Nataly von Eschstruth
Gänseliesel
Nataly von Eschstruth

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

»Jetzt ist er in die weite Welt!«
Scheffel.        

Drei Wochen waren seit der Erkrankung des Ministers verstrichen.

Eine wesentliche Veränderung war nicht in seinem Befinden eingetreten; er lag bleich und stumm auf dem Lager, die Augen weit und verständnißlos geöffnet, ohne seine Pfleger zu kennen, ohne durch eine Miene und Bewegung zu verstehen zu geben, daß er irgend welchen Anteil an seiner Umgebung nehme.

Sehr selten machte er einen mechanischen Versuch zu sprechen, es war dann nur ein schweres Lallen, welches absolut unverständlich blieb. Selbst seinem Sohne gegenüber verharrte er in dieser Lethargie.

Der Arzt erklärte, daß der Zustand des Kranken noch Jahre lang mit sehr allmählicher, vielleicht auch gar keiner Besserung fortdauern, daß aber auch ein erneuter Schlaganfall die schwache Lebensflamme über Nacht löschen könne. Er erklärte dem jungen Grafen, daß seine Anwesenheit durchaus nicht 204 notwendig sei und das Warten auf eine Entscheidung sich sehr in die Länge ziehen könne.

Da beschloß Graf Günther zu reisen.

Von der Stadtkirche hatte es die sechste Abendstunde geschlagen; die Ampel in dem Krankenzimmer brannte bereits, und Hattenheim saß mit tiefgesenktem Haupt in dem bequemen Lehnstuhl und behütete den Schlummer des Ministers. Er hatte sich erboten, bis zur Ankunft der Schwester Magda, welche für heut die Nachtwache übernommen hatte, den Platz am Krankenbett einzunehmen, da sowohl Fräulein von Sacken wie Josephine in den Nachmittagstunden durch den Bazar Marie Christianens verhindert waren, sich der Pflege anzunehmen.

Hattenheim war diese Ruhe außerordentlich angenehm, er konnte so ganz seinen Gedanken nachhängen, konnte sichten und klären Alles, was in der letzten Zeit so mächtig auf ihn eingestürmt war.

Viel, gar viel ging ihm durch den Kopf.

Er hatte gestern Abend eine Unterredung mit Ange Lattdorf gehabt, welche plötzlich einen Abgrund vor ihm aufriß, dessen Tiefe ihn schwindeln ließ. Welch ein furchtbarer Verdacht keimte in diesem Mädchenherzen, wie wußte er mit einem Mal so plötzlich, wen Ange Lattdorf der That für fähig hielt.

Sie vertraute ihm ihren Argwohn an. Ihr bleiches Antlitz zeigte ihm, wie ihre Seele unter ihren eigenen Worten litt, wie sie erbarmungslos ihr Herz zermarterte mit selbstgeschaffener Pein.

Baron d'Ouchy! Diesen charmanten, 205 allgemein so sehr beliebten Mann wollte sie verdächtigen? Das war eine fixe Idee! Eine krankhafte Marotte! Keine Menschenseele in der ganzen Residenz wird jemals auf einen solchen Gedanken kommen! Und dennoch in der Art und Weise, wie die Komtesse ihre Vermutung begründete, lag viel Wahrscheinlichkeit.

Auch Josephine hatten sie ins Vertrauen gezogen und in eine ungemeine Aufregung versetzt. Mit Fanatismus griff sie diesen neuen Faden in dem Labyrinth der momentanen Verhältnisse auf, sie erinnerte sich plötzlich wieder so mancher Aeußerung des jungen Mannes, mit welchen sie die Liste der denuncirenden Momente um ein beträchtliches bereicherte; dennoch beruhte ja Alles nur auf sehr vagen Mutmaßungen.

Warum aber konnte d'Ouchy nicht in Wahrheit geerbt haben? Warum sollte der Tod des besagten Onkels, die plötzliche Abreise, die Andeutungen auf eine Verbesserung seiner pekuniären Verhältnisse nur fingirt sein? Dafür fehlten doch jegliche Beweisgründe!

Demungeachtet, so lächerlich der Verdacht Hattenheim auch vorkam, erklärte er sich dennoch eifrig bereit, Recherchen anzustellen.

Es traf sich günstig, daß die französische Erzieherin seiner einzigen Schwester in der Bretagne zu Hause war und sich nach der Verheiratung ihrer Schutzbefohlenen in die Heimat zurückgezogen hatte.

