Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mitten in der Nacht erwachte Susanne. Der Schweiß stand auf ihrem Leibe. Ihr ganzes Bett war triefend naß. Sie rang nach Luft und tastete nach dem Lichtkontakt. Als es hell war, sah sie sich einem hohen Spiegel gegenüber: ihr Gesicht war gelb wie das eines Toten. Die Katze lief im Zimmer umher, wie von einem gespenstischen Willen beseelt.
Der Ort war unheimlich. Aber sie wagte nicht, um Hilfe zu schreien. Es war wohl Traum gewesen, das entsetzliche Gesicht, das ihren Körper zu Eis erstarrte. Sie hatte den Doktor erhängt an der Gaslampe erblickt, in dem Eßzimmer ihrer Wohnung, und um ihn her hatte Ganswind alle Bilder zu einem Scheiterhaufen getürmt. Hermione setzte ihn in Brand. Und plötzlich, als die Flammen emporloderten, war der Doktor wie mit Drachenflügeln über sie hergefallen und würgte sie.
Durch einen Zufall konnte sie sich erretten. Es war ihr Erwachen. Sie stieg aus dem Bette und kleidete sich halb an, dann suchte sie Käterchens Zimmer auf, unter dem Dachboden. Der Kater schlich schweigend, unhörbar leise mit ihr. Käterchens Zimmer war verschlossen. Sie klopfte lange, in fortwährender Scheu vor dem Schall der Korridore. Sie fürchtete, das Haus zu alarmieren.
Käterchen hörte natürlich nicht. Susanne ging auf ihr Zimmer zurück. Da begegnete sie unterwegs der Freiin in einem großen roten Purpurmantel. Diese erschrak vor ihr. »Sie sehen ja aus wie der Tod!« sagte sie.
»Ich wollte mein Mädchen wecken. Ich hatte meinen Mann erhängt gesehen und lauter lodernde Flammen. Es war so schrecklich.«
»Wahrscheinlich hatte Prinz Haßdruball auf ihrer Brust gelegen.«
Susanne weinte plötzlich und wurde, von der Freiin gestützt, ins Bett gebracht. Sie wimmerte: »Oh, oh.« Sie schaute ihr bisheriges Leben vor sich. Es erschien ihr so verlassen und tatenlos. Warum hatte sie auch keine Mutter, die sie kannte, und keinen Vater, der sie liebte? Ohne Ziel und Ursache stand sie im Leben. Wozu lebte sie? Bei dem Blicke auf die Purpurdame wurde ihr noch öder und einsamer. Sie schrie auf und preßte sich die Kehle zu: »Ich möchte mich erwürgen. Warum lebe ich?«
»Sie müssen handeln«, hetzte die Fürstin.
Susanne verstand, was sie »handeln« sollte. Den Mann töten! Aber tötete sie nicht da den Menschen, den einzigen, der eine Beziehung zu ihrer Seele hatte! Wenn er auch im Wahn verirrt war, daß er für Verstand und Vernunft seine Kraft einsetzte, so hatte er doch körperliche Berührung mit ihr gehabt. Nach dieser sehnte sie sich. Sie mußte sich sonst selbst umbringen, wenn sie niemand mehr hatte, der die schauderhafte Öde mit ihr teilte. Und endlich kam es ihr kleinlich vor, sich wegen äußerlicher Dinge von einem Mann zu scheiden. Die sogenannten geistigen Innerlichkeiten waren nur Trug und Schein. Es existierte nur das Nichts als letztgültige Wahrheit. Und wenn in diesem Nichts nur ein Fleisch im Fleische sich verband, so war dies das einzige, vor Verzweiflung bewahrende Etwas.
Ob sie über diese Dinge mit der Freiin geredet oder sie phantasiert hatte, wußte sie am andern Morgen nicht mehr. Sie befahl Käterchen, vorsichtig im Taifun oder in seiner Umgebung nachzuforschen, was aus dem Doktor geworden war.
