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Das ausgeräumte Speisezimmer hatte sich schon mit einer ansehnlichen Zahl erwartungsvoller Menschen gefüllt, die gespannt miteinander flüsternd das Muster des die Türöffnung gegen das Podium verkleidenden Teppichs studierten. Und noch immer strömten Erwartungsvolle zu.
Im ersten Rang saß bereits Laurenz Hocheder neben Herrn Schmal, dem Buchhalter der Firma, und einer Reihe anderer Angestellter des »Seidenbaums«, auch Konrad Eybel, wie der Hahn im Korb zwischen der Principessa und Marianne. Im zweiten Rang Rumpsack, der Ehrendoktor der Schutzengelgasse, neben der Zwirner-Wettl, ferner kleinere Leute aus dem Geschäft, Kontordiener, Packer, Austräger, Schickmädchen und dergleichen. Dann die beiden Spulerinnen aus dem Werksaal und ein bißchen abgesondert ihrer zwei von den »Organisierten«: Herr Pimper, der entgleiste Fabrikant, der jetzt nichts als ein schlichter Handweber war, aber dem hohen Festtag und besonderen Anlaß zu Ehren sich heute in feierliches Schwarz gekleidet hatte und in seiner atlassenen Halsbinde eine aus der alten Herrlichkeit herübergerettete stattliche Busennadel trug, welche an sich schon für ein wertvolles kleines Kunstwerk gelten konnte, sie stellte das in Gold sachkundig ausgeführte niedliche Modell einer Spulmaschine dar, auf dem von den unzähligen winzigen Spülchen ein jedes wie bei einer richtigen und ausgewachsenen Spulmaschine sich um eine Spindel drehen konnte, so daß es bei der geringsten Bewegung, die Herr Pimper machte, ein feines, zierliches Klirren gab, was das Selbstbewußtsein des unters Rad Gekommenen erheblich stützte. Neben Pimper saß der zweite von den »Organisierten«, ein langer, dünner, halbverhungerter Hering mit gespannten, glaubenseifrigen Gesichtszügen, Herr Schirmann, der Methodist, der in seinem schlotternden und zerschlissenen Sommeranzug aus gebleichtem Drell eher einem vom Geist Gottes erfüllten Badediener als einem Seidenweber glich. Und endlich Beppi, die »Perle«, und viele andere auf Severins Wunsch gerne zugelassene Dienstmädchen aus dem Haus und der Nachbarschaft, in deren botmäßigem Dasein, seit sie Hausgehilfinnen hießen, sich nichts geändert hatte, als daß sie schwerer einen guten Dienstplatz fanden als früher. Diese freuten sich ganz besonders auf den Abend, weil es eine »Musi« geben sollte und sie auch einmal etwas Hübsches, vielleicht sogar Lustiges zu hören bekommen würden.
Die dunkle, mächtige Stockuhr in der Zimmerecke zeigte schon beinahe die für den Beginn festgesetzte Stunde, da wendete Marianne Hocheder den Kopf und spähte von ihrem Sitz aus emsig rückwärts. Mit Befriedigung konnte sie feststellen, daß eine der Hauptpersonen noch fehlte, der hochrote Weber Toblak, Severins Kriegskamerad, der Blut zu sehen gewohnt war, wie man sich mit einer wohlig über den Rücken laufenden Gänsehaut im Hause und in der ganzen Schutzengelgasse erzählte, vielleicht würde dieser überhaupt fortbleiben? Das wäre ihr freilich am liebsten gewesen, sie hoffte es, vorderhand wenigstens war noch keine Spur von ihm zu erblicken. Dagegen gewahrte sie, wie Marfa und Schinnerl eben im Begriff standen, den Rollstuhl mit der Frau Staudenmayer, offensichtig auf deren Wunsch und Anordnung, ganz in den Hintergrund, noch hinter die letzte Sesselreihe zu schieben. Marianne erhob sich, um diesem Beginnen Einhalt zu gebieten und der Kranken, als Justinens Freundin, den gebührenden Platz anzuweisen, als sie im gleichen Augenblick bis ins Herz hinein erschrak: des Vaters hohe Gestalt war unvermutet im Rahmen der Eingangstür aufgetaucht.
Um Gottes willen, wenn jetzt der Toblak doch noch kam? Der war imstande und sagte dem Vater ins Gesicht, daß er noch einmal etwas erleben würde!
Der alte Hocheder stand einen Augenblick still, wie zögernd, ob er nicht lieber wieder umkehren solle; prüfenden Auges überblickte er die Versammlung, dann überschritt er langsam die Schwelle. In der gewohnten aufrechten Haltung von früher, die sein herrischer Wille der Krankheit abzwang, das Haupt mit dem noch immer vollen schneeweißen Haarbusch unnahbar hoch in den Wolken wie der richtige Pik von Teneriffa, betrat er jetzt das Zimmer – niemand hätte ihm angemerkt, daß er ein schwerleidender Mann war.