Hattenheim wollte seine Schwester sofort um 206 die Adresse dieser Dame bitten, man konnte ja nicht wissen, ob dieselbe nicht von Nutzen sein würde.

All diese Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, dazu kam der Kummer, welchen ihn die am morgenden Tag bevorstehende Abreise seines Lieblings bereitete, und welchen er dennoch so heldenmütig zu bekämpfen suchte.

Gedämpfte Schritte weckten ihn aus seinen Träumereien; Günther stand hinter ihm und legte den Arm um den Nacken des Freundes.

»Mein treuer Reinz!« sagte er leise, neigte sich nieder und drückte das Antlitz gegen die Wange Hattenheims, »wie soll ich jemals meine Schuld gegen Dich abtragen!«

Das alte verlegene Lächeln zuckte über das gerötete Antlitz Reimars.

»Mach' doch keine Geschichten, Kleiner!« schüttelte er den Kopf, »ist mir ja eine Erholung, daß ich mich einmal hier in der behaglichen Stille ausruhen darf! Da sieh, bis eben habe ich gelesen, dann kamen wieder all die tausend Gedanken über mich! Hast Du schon gepackt? Wo warst Du denn, mein Junge? Ich klopfte vorhin vergeblich an Deine Thür!« Eine unaussprechliche Zärtlichkeit lag in dem Blick und der Stimme des blonden Mannes, er hatte sich so fest vorgenommen, nicht weich zu sein in den letzten Stunden, und nun saß er da und streichelte den dunklen Lockenkopf des Freundes wie eine Mutter, die ihr Baby liebkost.

Günther richtete sich empor. »Komm mit in 207 das Nebenzimmer!« flüsterte er mit einem Blick auf den Schlafenden.

Hattenheim folgte auf den Fußspitzen, es sah so unbeholfen und linkisch aus, wenn er sich bemühte, recht lautlos zu gehen, und dennoch hatte diese besorgte Art seiner Bewegungen etwas ungemein Rührendes und Einnehmendes. Günther zog ein Billet aus der Tasche und reichte es Hattenheim hin.

»Sieh, wie man feurige Kohlen auf mein Haupt sammelt!« sagte er tief aufatmend. Reimar las. Es war ein Billet von der Herzogin Marie Christiane, welche den jungen Grafen ersuchte, ihr einen Besuch abzustatten.

»Warst Du da?«

Günther nickte. »Ich komme soeben von ihr.«

»Und welches war der Zweck der Audienz?«

Günther hatte sich in einen Sessel geworfen und wühlte die weiße Hand in sein Haar. »Das war ein Gang in das Fegefeuer!« sagte er mit zitternder Stimme, »das war die furchtbarste Vergeltung, welche ich je für meine Nichtswürdigkeiten empfangen habe! O Reimar! Warum werden den Menschen die Augen meist zu spät geöffnet, warum duldet es eine göttliche Gerechtigkeit, daß man toll und wild durch das Leben hintaumelt und sich an dem Besten und Edelsten in erbärmlichem Leichtsinn, in frivolster Spötterei versündigt! Wie habe ich jenes bleiche, ernste Weib mit meiner Bosheit gegeißelt! Wie habe ich ihr den Heiligenschein um 208 die Stirn gezeichnet und sie in Gemeinschaft mit der Prinzeß Sylvie verketzert! Wie habe ich Alles, was sie anging und zu ihr hielt, durch meine spitzen Zeichenstifte Spießruten laufen lassen, wie habe ich den Fluch der Lächerlichkeit über den Pavillon geschleudert und mich stolz in die Brust geworfen, wenn jenes verächtliche Publikum der großen Welt jenen Bubenstreichen applaudirte! O Reimar, warum ist da keine Hand gekommen, um mir die Feder aus der Hand zu reißen? Warum mußte erst der heutige Tag kommen, um mich so klein und elend vor jene Frau zu stellen, um mir Thränen der Scham und der Reue in die Augen zu pressen! Wohin ich blicke, sehe ich mich gedemütigt! Warum zahlt man mir nicht Gleiches mit Gleichem zurück? Warum foltert man mich mit einem Edelmut, gegen welchen ich mich nicht wehren kann, und welcher meine Brust mit heißeren Qualen füllt, als die Bosheit und der Haß jener großen Menge, welchem ich in stolzem Trotz die Stirn bieten kann?

