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Sie lag auf ihrem langen breiten Lager, und der Wind der Morgendämmerung, der die Läden aufgestoßen und nun durch die engvergitterten, scheibenlosen Fenster hindurchstrich, er ließ ihre Glieder unter der dünnen Linnendecke frösteln. Empfindlich zog sie die Hülle bis zum Hals, und die Blicke der Erwachten wanderten ruhelos an der glatt gespannten Fläche des Betthimmels, als ob dort etwas geschrieben stände, auf das sie sich besinnen müßte. Aber gelähmt, verworren, zerwühlt versagten ihre Gedanken jede Selbstbesinnung oder Erkenntnis, und trotz aller Anstrengung wußte die Hingestreckte nichts weiter von sich, als daß ihr ein wüster, zackiger Felsstein auf die Brust geschmettert sei, und wie sie zu matt wäre, um sich der Wucht zu entwinden. Vor ihr auf dem Strohteppich atmete etwas, und als sie sich mühsam wandte, erkannte sie ihr schlankes Windspiel, das sich wohl gegen Morgen zu ihr gestohlen haben mußte. Das Hündchen lag, den Kopf zwischen den Pfoten, und äugte über seinem erzenen Halsband achtsam zu ihr hinauf.
Da streckte sie die Hand aus und wollte das Tier anrufen; allein seltsam, sie vermochte sich nicht an den Namen ihres Begleiters zu erinnern, und in der Qual, ihr eigenes Wesen verloren zu haben, sank sie wieder zurück, eine Fremde, Unbekannte in ihrem eigensten, heimlichsten Bezirk.
Draußen auf dem Ahornbaum begannen ein paar Meisen zu zwitschern. Sonst bedeutete dies den Weckruf des Morgens, denn auf Ingerlyst erhoben sich Herrin und Knechte mit der Sonne, heute jedoch blieb alles unverändert still, das Vieh brüllte nicht in den Ställen, und die Holzschuhe des Gesindes klapperten weder auf dem Hof noch in den Burggängen. Auch die Zeit schien sich gewandelt zu haben, auch sie starrte leer und ausgeplündert, gleich der Gebieterin hier auf ihrem kalten Lager.
Geduldig bettete sich die Verlassene auf ihren Arm, lauschte angstvoll auf die zuckenden Schläge ihres Herzens und wartete, ob der Bann noch einmal von ihr genommen werden könnte. So hätte sie vielleicht noch lange hingedämmert, verstoßen von ihrer Vergangenheit und nicht fähig, den Wirbel vor der Gegenwart zu durchbrechen, wenn sich nicht ein leises Ticken gemeldet hätte, das vom Holzwurm herrührte. Ihr gegenüber über dem schmalen Kamin war bis unter die Tafeldecke ein altes, wuchtiges Holzkreuz eingelassen, und in dem braunen Gebälk bohrte und pochte es manchmal, als wäre selbst das heilige Symbol vor Zermürbung und Vergänglichkeit nicht sicher.
Richtig, richtig, Linda raffte sich auf, denn sie meinte sich jetzt zu besinnen, daß sie jeden Morgen noch vom Lager aus ihre Arme zu jenem gewaltigen Stamm erhoben habe. Ja, ja, gewiß, allerlei kleine Bitten und Wünsche bedrückten stets ihr Herz. Und dann die eine große Sehnsucht nach Reinheit und Stille. Aber als sie nun nackt, entblößt, frierend auf ihren Kissen kniete, da erstarb ihr plötzlich die volle Bewegung, über ihr blasses Antlitz zog starres Entsetzen, und wie von einem Blitzstrahl getroffen, stürzte sie rücklings auf ihr Linnen.
Ein Wunder – ein Wunder – vor ihren weit aufgerissenen Augen spielte sich das Herzlähmende ab. Ein fremdes Haupt erschien an dem Querholz, ein braunes Lockenhaupt, mit Lippen, rot von Küssen, und wilde, schwarze Augen gierten über ihren Leib. Und jetzt wand sie sich mit einemmal in einem Feuermeer, das sie verzehrte.
»Gnade, Erbarmen!« Allein der Brand der Erkenntnis überheulte alle früheren Begriffe.
Zu Hilfe – die Welt war eingebrochen! Das Erdrund taumelte und schüttelte alles Lebende durcheinander. Der Heiland des Schmerzes von seinem Holz gezerrt, und an seiner Stelle lachte ein Unbändiger voll Grausamkeit, Kraft und Willensstärke. Schwarz war weiß, Verbrechen Tugend, Sitte Torheit, Entsagung Wahnsinn; sieh da – sieh dort, eine unwiderstehliche Faust packte das fliehende Glück, das sonst niemand halten konnte, und knechtete es seinen Anhängern. Allen! Auch dir – auch dir – das Glück! Sie wollte schreien, aber sie fühlte, wie sie in unsichtbaren Armen verging, alle Glieder spannte sie zu Kampf und Widerstand, sie biß, sie würgte, aber in der Unterjochung sank sie hin, erlöst von aller Erdenschwere, eine Freie im Angesicht der Natur.