Marianne eilte ihm entgegen. Sie war bestürzt. Er hatte aufs bestimmteste erklärt, dem Konzert nicht beiwohnen zu wollen, im letzten Augenblick mußte er sich anders besonnen haben. Vermutlich ging es ihm wider die Ehre, als einziger zu fehlen, wo das ganze Haus sich versammelte, sie fühlte, daß er es als eine Art Absetzung, als eine Toterklärung noch bei Lebzeiten empfunden haben würde, hätte er auf seiner ursprünglichen Absicht, der Veranstaltung fernzubleiben, beharrt. Sie bereute, durch ihre ausschlaggebende Befürwortung des Unternehmens den geliebten Vater in den Zwiespalt versetzt zu haben, entweder als Vereinsamter und Abgetaner auf seiner Krankenstube zurückzubleiben, oder mit Aufwand aller Kraft und Selbstbeherrschung den Michael Hocheder von einst zu mimen...
Das alles schoß ihr, während sie sich niederbeugte, dem alten Herrn die Hand zu küssen, blitzartig durch den Kopf ... Und wenn nun gar am Ende der Toblak doch noch kam –? Es schwindelte ihr bei dem Gedanken. Als sie sich wieder aufrichtete, mußte sie sich mit dem Taschentuch Kühlung zufächeln.
Die Zwirner-Wettl hatte den »Pik« kaum erblickt, so schoß sie feierlich von ihrem Sitz auf und verharrte in ehrerbietiger Haltung, wie Kinder in der Schule tun, wenn der Herr Lehrer eintritt. Andere folgten ihrem Beispiel, lautlose Stille war eingetreten unter den Anwesenden. Laurenz, nicht minder erschrocken als Marianne, ging ebenfalls dem Vater entgegen, ihn willkommen zu heißen. Er wollte ihn zum ersten Platz geleiten, dem Vorhang gerade gegenüber, und lud ihn ein, nach vorne zu kommen. Der alte Herr indessen, der die gesamte Lage rasch erfaßt und Frau Staudenmayer in ihrer freiwilligen Verborgenheit entdeckt hatte, bestand darauf, daß sie ebenfalls nach vorne kommen und den Ehrenplatz an seiner Seite einnehmen müsse. Er leitete selbst ihre Überführung nach der angegebenen Stelle und benahm sich überhaupt bei aller gewohnten Steilheit der Haltung vornehm, beinahe zuvorkommend.
Von den Gemütern, zu denen außer Laurenz und Marianne auch Ursel gehörte, die bei seinem unerwarteten Erscheinen auf die Möglichkeit böser Verwicklungen gefaßt gewesen waren, begann der Druck zu weichen. Der Toblak war noch immer nicht da. Wenn er nicht im letzten Augenblick noch als unwillkommener Samiel aus der Versenkung aufstieg, so brauchte man wohl vor keiner Gefahr mehr zu bangen. Denn Michael Hocheder schien wie umgewandelt, oder mindestens hatte er heute einen ausnahmsweise sanften und umgänglichen Tag. Vielleicht freute es ihn wirklich, daß dem gesamten »Seidenbaum« etwas geboten werden sollte, es war ein Gedanke, der den Zusammenhalt des Hauses vor allen Geschäftsfreunden und der ganzen Schutzengelgasse erhärtete. Vielleicht wollte er auch betonen, daß er hier, wo es sich nicht ums Geschäft handelte, auf dem gleichsam unseitigen Boden einer Kunst- und edlen Unterhaltungsstätte, sich – vielleicht nicht gerade als Gleicher unter Gleichen – aber doch als Erster unter Gleichen fühle. Überdies mochte die Krankheit gewisse Umwälzungen in seinem Innern nach der gütigen Seite hin bewirkt haben.
Jedenfalls empfanden es viele mit einer leisen Rührung, daß nicht wie sonst eisige Gletscherluft von ihm ausging, sondern eher etwas wie der wehmütige Widerschein der erlöschenden Sonne auf einsamem Berggipfel. Er trat sogar in die Sitzreihe, wo Herr Pimper seinen Platz hatte, der um seinen Wohlstand betrogene Fabrikant, mit dem er vor vielen Jahren befreundet gewesen, und richtete einige wohlwollende Worte an den unbeholfen stotternden und mit den Spülchen seiner Busennadel verlegen klirrenden alten Mann, wobei er ihm zum Erstaunen aller Umsitzenden das alte »Du« gab.
