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Soeben hat die große Sirene von Dorotheen-Wiese den Feierabend verkündet. Tausende von Arbeitern und Angestellten entströmen den ausgedehnten Fabriksanlagen, die einer ins Grüne gebetteten Gartenstadt gleichen. Gemächlich miteinander plaudernd, zerstreuen sie sich nach allen Seiten in die anschließenden Siedlungen, die in ihrer durch Wiesenplätze und Baumgruppen gelockerten Bauweise an bescheidene, aber nett gehaltene Villenvorstädte erinnern, in denen ein jeder sein Heim, sein Gärtchen, seine Lieben findet. Laurenz Hochedel und Georg Leodolter, beide nach angestrengtem Werktag aus ihren Schreibstuben kommend, treffen unten am Tor des ehemals Auenwaldschen Schlosses zufällig miteinander zusammen und treten gemeinsam den Heimweg nach dem nahegelegenen Himmelhaus an, dessen altgediegene Räume schon in der kurzen Zeit, seit sie es bewohnen, ihnen zu einer neuen trauten Heimat geworden sind.
Ein stiller, prangender Herbsttag breitet seinen wolkenlosen Himmel über das Tal und die Hänge des Wiener Waldes aus, in deren grüne Gelände Dorotheen-Wiese sich schmiegt, in kurzer Zeit zu stattlicher Ausdehnung gediehen und noch immer im Anwachsen begriffen. Einer jener Tage, die keine Gärungen und Sehnsüchte bergen wie die drängenden Tage des Frühlings; einer jener gleichsam schweigsam lauschenden Tage, die Beruhigung in sich zu tragen scheinen und einer gottgewollten Erfüllung gleichen.
Noch zögert die Sonne über dem Rand der dunkel bewaldeten Hügel, aus den Niederungen aber steigt wohltuende Kühlung auf, lang und schräg fallen die Schatten der Bäume in dem erhalten gebliebenen Teil des Parkes, den die beiden Männer durchqueren. Auf dem Steg des Mühlbachs, der den Park vom Garten des Himmelhauses trennt, machen sie einen Augenblick halt. Tief aufatmend von der Arbeit des Tages, blicken sie übers Geländer gelehnt ins leise ziehende Wasser hinab. Und beide fühlen sie: Abend ... Feierabend ...
Liebliche runde Lichter spielen im Wasser, flinke Weißfischchen blinken silbern darin, und unten, auf dem braunen Grunde, sieht man Libellenlarven und winzige Krebslein abenteuerlich hingeistern. Ganz lautlos ist es hier und lauschig. Nur von Zeit zu Zeit macht es »gluck« und abermals »gluck« – von den Fruchtbäumen des Himmelhausgartens, die mit überhängenden Ästen den Bach entlang stehen, ist eine Zwetschge oder Ringelotte ins Wasser gefallen. Die war's, die den leise glucksenden Ton hören ließ, wie einen schmerzvollen Seufzer, daß sie ertrinken muß. Und nun sieht man sie auf dem klaren Grunde liegen, appetitlich blau oder grün bereift, mit ganz reizenden silbernen Luftperlen behangen – und doch der Ernte verloren, der Fäulnis überantwortet.
»Schade!« sagte Laurenz. »Der reiche Segen auf den überhängenden Zweigen! Und alles gehört dem Bach?«
»Durchaus nicht!« antwortete Georg. »Schon die Ahnen trafen Vorkehrungen dagegen. Von alters her sind Netze vorhanden, die man bei der Ernte darunterhält, wenn man die Bäume schüttelt. Nur freilich, wenn früher ein Sturm dreinfährt, dann geht vieles verloren.«
Nachdenklich betrachtete Laurenz die alten, knorrigen Bäume, die blau oder grünlich-gelb vollhingen mit dem Segen des Herbstes.
»Tausendfältig läßt der Herr die Früchte reifen«, sagte er. »Tausendfältige Frucht verspricht auch unser neuer Seidenbaum, die Moralba. Wenn kein Sturm dreinfährt – – an Umsicht bei der Ernte wollen wir's nicht fehlen lassen.«
»Gegen Stürme ist freilich kein Kräutlein gewachsen. Aber meist sind sie doch örtlich begrenzt. An allen Enden der Welt zugleich geht's selten schief. Ein Verlust da, dort ein Gewinn, es gleicht sich aus. Auch einer von den Vorzügen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit im großen. Haben wir einmal die Weltindustrie, die sich ausschließlich nach Geschäftszweigen, nicht mehr nach Völkern und Staaten scheidet, so fällt ein gelegentlicher Schaden nicht schwerer ins Gewicht als ein Fliegenstich für den Elefanten. Darum kann ich's nur billigen, wenn Ihr Shykenstool seine Bemühungen fortsetzt, die Moralba noch weiter und immer weiter auszubauen. Ich hatte heute einen Brief von ihm aus Japan, wo er neue Teilnehmer zu werben hofft.«
Zustimmend nickte Laurenz, er freute sich der neuen Aussichten. Und fröhlich ließ er seiner Laune die Zügel schießen.
