstens will nicht in die Schwäche verfallen, tiefer zu philosophieren, als die Tiefe meines Wesens erlaubt. Was nützt es, Kräfte vorzugeben, die wir nicht haben? Was nützt es, Gewißheiten über ein künftiges Leben zu behaupten, die wir nicht besitzen? Wozu die Macht der Tugend übertreiben? Warum denn vor der Zeit ein Engel sein? Das heißt, die Sehnen zu scharf spannen, und sie werden auch reißen. Wenn wir den Wunsch nach Unsterblichkeit hegen, aber keine Beweise dafür haben, warum sollten wir es denn nicht eingestehen? Wenn die Beweise einander widersprechen, warum sie nicht einfach konstatieren? Und wenn ein aufrichtiger Denker nicht Boden genug findet, um sich endgiltig für Ja oder Nein zu entscheiden, warum nicht die Entscheidung selbst vertagen? Ich bin all dieser Dogmatiker müde, und ebenso all dieser Gewohnheitstiere, welche die Dogmen leugnen, satt. Ich behaupte nichts und ich leugne auch nichts. Ich bin hier, um den Fall zu untersuchen. Ich habe nur zu betrachten, zu σϰέπτειν, zu betrachten, wie die Sache sich verhält. Ich will einmal versuchen, die Wage richtig zu stellen. Was nützt es, sich auf die Kanzel zu stellen und mit geläufigem Geschwätz Theorien der Gesellschaft, der Religion, der Natur zu entwickeln, wenn ich weiß, daß ihrer Verwirklichung praktische Hindernisse im Wege liegen, die für mich und meine Gefährten unübersteiglich sind? Wie komm' ich dazu, vor meinem Publikum so redselig aufzutreten, wenn jeder meiner Nachbarn mich mit Argumenten, die zu widerlegen ich ganz außer stande bin, auf meinen Sitz nageln kann? Wie wagen wir zu behaupten, daß das eben ein so einfaches Spiel sei, da wir doch wissen, wie subtil und wie trugvoll dieser Proteus ist? Wie könnt ihr daran denken, alle Dinge in euren Hühnerkorb zu sperren, da wir doch wissen, daß es nicht ein oder zwei, sondern zehn, zwanzig, tausend Dinge giebt, die alle ungleich sind? Was bildet ihr euch ein, daß ihr alle Wahrheit in Verwahrung habt? Es läßt sich auf allen Seiten gar vieles sagen.
Wer wird sich einem weisen Skepticismus widersetzen, der da erkennt, daß es keine praktische Frage giebt, für welche sich mehr als eine approximative Lösung finden läßt? Ist nicht das Institut der Ehe eine offene Frage, da seit Anbeginn der Welt behauptet wird, daß alle, die darin sind, herauszukommen wünschen, und alle, die nicht darin sind, hineinzukommen? Immer noch bleibt die Antwort vernünftig, die Sokrates einem, der ihn fragte, ob er ein Weib nehmen oder unvermählt bleiben sollte, gab: daß, ob er nun freien möge oder nicht, er das Gethane sicherlich bereuen werde. Ist der Staat keine Frage? Die ganze Gesellschaft ist bezüglich des Staates geteilter Meinung. Niemand liebt ihn; eine große Anzahl mag ihn nicht leiden, fühlt Gewissensbisse, wenn sie ihn anerkennt, und die einzige Verteidigung, die sich zu seinen Gunsten vorbringen läßt, ist die Furcht, im Falle der Desorganisation noch schlimmer zu fahren. Geht es mit der Kirche anders? Oder, um eine der Fragen aufzuwerfen, die das Wohl und Wehe der Menschheit am tiefsten berühren: Soll der junge Mensch danach streben, bei Gericht, in der Politik, im Handel eine leitende Stellung einzunehmen? Niemand wird zu behaupten wagen, daß ein Erfolg, den er auf einem dieser Gebiete erreichen kann, dem Besten und Heiligsten in seiner Seele jemals entsprechen kann. Soll er also die Taue durchschneiden, die ihn an das sociale Gebäude knüpfen, und ohne andere Führung zur See gehen als seinen Genius? Auf beiden Seiten ist gar viel zu sagen. Man bedenke die offene Frage zwischen dem gegenwärtigen System der »freien Konkurrenz« und den Freunden »associierter Arbeit.« Edelmütige Geister ergreifen den Plan, nach welchem die Arbeit auf alle gleichmäßig verteilt werden soll; er ist der einzige ehrliche Plan; nichts anderes ist so sicher. Nur aus der Hütte der Armen kommt Kraft und Tüchtigkeit, und doch auf der anderen Seite wird angeführt, daß Arbeit die Formen verdirbt und das Feuer des Geistes zerstört, und die Arbeiter rufen einstimmig: »Wir können nicht denken.« Kultur, wie unentbehrlich! Den Mangel an Bildung kann ich keinem vergeben, und doch wird jene höchste Zier, die Naivetät, durch die Kultur sogleich verdorben. Die Kultur ist ja für den Wilden etwas ganz Ausgezeichnetes; aber wie er einmal in die Bücher geschaut hat, wird er unfähig, nicht an die Plutarchischen Helden zu denken. Kurz, da die wahre Stärke des Geistes darin besteht, »das, was wir wissen, von dem, was wir nicht wissen, nicht behindern zu lassen,« sollten wir uns eigentlich alle Vorteile, die uns zu Gebote stehen, sichern und nicht durch unser Haschen nach dem Nebelhaften und Unerreichlichen aufs Spiel setzen. Nur keine Chimären! Gehen wir auf Reisen, seien wir thätig und geschäftig, trachten wir zu lernen, zu erwerben, zu besitzen und emporzukommen! »Die Menschen sind eine Art beweglicher Pflanzen und empfangen wie Bäume einen großen Teil ihrer Nahrung aus der Luft. Wenn sie zu viel zu Hause stecken, welken sie hin.« Laßt uns ein robustes, männliches Leben führen, das, was wir wissen, als gewiß wissen, und, was wir haben, soll solid und zeitgemäß und unser eigen sein. Eine Welt in der Hand ist besser als zwei im Busch. Wir wollen mit wirklichen Männern und Weibern und nicht mit hüpfenden Geistern zu thun haben.