Inzwischen hatte Marianne erst bemerkt, daß in Gesellschaft ihres Vaters auch Exzellenz von Mairold mitgekommen war. Dieser entschuldigte sich bei ihr, daß er ungeladen hier eindringe, Herr Hocheder, dem er einen Besuch machen wollte, habe ihn durchaus nicht wieder fortgelassen und seine eigene Teilnahme am Konzert davon abhängig gemacht, daß er, der General, ihn begleite. Sie bat ihn ebenfalls in die erste Sitzreihe, der verbohrte und mißmutige Mann aber lehnte ziemlich schroff ab. Aufrichtig gesagt, sei er nicht in der Stimmung, Musik zu hören, und wenn er schon dem alten Herrn zulieb sich genötigt sehe, eine solche »Festivität«, wie er sich ausdrückte, mitzumachen, die nach seiner Meinung ganz und gar nicht in die traurige Zeit passe, so wolle er wenigstens nicht, den Blicken aller preisgegeben, gleichsam auf dem Präsentierteller dasitzen. Durch Mariannens Einwand, es handle sich doch beileibe um kein Fest, sondern lediglich um ein bißchen Musikmachen zur harmlosen Zerstreuung von Leuten, die sich sonst nichts zu gönnen vermöchten, ließ er sich von seiner Meinung nicht abbringen. Der Taumel von Lustbarkeiten, in welchem die leichtfertige Bevölkerung dieser Stadt schwelge, sei ihm verhaßt, sagte er in der offenkundigen Absicht zu verletzen; und mit siegreich strafenden Blicken auf Severins Gesinnung anspielend, über die ihm gerüchtweise einiges zu Ohren gekommen sein mochte, fügte er hinzu: Musik gebe es in der Kirche genug, dazu brauche man sich nicht erst einen subversiven Freigeist aus Sibirien zu verschreiben. Damit verlor er sich, darauf beharrend, er wolle lieber im Verborgenen blühen, unter den Leuten und nahm in einer der hinteren Reihen neben der Zwirner-Wettl Platz.
Etwas betreten, daß der Exzellenzherr sie so scharf angelassen und sogar einen tückischen Hieb gegen den geliebten Bruder geführt hatte, kehrte Marianne an Eybels Seite zurück. Der tröstete sie, indem er sagte: »Sie müssen bedenken, liebes Fräulein, daß der General zu den Enttäuschten gehört, denen die Zeit alles genommen hat, woran ihr Herz hing. Es ist ihm nichts geblieben als seine Verbitterung. Tragen Sie ihm nichts nach und lassen Sie uns Gott danken, daß wir noch jung und anpassungsfähig sind.«
»Ich kann nicht begreifen,« sagte Marianne, »wie einer, der fortwährend den Glauben, die Religion, besonders aber die Kirche im Munde führt, sich so häßlich über einen Menschen äußern kann, den er kaum kennt, und der in seinem Leben so viel Hartes erfahren hat wie Severin.«
»Die wenigsten ahnen,« erwiderte Eybel, »daß es eine Forderung der christlichen Lebensweisheit ist, da zu schweigen, wo man nicht lieben kann. Die feinfühligste Lebenslehre, die es gibt, die Bergpredigt, erkennt den, der tötet, nur des irdischen Gerichts schuldig, während sie denjenigen, der über seinen Nebenmenschen abspricht, des höllischen Feuers schuldig erkennt. Wer aber versäumte es nicht nur allzu oft, diesen Wink zu beherzigen? Wir alle stellen uns unter den sieben Todsünden etwas Ungeheuerliches, gewissermaßen Monumentales vor und bedenken selten, daß wir die eine oder andere von ihnen auf die unscheinbarste Weise täglich und fast stündlich begehen, mit jedem rasch aburteilenden Wort, jedem lieblosen Gedanken, jeder hitzig und flüchtig hingeworfenen Zeile, sogar mit dem oft scheinbar Nebensächlichen, das wir unterlassen, während wir es tun sollten. Könnten wir es dahin bringen, im alltäglichen Leben gegen jedermann stets liebenswürdig zu sein – nicht im Sinne der äußerlichen Geselligkeit, aber im Sinne des Herzens – so wäre dadurch für unser Innenleben vielleicht mehr erreicht, als durch alle kirchliche Strenggläubigkeit, besonders wenn diese sich etwas darauf zugute tut, die alleinige Wahrheit zu besitzen, was dann leicht zur Überhebung über den Andersdenkenden führt, das heißt zur Hoffart, der Königin unter den sieben Todsünden.«
»Ähnliches hat mir wohl auch Pater Wilfrid, mein Beichtiger, gelegentlich leise andeuten wollen, wenn ich ihn recht verstanden habe«, sagte Marianne.