Als sie erwachte, war der Rausch verflogen. Sie fand sich wieder, wie sie tränenlos auf ihrem Lager hockte, um mit ausgehöhlten, erfrorenen Augen zu beobachten, wie sich die Blätter des Ahornbaums vor ihrem Fenster in Morgenröte kleideten. Drinnen in der kleinen Kemenate webten noch die unerwärmten Schatten, und jedes der spärlichen Gerätschaften schien zu frösteln, zu zittern und zu schaudern. Stumpf, teilnahmlos warf sich das blonde Weib die gewohnten Hüllen über, und je bekanntere Dinge sie ergriff, ein desto trüberes Erstaunen beschlich sie, daß sie sich bewege, oder warum überhaupt noch Leben in ihr walte? Unbegreiflich, gar nicht meßbar, sie war doch gemordet, ihr Name verschwunden von der Tafel, wo die Reinen und Ehrbaren verzeichnet standen, eine unbarmherzige Räuberfaust hatte die Züge fortgewischt, aus keinem anderen Grunde, als weil sie eben seine Beute geworden. Sie, ihre Diener, ihr Hab und Gut, ihr Heim und alles, was sie früher geliebt hatte. Eine kurze, ungestüme Lust hatte genügt, um aus einer Aufrechten eine geduckte Verworfene zu formen, beladen mit unaustilgbarer Schande, und nur noch dazu bestimmt, vor ihrem eigenen Ekel in ein geräuschloses Ende zu flüchten. Das war das wirkliche Dasein, so verkündete es sich, ein Tier wurde von dem anderen gefressen, ohne Güte noch Gnade, und alles, was darüber hinaus geredet wurde von umfassender Bruderliebe unter den wilden Geschöpfen, großer Gott, es war nichts als Staub, Wind und schwärmender Wahn.
Ein Tier wurde von dem anderen gefressen. Hilfe – Hilfe! – An welch lächerliche Narreteien hatte sie denn früher geglaubt?
In der unermeßlichen Angst, daß ihr bald auch noch das Letzte, der klare Verstand geraubt werden müßte, griff sich die nun Aufgerichtete an beide Schläfen. Ihre auseinander springenden Gedanken wollten sich an irgend etwas klammern, an ein lebendes Wesen, das ihren Sturz begriffe, an ein Herz, von dem sich liebevoll scheiden lasse. Sie mußte doch irgendwo festhaften? Oder war sie schon immer wie ein dürres Blatt durchs Leere gewirbelt? Aber wohin ihre Verzweiflung auch jagte, immer fand sie sich allein vor dem großen braunen Kreuz wieder, um das ihre Rechte sich krampfte, weil ihre Knie vor Schwäche zitterten.
Das Kreuz – das Kreuz!
Eine fürchterliche Pause des Wartens entstand. Fordernd, dringend tasteten ihre erweiterten Augen an dem toten Holze hin und her, und je mehr Zeit ergebnislos verstrich, desto verächtlicher begannen ihre getäuschten Lippen zu zucken. Dort oben regte sich nichts. Derjenige, der ihr früher an dem Querholz oft in verzückten Stunden erschienen war, dem sie sich geweiht und dessen Güte sie sich bald ganz ergeben wollte, er hatte tatenlos, schwächlich zugeschaut, wie Leib und Seele seiner Jüngerin zu seinen Füßen verheert und besudelt wurden. Von einem anderen, der gleichfalls zu den Armen und Beladenen herniederzusteigen meinte, nur, daß er seinen Weg mit Blut begoß, und daß der Pesthauch aller verdammten Laster ihn umwölkte.
Wie gestoßen fuhr die Gehetzte herum, grub ihre Blicke ungläubig in das zerwühlte Lager und strich dann ruhelos an den Wänden herum, gleich einem Tier, das einen Ausweg aus unübersteiglichen Mauern sucht. Und sie fahndete auch nach etwas – der giftige Atem der Nacht mußte sie benebelt haben –, denn sie suchte fieberhaft, rastlos nach einer Erklärung für ihren grausigen Niederbruch, nach einer Auflösung des Rätsels, warum ihr Körper den geistigen Tod auch nur um eine Sekunde überdauert habe? Vielleicht hatte der große, schöne, gewalttätige Mann ihre Seele mit Zärtlichkeit umstrickt, vielleicht ihr Gemüt dürstend, überredend zu seinem Werk herübergelockt, das wie eine blutrote Erdensonne hinter ihm stand?