»Wenn diese Pflaumenbäume einem Weltverband angehören würden, so wäre vielleicht auch genügend Kapital verfügbar, die Einrichtung der ausgespannten Netze zu einer dauernden zu machen, die nicht nur für den Erntetag Geltung hätte. Dann brauchte überhaupt keine Frucht mehr verloren zu gehen und umzukommen. Nicht eine einzige!«
Damit hatte er dem Vetter das Steckenpferd gesattelt, das dieser so gerne ritt. Lebhaft ergänzte Georg den Gedankengang.
»Daß überhaupt nichts verkommen und zwecklos vergeudet werden darf, das wäre eines der obersten Gebote der Religion, die ich vielleicht noch einmal gründe. Wobei ich unter Verkommen auch alles sinnlose und übermäßige persönliche Verbrauchen begreife. Denn die eine große Sünde wenigstens hat der Kapitalismus sicherlich auf dem Gewissen, daß er die Meinung fördert, als sei es einem jeden erlaubt, mit seinem Eigentum nach Belieben umzuspringen; während eine vernünftige Gesellschaftsordnung das Gefühl der Verantwortung dermaßen schärfen müßte, daß keiner in seinem Besitz etwas anderes sähe als ein ihm von Gott zu gewissenhafter Verwaltung anvertrautes Gut.«
»Was einem beim Betrachten von Pflaumenbäumen nicht alles einfallen kann!« sagte Laurenz lachend.
Seite an Seite setzten sie hierauf ihren Weg fort, durch den wohlgepflegten, etwas ansteigenden Garten, in der Richtung gegen das Haus.
»Die schönen Pflaumenbäume,« nahm Georg wieder das Wort, »sind so alt, daß schon mein Urgroßvater, der auch Justinens Urgroßvater war, sie gekannt hat, derselbe Alfred Leodolter, dem oben im Buchenwäldchen unseres Gartens ein Erinnerungsmal errichtet ist. Aber noch älter als diese Pflaumenbäume ist, wenn wir sein Wachstum von den Anfängen an verfolgen wollen, unsere Moralba, der scheinbar so junge neue Seidenbaum. Er ist das schönste Sinnbild dafür, wie eine durch viele Geschlechterfolgen in der gleichen Richtung fortgesetzte Arbeit eine Entwicklung ins Große nehmen kann, um der Zeit vorbildlich voranzuleuchten. Aus den drei oder vier Generationen der Hocheder in der Schutzengelgasse hervorgewachsen, wird dieser in die Zukunft hineinragende Riesenbaum nicht allein von Hochederschem Weberblut genährt; er zieht seine Säfte auch aus andern alten Weberfamilien, wie etwa denen der Leodolter, Mairold und Beywald, denen ich selbst und Ursel, denen auch Ferry Shykenstool, Thom Mairold und Konrad Eybel entstammen. Und da jener Alfred Leodolter, mein Urgroßvater, eine Enkelin des Hauses »Zum Blauen Guguck« in der Zieglergasse und des Hauses »Zum Groben Schroll« in der Kaiserstraße zur Frau hatte, so reichen die Wurzeln unseres neuen Seidenbaums sogar bis ins achtzehnte Jahrhundert zurück. Nur was der Entwicklung dient, hat Zukunft. Und vergleichen wir unsern elektrischen Riesenbetrieb, der schon jetzt mit einer Anzahl großer Seidenfirmen zweier Weltteile zu gemeinsamer Arbeit verbündet ist, mit den handbetriebenen eigenbrötlerischen Fabriklein, aus denen er im Verlauf von anderthalbhundert Jahren hervorgewachsen ist, so dürfen wir uns sagen, daß unsere alten Bürgerfamilien, die sich mit andern zur Moralba zusammenschlossen, es nicht daran fehlen ließen, der natürlichen Entwicklung zu dienen. Sie werden also Zukunft haben in geschäftlicher, in wirtschaftlicher Hinsicht. Ist es verwunderlich, wenn sie auch dem Blute nach eine Zukunft haben möchten, wie sie eine Vergangenheit hatten? Mit Freuden nahm ich in letzter Zeit gewisse Veränderungen an der Gestalt Justinens wahr. Ich wünsche dir Glück dazu! Und, wenn du es noch nicht weißt, so kann ich dir verraten, daß auch Resi sich in denselben Umständen befindet, und daß du mir, wenn du magst, meinen Glückwunsch zurückgeben darfst.«
»Das tue ich von ganzem Herzen. Fraglich scheint mir nur, ob der arbeitende Bürgerstand, von dem du sprichst, auch in der Zukunft dieselbe führende Stellung wird behaupten können, die er in den letzten hundert Jahren innehatte.«
»Du zweifelst daran?«
»Wenigstens dürfte sich darüber nicht ohne einige Wenn und Aber entscheiden lassen«, sagte Laurenz und grüßte nach dem Balkon des Himmelhauses hinauf, dem sie sich inzwischen genähert hatten.