Frau Staudenmayer war inzwischen auf dem für sie bestimmten Ehrenplatz bestallt und eingerichtet. Herr Michael Hocheder hatte an ihrer Seite Platz genommen. Alles war gespannte Erwartung.
Da fiel Mariannen wieder der Weber Toblak ein, der noch immer kommen konnte. Es war ein Gefühl, wie wenn man aus einem kurzen Schlaf erwacht und das Bedrückende, das vorübergehend verdunkelt war, peinigender als früher zurückkehrt. Schon hatte sie sich in einer gewissen Sicherheit gewiegt, an keine Gefahr mehr gedacht. Und nun plötzlich – wenn die Eingangstür sich noch einmal auftat ... wenn der Vater umblickte .., wenn er den Menschen eintreten sah, den sein Auge vermutlich gesucht hatte, als er auf der Schwelle noch zögerte, ob er nicht wieder umkehren solle ... den Abgesandten des Aufruhrs sozusagen, dessen Fehlen in der Versammlung ihn vielleicht in jene seltene freundliche Laune versetzte, die alle erlösend empfanden... den Gegenspieler gleichsam gegen sein Lebenswerk, der auf ihn, wenn nicht ein Wunder geschehen war, wie das rote Tuch auf den Stier wirken mußte ... wenn das Unglück es wollte, daß dies geschah – welch unabsehbare Folgen könnten sich daraus entwickeln! Bis zum Hals herauf spürte Marianne ihr Herz pochen. Ein heißes Stoßgebetlein stieg zum Himmel. Und in ihrer Not versprach sie dem heiligen Judas Thaddäus in der Kirche »Zu den neun Chören der Engel« eine Wachskerze auf die gute Meinung, daß die Sache noch einen guten Ausgang nehmen möchte...
Und da fuhr sie schreckhaft zusammen. Hinter dem Vorhang war ein Akkord angeschlagen worden. Und fast gleichzeitig gab es an der Eingangstür einen Knacks. Schnell warf sie den Kopf herum, was bedeutete das? Ein Schlüssel war umgedreht worden, vor der Eingangstür stand wie der Engel mit dem Flammenschwert der Pförtner, Nachtwächter und Hausmeister des Hauses »Zum Seidenbaum«, Tobias Jellen, der das Schlüsselamt im ganzen Haus versah und alle Auf- und Zuschließ-Werkzeuge in seiner Obhut hatte, vom Kellerschlüssel über den Waschküchenschlüssel, den Haustorschlüssel, die Kontorschlüssel und so weiter bis hinauf zum Ladenschlüssel. Es war klar: der Akkord kündigte den Beginn des Conzertes an und war auch zugleich das verabredete Zeichen für Tobias Jellen, die Eingangstür zu verschließen und keinem Zuspätkommenden Einlaß zu gewähren.
Ein Stein fiel von Mariannens Herzen, das voll verschwiegenen Jubels war. Und erleichtert aufatmend, während der Vorhang sich langsam und wie von selbst zur Seite schob und Justine am Flügel, in ihrem Goldhaar wie eine Lichterscheinung anzusehen, und Severin mit der Geige in der Hand sichtbar wurden, flüsterte sie dem Hauptmann an ihrer Seite zu: »Jetzt kann von mir aus der Toblak kommen, wenn er mag! Es hat keine Gefahr mehr, er bleibt ausgesperrt ... Gott sei Lob und Dank!«
»Und dem heiligen Judas Thaddäus!« gab Konrad lächelnd zurück.
Mit dem Ausdruck ratloser Verwunderung sah sie ihn an. Konnte er Gedanken lesen? Lautlose Gebete des Herzens vernehmen? Schaute er sie durch und durch? Es blieb ihr unerklärlich, wie er ihre Beziehungen zum heiligen Judas Thaddäus hatte erraten können.
Dem Hauptmann machte es Spaß, sie ein wenig hinzuhalten, auch hielt er die Gelegenheit für günstig, endlich das Geheimnis jener Perlenstickerei in der Kirche am Hof zu lüften, wo er Mariannen damals am Seitenaltar des wundertätigen Heiligen hatte knien sehen. Ganz leise, denn Justine und Severin hatten bereits zu spielen begonnen, sagte er ihr ins Ohr: »Heiliger Thaddäus, beschütze ihn und gib, daß er aus diesem großen Krieg ...«
»Woher wissen Sie –?« Sie war vor Staunen fast sprachlos.
»Was weiß ich denn? Nicht einmal, für wen der Heilige sich im Krieg verwenden sollte, und das wüßt' ich doch gern.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie ihm leise ins Ohr: »Für dich!«
»Du bist lieb und gut«, gab er ebenso leise zurück.