Nichts – nichts, alles Ausrede und Wahn! Ihre Ehrlichkeit gestand sich etwas anderes. Über ihr hatte sich ein Gewitter ausgetobt, in dessen kalte Blitze sie offenen Auges, betäubt, entgeistert, demütig und duldend hineingeschaut. Und jetzt war die Wetterwolke vorübergezogen und hatte gleichgültig die geknickte Flur hinterlassen. Prüfend fuhr Linda an ihren Gliedern herab, und jetzt erlangte sie endlich die ersehnte Gewißheit. Alles tot, gebrochen, leblos, ihr blieb nur noch übrig, den Leichnam einzusargen.
Das war ihr Ziel, ihr letztes. Es stimmte im Grunde mit ihren Kindheitswünschen zusammen, die von je nach Aufhören und Verstummen gelangt hatten.
Mit fliegender Hand warf sie noch ihr zerdrücktes Gewand über und schlich auf den morgengrauenden Gang hinaus. Nicht einmal Zeit hatte sie sich genommen, die Lederschuhe anzulegen. Doch ihr abgeirrtes Bewußtsein empfand die Kälte der Steinfliesen nicht mehr. Mit stützender Hand hielt sie sich an den Wänden, und so schwankte sie ein paar der gewundenen Treppen hinab. Überall offene Türen, sonst Stille und Lautlosigkeit. Einmal stutzte sie. Von fern konnte sie in den großen Saal hineinlugen, in dem sich gestern abend das wüste Zechgelage abgespielt, und eine flüchtige Sekunde klammerte sich eine jähe Hoffnung an ihr fest, ob der Abt, der mildherzige, verzeihende Christenlehrer, vielleicht noch zwischen jenen Mauern ihrer harre. Gleich darauf freilich zuckte sie schuldbewußt zusammen, und wenn der weite Raum auch nicht so menschenleer und unrastig gegähnt hätte, die abgründige Scham würde sie gerade vor dem Angesicht des Priesters in besinnungsloser Flucht vorbeigetrieben haben. Nein, nein, nur keinem Genossen des Gestern mehr in die Augen schauen müssen, nur schnell und unbemerkt irgendwo den Sprung in die fegenden Höllenflammen wagen, damit die Lohe vielleicht die gräßliche Unsauberkeit läutern könnte. Selbst jetzt, wo ihr Erdenweilen kaum noch nach Augenblicken zu bemessen war, da preßte ihr die Scham, eine ganz unausdenkbare, umwühlende Scham, beide Hände vor das Antlitz, und ein winselndes Stöhnen entrang sich ihrer Brust.
Oh, nur dieser überwältigenden, giftigen Verachtung entfliehen, die wie ein Regen überall auf sie niederfiel; nur schnell diesem letzten, heilsamen Entschluß zustreben, bevor das unschuldige Licht des Tages den für die Befleckte so wohltätigen Dämmer zerstreute.
Weiter, weiter, die Treppen liefen an ihr vorüber, die Hoftür war nur angelehnt, und als sie sich über den Wirtschaftsplatz drückte, da drängte es sich ihr auf, daß auch hier alles Leben erstorben sei. Nirgends mehr ein Stück Vieh, weder im Stall noch an der Tränke ein Knecht, öde und ungenutzt lag das alte Gemäuer, und nur der Wind knarrte ab und zu mit den offenen Türen. Allein gerade jene gespenstische Verlassenheit nötigte dem Schatten, der hier vorüberstrich, ein mattes Wohlgefallen ab. Kein Auge, das sie in ihrer früheren Reinheit gekannt, durfte sich fragend an sie heften, ungestört ließ man das namenlose, geschändete Geschöpf seines Weges ziehen.
Er führte sie nicht mehr weit.
An der hinteren Umwallung waren in schrägem Anstieg ein paar Stufen in die Mauer gehauen. Sonst hatte die verwöhnte Herrin niemals diesen Katzentritt benutzt, nun kroch sie bedenkenlos hinauf und beachtete es nicht einmal, daß ihr das Mörtelwerk die nackten Füße zerschnitt. Keuchend, schwankend langte sie auf der Mauerkrönung an. Und sofort fuhr der Seewind in ihr Gewand und stäubte es auseinander. Ein letzter, vor Vernichtungstrieb bereits trüber Blick belehrte sie, daß sie an der rechten Stelle angelangt sei. Unter ihr zog der Burggraben seinen grünen, fauligen Linsenteppich, bleierner Dunst brach aus ihm empor und spielte mit den Schatten, die eine Reihe uralter Kastanienbäume vom jenseitigen Bord über den starren Tümpel warf. Heiseres Froschgequake klapperte aus dem Nebel, und manchmal huschte es im Sprung über die Fläche, und die grünen Kugeln strudelten dann im engen Kreis auseinander.