Käterchen frug, ob sie denn nicht hier herausfliegen würden.
Susanne wußte nicht, ob die Aufkündigung heute noch Gültigkeit hatte oder nicht. Allerdings, Käterchen hatte recht. Sie mußten fort. Sie wollte bei der Freiin nicht betteln, bleiben zu dürfen.
Eigentlich war es für sie gesund, daß sie an ihre Ehre denken mußte. Die Welt war nach allem doch eine Wirklichkeit. Wie gut tat es, daß man sich anderen Menschen gegenüber nichts vergeben durfte. Sie war noch immer keine solche Närrin, an Tugend und Freundschaft zu glauben. Sie überlegte kurz. Käterchen sollte sich nach dem Frühstück noch einmal, wie ihr aufgetragen war, erkundigen.
»Na Durchlaucht«, trat Susanne frisch und munter ein, »geben Sie mir das große Tier. Ich werde das ausführen, was Sie mir rieten.«
Die Freiin glaubte ihr und schenkte ihr außerdem noch einen wertvollen Perlenschmuck. Dem Kater legte sie zum Andenken eine goldene Spange um den Hals, küßte ihn zum Abschied und vergoß 2,7 Tränen, deren jede 1 / 10 Gramm wog, denn sie hatte große Tränendrüsen, welche sie vollständig beherrschte.
Als sie unter dem großen eisernen Gittertore Susanne den Mund küssen wollte, schob diese geschickt die Wange hin.
Susanne winkte vergnügt. Gleich an der ersten Kurve aber zeigte sie die Zunge. Zwei Stunden darauf saß sie mit Käterchen im D-Zug und fuhr nach Brüssel zurück. Den Taifun wollte sie doch nie mehr sehen. Warum sollte sie aus Sentimentalität rückwärts leben.
Immer vorwärts!
Freilich, ging sie nicht auch nach Brüssel zurück?
Nein. Sie wußte ganz genau, daß sie dort mit einem neuen Schwung anfing. Sie würde dort keine Wohnküche mieten, sondern bildete sich wirklich ein, Millionen zu besitzen. Sie wollte ein Schloß erstehen, und es sollte mit allen Teufeln zugehen, wenn sie das nicht erschwingen konnte. Sie hatte nun doch alles mögliche Verwunderliche gesehen und mit ihren großen Augenfenstern in sich aufgenommen. Ärmlich war das Leben nur, wenn man es als etwas Ehrliches und Positives auffaßte.
Käterchen war entzückt von Susannes Schneid. Wenn bloß der Doktor auf dem Kontinente ihre Spur nicht fand! –
Was war das!
In der Kölner Tageszeitung stand ein Steckbrief. Nicht gegen sie? Warum denn nicht gegen sie? Sondern gegen Ganswind?
Susanne war es, als schlüge man ihr wie einem Stück Vieh mit einer Axt gegen das Hirn. Die Welt! Die Welt! Ach! Sie schwamm in sie hinein. Mit einer Leichtigkeit! Nun dämmerte die Erkenntnis. Aber wie wahnsinnig! Jetzt wollte sie betrügen!
Sie wünschte fromm und aufrichtig, daß der Taifun mit Ganswind an einen unbekannten Ort gerast war. Warum sollten sie ihn auffinden, wenn man so töricht gewesen war, sich vorher die Millionen aus der Tasche ziehen zu lassen?
Als sie sich nach dem Erstaunen gefaßt hatte, während ihre Hände noch zitterten, kaum mehr fähig, das Zeitungsblatt zu halten, bannte sie plötzlich ein jäher Gedanke.
»Der Doktor?«
»Was meinen Sie, Frau Doktor?«
»Käterchen, ich habe dir etwas verschwiegen. Mein Mann hat sich erhängt.«
»Um des Gotteshimmelswillen!«
»Wer sollte ihm eine Stütze bieten?«
»Wir können nichts dafür.«
»Aber Käterchen, – das Keimende, das Werdende! Wir müssen zurück.«
»Zurück müssen wir?«
Susanne zog an der Notbremse. Bald darauf saß sie in einem Sanatorium im Harz.