Zum erstenmal duzten sie sich. Und diese Vertraulichkeit war mit einem so merkwürdig süßen Prickeln verbunden, daß sie gar nicht aufhören wollten miteinander zu tuscheln, wie ungezogene Schulkinder tun, die während des Unterrichts schwätzen.
»Lachst du mich aus?« fragte sie wieder beinahe unhörbar wie vorhin.
»Das gerade nicht, aber ...«
»Der Heilige hat dich doch auch wirklich in seinen Schutz genommen?«
»Wollen wir nicht lieber annehmen, daß es der liebe Gott war?«
»Auch gut, die Hauptsache bleibt, daß ich dich habe.«
»Und ich dich! Was sagt denn Pater Wilfrid zu deinem wunderlichen Heiligen?«
»Um Gottes willen, verrat' mich nicht! Ich glaube, er würde mich auslachen wie du.«
»Ich lache dich nicht aus!«
»So lächelst du mich wenigstens aus!«
»Durchaus nicht! Denn ich nehme an, daß es Gott und dein Glaube waren, die mich beschützten.«
Der wispernden Unterredung, die wie ein süßes Kosen und Liebesgetändel war, setzte jetzt das Piano der Spielenden ein jähes Ziel. Es sank allmählich zu einem ätherischen Pianissimo herab, das nur mehr wie ein Hauch durch den Raum zitterte. Und sterbend in Schönheit klang die erste Nummer aus. Konrad und Marianne hatten so gut wie nichts davon vernommen. Aber als jetzt der Beifall losbrach, klatschten sie natürlich kräftig mit.
Das Programm war aus leichter, aber nicht minderwertiger Musik zusammengestellt. Das Anmutige und Heitere überwog. Die aus Mozart und Haydn ausgewählten Stücke versetzten auch des einfachsten Zuhörers Seele in rhythmisches Mitschwingen. Noch volkstümlicher sprach der Melodienreichtum Schuberts an, der für Frau Staudenmayer den Inbegriff aller Seligkeiten bedeutete. Das Haupt in ihren Rollstuhl zurückgelehnt, lächelte sie beglückt durch die Zimmerdecke hindurch in den offenstehenden Himmel hinein, und Justine, die sie während des Spielens wiederholt beobachtete, fühlte es mit klarerem Hellblick als je, daß uns keine Kunst so innig mit dem Unirdischen verbindet wie die Musik. Strauß und Lanner, durch die Art des Vortrags zu vollberechtigten Klassikern erhoben, fuhren Jüngeren und Älteren in die Beine, sogar die Zwirner-Wettl wiegte so hingegeben den Oberkörper hin und her, als hätte auch sie in jungen Jahren, gleich ihren glücklicheren Freundinnen von damals, sich im Tanze gedreht und geschwungen. Ach, es war immer ein unerfüllter Traum geblieben! An Tanzen hatte die Verwachsene außer in ihrer Einbildung und mit ihrer Sehnsucht niemals denken dürfen; auf ihrem armen, mühseligen Rücken trug sie ein fremdes Ding mit sich durchs Leben, das Böswillige einen »Buckel« nannten.
Zwischen den Klavier- und Geigenvorträgen sang Severin zur Laute, deren Töne füllig wie die einer Harfe klangen, in den vollgriffigen Akkorden manchmal beinahe an eine Orgel erinnern konnten. Er hatte eine unerschöpfliche Auswahl der schönsten und edelsten deutschen Volkslieder zur Verfügung, auch heitere und schmelzende Worte und Weisen aus den österreichischen Alpen. Das ging ins Ohr, das beflügelte, erhob von der Erde, machte weich und liebreich. Immer wieder wurden Zugaben verlangt, und der alte Hocheder war der erste, der jedesmal das Zeichen zum Beifall gab. Er war ja Jahrzehnte hindurch in seiner rastlosen beruflichen Arbeit fast vertrocknet, durch geschäftliche Sorgen der freien, vom Zweck erlösten Bewegung des Herzens entfremdet. Nun fiel die Musik wie befruchtender Regen auf das Weizenkorn des jedem Sterblichen eingeborenen Jenseitsbedürfnisses, das so lange mit seinem zur Mumie erstarrten Menschentum im Felsengrab des engen bürgerlichen Alltags eingeschlossen gewesen. Und irgendwie, ob auch viel zu spät, begann's in ihm zu sprießen und zu wachsen ...