Ja, sicherlich, hier öffnete sich das abschüssige Tor, hier konnte ein Wanderer eingehen, der für Vergessenheit und spurlose Entrückung das Letzte, Äußerste zu zahlen bereit war. Linda griff nach einem Tollkirschenzweig, der in dem Geröll wurzelte, und während ihre Füße bereits den Halt lösten, da summte ihr noch wohltätig die Erinnerung durch die Sinne, daß schon zur Zeit der Fehden gepanzerte Reiter mit Roß und Speer dort unten von smaragdgrünen Armen ins Bodenlose gezogen worden seien.
Es mußte ein langes, traumhaftes Sinken werden, und dann würde es sein, als ob eine ungeheure Faust glättend über eine Unebenheit dahingestrichen wäre.
Schon strauchelte sie, schon spannte sich die Tollkirschengerte zum Zerreißen.
Aber es war anders über sie beschlossen.
Kein erschreckter Menschenschrei störte sie, kein schützender Männerarm fing sie auf, nein, es war nur das Leben selbst in seiner überredenden Stärke, das auf sie zuschritt, um die Betroffene ein paar Spannen weiter als bisher in seine schimmernde Vielgestaltigkeit blicken zu lassen. Das Rad, das solange einförmig gelaufen war und nun stockte, es empfing plötzlich einen unbegreiflichen Antrieb nach der entgegengesetzten Richtung. Hinter den Kastanienbäumen brauste ein Windstoß, ein langes Summen wühlte sich über das Meer, und dieser seltsame Ruf schleppte die Aufmerksamkeit der Verlorenen gebieterisch und zwangsweise mit sich. Sieh dort, welch ein Bild? Auf der Seehöhe, abgehoben von dem blauen Strich der aus milchigen Schwaden auftauchenden schwedischen Küste, schwoll der dunkle Leib eines Schiffes. Gewaltig, von nie geschauten Formen, lag es in dem blauschwarzen Teppich, widerstand sogar dem leisen Schaukeln der Fläche und stieß zwei riesenhafte Masten in den matten Silberhimmel. Und jetzt, wehten nicht auch von der diesseitigen Küste undeutliche Stimmen herauf? In den feuchten Sand hatte sich eine Snyke, ein großes, weitgebuchtetes Boot, eingebohrt, und Linda, die sich noch immer an ihren Zweig klammerte, fing auf, wie dort von winzigen schwarzen Gestalten allerlei Vorrat über die Planken verladen wurde. Oh, jetzt wußte sie es, dies Besitztum dort unten war ihr eigenes Gut, das vergewaltigt wurde, ebenso wie es ihr selbst geschehen, und auf dem Schiff dort hinten thronte ihr Vernichter und spann seine umwälzenden Pläne. Willenlos ließ sie die Gerte fahren, strich sich die Haare aus der Stirn und lehnte sich mit einem tiefen Aufatmen zurück, als wenn sie auf unbegreifliche Weise einen Arm gefunden hätte, der ihr eine Stütze gewähren müsse. Was war ihr denn nur in diesem flüchtigen Augenblick widerfahren? Welch seltsame, überlegene Ruhe strömte in sie über? Woher plötzlich diese Wandlung, die ein und dasselbe Wesen so völlig teilte, daß das Jetzt das Vorher nicht mehr begriff? Unwillkürlich beugte Linda sich herab, um angestrengt zu spähen, ob dort unter ihr nicht doch etwas verschlungen worden sei, was sie kurz vorher noch im Übermaß seelischer Zerrüttung vor dem Morgen verstecken wollte. Jetzt stieg der rote Triumphzug herauf, schlug breite Brücken über das Meer bis zu dem fernen Schiff, und aus dem Wind rauschte eine aufreizende Stimme. Die sprach:
»Was stehst du und fürchtest dich? Wandle über mich fort, denn dort ist dein Weg.«