Hier haben wir nun den richtigen Boden für den Skeptiker, es ist der Standpunkt der Betrachtung, der Zurückhaltung, keineswegs der des Unglaubens; keineswegs der des allgemeinen Leugnens, auch nicht der des allgemeinen Zweifelns, oder gar des Zweifels am Zweifel selbst; am allerwenigsten der des Spottes, des frevelhaften Hohns über alles, was fest und gut ist. Das ist alles nicht seine Art und Stimmung, so wenig wie die Religion und die Metaphysik. Er ist der Betrachtende, der Kluge, der Mann, der die Segel einzieht, sein Kapital überzählt und mit seinen Mitteln haushält, der meint, daß der Mensch ohnehin zu viel Feinde hat, als daß er sich den Luxus gestatten dürfte, sein eigener Feind zu sein; und daß wir uns in diesem ungleichen Konflikt zwischen so gewaltigen und unermüdlichen Mächten, die sich drüben scharen, und diesem kleinen, eingebildeten, verletzlichen, in jeder Gefahr auf und nieder schwankenden hölzernen Zielvogel, wie der Mensch es ist, auf der andern Seite gar nicht genug Vorteile vorweg nehmen können. Es ist nichts als eine bessere Verteidigungsstellung, die mehr Sicherheit bietet und sich behaupten läßt, und auch zugleich eine, die mehr Gelegenheiten und Spielraum giebt; etwa so, wie beim Häuserbau die Regel gilt: nicht zu tief und nicht zu hoch, unter dem Wind, aber außer dem Kot.
Die Philosophie, die wir brauchen, ist eine der Strömung und der Beweglichkeit. Die spartanischen und stoischen Systeme sind zu spröd und zu steif für die Situation, in der wir uns finden. Die Lehre eines Sankt Johannes auf der anderen Seite, die Lehre des passiven Duldens, scheint zu dünn und ätherisch. Wir brauchen ein Kleid aus elastischem Stahl, fest wie das erstere, geschmeidig wie das zweite. Wir brauchen ein Schiff in diesen Wogen, die wir bewohnen. Ein eckiges dogmatisches Haus würde in diesem Sturm so vieler Elemente in Stücke und Splitter zerrissen werden. Nein, es muß dicht und der menschlichen Form angepaßt sein, um überhaupt bestehen zu können; so wie die Muschel für ein Haus, das auf den Wassern gebaut sein soll, die Form diktieren muß. Der Geist des Menschen muß den Typus für unser System liefern, gerade wie der Leib des Menschen den Typus liefert, nach welchem ein Wohnhaus erbaut wird. Anpassungsfähigkeit ist eine wesentlichste Eigentümlichkeit der Menschennatur. Wir sind goldene Durchschnitte, flatternde Stabilitäten, kompensierte oder periodische Fehler, Häuser auf dem Meer gegründet. Der weise Skeptiker wünscht eine Loge, von der er das beste Spiel und die Hauptdarsteller aus der Nähe betrachten kann: alles das, was auf dem Planeten das beste ist, Kunst und Natur, Orte und Ereignisse, aber vor allem die Menschen. Alles was die Menschheit von Vorzüglichem zu bieten hat: eine Gestalt voll Anmut, einen Arm von Stahl, Lippen von Überredungsgabe, ein Hirn voll Geist, jedes geschickt zum Spiel und Gewinn – alles dies will er schauen und beurteilen.
Die Bedingungen für die Zulassung zu diesem Schauspiel sind folgende: er muß selbst eine gewisse solide und erkennbare Art zu leben führen, irgend eine Methode gefunden haben, die unvermeidlichen Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, als Beweis, daß er selbst mit Geschick und Erfolg gespielt hat, er muß so viel Temperament, Festigkeit und so viel Fähigkeiten entwickelt haben, als nötig sind, ihm unter seinen Landsleuten und Zeitgenossen den Anspruch auf geselligen Verkehr und Vertrauen zu geben. Denn die Geheimnisse des Lebens werden nur der Sympathie und Gleichheit enthüllt. Die Menschen vertrauen sich nicht Buben, Dummköpfen oder Pedanten an, sondern ihresgleichen. Eine weise Beschränkung, wie die moderne Phrase lautet; eine Stellung zwischen den Extremen und nicht ohne eigene feste Basis; ein starker, selbstgenügsamer Mensch, der sich nicht als Salz oder Zucker für jede Speise verwenden läßt, der aber dennoch genug Beziehungen zur Welt hat, um vor Paris und London bestehen zu können, und der gleichzeitig ein kräftiger und origineller Denker ist, der sich von den Leuten nicht einschüchtern läßt, sondern sie zu gebrauchen versteht – das ist die geeignete Persönlichkeit für diesen philosophischen Standpunkt.
Alle diese Eigenschaften finden sich vereinigt im Charakter Montaignes. Da aber meine persönliche Hochachtung für Montaigne vielleicht unbillig groß ist, will ich, unter dem Schilde dieses Fürsten aller Ich-Menschen gleichsam als eine Rechtfertigung dafür, daß ich gerade ihn zum Repräsentanten des Skepticismus erwähle, ein paar Worte der Erklärung wagen, wie meine Liebe zu diesem wunderbaren Plauderer begann und wuchs.
Ein einzelner Band aus Cottons Übersetzung der Essays war mir durch Zufall aus der Bibliothek meines Vaters zurückgeblieben, da ich ein Knabe war. Er lag lange unbeachtet, bis ich, nach vielen Jahren, da ich gerade dem Studieninternat entronnen war, das Buch las und mir auch die fehlenden Bände verschaffte. Ich erinnere mich noch an das Entzücken und Staunen, in welchem ich mit dem Buche lebte. Es war mir, als ob ich es in irgend einem früheren Leben selbst geschrieben hätte, so aufrichtig und vertraut sprach es zu meinen Gedanken, meinen Erfahrungen. Als ich in Paris war, im Jahre 1833, geschah es, daß ich auf dem Friedhofe von Père la Chaise zum Grabe Auguste Collignons kam, der 1830, achtundsechzig Jahre alt, verstorben war und der, nach der Grabschrift, »gelebt hatte, um Recht zu thun, und der sich zur Tugend herangebildet hatte an den Essays Montaignes.« Einige Jahre später machte ich die Bekanntschaft eines hochgebildeten englischen Dichters John Sterling, und im Fortlaufe unserer Korrespondenz erfuhr ich, daß er aus Liebe zu Montaigne eine Pilgerfahrt nach seinem Chateau unternommen hatte, das in der Nähe von Castellan in Périgord noch erhalten ist, und dort nach einem Zeitraum von zweihundertfünfzig Jahren von den Wänden seiner Bibliothek die Inschriften kopiert hatte, die Montaigne auf dieselben geschrieben. Diesen Reisebericht Mr. Sterlings, der zuerst in der Westminster Review erschienen war, hat Mr. Hazlitt in die Prolegomena zu seiner Ausgabe der Essays aufgenommen. Mit dem größten Vergnügen habe ich gehört, daß eines der neu entdeckten Autogramme William Shakespeares in einem Bande von Florios Montaigne-Übersetzung gefunden wurde. Es ist das einzige Buch, von dem wir mit Sicherheit wissen, daß es sich in der Bibliothek des Dichters befunden hat. Und seltsam genug, der Duplikat-Band des Florio, den das Britische Museum ankaufte, und zwar wie man mir im Museum mitteilte, in der Absicht das Autogramm Shakespeares zu sichern, trug, wie sich später ergab, das Autogramm Ben-Johnsons auf dem Vorsetzblatte. Leigh-Hunt erzählt von Lord Byron, daß Montaigne der einzige große Schriftsteller der Vergangenheit war, den er mit eingestandener Befriedigung las. Noch andere Umstände, die hier zu erwähnen überflüssig wäre, trafen zusammen, um mir den alten Gascogner immer neu und unsterblich erscheinen zu lassen.