Allen zu früh machten die beiden Künstler Schluß, sie hatten die Dauer einer durchschnittlichen Musikvorführung ohnedies schon überschritten und wollten die Zuhörer nicht abstumpfen. Michael Hocheder erhob sich, er trat auf Justine zu, drückte ihr die Hand und küßte sie auf die Stirn, was er noch niemals getan hatte. Dann streckte er auch Severin die Hand entgegen. Die Geste war etwas steif und unfrei, die anerkennenden Worte, die er über die Wahl der Stücke, deren Ausführung, das treffliche Zusammenspiel äußerte, klangen etwas gezwungen und ließen die erwärmende Unmittelbarkeit zwischen Herz und Zunge vermissen. Aber man kannte ihn doch! Es fehlte ihm überhaupt die Fähigkeit, Gefühle auszusprechen. Sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen, in sich hineinblicken zu lassen, er pflegte jede Anwandlung von Weichherzigkeit ängstlich zu verbergen und wollte lieber nüchtern, sogar verhärtet erscheinen als empfänglich oder ergriffen. Sonach war es schon alles mögliche, daß er überhaupt die Absicht bekundete, seine Eindrücke in rückhaltlos zustimmende Worte zu kleiden. Und daß diese Eindrücke noch tiefer gewesen sein mußten, als er es auszudrücken vermochte, das ließ sich aus der besonderen Huld erschließen, mit der er den Sohn ersuchte, nun auch noch ein Lied eigener Komposition als Zugabe zu bringen.
Severin, wohltuend berührt von dem so ungewohnten wie unerwarteten Strahl väterlicher Gnade, der sein ganzes bisher höchstens geduldetes, wo nicht gar angefeindetes künstlerisches Streben nachträglich zu rechtfertigen und für die Zukunft zu ermutigen schien, war mit schlecht verhehlter Freude gern dazu bereit. Nach kurzer Beratung mit Justine sang er zur Laute:
Auf blumigem Anger tanzen Ringelreihn
Die Kinder, fröhlich singend in der Runde,
Und Schnitter, lagernd müd am Meilenstein
Zur Mittagsrast, schaun zu mit malmendem Munde.
Von Arbeit stumpf, denkt jeder: Junges Blut!
Das jauchzt und tollt und dreht sich nur geschwinder,
Je heißer Sonne brennt – und könnt' so gut
Im Schatten ruhn. Ein seltsam Volk, die Kinder!
Gemach! Auch jener Anger kommt bald dran,
Dann stockt der Tanz, verstummen jäh die Lieder.
Die Sense klingt und setzt zur Heumahd an,
Und Gras und Blumen sinken seufzend nieder.
Die Komposition, voll packender Harmonien und Dissonanzen, hatte bei aller Eigenart etwas Volksliedmäßiges und drang, während sie sich ins Ohr schmeichelte, unwiderstehlich bis in die Tiefe der Herzen vor. Auch der alte Hocheder schien sichtlich bewegt. Die knappen drei Strophen, die das Gefühl der Vergänglichkeit so ergreifend mit dem Bilde einer harmlos fröhlichen Kindheit verknüpften, mochten Gedanken an seine eigenen Kinderjahre in ihm aufgewühlt haben, Gedanken an sein voraussichtlich nicht mehr fernes Abscheiden von dieser Erde, wo er es versäumt hatte, sich der Blumen zu freuen, weil er nur immer an die Arbeit und den durch sie zu erreichenden Zweck, die Ernte, hatte denken müssen.
Tränen standen ihm in den Augen, als er sich von seinem Sitz erhob. Zum erstenmal seit undenklicher Zeit vergaß er zu verschleiern, was in ihm vorging, und folgte ohne Stolz und falsche Scham dem Trieb seines Herzens, indem er den Sohn in seine Arme schloß und an die Brust drückte ...
Gegenseitiges Verstehen, Eintracht, Liebe, seltene Gäste unter den Menschen, in den Familien, sogar unter den Nächststehenden, durchsonnt das Haus »Zum Seidenbaum« mit eurem milden Lichte wenigstens für die kurzen Stunden, ehe neue Gewitterwolken über den umgebenden Feuermauern aufziehen und über dem alten schirmenden Dach sich zu düster dräuendem Unheil ballen! ...