Entschlossen richtete sich die Verlassene empor, mit einer Entschiedenheit, die ihr früher niemals eigen gewesen, und sah erstaunt, fast gierig in den sich weitenden und breitenden Tag. Trotz der roten Verklärung zeichneten sich Nähe und Ferne in glasheller Klarheit ab; die blau und rot geschichteten Linien des Horizontes, die schwarze Wölbung des Schiffes, das steile Ragen seiner Masten, das kurze Schwellen der schaumlosen Wogen, das Erschauern der Fläche unter dem Wind, das schräge Schießen einer Möwenschar, alles erfüllte sich mit Licht und Wahrheit, es verkündete sich so wirklich und voll Absicht, daß die Zeugin jener Dinge bestürzt und beinahe hungrig diese klare, fernsichtige, hüllenlose Welt an sich zog. So hatte sie es nie geschaut. Das, was sie gewesen, war zertreten. Ob jene Vernichtung berechtigt, schlimm oder gut schien, darüber grübelte sie nicht länger. Was lag wohl daran, ob ein einzelner in dieser kämpfenden Welt rein oder besudelt einherging? Ob er heute Fürstenschmuck oder morgen Lumpen trug? Und ob derjenige, der dies alles gewollt und verschuldet, als ein Elender, Verstoßener gebrandmarkt oder als sieghafter Empörer dafür gefeiert wurde? Was lag an diesem oder jenem, mochte er noch so fürchterlich wüten? Aber – und die Erkenntnis einer neuen, sie völlig überwältigenden Offenbarung leuchtete in die fernsten Winkel ihrer wie von Spinnenweben sich befreienden Seele –, hilf Himmel, dort hinten das gewaltige Schiff führte ja eine köstliche, noch nie an die Welt verschenkte Ladung! Linda mußte sich wieder an das Tollkirschengestrüpp lehnen, denn ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und ein sehnsüchtiges Verlangen überglänzte ihr totenblasses, vernichtetes Antlitz. Wie war denn das? Das Schiff schwamm ja nicht allein auf den Wassern, es durchsegelte die Luft und fuhr durch Städte, Dörfer und Geister, weil es von dem Herzblut der Armen und Verlassenen getragen wurde. Es war eine Erlöserbarke und verschloß den Gedanken eines Menschengottes, gewoben aus Mitleid und Kraft. Hilf Himmel! Die Erde mußte bald auftauchen aus der Sintflut ewigen Jammers, der Unsegen und die Ungerechtigkeit vertrieben werden, aus Haßerfüllten und Mordgierigen sollten die sanften Triebe wieder aufblühen, die der Ewige im Anfang in sie gepflanzt, und um alles Lebende sich ein weiches, goldglitzerndes Band schlingen, das Herz an Herzen schloß.
Wer es auch verkündete, der Wille war überirdisch. Er blendete ihr die Augen. Diesem Gedanken war sie geopfert worden, als die Angehörige einer Versippung, die ihn nicht mehr fassen konnte, doch deshalb gehörte sie auch jenem Gedanken. Es war das einzige Besitztum, das ihr geblieben, und darum durfte sie nicht untergehen, bevor sie nicht einen Strahl der Erfüllung aufgefangen.
Hilf Himmel! Sie war hingemordet und neugeboren, geschändet und gleichzeitig getauft in dem lodernden Geist, der dort draußen über die Wasser glühte, und mit einem trunkenen Schrei löste sie sich von der Mauer und taumelte über die Stufen in den Burghof zurück, das Eigentum einer fremden, sie unterjochenden Gewalt.
In dem leeren Kastell wurden Türen auf- und zugeschlagen, eine fieberische Hand suchte, riß an sich und fand, und eine kurze Weile später sahen die Männer an dem Boot, da man es gerade tiefer in die Flut hinabdrückte, wie sich ihnen ein junger, schlanker Bursche in der schwarzen Dänentracht näherte.
»Kuck«, zeigte der Bootsmann Wulf Wulflam und schob seinen schweißigen Stiernacken vor, »da kommt einer, ist nicht ausgekniffen! Was mag das Kindlein wollen?«
Auch die anderen Matrosen hielten breitbeinig in ihrer Arbeit inne, stemmten die Fäuste in die Seiten und wunderten sich, woher wohl der blasse blonde Fant den Mut aufgebracht, sich so zutraulich ihrer Rotte zu überliefern, die mit Spähern und Kundschaftern nicht gerade viel Federlesens zu machen pflegte.
»Potz Marter«, witterten ein paar der ausgepichten Spürnasen. »Kuckt, die Hüften und das Beinwerk. Gebt Achtung, da stimmt was nicht.«
Und da meckerte auch schon der Bootsmann aus vollem Halse, kniff die Augen zusammen und legte seinen schweren Arm prüfend um die Schulter des Ankömmlings.