Sie fanden Justine und Resi auf diesem Balkon vereinigt, mit dem Tee auf sie wartend.
Georg, immer übermütig und aufgeräumt, streckte den jungen Frauen, die an Schönheit miteinander wetteiferten, die Hände entgegen: »Gegrüßet seid mir, ihr beiden, ihr seid voll der Gnaden ...«
Schnell legte Resi ihm die Hand auf den Mund: »Es ist ihm nicht leichter, wenn er nicht lästern kann!«
Georgs Lippen aber murmelten weiter, auch unter der Hand, man hörte: »... gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht eures ...«
Auch die zweite Hand Resis breitete sich jetzt über seinen Mund.
»Und anzüglich werden muß er auch, so oft nur die leiseste Möglichkeit sich bietet!« rief sie, halb und halb ernstlich erzürnt, und mußte lachen.
Gemeinsam nahmen sie nun den Tee ein. Ein Stündchen verstrich unter angeregtem Geplauder, dessen Kosten hauptsächlich Georg bestritt. Er wurde nicht müde, sich mit seiner liebreizenden jungen Frau zu necken, während er seiner Base Justine, deren zurückhaltendes Wesen wie in leise Wehmut gehüllt schien, mit ausgesuchtem Zartgefühl begegnete. Denn was niemand sonst ahnte, sein Scharfblick hatte es ihm geoffenbart.
Später fand sich auch noch Eybel mit Marianne ein. Das Abendrot hinter den sanft geschwungenen Höhenzügen verblich. Schon funkelte im Osten ein erster bleicher Stern. Die Kletterrosen, die den Balkon umrankten, strömten noch süßere Düfte aus als am Tage. Durch ihr schwankes Rahmenwerk von Laub und Blüten konnte man über den etwas abschüssigen Garten des Himmelhauses hinweg die hohen Bäume jenseits des Mühlbaches sehen, die zu den erhalten gebliebenen Teilen des einstigen Schloßparks gehörten. Die Frösche in den daselbst befindlichen Weihern begannen ihr Abendlied zu singen. Gegen Sonnenuntergang aber breitete sich anschließend an diese prächtigen Baumgruppen die neuentstandene Fabriks- und Siedlungsstadt Darotheen-Wiese, in der allmählich die Lichter aufzuscheinen begannen.
Es machte den Eindruck, als seien der Lichter in letzter Zeit wieder mehr geworden, schier mit jedem Tag wurden es ihrer mehr. Taufende und Tausende von Menschen atmeten, arbeiteten, liebten und hofften jetzt da drüben, wo früher nichts als ein herrschaftlicher Schloß- und Parkbesitz gewesen war. Sie mehrten ihren Wohlstand, den Wohlstand ihres Vaterlands, sie hatten eine Heimat und dienten der Heimat, sie fühlten sich als Angehörige des großen deutschen Volkes und wirkten mit, ein jeder in seiner Weise und wenn auch in noch so bescheidenem Maße, an dem hohen Ziele, die irdischen und damit auch die geistigen und seelischen Güter des deutschen Volkes zu mehren und dadurch auch die Höherentwicklung der Menschheit zu fördern ...
Irgendwie empfanden dies jetzt die durch Bande der Freundschaft und Familienzugehörigkeit auf dem rosenumblühten Balkon des Himmelhauses vereinten Menschen, als sie die unzähligen Lichter da drüben blinken und glitzern sahen, in der gewerbefleißigen neuen Stadt, die nach einem heißen Arbeitstag die Ruhe und den Frieden des Feierabends atmete.