Im Jahre 1571, nach dem Tode seines Vaters, zog sich Montaigne, damals achtunddreißig Jahre alt, von der Ausübung seines juristischen Berufes zu Bordeaux zurück und nahm auf seinem Gute dauernden Wohnsitz. Obgleich er bis dahin das Leben eines Genußmenschen und manchmal das eines Höflings geführt hatte, gewannen jetzt die gelehrten Neigungen bei ihm die Oberhand, und er befreundete sich mit dem eng umzirkelten, gelassenen und unabhängigen Leben des Landedelmannes, Er nahm sich sehr ernstlich seiner Wirtschaft an und sorgte dafür, daß seine Pachtgüter den größtmöglichsten Ertrag abwürfen. Offen und gerade in allem Verkehr, ein Mann, der es verabscheute, andere zu betrügen und sich betrügen zu lassen, wurde er wegen seines Verstandes und seiner Redlichkeit in der Umgegend hoch geachtet. In den Bürgerkriegen der Liga, die jedes Haus in eine Festung verwandelten, hielt Montaigne seine Thore offen und ließ sein Haus unverteidigt. Alle Parteien kamen und gingen frei in seinem Hause, denn sein Mut und seine Ehrenhaftigkeit waren von allen geachtet. Die benachbarten Herren und Edelleute brachten ihm ihre Juwelen und Papiere zur sicheren Verwahrung. Gibbon zählt in diesen bigotten Zeiten nur zwei wahrhaft liberale Menschen in Frankreich: Heinrich den Vierten und Montaigne.
Montaigne ist der aufrichtigste und ehrlichste aller Schriftsteller. Seine französische Freimütigkeit streift an Unflätigkeit, aber er nimmt allen Tadel durch die Fülle seiner eigenen Geständnisse vorweg. Zu seiner Zeit wurden die Bücher nur für ein Geschlecht und obendrein fast alle lateinisch geschrieben, sodaß einem Humoristen eine gewisse Nacktheit der Darstellung erlaubt wird, welche unsere Formen, die Formen einer Litteratur, welche sich an beide Geschlechter in gleicher Weise richtet, nicht gestatten. Aber obgleich eine biblische Offenheit, verbunden mit einer höchst unkanonischen Leichtfertigkeit, seine Werke manchen gar zu empfindlichen Lesern verschließen mag, kann der Anstoß, den er verursacht, doch nur ganz oberflächlich sein. Er trägt diese Art zur Schau; er hält sich selbst am strengsten an sie: niemand kann schlimmer von ihm denken oder sprechen als er selbst. Er behauptet fast alle Laster zu besitzen, und wenn eine Tugend in ihm sei, müsse sie sich heimlich eingeschlichen haben. Nach seiner Meinung giebt es überhaupt keinen Menschen, der nicht fünf oder sechsmal verdient hätte, gehängt zu werden; und es fällt ihm nicht ein, hierbei für sich eine Ausnahme zu machen. Er sagt auch, »man könne von ihm fünf oder sechs genau so lächerliche Geschichten erzählen wie von irgend einem anderen,« Aber bei all dieser wirklich überflüssigen Offenherzigkeit drängt sich jedem Leser der Eindruck der unbestechlichsten Rechtlichkeit auf.
»Wenn ich mich aufs strengste und gewissenhafteste prüfe und verhöre, so finde ich, daß meine beste Tugend noch irgend eine lasterhafte Färbung hat, und ich fürchte, daß Plato in seiner reinsten Tugend (und ich bin ein ebenso aufrichtiger und ernster Liebhaber einer Tugend von solchem Gepräge wie nur irgend einer), wenn er nur scharf gelauscht und das Ohr ganz dicht an sein eigenes Selbst gelegt hätte, irgend einen Mißton menschlicher Beimischung gehört hätte, freilich ganz schwach und entfernt, sodaß nur er selbst ihn hätte hören können.«
Hierin verrät sich Ungeduld und Widerwillen gegen jede Art von Schönfärbung und Heuchelei. Er hat sich so lange an Höfen aufgehalten, daß ihm der wütendste Ekel vor allem hohlen Schein ergriffen hat; er gestattet sich ein gelegentliches Schwören und Fluchen; er liebt es, mit Seeleuten und Vagabunden zu sprechen, Straßenwitze und Straßenbänkel zu verwenden: er war so lange in geschlossenem Raume, daß ihm totenübel geworden ist; es verlangt ihn hinaus in die freie Luft, und wenn's draußen Kugeln regnete. Er hat zu viel von den Herren in der langen Robe gesehen, bis ihm der Wunsch nach Kannibalen gekommen ist; das verkünstelte Leben hat ihn so nervös gemacht, daß er denkt, je barbarischer der Mensch ist, um so besser. Er liebt seinen Sattel, Theologie, Sprachlehre und Metaphysik könnt ihr wo anders lesen. Was ihr hier findet, wird nach Erde und wirklichem Leben schmecken; mag es nun süß oder scharf und stechend sein. Er fühlt kein Bedenken, uns mit seinen Krankheitsgeschichten zu unterhalten, seine italienische Reise ist voll von diesem Gegenstande. – Er nahm und hielt jene Stellung des Gleichgewichts ein. Über seinen Namen zeichnete er ein paar symbolischer Wagschalen und schrieb darunter: Que sçais-je? Während ich sein Bild gegenüber dem Titelblatte anschaue, ist mir, als hörte ich ihn sagen: Ihr könnt die Wissenden spielen, wenn ihr wollt; ihr mögt spotten und übertreiben, – ich bin für die Wahrhaftigkeit, und nicht für alle Reiche und Kirchen und Einkünfte und nicht für allen guten Ruf Europas werde ich mehr sagen als die trockenen Thatsachen, die ich sehe. Ich will lieber brummen und höchst prosaisch von dem schreiben, was ich weiß, von meinem Haus und meinen Scheuern, meinem Vater, meinem Weibe und meinen Pächtern, von meinem alten dürren und kahlen Schädel, meinen Messern und Gabeln; was für Speisen ich esse und was für Getränke ich liebe, und über hundert Häcksel, die genau so lächerlich sind – ehe ich mit einer schönen Krähenfeder eine schöne romantische Geschichte schriebe. Ich liebe die grauen Tage, das Herbst- und Winterwetter. Ich bin selbst grau und herbstlich und halte einen Schlafrock und alte Schuhe, die mir die Füße nicht drücken, alte Freunde, vor denen ich mir keinen Zwang auferlegen muß, und simple Themata, für die ich mich nicht anstrengen und nicht das Gehirn auspumpen muß, für das Passendste für mich. Unsere Lage als Menschen ist riskant und kitzlig genug. Man kann keine Stunde lang seiner selbst und seines Schicksals gewiß sein, jeder Augenblick kann uns wegfegen und in die jämmerlichste und lächerlichste Situation versetzen. Warum sollte ich mir einen Dunst vormachen und den Philosophen spielen, anstatt diesen tanzenden Ballon, so gut ich kann, mit Ballast zu versehen? So leb' ich wenigstens in meinen Schranken, bin immer bereit zur That und kann zuletzt mit Decenz in den Wirbel hinabschießen. Wenn solch ein Leben etwas Possenhaftes hat, so trifft der Tadel nicht mich; bitte, ihn dem Schicksal und der Natur vor die Thür zu legen.«
Die Essays sind daher ein unterhaltendes Selbstgespräch über jeden ersten besten Gegenstand, der ihm durch den Kopf fährt, in welchem alles ohne viel Umstände und Ceremonien, aber mit männlichem Geiste behandelt wird. Es hat Männer von tieferer Einsicht gegeben, aber niemals, möchte man sagen, einen Mann mit einer solchen Fülle von Gedanken: er ist nie langweilig, nie unaufrichtig und hat die Gabe, dem Leser alles das interessant zu machen, was ihn interessiert.