Der sandsteinerne Engel, das unscheinbare aber ehrwürdige Wahrzeichen der Schutzengelgasse, hatte für ein paar Augenblicke seine Mauernische, ein paar Häuser weiter unten, verlassen, er lugte, neugierig wie er war, dem »Seidenbaum« verstohlen in die Fenster. Er spähte durch die Scheiben in die Zimmer hinein, bald in die Wohnung des jungen Hocheder-Paares, bald in die des alten Herrn Michael Hocheder. Er legte sein Ohr an Ritzen und Spalten und lauschte. Er freute sich und wollte in Jubel ausbrechen, und dann stutzte er wieder, schüttelte den Kopf, erschrak und sorgte sich. Und schließlich zog er sich unhörbar, wie er gekommen, wieder zurück, schlich traurig die Gasse entlang und stieg mit einem schweren Seufzer auf sein altes verwittertes Fußgestell in der Mauernische, mit dem festen Vorsatz, es nie wieder zu verlassen. Dort steht er denn auch noch heute, wie er immer stand, mit segnend ausgestreckter Hand zwar, aber starr, kalt und steinern, als nähme er keinen wahren Anteil mehr an den Menschen und wolle von ihrem ewig gleichen friedlosen Treiben für Zeit und Ewigkeit nichts mehr wissen ...
Nachdem die Flut der Gäste sich verlaufen, waren Severin und die Principessa noch bei Laurenz und Justine in deren Wohnung zurückgeblieben. Hauptmann Eybel und Marianne, welche gemeinsam die Einrichtungsgegenstände an die richtigen Plätze zurückgebracht und die gewohnte Ordnung wiederhergestellt hatten, verweilten noch. Man besprach mit Befriedigung den Verlauf des gelungenen Abends. Die anfängliche Sorge über das Erscheinen des alten Herrn war einer ungeteilten Freude und Genugtuung über die unerwartet günstige Aufnahme gewichen, die er dem Dargebotenen hatte zuteil werden lassen. Man glaubte ihn als Menschen gewissermaßen neu entdeckt, oder doch erst richtig erkannt zu haben. Man versprach sich von der zwischen ihm und Severin vollzogenen Annäherung Segen für beide wie für das ganze Haus. Man gab der Hoffnung Ausdruck, daß ihm etwas wie eine neue Welt erschlossen worden sei, aus der fortan ein aufmunterndes Licht in das Düster seines eintönigen und freudlosen Alters fallen würde. Sogar die Erwartung wurde ausgesprochen, daß sein schweres Leiden wo nicht behoben, so doch gelindert und erträglicher gestaltet werden könne, wenn sich vielleicht öfters die Gelegenheit böte, seinem Gemüt durch das Stahlbad der Kunst neue Schwungkraft zu verleihen. Die freudige Erregung spiegelte das Unwahrscheinliche beinahe schon als erfüllte Wirklichkeit vor. Und besonders Marianne, die ja unter dem Zustand des Vaters am bittersten litt, vertraute darauf, daß mit dem heutigen Tage etwas wie ein neuer Abschnitt in seinem und damit auch in ihrem Leben beginnen würde. Als künftige Braut und Gattin ihres Konrad ernstlich gewillt, in jeder Hinsicht stets ein Herz und eine Seele mit ihm zu sein, war sie doch auch nicht minder fest entschlossen, in einem Punkte, einem einzigen nur, sich ein allereigenstes Sonderrecht vorzubehalten und dieses gegen jedermann, auch gegen ihn, wenn es nötig sein sollte, hartnäckig zu verteidigen. Denn dem heiligen Judas Thaddäus, der ihr schon wiederholt in schweren Nöten Treue bewahrt, wollte auch sie Treue halten, was immer auch für spöttische Bedenken der Hauptmann dagegen vorzubringen wüßte.
Um die gleiche Stunde saß in der anstoßenden Wohnung des Herrn Michael Hocheder im Haus »Zum Seidenbaum« der General von Mairold plaudernd mit dem alten Herrn zusammen, der ihn eingeladen hatte, zu ihm herüberzukommen und noch eine Zigarre bei ihm zu rauchen. Der Gletscher des »Pik« war überraschend zurückgegangen und zusammengeschmolzen, der alte Herr befand sich in heiterer Stimmung. Melodisch, den tief eingenisteten Unmut überflutend und hinwegspülend, schwangen die gewonnenen Eindrücke in ihm nach. Und nachgenießend erwähnte er und erinnerte er sich mit fortklingendem Anteil derjenigen Lieder und Musikstücke, die ihn am tiefsten berührt hatten.
»Es war fein und taktvoll von Severin und Justine,« sagte er unter anderem, »daß sie den Weber Tablak nicht eingeladen haben. Er ist ein Umstürzler, wie mir berichtet wurde, ein Kommunist oder etwas dergleichen. Er hat die Lektion verdient, daß er der einzige vom ganzen Hause war, der nicht zugelassen wurde.«
»Wissen Sie so bestimmt, daß er nicht geladen war?« fragte der General mit spöttisch gekniffenen Augen.
»Ich wäre noch auf der Schwelle umgekehrt,« sagte Herr Michael, »wenn ich den mir in der Seele verhaßten Kerl unter den Zuhörern erblickt hätte.«
»Dann ist es ja gut, daß er aus freien Stücken fortblieb«, bemerkte Exzellenz von Mairold scheinbar trocken und nebenher.