»Die Verläumdung meiner Feinde stählt meinen Mut, ihr furchtlos zu begegnen, aber das milde Vergeben und Vergessen Derer, um die ich es nicht verdient habe, das wuchtet auf mir wie Bergeslast und zeigt mir erst, was für ein erbärmlicher Kerl ich bin, und wie tief der Sturz war, welcher mich zu ihren Füßen niederwarf!«

Die ganze leidenschaftliche Erregtheit seines Naturells kam zum Durchbruch, bebend vor Schmerz und Scham preßte Günther sein Antlitz auf die 209 Atlaspolster der Sessellehne, wie ein Aufstöhnen rang es sich aus seiner Brust. Hattenheim trat neben ihn und legte die Hand beruhigend auf die glühende Stirn des Freundes. Er redete ihm zu wie einem Kinde.

»Und was wollte denn nun die Herzogin von Dir?« fragte er endlich, als sich Günther energisch aufrichtete und das Haar aus seiner Stirn strich.

»Sie gab mir ein Empfehlungsschreiben an den berühmten Maler P. in München,« entgegnete der junge Graf mit zusammengepreßten Zähnen, »einem Manne, dessen Schüler sein so viel bedeutet, wie das Patent zur Meisterschaft in der Tasche haben. Ich werde mit einem Schlage das erreichen, wonach Andere lange Jahre hindurch streben. Wenn er mich als Schüler annimmt, geschieht es einzig der Herzogin zur Liebe. Ja, soweit geht Marie Christiane in ihrer unfaßlichen Güte, daß sie die Stunden für mich bezahlt, obwohl sie mich glauben machen will, der Professor unterrichte sehr talentirte und unbemittelte junge Leute hier und da unentgeltlich. Sie ist decent genug, mir die volle Größe ihrer Wohlthat zu verheimlichen. Dennoch wird dieselbe zeitlebens eine Schuld für mich bleiben, welche ich nicht abzahlen kann. Daß die Herzogin nur durch Josephine von Allem unterrichtet ist, ist wohl selbstverständlich.«

Hattenheim legte die Hand auf die Schulter des Sprechers. »Siehst Du, Günther – ich sage es ja immer, das Glück hat noch nicht sein letztes 210 Wort zu Dir geredet! Es bereut schon, seinen Liebling so schlecht behandelt zu haben, und bemüht sich, Dir durch die Güte edler Menschen den neuen Lebensweg nach Kräften zu ebnen!«

Günther blickte finster empor. »Ich habe die Launenhaftigkeit des Glückes kennen gelernt, Reimar, und vertraue ihm nicht mehr. Ich will auf eigenen Füßen stehn. Je mühseliger mein Weg ist, desto größer der Triumph, das Ziel zu erreichen. Glaubst Du, die Gerüchte, welche über mich coursiren, wären nicht bis zu meinen Ohren gedrungen? Man zerbricht sich den Kopf darüber, was aus dem unbedeutenden, oberflächlichen Lehrbach, welcher mit Mühe und Not sein Offiziersexamen gemacht hat, werden wird! ›Kunstreiter vielleicht‹ – spottet man, ›denn im Sattel wußte er sich ganz manierlich zu behaupten!‹ Meinst Du nicht, Reinz, daß dies ein würdiges Ende für die glänzende Laufbahn des Glückskindes wäre? – Ich will beweisen, daß man noch anderen Lorbeer als solchen, welchen die Manege bietet, erwerben kann! Und sollte über Nacht ein Wunder geschehen und mir das ›verlorene Paradies‹ meiner Stellung, meines Reichtums und meines gerechtfertigten Namens zurückerstatten, ich würde es nicht als ein Glück preisen und nicht Besitz davon ergreifen. Ich würde stolz und trotzig den jetzt eingeschlagenen Weg weitergehn, um den Leuten zu zeigen, daß der unbedeutende Graf Lehrbach sich auch eine Stellung in der Welt aus eigener Kraft erwerben kann, ohne am Cirkus zu scheitern!«

211 »Möge Gott es Dir gelingen lassen, Günther, und Dir die Ausdauer schenken, welche zu einem solchen Leben voll Arbeit, Entsagung und Demütigung notwendig ist! Ich fürchte, der Kontrast ist zu entsetzlich schroff, Du kennst nicht den Fluch der Armut, Du hast bis jetzt die Menschen von oben herab geschaut und weißt nicht, wie es thut, sich ihnen unterzuordnen. Vorhin habe ich noch darüber nachgedacht, ob es jetzt nicht ein Segen für Dich wäre, der Verlobte einer Prinzeß Sylvie zu sein! Wie anders würden dann die Würfel gefallen sein!« Der prüfende Blick Reimars schien bei den letzten Worten bis in die tiefste Seele des jungen Offiziers dringen zu wollen, wie in atemloser Spannung erwartete er die Antwort.