Die Aufrichtigkeit und Lebendigkeit des Mannes erstreckt sich auf jeden Satz, den er ausspricht. Ich weiß kein Buch, das weniger geschrieben scheint. Es ist gewöhnliche Umgangssprache, auf ein Buch übertragen. Wenn man diese Worte schneidet, müssen sie bluten, so lebendig und gefäßreich sind sie. Wir empfinden an ihnen denselben Genuß, wie wenn wir den notwendigen Worten hören, welche die Menschen im Zwang ihrer Arbeit sprechen, wenn irgend ein ungewöhnlicher Umstand ihrer Zwiesprache momentane Bedeutsamkeit giebt. Denn Schmiede und Fuhrleute stottern nicht, wenn sie sprechen; ihre Worte sind ein Kugelregen. Es sind die Leute, die in Cambridge studiert haben, die sich verbessern, die bei jedem halben Satz von vorne beginnen, und die überdies zu fein und zu witzig sein wollen und stets vom Gegenstand zum Ausdruck abschweifen. Montaigne plaudert mit Scharfsicht, kennt Welt und Bücher und sich selbst und gebraucht stets den Positiv: er schreit nie, er protestiert nie, er bittet nie, er kennt keine Schwäche, keine Krämpfe, keinen Superlativ; wünscht nie aus der Haut zu fahren, reißt keine Possen, verlangt nicht Raum und Zeit zu annihilieren, sondern er ist immer ständig und fest; genießt jeden Augenblick des Tages, liebt selbst den Schmerz, weil er in ihm sich selbst empfindet, sich von der Realität des Daseins überzeugt, so wie wir uns selbst kneifen, um bestimmt zu wissen, ob wir wach sind. Er liebt die Ebene, steigt selten empor und sinkt selten ein; liebt es, den festen Boden und die Steine unter seinen Füßen zu fühlen. Sein Stil kennt keinen Enthusiasmus, kein Hochstreben; zufrieden und voll Selbstachtung hält er die Mitte der Straße ein. Hiervon macht er nur eine Ausnahme – in seiner Liebe für Sokrates. Wenn er von ihm spricht, dann und nur dann rötet sich seine Wange, sein Stil erhebt sich zur Leidenschaft.
Montaigne starb 1592, sechzig Jahre alt, an der Bräune. Als er zum Sterben kam, ließ er in seinem Zimmer die Messe celebrieren. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er sich verheiratet. »Aber,« sagt er, »hätte ich nach meinem eigenen Willen thun können, ich hätte die Weisheit selbst nicht geheiratet, wenn sie mich hätte haben wollen. Aber es nutzt viel, der Ehe auszuweichen, – der allgemeine Brauch und die Sitte wollen es so haben. Die meisten meiner Handlungen werden vom Beispiel bestimmt, nicht von eigener Wahl.« In seiner Todesstunde räumte er der Sitte dieselbe Macht ein. Que sçais-je? Was weiß ich?
Auf das Buch Montaignes hat die Welt ihr Indossat geschrieben, indem sie es in alle Sprachen übersetzte und fünfundsiebenzig Auflagen davon in Europa druckte; und dabei ist die Cirkulation eine einigermaßen gewählte, nämlich unter Hofleuten, Soldaten, Fürsten, Menschen von Welt, und Menschen von Geist und Edelherzigkeit.
Sollen wir nun sagen, daß Montaigne weise gesprochen und uns den richtigen und dauernden Ausdruck des menschlichen Geistes über die Führung des Lebens gegeben hat?
Wir sind von der Natur zum Glauben bestimmt. Nur die Wahrheit, das heißt der Zusammenhang zwischen Ursache und Folge, interessiert uns. Wir sind davon überzeugt, daß ein Faden durch alle Dinge läuft: alle Welten sind wie Perlen darauf gezogen, und Menschen und Ereignisse und Leben kommen nur durch diesen Faden zu uns: sie ziehen wieder und wieder an uns vorbei, nur damit wir die Richtung und die Kontinuität der Schnur erkennen. Ein Buch oder eine Argumentation, die darauf ausgehen, zu beweisen, daß es keinen solchen Faden giebt, sondern nur Zufall und Chaos, ein Unheil aus dem Nichts, ein Glück und keinen Grund dafür, Helden von Narren erzeugt, und Narren von Helden, – entgeistert uns. Sichtbar oder ungesehen, wir glauben, daß das Band existiert. Das Talent fabriziert gefälschte, nachgeahmte Bande, das Genie entdeckt die wirklichen. Wir lauschen auf den Mann der Wissenschaft, weil wir die Folgerichtigkeit in den Naturerscheinungen voraussetzen, die er enthüllt. Wir lieben alles, was bejaht, verbindet und erhält, und sind allem abgeneigt, was zerstört und niederreißt. Ein Mann tritt auf den Schauplatz, dessen Natur in den Augen aller Menschen erhaltend und aufbauend erscheint; seine Gegenwart setzt eine wohlgeordnete Gesellschaft, Ackerbau, Handel, umfassende Institutionen und Reiche voraus. Wenn sie noch nicht existierten, würden sie durch ihn zur Existenz gelangen. Darum wirkt er so tröstlich und ermutigend auf die Menschen, die sehr bald dies alles in ihm empfinden. Die Dissidenten und Rebellen sagen alle möglichen Dinge gegen das existierende Gemeinwesen, auf die sich nichts erwidern läßt, aber sie zeigen unserem Geist kein eigenes Haus, keinen neuen Staat. Und darum mag auch die Stadt und der Staat und die Lebensweise, die unser Berater im Auge hatte, ein recht bescheidenes oder gar ein modriges Glück sein, die Leute halten doch mit Recht zu ihm und verwerfen den Reformator, so lange er nur mit der Axt und Brechstange kommt.