»Bist ein Bürschlein, Feintrauter?« schmunzelte er. »Oder ein Jüngferlein? Sag mir's ins Ohr. Was willst du?«
Der Bursche wurde noch um einen Grad bleicher, aber er nahm sich zusammen und zwang seine sanfte Stimme zur Festigkeit, als er erwiderte:
»Wenn du ein Mensch bist, so leite mich zu deinem Herrn. Ich will bei euch bleiben und mit euch ziehen.«
»Viel Ehre, wahrhaftig.« Der untersetzte Kerl vollführte eine spaßhafte Verneigung, dann zwinkerte er noch unverschämter mit seinen verschwollenen Augen, winkte jedoch mit beiden Fäusten seine höhnenden Gefährten zur Ruhe. »Halt's Maul, Gesindel. Siehst du nicht, daß ein fürnehmer Junker sich zu uns herabläßt? Eia, welch feines Tuch und welch ein geschorenes Krägelchen!« Er leckte sich die wulstigen Lippen und schlürfte vor Wonne. »Potz Velten, und wie gerade und voll sich die hübschen Beine runden! Traun! wer möchte sich nicht solch einen holden Schatz zum Freund wünschen?«
Spürend, tapsig ließ er die Hand an der Weiche des jungen Dänen herabgleiten und begriff es wohl selbst kaum, wieso ihn ein verzweifelter Stoß dieser kleinen, kraftlosen Jungenhand so überraschend zurückschleuderte. Aber während der Ungeschickte unter dem schadenfrohen Gewieher seiner Gesellen bis an den Bordrand stolperte, wo er endlich einen Halt fand, wirkte der versteinerte Ernst in den Zügen des Knaben doch so wunderlich auf den Seemann ein, daß er mürrisch von seinen unangebrachten Scherzen abließ.
»Weißt du auch, Milchbart«, brummte er warnend, wobei sein Blick noch einmal die weichen Formen des Fremden betastete, »was geschieht, wenn du keine Gnade bei uns findest? Dann wirst du kopfüber ins Meer gestürzt. Denn nur die Stummen halten reinen Mund.«
»Das schreckt mich nicht«, entgegnete der Däne mit einer seltsam bangen Stimme. »Ich habe keinen Namen, keine Heimat und keine Ehre.«
Der Bootsmann fuhr auf, um ihn herum waren die Leute still geworden.
»Steig ein«, murmelte er nachdenklich, »dann gehörst du vielleicht zu uns. Solchen Burschen haben wir schon geholfen.« Hilfreich bot er dem Knaben die Hand, wenige Augenblicke später knirschte das Boot in die Fluten hinaus, hinter seinem Kiel schrumpfte die menschenleere Küste, und nur das ausgeplünderte Kastell hob sich schärfer über die Gegend, als wenn es aus seiner Starrheit erwache, um ein rächendes Leben zu gewinnen.
Unter dem mächtigen Kriegsaufbau am Heck stiegen sie eine breite Treppe hinunter. Dann hob sich ihnen eine eisenbeschlagene Tür entgegen, und davor stand ein bärtiger Matrose, den Spieß aufgerichtet, die Linke auf ein kurzes Schwert gestützt. Er hielt die Wacht.
»Laß das Bürschlein ein, Tielo«, vermittelte der Bootsmann, der hier zögerte. »Mich dünkt, Claus kennt es schon«, wollte er zweideutig hinzusetzen, aber von einem dieser erdenfernen, unglücklichen Blicke getroffen, verbesserte er sich und polterte ungeduldig heraus: »Laß es ein. Es wird Claus Spaß machen. Geh, Bürschlein.«
Vorsichtig öffnete er die Flügel nach innen, der Tag schwand zurück, und eine bläuliche Dämmerung empfing die Eintretende in dem tiefen, langgestreckten Raum. Beruhigtes, sattes Morgenlicht floß durch zwei kreisrunde Löcher, deren Bretterverschläge zurückgezogen waren, und die blaue Abspiegelung der See verlieh dem teppichbelegten, fürstlich geschmückten Saal etwas Kühles und Fröstelndes. Aber es war nicht diese Wahrnehmung allein, die dem blonden Weibe in Knabentracht, das doch von ihrem Dämon unerbittlich hierhergetrieben worden war, das Herz erstarren ließ. Nein, als es nicht weit von sich, dicht unter der einen Fensteröffnung, einen überlebensgroßen Mann auf seinem Ruhebett lagern sah, den Frevler, der es hartherzig zertrümmert hatte, da bäumte sich sein besudeltes Magdtum in seiner ganzen Qual und Zerrissenheit auf, Leichenblässe bedeckte es, und wie ein schwerer Stein brach es in die Knie, um starr und sprachlos liegenzubleiben. Im selben Augenblick wurde jedoch auch der Ruhende durch den dumpfen Fall aufgeschreckt. Unwillig über die Störung wandte er seine Aufmerksamkeit von einer in rohen Strichen gezeichneten Seekarte ab, die ihm gegenüber an der Wand angebracht war. Aber kaum hatte er sich halb emporgerichtet, da krampfte er in jähem Erkennen eines der Kissen zusammen, und eine hitzige Welle spritzte ihm ins Antlitz. Das Bild des knienden Wesens offenbarte sich ihm so überraschend und unglaubwürdig, es warf ihm seinen eigenen Frevel so wild ins Antlitz, daß er zuvörderst seine herrische Sicherheit einbüßte und ein widerspruchsvoller Grimm gegen die Mahnerin seine Brauen zusammenschnürte.