Günthers Auge blitzte. »Wirklich? Glaubst Du?« Ein fast neckender Zug spielte um seine Lippen und warf sie verächtlich auf. »Damit ein Unglück noch zum andern gekommen sei, wünschst Du mir die Fesseln eines Weibes, welches ich kaum respektiren, geschweige denn lieben kann? Du hast eine seltsame Ansicht von dem Glück, Reimar. Es muß wahr sein, was die Leute sagen, ich habe mich auffallend verändert seit einiger Zeit und schärfere Augen bekommen. Früher ließ ich mich noch von einer Krone blenden und hielt sie für wertvoller als das Haupt, welches sie trug, da wäre ich im Stande gewesen, mein Herz auf dem Altar der Eitelkeit zu opfern! Da war ich das Glückskind, über welches Fortuna ihr reichstes Füllhorn ausgeschüttet, und 212 ich streckte unersättlich die Hände nach noch glänzenderem Loos und strebte selbst nach Fürstenkronen. Heute bin ich ein Bettler an Ehre, Glück und Gold, und dennoch, glaub' es mir, Reimar, auf mein heilig Wort, würde ich keine andere Antwort für eine Prinzessin Sylvie haben, als die, welche ich ihr neulich gab. Denn das Einzige, was ich aus dem großen Schiffbruch rettete, ist mein Herz, und das verschachere ich selbst um eine Krone nicht!«

Hochaufgerichtet stand Job Günther, stolzer und triumphirender als jemals in den Tagen seines Glückes. Ja, die Leute hatten recht, er war ein Anderer geworden.

Hattenheim zog ihn an seine Brust. Strahlende Glückseligkeit lachte aus seinen Augen, er nickte stumm zur Antwort. »Das ist Dein Werk«, dachte er im Herzen. »Der liebe Herrgott hat's gelingen lassen, und wenn die Arznei auch grausam bitter schmeckte, sie hat meinen Liebling doch an Leib und Seele gesund gemacht!«

Günther aber trat zu dem Krankenlager, neigte sich über das greise Haupt seines Vaters und blickte mit wehem Herzen in die weitgeöffneten, ausdruckslosen Augen.

Mit zärtlichsten Namen nannte er den Kranken, streichelte die bleichen, abgezehrten Hände und küßte sie mit zuckenden Lippen.

Regungslos lag der Minister, kein Blick, keine Miene verriet, daß er sein einzig Kind erkannte. Und so – so von ihm scheiden!

213 Ein namenloser Schmerz zitterte durch die Brust des jungen Mannes, brennend heiß traten die Thränen in sein Auge.

Er kniete neben dem Bett nieder und drückte das Antlitz auf die kühlen Linnen.

Die Hand des Ministers glitt mechanisch über die seidenen Falten der Decke und blieb willenlos auf dem lockigen Haupt des Sohnes ruhen.

Da war's, als wolle er ihn segnen.

Ein Zittern ging durch Günthers Glieder, er verharrte regungslos, wie eine Ahnung bebte es durch seine Seele, daß dies ein Abschied für ewig sei.

Die Lichtflamme knisterte auf und warf einen schnellen Widerschein auf das lebensgroße Bild der verstorbenen Gräfin, welches dem Krankenlager gegenüber an der Wand hing. Mit dunklen Augen schaute die bleiche Frau auf Gatten und Sohn hernieder, und wie ein verklärtes Lächeln wehte der Lichtschein über ihr Antlitz.

Schwester Magda war lautlos eingetreten, Hattenheim winkte ihr stumm, da schritt sie zurück und ließ die Portière niederfallen. »Stören wir nicht diesen Abschied,« flüsterte Reimar leise, »seine ernste Weihe ist der Talisman, welchen mein armer Freund in die hohe Flut des Lebens mit hinausnimmt!«

Und stille blieb es, todtenstill in dem Krankenzimmer. – 214


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