Aber obgleich wir von Natur aus konservativ und kausalitätsgläubig sind und einen sauern und trüben Unglauben ablehnen, hat die Partei der Skeptiker, die Montaigne vertritt, doch recht, und alle Menschen gehören ihr zu Zeiten an. Jeder überlegene Geist durchschreitet diese Domäne des Gleichgewichts – oder besser, lernt sich der Hemmungen und Gegenwichte der Natur als einer natürlichen Waffe gegen die Übertreibungen und den Formalismus der Pietisten und Dummköpfe zu bedienen.
Skepticismus ist die Haltung, die der forschende Geist gegenüber den Kleinigkeiten annimmt, die die Gesellschaft anbetet, während er erkennt, daß sie nur in ihrer Tendenz und ihrem Geiste ehrwürdig sind. Der Boden, den der Skeptiker einnimmt, ist der Vorhof des Tempels. Die Gesellschaft liebt es nicht, daß die bestehende Ordnung auch nur der leiseste Hauch eines Zweifels berühre. Aber jeder höherstehende Geist muß ein Stadium in seiner Entwicklung durchmachen, in welchem er jeden Punkt der herrschenden Sitte in Frage zieht, und gerade das ist der Beweis dafür, daß er die strömende, sprossende Kraft wahrnimmt, die in allen Verwandlungen dieselbe bleibt.
Der überlegene Geist wird gegenüber den Übeln der bestehenden Gesellschaft und den Projekten, die zu ihrer Verbesserung vorgeschlagen werden, einen gleich schweren Stand haben. Der weise Skeptiker ist ein schlechter Staatsbürger; er ist kein Konservativer; er durchschaut die Selbstsucht des Eigentums und die schlaffe Trägheit unserer Institutionen. Aber er ist auch nicht fähig, mit irgend einer der demokratischen Parteien, die sich jemals konstituiert, zu arbeiten, denn Parteien verlangen, daß jeder ihnen seine Seele verschreibe, und er durchschaut den Patriotismus des Volkes. Seine Politik ist diejenige, die in der »Botschaft der Seele« von Sir Walter Raleigh ausgesprochen ist, oder diejenige Krischnas im Bhagavat: »Es lebt keiner, der meiner Liebe oder meines Hasses würdig wäre,« während er über Gesetz, Naturkraft, Gottheit, Handel und Sitte Gericht hält. Er ist ein Reformator, aber kein brauchbares Mitglied der philanthropischen Gesellschaft. Es zeigt sich, daß er nicht der Kämpe der Arbeiter, des Proletariats, der Gefangenen, der Sklaven ist. Ihm steht fest, daß unser Leben in dieser Welt sich nicht gar so leicht verstehen läßt, wie Kirchen und Schulbücher vorgeben. Es fällt ihm auch nicht ein, gegen jene wohlthätigen Bestrebungen Stellung zu nehmen, den advocatus diaboli zu spielen und jeden Zweifel und Hohn, der ihm die Sonne verfinstert, auszuposaunen. Aber er sagt: es giebt Zweifel.
Ich gedenke, die Gelegenheit zu benutzen und den Kalendertag unseres Sankt Michael de Montaigne damit zu feiern, daß ich diese Zweifel oder Verneinungen aufzähle und schildere. Ich werde versuchen, sie aus ihren Löchern herauszutreiben und sie ein wenig in die Sonne zu bringen. Wir müssen mit ihnen verfahren wie die Polizei mit alten Spitzbuben, die auf dem Bezirksgericht dem Publikum gezeigt werden. Sie werden nicht mehr so fürchterlich sein, wenn sie einmal identifiziert und registriert sind. Aber ich denke ehrlich mit ihnen umzugehen, ihren Schrecken soll Gerechtigkeit widerfahren. Ich werde keine Sonntagseinwände vornehmen, die nur zu dem Zwecke aufgestellt werden, um niedergeworfen zu werden. Ich werde die Schlimmsten nehmen, die ich finden kann, und es darauf ankommen lassen, ob ich mit ihnen fertig werden kann oder sie mit mir.
Dem Skepticismus des Materialisten werde ich nicht auf den Leib rücken. Die Quadrupeden-Anschauung kann nicht die Herrschaft behalten, das ist für mich unzweifelhaft. Es ist gleichgiltig, was Fledermäuse und Ochsen denken. Das erste wirklich gefährliche Symptom, das ich verzeichnen muß, ist die Leichtfertigkeit des Geistreichen. Es scheint verhängnisvoll für allen Ernst zu sein, viel zu wissen. Wissen heißt wissen, daß wir nicht wissen können. Die Dumpfen beten, die Genialen sind leichte Spötter. Wie achtungswert ist der Ernst auf jedem Boden! Aber der Geist tötet ihn. Ja, San Carlo, mein scharfsinniger und bewunderungswerter Freund, einer der durchdringendsten Geister, findet, daß jede direkte Erhebung, selbst die erhabener Frömmigkeit zu jener entsetzlichen Erkenntnis führt und den Beter verwaist zurücksendet. Mein erstaunlicher San Carlo war der Meinung, daß alle Gesetzgeber und Heiligen von dieser Krankheit angesteckt wären. Sie fanden die Arche leer, sahen und wollten es nicht sagen und suchten ihren nahenden Anhängern den Weg zur gleichen Erkenntnis abzuschneiden, indem sie sagten: »Handlung, Handlung, meine lieben Freunde, ist eure Aufgabe, nicht Schauen!« Wie schlimm auch diese Entdeckung San Carlos mich traf, dieser Julifrost, dieser Schlag von der Hand einer Braut, es kam eine noch schlimmere, nämlich die Sattheit und der Überdruß der Heiligen. Noch ehe sie sich von den Knien erhoben, sagten sie: Wir entdecken, daß diese unsere Anbetung und Seligkeit unvollständig und entstellt ist, und wir müssen den verdächtigten und vielgeschmähten Geist, den Verstand des Mephistopheles, die Gymnastik des Talents zu Hilfe rufen.«
Das ist der erste Poltergeist, und obgleich er in unserem neunzehnten Jahrhundert der Gegenstand viel elegischer Klagen von Goethe, Byron und anderen minder berühmten Dichtern gewesen ist, – von vielen hervorragenden privaten Beobachtern ganz zu schweigen – muß ich gestehen, daß er meine Anschauung nicht sehr erschüttert, denn es scheint sich ihm nur um das Zerbrechen von Puppenhäusern und Töpferladen zu handeln. Was die römische Kirche beunruhigt, oder die Englische, oder die Genfer, oder die von Boston, das kann noch weit davon entfernt sein, irgend ein Glaubensprincip selbst anzugreifen. Ich glaube, daß Geist und Sittlichkeit völlig übereinstimmen, und daß die Philosophie zwar Schreckgespenster verscheuchen mag, aber der Seele auch die natürlichen Dämme gegen das Schlechte und eine sichere Polarität verleiht. Ich glaube, je weiser ein Mensch ist, desto erstaunlicher muß ihm die natürliche und moralische Ökonomie erscheinen, zu um so absoluterem Vertrauen wird er sich erheben.