Und Georg Leodolter, dem das vorhin mit Laurenz geführte Gespräch noch im Kopfe herumging, sagte: »Dies alles wäre unmöglich gewesen und nie zustande gekommen ohne die große Entschlußkraft der Unternehmer, ohne die Summe tüchtiger Eigenschaften, die man zusammenfassen könnte in dem Worte: Geist des Bürgertums. Hältst auch du, Konrad, es für zweifelhaft, ob der Bürgerstand in Zukunft bestehen und blühen wird? Oder bist du mit mir der Meinung, daß auch der Staat zugrunde gehen müßte, wenn man ihn noch mehr zurückdrängte und entrechtete, als es ohnedies schon geschehen ist?«
»Ich glaube, lieber Georg,« sagte Eybel, »an die Sendung des Bürgerstandes, wenn –«
»Ich sagte es doch,« fiel Laurenz ihm ins Wort: »ohne ein Wenn läßt sich die Frage nicht entscheiden.«
»Also? Wenn –«
»Wenn er eben wirklich dem Geiste des Bürgertums treu bleibt, oder vielmehr zu ihm zurückkehrt. Was im täglichen Leben vorübergleitet, hinterläßt keine Spuren. Nur im Gedanken ist Kraft und Dauer. Wodurch hat der Arbeiterstand den großen Einfluß erlangt, den er heute ausübt? Viele würden antworten: durch die Masse. Aber dies wäre ein schwerer Irrtum. Nie und nimmer könnte die Masse allein so große Umwälzungen bewirken. Denn sie bliebe eben Masse, nichts als dumpfe, gestaltlose Masse, wäre sie nicht von einer Idee beseelt, die über den Eigennutz des einzelnen weit hinausgeht. Diese Idee, dieser Gedanke ist der Traum von einem gerechteren Zukunftsstaat, der jedem sein natürliches Menschenrecht gewährleistet und die schandbare Ausbeutung des wirtschaftlich Schwächeren ausschließt. Um dieses Gedanken willens sind viele bereit, selbst ihr Leben hinzugeben. Vom Bürgerstand dagegen wird behauptet, daß er, durch Eigennutz und Wohlleben versumpft, zu wehleidig geworden sei, mit Opfermut einem Gedanken zu dienen. Daß eine solche Erschlaffung vielfach sich bemerkbar macht, unterliegt keinem Zweifel. Daß sie sich aber nicht über den ganzen Bürgerstand erstreckt, das beweist schon allein die Begründung unserer Moralba. Sie nimmt den Gedanken wieder auf, durch den das Bürgertum im neunzehnten Jahrhundert emporgekommen ist, den Gedanken eines realeren Staates, der für viele Raum hat und die Güter des Lebens den breiteren Massen zuführt. Und sie bildet diesen Gedanken im fortschrittlichen Sinne noch weiter, indem sie Hand in Hand mit der Arbeiterschaft mithelfen will, die zwar nicht mechanisch gleichmachende, aber gerechter als bisher abstufende Ausgestaltung der Weltproduktion vorzubereiten. Unter der mächtigen Laubkrone des neuen Seidenbaumes werden alle Platz finden, Bürger und Arbeiter. Und das Bürgertum, das in diesem Geiste mitzuarbeiten bereit ist an der Gestaltung des Kommenden, es wird für die Allgemeinheit sowenig entbehrlich sein, wie es früher entbehrlich war. Über diejenigen aber, die satt und weichlich auf dem Erworbenen beharren, werden die Räder des Fortschritts hinweggehen.«
»Du selbst, Georg, sprachst vorhin einen ähnlichen Gedanken aus,« bemerkte Laurenz zustimmend: »Nur was der Entwicklung dient, hat Zukunft.«
»Ein anderes Wort, dessen ich mich aus einer Predigt Pater Wilfrids erinnere,« fiel Georg lebhaft ein, »ergänzt den Gedanken. Das Wesen der sittlichen Weltordnung, sagte er ungefähr, wurzle in der festen Überzeugung des Menschen, daß er nicht notwendig den Kürzeren ziehen oder gar zugrunde gehen müsse, wenn er sein Tun nicht ausschließlich vom persönlichen Nutzen bestimmen läßt.«
»Und der geistliche Herr,« sagte Eybel, »faßte damals, was er meinte, in eine Mahnung zusammen, die jeder, der wahrhaft fruchtbare Arbeit leisten will, gut täte, sich immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen: Individualismus im Dienste der sozialen Gemeinschaft!«
»Ich erinnere mich. Und eine andere, nicht minder beherzigenswerte Mahnung lautete: Menschheitsziele, nicht Einzelzwecke!«
Ende.