»Was willst du?« drohte er in ersticktem Zorn. »Wer ließ dich ein?«
Keine Güte verkündete sich in den heftig hervorgestoßenen Worten, nicht ein Schatten von Reue, nur der verletzte Übermut eines jede Verantwortung Verschmähenden tobte sich hier aus. Aber gerade diese helle, schneidende Stimme riß Linda aus ihrer demütigen Stellung empor. Wie ein Pfeil fuhr es ihr durch den Sinn, daß der Mann auf dem Lager ein bedenkenloser Übeltäter sei, daß er nichts Heiliges an sich trage als seinen fremdartigen, erlösenden, umwälzenden Gedanken, und daß auch dieser nur durch ein unerklärliches Wunder gerade in seine kalte, spiegelglatte Schale verschwendet sei. Und fieberisch getrieben, sich wenigstens das Letzte zu retten, was ihr noch von Hoffnung, Himmel und Jenseits übriggeblieben, sich nicht ausschließen zu lassen von jener Gnadenfreistatt, die hier allen armen Seelen gepredigt wurde, erhob sie sich und trat dem Gefürchteten stockenden Schrittes entgegen. Ihre blauen Augen drängten sich suchend, flehend, jeden Widerspruch von vornherein fortstreichelnd, in die seinen.
»Du hast mir alles genommen, Claus Störtebecker, selbst den Winkel, wo ich mich verbergen kann«, sagte sie mit einem unausweichlichen, bebenden Ernst, von dem sogar ihr Zuhörer gebändigt wurde. »Du hast mich getötet, obwohl ich dir nichts Übles sann, da ich dich zuvor kaum zweimal geschaut. Aber sieh, das, was besser ist als du, dein Werk, diese letzte Zuflucht der Gemißhandelten und Niedergebrochenen, sie kannst du auch mir nicht verschließen. Der Heiland spricht nicht mehr zu mir. Aber in deiner Hand leuchtet ein Licht, das mich beseligt. Laß mich dir dienen, Claus Störtebecker, laß mich dir dienen, damit ich den Tag schaue, wo du das Licht zu den Unglücklichen trägst. Denn dies ist der Tag der Auferstehung.«
In ihrer Stimme demütigte sich die ganze Zerbrochenheit eines jämmerlich zugerichteten Wesens, aber zugleich griffen aus jedem Wort zwei flehende Hände in letzter Angst nach einem schwanken Lichtstrahl, als ob er zwischen ihren Fingern zu einem rettenden Seil werden könnte. Der Mann jedoch, ihr Verderber und Zerstörer, von dem ihre hingenommenen, betäubten Augen meinten, daß ihm das weisende Licht in der Rechten flackere, er sprang finster auf, und während er ungehalten das Haupt schüttelte, da stritten sich in ihm niederdrückende Verlegenheit mit der peinlichen Abneigung, seinem lebendig gewordenen Frevel Rede und Antwort stehen zu müssen. Dergleichen war der selbstherrliche Genießer nicht gewohnt. Alle Weiber waren doch nur dazu geschaffen, damit sie auf weichen Kissen der darbenden Lust Genüge täten. Was verschlug es, ob sie unter geschwungenen Weihrauchfässern hingenommen wurden, im Taumel des Weines oder einer überrauschenden Siegerlaune? Nein, nein, den unbequemen Vorwurf wollte er nicht an seiner Seite dulden.
»Weib«, klang es scharf und hitzig von seinen Lippen. »Du träumst. – Das Freibeuterschiff ist kein Platz für Frauentränen. Hier fließt Blut. Nicht zum Scherz nennen wir uns ›aller Welt Feind«.«
Allein Linda senkte nicht ihren ernsten Blick.