Dann haben wir die Macht der wechselnden Stimmungen, deren jede alles für nichts achtet außer ihrem eigenen Gewebe von Thatsachen und Einbildungen. Dann haben wir die Macht der Konstitution, des Temperaments, die zweifellos alle Anlagen und Empfindungen bestimmt. Es stellt sich heraus, daß Glaube und Unglaube im Bau des Menschen liegen; und sobald jeder so viel Gewicht und Lebendigkeit erreicht, daß seine ganze Maschinerie zu spielen beginnt, braucht er gar keine fernliegenden Beispiele mehr, sondern wird in seinem eigenen Leben alle Anschauungen in reißender Folge durchmachen. Unser Leben ist wie Aprilwetter, in derselben Stunde drohend und wieder heiter. Wir gehen unseren Weg, ernst, ergeben, im festen Glauben an die Eisenketten des Schicksals, wir würden uns nicht umkehren, um unser Leben zu retten: und ein Buch, eine Büste, ja nur der Ton eines Namens schleudert einen Funken in die Nerven, und wir glauben plötzlich an den freien Willen, mein Fingerring wird zum Siegel Salomonis, das Fatum ist für Thoren und Schwächlinge und dem entschlossenen Geiste ist nichts unmöglich. Und schon giebt eine neue Erfahrung unseren Gedanken eine neue Wendung: der gemeine Verstand tritt wieder in seine Tyrannenrechte ein; wir sagen: »Die militärische Laufbahn ist doch das Thor zum Ruhm, zu guten Manieren, zur Poesie; und seht ihr, im ganzen baut der Egoismus am besten und heimst die besten Pflaumen ein, macht die besten Geschäfte und die besten Staatsbürger.« So wären die Anschauungen eines Menschen über Recht und Unrecht, über Schicksal und Kausalität einem unruhigen Schlaf, einer Verdauungsstörung preisgegeben? Geht sein Glaube an Gott und Schicksal nicht tiefer als die Beweise unseres Magens? Und welche Gewähr für die Dauer seiner Anschauungen? Ich liebe die französische Raschheit nicht, die Kirche und Staat einmal in der Woche wechselt. Dies ist die zweite Verneinung, und ich lasse sie so hoch gelten, als man nur will. So weit sie die Rotation der Geisterzustände ins Treffen führt, weist sie auf ihr eigenes Gegengewicht hin, nämlich auf die Betrachtung längerer Perioden. Was ist das Durchschnittsergebnis vieler Zustände und aller Zustände? Spricht die Stimme aller Zeitalter ein Grundgesetz aus? Oder läßt sich in entfernten Zeiten und Räumen kein gemeinsames Gefühl entdecken? Und wenn sie nichts aufweisen würden als die Macht des Eigennutzes, so nehme ich diesen als einen Teil des göttlichen Gesetzes hin und muß ihn mit höherem Streben zu vereinigen suchen, so gut ich kann.
Das Wort Fatum oder Schicksal spricht das Gefühl der Menschen aller Zeiten aus, daß die Weltgesetze uns nicht nur Wohlthun, sondern uns oft weh thun und zermalmen. Das Fatum in der Gestalt von » Kinde« oder der Natur wächst über uns hin wie Gras. Wir malen die Zeit mit einer Sense, Glück und Liebe blind, und das Schicksal taub. Wir besitzen zu wenig Widerstandsfähigkeit gegen dieses erbarmungslose Ungeheuer, das uns auffrißt. Wie könnten wir mit diesen unentrinnbaren, siegreichen, böswilligen Kräften den Kampf aufnehmen? Was kann ich gegen den Einfluß der Rasse auf die Geschichte meines Lebens thun? Was vermag ich gegen hereditäre und konstitutionelle Eigenschaften, gegen Skrophulose, Schwindsucht und Impotenz, gegen klimatische Einflüsse und Barbarei in meinem Heimatlande zu thun? Ich kann alles niederräsonnieren und leugnen außer diesem ewigen Bauche: er muß und wird fressen, und ich kann ihn nicht ehrwürdig machen.
Aber der Hauptwiderstand, dem unsere affirmativen Impulse begegnen, und in dem alle anderen inbegriffen sind, liegt in der Lehre der Illusionisten. Es cirkuliert ein schmerzliches Gerücht, daß wir in allen wichtigen Handlungen unseres Lebens zum besten gehalten werden, und daß Freiheit des Willens und Thuns der leerste Name ist. Wir werden mit Luft und Nahrung, Weib und Kindern, Kenntnissen und Ereignissen gefüttert und behandelt und sind zuletzt genau dort, wo wir waren. Es ist oft geklagt worden, daß die Mathematik den Geist in demselben Zustand lasse, in der sie ihn gefunden. So geht es uns mit allen Wissenschaften und mit allen Ereignissen und Handlungen. Ich finde in einem Mann, der durch alle Wissenschaften gegangen, denselben Lümmel wieder, der er war, und kann durch alle gelehrten, bürgerlichen und socialen Ämter und Stellungen hindurch das Kind entdecken. Nichtsdestoweniger sind wir gezwungen, ihnen unser Leben zu widmen. Kurz, wir könnten dahin gelangen, als feststehende Regel und Theorie für unseren Erziehungszustand anzunehmen, daß Gott eine Substanz und seine Methode die Illusion ist. Die Weisen des Orients kannten die Göttin Yoganidra, die große trügerische Kraft Vishnus, die äußerste Unwissenheit, durch welche die ganze Welt betrogen wird.