»Wieso aus freien stücken? wenn er nicht geladen war, konnte er nicht kämmen!«
Jetzt erleichterte endlich der General seine Brust: »Er war aber geladen.«
»Woher wissen Sie das?« brauste Michael Hocheder auf.
»Ich kam da zufällig neben diese bucklige Person zu sitzen, Werkführerin, oder was sie sonst bei Ihnen ist. Die erzählte mir in einer Pause allerlei Wissenswertes.«
»Was erzählte sie?«
»Ich würde Ihnen die Antwort schuldig bleiben, um sie nicht unnötig aufzuregen«, sagte mit einer Art Amtsmiene der General – »aber ich darf als Ihr Freund und auch als Freund der Ordnung und Gegner des Umsturzes nicht schweigen, wenn ich zu meinem größten Kummer erfahre, wie Ihrem Sohn Severin seine alten Beziehungen zu subversiven Elementen höher stehen als die Ehre Ihres Hauses. Dieser Toblak ist sein Freund und Kriegskamerad! Und diesem notorischen Bolschewiken zulieb, nicht etwa um Ihnen ein Vergnügen zu bereiten, wurde heute das Konzert veranstaltet, wenn neben Ihnen, Herr Hocheder, auf dem Ehrenplatz nicht auch jener Falott saß, der sich jedermann gegenüber rühmt, daß er gewohnt sei, Blut zu sehen, so danken Sie dies lediglich dem sauberen Herrn Toblak selbst. Denn dieser soll sich im Werksaal vor allen Leuten in den unflätigsten Ausdrücken geäußert haben, er pfeife, mit Respekt zu sagen, auf eine Veranstaltung, wo er Gefahr laufe, mit einem kapitalistischen Fabrikanten, einem Blutsauger, wie Sie einer seien, beisammenzusitzen. wenn jemand sein und taktvoll gehandelt hat, so war es also eher noch dieses gefährliche Subjekt als die Konzertgeber, die die Einladungen ergehen ließen. Der Sozialist, vielleicht sogar Nihilist zeigte als Organisierter wenigstens noch Klassenbewußtsein und Korpsgeist, indem er fernblieb, während die andere Seite beides in bedauerlichem Maße vermissen ließ, kein Wunder, wenn unter diesen Umständen die bürgerliche Gesellschaft dem Untergang entgegengeht!«
Er hielt inne, er erschrak selbst über die Wirkung, die seine Worte auf Michael Hocheder ausübten. Das Blut war dem alten Herrn in den Kopf geschossen, seine Augen traten aus den Höhlen, es sah aus, als sollte der Schlag ihn rühren.
»Falsche Freunde lieben es, die Dinge zu verschleiern«, sagte der General noch wie zu seiner eigenen Rechtfertigung. »Ich bin immer der Meinung gewesen, daß es ein schlechter Dienst ist, den man einem damit erweist, und daß die Pflicht des wahren Freunde; es fordert, demjenigen, dem man wohlwill, reinen Wein einzuschenken. Auch die unangenehme Wahrheit, die man zu hören bekommt, ist noch immer wertvoller als die Lüge.«
Der alte Herr erwiderte nichts darauf und nickte nur mit dem Kopf, kraftlos in sich zusammengesunken und starr vor sich hinblickend. Exzellenz von Mairold versuchte jetzt das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken, er berührte diesen, er berührte jenen Stoff, warf bald die eine, bald die andere Frage auf, aber stets mit keinem andern Erfolg, als daß er Monologe hielt. Michael Hocheder blieb einsilbig, gab keine einläßlichen Antworten mehr, schien geistesabwesend und verloren, als sei ein eiserner Vorhang vor seinen Sinnen heruntergelassen, der sie von der Außenwelt abschloß, schließlich verabschiedete sich der General und sagte noch:
»Lassen Sie sich's nicht nachgehen, der Severin hat's vielleicht so bös nicht gemeint! Und wer weiß, wieviel von der ganzen Sache nichts als ein Geträtsch des Werksaals ist.«
»Dann machen Sie nicht den Zwischenträger!« schrie Michael Hocheder ihm plötzlich wutschäumend ins Gesicht und kehrte ihm den Rücken. Ohne ihm noch einmal die Hand zu reichen, schnalzte er mit den Fingern: »Maria Lichtmeß!«
Als der General die Treppe hinunterstieg, schäumte auch er vor Wut. Das war der Dank in diesem verkommenen Zeitalter, wenn einer ein ehrlicher, offener und gesinnungstüchtiger Charakter blieb!