»Ich weiß«, entgegnete sie ohne Zaudern, »du bist ein Feind der verdorbenen Welt. Jedoch, Claus Störtebecker, auch ich habe meine alte Welt abgestreift. Und du darfst es mir glauben, ich will nicht ruhen noch rasten, bis ich, gleich euch Männern, nur noch das Flammenzeichen vor mir schaue, auf das ihr zufahrt.«
»Weib, Weib«, unterbrach hier der Admiral mahnend und ungläubig, und doch geschah es nur, um zu verbergen, wie sehr er von der sehnsüchtigen Hingabe dieses fremden Geschöpfes getroffen wurde. Unruhig durchmaß er den weiten Raum, bis er plötzlich hart vor dem dänischen Knaben stehenblieb. In seinem schmalen Antlitz zuckte jene wilde Entschlossenheit, die stets seine Züge spannte, wenn es zu Streit und Kampf ging. »Weib«, drohte er sonder Rücksicht noch Scham. »Was verstecken wir uns voreinander? Dir ist übel von mir mitgespielt worden. Und ich weiß nicht einmal, was mich dazu trieb. Ob nur der Weindunst oder die Freude daran, deiner Patronin einen Streich zu versetzen. Aber jetzt täusche dich nicht. In mir gibt es keine Bereitwilligkeit, das Begangene wieder gutzumachen.«
Totenblaß warf der Knabe die Hand vor, allein seine Finger wurden von dem Seemann ergriffen und beiseitegepreßt.
»Mein Leben wird kurz sein«, hastete er weiter, »und ich will es mir nicht durch deinesgleichen mindern lassen. Zahlreich schlüpft ihr durch meine Hände, was seid ihr mir?«
Aufgebracht, erzürnt stand der Hochgewachsene vor ihr, als sei er es, der grimme und berechtigte Vorwürfe über die Zudringliche ausschütten dürfe, weil eine Fremde sich unterfinge, sein Dasein zu beladen oder dem Ungebundenen eine Richtung weisen zu wollen. Dazu hielt er noch immer die Hand des Knaben in der seinen und umspannte sie, daß die Blonde einen leisen Wehruf nicht unterdrücken konnte. Und doch, die verletzende Offenheit des wilden Menschen, die das klägliche Schicksal einer Vernichteten erst in seiner ganzen kargen Armut enthüllte, gerade diese schonungslose Roheit, sie ließ die Edelingstochter einen Rest ihres alten angeborenen Stolzes wiederfinden, das Bewußtsein ihrer geraden, rechtlichen Art.
»Was sprichst du von anderen Weibern?« beharrte sie fest. »Begreifst du nicht, daß du mich für immer hinweggelöscht hast? Sei gewiß, niemals werde ich dich an mein Wesen erinnern, aber auch nicht dulden, wenn es im Gedächtnis anderer wieder auflebt. Zudem in der Stunde der Gefahr bietet das weite Meer ringsum für jeden Mutigen eine Freistatt.«
Ruhig entzog sie dem Admiral ihre Hand und lüftete die Kappe von ihrem Haupt. Und jetzt bemerkte der Erstaunte erst, wie ihre Haare kurz abgeschnitten waren, gleich denen eines Knaben. Kopfschüttelnd, mit einem halben Lächeln über die Zähigkeit ihres Willens, trat der Störtebecker zurück. Sein Gast aber sprach mit unvermindertem Nachdruck weiter:
»Darum, noch einmal, Claus Störtebecker, dulde mich. Denn mir ist es, als ob mein Leben erst enden könnte, nachdem ich das Glück der vielen Tausende geschaut habe, um derentwillen du geboren bist.«
Es lag ein solcher fernseherischer Glaube in dieser Bitte, daß er jedem anderen an die Seele gerührt hätte. – Claus Störtebecker indessen begann plötzlich zu lachen, streckte sich auf das Lager, und indem er bequem das Haupt aufstützte, warf er hin:
»Sage mir, wie heißt du, Büblein?«
Obwohl sie alle Kraft aufbot, errötete doch die Gefragte.
»Linda«, entgegnete sie, an sich herabschauend.
»Gut«, lobte der Admiral und betrachtete neugierig die ranke Gestalt, »so will ich dich Licinius taufen.« Und auf ihren verständnislosen Ausdruck setzte er angeregt hinzu: »Merke dir, dein neuer Schutzpatron war im alten Rom einer von jenen, denen weder Suppe noch Braten schmecken wollte, solange die Hungrigen in ihren Pesthöhlen verfaulte Tiberfische fressen mußten. In dir sitzt von dem Mann etwas, das ich gern habe. Und nun suche dir hier ein Loch zur Behausung. Was schiert es mich? Es waren schon viele Weiber auf dem Schiff. Du magst bleiben, solange deine Grille zirpt oder es dir sonst Spaß bereitet. – Geh, Licinius.«