Oder, soll ich es so ausdrücken: Das Erstaunliche am Leben ist der völlige Mangel jedes Scheins einer Versöhnung zwischen der Theorie und der Praxis des Lebens? Die Vernunft, gepriesene Wahrheit, das Gesetz wird hie und da für einen klaren und tiefen Augenblick erkannt, mitten in dem Getöse von Sorgen und Arbeit, die nicht direkt von ihr abhängig sind, – geht dann wieder verloren, für Monate oder Jahre, um wieder für eine kurze Spanne Zeit gefunden und wieder verloren zu werden. Wenn wir diese Intervalle zusammenrechnen, haben wir in fünfzig Jahren vielleicht ein halbes Dutzend vernünftiger Stunden gehabt. Sind die Sorgen und die Arbeit dadurch leichter und wertvoller geworden? Eine Methode können wir in der Welt nicht entdecken, nur diesen Parallelismus von Großem und Kleinem, die nie aufeinander zurückwirken, nie die geringste Tendenz zum Konvergieren zeigen. Erfahrungen, Schicksale, politische Ereignisse, Lektüre, Schriftstellerei machen uns so wenig klug, als wenn ein Mensch ins Zimmer tritt, sich aus dem Anschein erkennen läßt, ob er sich von Brot oder Fleisch genährt hat; – es ist ihm gelungen, sich so viel Knochen und Muskeln zu schaffen, als er braucht, sei es nun aus Reis oder aus Schnee. So ungeheuer ist das Mißverhältnis zwischen dem Himmel des idealen Gesetzes und der Arbeits-Ameise unter demselben, daß der Umstand, ob einer ein wertvoller Mensch oder ein Kretin ist, gar keine solche Wichtigkeit hat, als wir vorgeben. Soll ich noch eine Gaukelei in diesen verzauberten Gärten anführen? Das betäubende Gesetz, das uns den Verkehr untereinander verbietet und jedes Zusammenwirken unmöglich macht? Der jugendliche Geist lechzt danach, in die Gesellschaft einzutreten. Aber alle Wege der wahren Ausbildung und Größe führen zur Vereinsamung, zu einer Absperrung gleich der eines Gefangenen. Er hat sich schon oft enttäuscht gesehen. Er erwartete nicht, daß das ganze Dorf mit seinen Gedanken sympathisieren werde, sondern er trat damit vor die Auserwählten und Verständigen und fand keine Nahrung für seinen Geist, sondern nur Mißverständnis, Abneigung und Hohn. Es ist seltsam, wie unzeitgemäß die Menschen geboren, wie falsch sie verwendet werden; und die Vortrefflichkeit eines jeden ist ein entflammter Individualismus, der ihn nur noch mehr von den anderen trennt.
Diese und noch viele andere sind die Krankheiten des Denkens, welche unsere gewöhnlichen Lehrer zu beseitigen gar nicht versuchen. Sollen wir nun, weil eine gute Natur die Neigung zeigt, sich zu sittlicher Höhe zu entwickeln, sagen: Es giebt keine Zweifel – und lügen, um dem Rechten zu dienen? Soll das Leben in tapferer oder in feiger Art geführt werden? Und ist nicht die befriedigende Beantwortung der Zweifel eine wesentliche Bedingung aller Männlichkeit? Soll der Name der Sittlichkeit eine Schranke für die wahre Sittlichkeit bilden? Könnt ihr nicht glauben, daß ein ernster Mensch und tüchtiger Kerl an Thee, moralischen Aufsätzen und Katechismen kein Gefallen finden und einen rauheren Unterricht verlangen, Menschen, Arbeit, Handel, Feldbau, Krieg, Hunger und Ueberfluß, Liebe und Haß, Zweifel und Schrecken verlangen kann, um sich über die Welt klar zu werden? Und hat er nicht das Recht, darauf zu bestehen, daß er in seiner eigenen Weise überzeugt werde? Wenn er überzeugt ist, wird es wenigstens der Mühe wert sein.
Glauben heißt, die Bejahungen der Seele annehmen, Unglauben, sie leugnen. Es giebt Geister, welche eines Skepticismus gar nicht fähig sind. Die Zweifel, welche sie zu fühlen vorgeben, sind mehr Akte der Höflichkeit, mit welchen sie sich der Redeweise ihrer Umgebung anschließen. Sie können sich die freieste Forschung gestatten, denn sie sind der Wiederkehr sicher. Wer einmal in den Himmel des Denkens eingelassen worden ist, für den giebt es keinen Rückfall in die Nacht, nur unendliche Einladung nach der anderen Seite. Da ist Himmel über Himmel, und Paradiese im Paradies, sie sind rings von Göttlichkeit umschlossen. Andere giebt es, für welche der Himmel von Erz ist und einen geschlossenen Wall bis nieder zur Erdoberfläche bildet. Es ist eine Frage des Temperaments und des größeren oder geringeren Mitempfindens und Verständnisses für die Natur. Die letztgenannten haben natürlich nur einen reflektierten oder parasitischen Glauben, sie können die Wahrheiten nicht schauen, sondern verlassen sich instinktiv auf die Seher und Bekenner der Wahrheiten. Die Weise und die Gedanken der Glaubenden setzen sie in Erstaunen und bringen sie auf den Glauben, daß jene etwas gesehen haben, was ihnen verborgen ist. Aber ihre aus der Sinnenwelt entsprungenen Gewohnheiten möchten den Gläubigen stets in seiner letzten Stellung festhalten, während er unwiderstehlich vorwärtsschreiten muß, und daher kommt es, daß die Ungläubigen aus Liebe zum Glauben die Gläubigen verbrennen.
Die großen Gläubigen werden immer für Ungläubige, für unpraktisch, phantastisch, atheistisch, und eigentlich für Menschen gehalten, die nicht zählen. Ja, der Spiritualist sieht sich genötigt. seinen Glauben durch eine Reihe von Skepticismen auszudrücken. Mildherzige Leute kommen mit ihren Projekten und verlangen seine Mitwirkung. Wie kann er nur zögern? Es ist die Pflicht einfachster Höflichkeit und Umgänglichkeit, zuzustimmen, wo es nur möglich ist, und in seiner Rede etwas Günstiges und nichts Frostiges und Abschreckendes zu sagen. Und doch ist er gezwungen zu antworten: »Ach, alles das ist so, weil es nicht anders sein kann: was könnt ihr dagegen thun? Diese besonderen Übel und Verbrechen sind nur das Laubwerk und die Früchte solcher Bäume, wie wir sie wachsen sehen. Es ist vergeblich, über Blätter und Beeren zu klagen, schneidet sie ab, der Baum wird andere, genau so schlechte tragen, ihr müßt eure Kur tiefer unten beginnen.« Die Mildthätigkeiten des Alltags sind für ihn eine Sache, mit der er sich nicht einverstanden erklären kann. Die Fragen der Leute sind nicht die seinen, ihre Methoden sind nicht die seinen, und gegen alle Gebote des Wohlwollens sieht er sich gezwungen zu erklären, daß er keine Freude an ihnen findet.
Selbst die Lehren, die der Hoffnung der Menschen teuer sind, die der göttlichen Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele können seine Nachbarn nicht so aufstellen, daß er sie bejahen könnte. Aber er leugnet sie, weil sein Glaube ein größerer, nicht weil er geringer ist. Er leugnet aus Ehrlichkeit. Er will sich lieber die Schwäche und Thorheit des Skepticismus als Unwahrhaftigkeit vorwerfen lassen. Ich glaube, sagt er, an den sittlichen Grundplan des Weltalls, es ist gastfreundlich zum Wohle der Seelen errichtet; aber eure Dogmen erscheinen mir wie Karikaturen; wie könnte ich mich bemühen, den Glauben an sie zu befestigen? Wer darf sagen, daß dies kalt und ungläubig gesprochen ist? Die Weisen und Hochherzigen werden es nicht sagen. Sie wird sein weitblickender guter Wille mit triumphierender Freude erfüllen, der dem Gegner das ganze Feld der Tradition und des gemeinen Glaubens überläßt, ohne ein Jota an Stärke einzubüßen. Er sieht bis ans Ende aller Durchgangszustände. George Fox sah »einen unendlichen Ocean von Dunkel und Tod; aber auch einen unendlichen Ocean von Licht und Liebe, der über dem Meer des Dunkels flutete.«
Die endgiltige Lösung, in der der Skepticismus schwindet, ist das sittliche Gefühl, das seines Supremats über die Welt niemals verlustig wird. Man kann ruhig alle Stimmungen versuchen und allen Einwänden ihr Gewicht zugestehen: das sittliche Gefühl überwiegt sie alle zusammen ebenso leicht wie jedes einzelne. Das ist der Tropfen, der dem Meere das Gleichgewicht hält. Ich spiele mit dem wirren Gewoge der Thatsachen und betrachte sie in jener oberflächlichen Weise, welche wir Skepticismus nennen, aber ich weiß, daß sie mir im nächsten Augenblick in jener rhythmischen Ordnung erscheinen werden, die alle Skeptik unmöglich macht.
Ein denkender Mensch muß den Gedanken fühlen, der der Vater des Weltalls ist: daß die Massen der Natur in undulierender und strömender Bewegung begriffen sind. Dieser Glaube reicht für das Entstehen und Geschehen alles Lebens und aller Dinge aus. Die Welt ist mit Göttlichkeit und Ethik gesättigt. Wer diesen Gedanken recht erfaßt hat, der nimmt Recht und Unrecht, Thoren und Narren und den Triumph der Lüge und der Dummheit ruhig hin; der kann selbst den gähnenden Abgrund zwischen dem Ehrgeiz des Menschen und seiner Leistungskraft, zwischen der Nachfrage und dem Angebot von Menschenkraft, der die Tragödie aller Seelen bildet, mit ruhiger Heiterkeit betrachten.
Charles Fourier verkündigte, daß »die Neigungen des Menschen seinen Schicksalen proportioniert seien,« in anderen Worten, daß jeder Wunsch seine eigene Befriedigung prophezeie. Aber alle Erfahrung beweist das gerade Gegenteil; die Unzulänglichkeit ihrer Kräfte ist die allgemeine Klage junger und feuriger Seelen. Sie werfen der göttlichen Vorsehung eine gewisse Sparsamkeit vor. Sie hat den Himmel und die Erde jedem ihrer Kinder gezeigt und jeden mit dem Verlangen nach dem Ganzen erfüllt, mit einem rasenden, unendlichen Verlangen, einem Hunger, gleich dem des Weltraums, der begehrt, mit Planeten gefüllt zu werden, einem Schrei unersättlicher Not, wie der der Teufel nach Seelen. Und zur Befriedigung – wird jedem Menschen ein einziger Tropfen, eine Tauperle von Lebenskraft per Tag zugeteilt – ein Kelch, groß wie der Weltraum, und ein Tropfen vom Wasser des Lebens darin! Jeder war des Morgens erwacht mit einem Appetit, der das Sonnensystem hätte aufessen können wie einen Kuchen, einem feurigen Begehren nach Thätigkeit und Leidenschaft ohne Grenzen; er hätte seine Hand nach dem Morgenstern ausstrecken mögen; er hätte mit der Gravitation und den chemischen Kräften des Weltalls experimentieren können; aber bei der ersten Bewegung, seine Kraft zu versuchen – versagen Hände, Füße und Sinne den Dienst und sind zu nichts nütze. Er gleicht einem Kaiser, den seine Reiche verlassen, und der sich nun etwas vorpfeifen kann, oder vielmehr, er ist unter einen Pöbel von Kaisern gestoßen, die alle pfeifen, – und immer noch singen die Sirenen: »Die Neigungen des Menschen sind seinen Schicksalen proportioniert.« In jedem Haus, im Herzen jedes Mädchens und jedes Knaben, in der Seele des emporverlangenden Heiligen in seiner Ekstase gähnt derselbe Abgrund – zwischen dem ungeheuersten Versprechen idealer Macht und der erbärmlichen Erfahrung.
Die expansive Natur der Wahrheit kommt uns zu Hilfe, elastisch, niemals umzingelt. Mit noch breiteren Generalisationen hilft sich der Mensch. Das Leben lehrt uns vor allem zu generalisieren, zu glauben, was die Jahre und Jahrhunderte gegen die Tage sprechen, der Tyrannei der Einzelereignisse uns zu widersetzen und bis zu ihrer katholischen Bedeutung durchzudringen. Die Dinge scheinen uns etwas zu sagen und sagen gerade das Gegenteil. Die Erscheinung ist unsittlich, das Resultat ist ein sittliches. Der Lauf der Dinge scheint niederwärts zu gehen, scheint den Kleinmut zu rechtfertigen, die Schurken hinaufzubringen, die Gerechten zu fällen; und von Schurken wie von Märtyrern wird die gerechte Sache vorwärts gebracht. Obgleich in jedem politischen Streit die Schurken den Gewinn einheimsen, obgleich die Gesellschaft aus den Händen einer Bande von Verbrechern in die Hände einer neuen Bande von Verbrechern überliefert zu werden scheint, so oft die Regierung wechselt, und obgleich der Gang der Civilisation ein langer Zug von Freveln ist, werden dennoch die Ziele der Allgemeinheit irgendwie erreicht. Wir sehen gerade jetzt Ereignisse herbeigezwungen, welche die Kultur von Jahrhunderten aufzuhalten, ja zurückzuschrauben scheinen. Aber der Geist der Welt ist ein guter Schwimmer, und Stürme und Wogen können ihn nicht sinken machen. Er lacht der Gesetze: und so scheint sich der Himmel durch die ganze Weltgeschichte hindurch niedriger und armseliger Mittel zu bedienen. Durch die Jahre und die Jahrhunderte, durch die Kräfte des Bösen, durch Spielereien und Atome strömt unwiderstehlich ein großes und wohlthätiges Streben.
Und der Mensch muß lernen, in dem Wechselnden und Fliehenden nach dem Dauernden zu schauen; er muß lernen, den Untergang von Dingen, die er verehrte, zu ertragen, ohne seine Ehrfurcht zu verlieren; er muß lernen, daß er da ist, nicht um zu thun, sondern mit sich thun zu lassen, und daß, ob Abgründe unter Abgründen sich austhun mögen und eine Anschauung die andere verdrängt, alle zuletzt enthalten sind in dem Einen Ewigen Grunde.
»Und sinkt mein Kahn, sinkt er zu neuen Meeren.«