Der Ort war still und voll Tannenduft. Sie hielt sich ganz zurückgezogen. Sie wollte zu einem neuen Menschen erwachen, denn sie fühlte sich der Zukunft eines Menschenwesens gegenüber verantwortlich. Sie war ganz von dem Gedanken erfüllt, daß sie sich in Ruhe halten mußte, um dem Kinde kein böses Erbe zu geben. Sie saß auf warmen Bänken im Frühlingssonnenschein. Endlich gelang es ihr, an die Menschen, mit denen sie in Konflikt geraten war, ohne jede innere Erregung zurückzudenken.
Die Schicksale dieser Menschen schwebten ihr lebendig vor Augen. Briefe empfing sie von nirgends her.
Erst als die Bäume blühten, vertraute der Arzt ihr die eingelaufene Post an. Alles stammte von Käterchen. Käterchen war aus ihrer Heimat für irrsinnig nach Ilmenau gebracht worden, wie sie den Silberkater, den sie aus der Fremde mitgebracht hatte, beinahe wie einen Menschen oder heiliger hielt, dazu immer seufzte und mit verdrehten Augen schmachtete: »Susanne, ach meine Susanne«. Und man meinte allgemein, daß sie, wiedergekehrt, die Pflicht habe, mit den andern das Feld zu bestellen.
Sie antwortete, wenn sie zur Arbeit aufgefordert wurde: »Ich bin für tot erklärt.«
Ihr Mann, dem sie vor zehn Jahren ausgerückt war, betrachtete sie sieben Tage lang mit Nachsicht, dann aber spannte er ein und brachte seine entlaufene Ehefrau, unter dem Vorwand, eine Landpartie zu machen, nach Ilmenau.
Sie hatte dort einen schweren Stand, ihre Zurechnungsfähigkeit zu beweisen, denn sie erzählte derartige Dinge, daß man sie für größenwahnsinnig halten konnte. Die Ärzte hörten ihr aufmerksam zu, wenn sie von der Baronin von Büxenstein und der Freiin Edle von der Schelde, vom Taifun erzählte. In Ilmenau traute man dem Sandsturm keine solchen Kunstlieblichkeiten zu, wie sie diese Irre erzählte. Erst als bei sorgsamer Beobachtung die Übereinstimmung und die Logik der Erzählungen auffiel, schrieb man dem Ehegatten, er solle seine liebe Frau wieder abholen, sie sei wohl verrückt, aber trotzdem gesund.
Der Schwarzwaldbauer knurrte über die neumodische Diagnose: Verrückt, aber trotzdem gesund.
Nun mußte Käterchen mit der Hacke aufs Feld hinaus. Und als die Lerchen dazu sangen, da weinte sie. Das Leben war irgendwie verpfuscht. Man wollte aus ihm hinaus – oder darin bleiben, dann aber bei Dingen und Menschen, die sich für einen interessierten.
Der Haßdruball verlor mit der Zeit seinen Adel und mauzte in den Nächten schöne Lieder. Er bekam von der roheren Ernährung eine große Eiterbeule hinter dem Ohr. Und als diese aufbrach, hielt man ihn für reudig und schoß ihn tot.
Susanne erfuhr das alles aus den Briefen ganz gerne und doch mit einiger Gleichgültigkeit. Was bedeutete ihr Käterchen und vollends die fremde Silberkatze? Käterchens Anfrage, was mit dem goldenen Halsbande geschehen solle, beantwortete sie als einzige Wichtigkeit. Käterchen solle es behalten, schrieb sie, zum Andenken an die gemeinsame Zeit.
Als Käterchen endlich diesen Brief als einziges Lebenszeichen von ihr erhielt, rannte sie damit im ganzen Dorfe umher. Und alle Augen sahen mit Neugierde auf das nach Lilienmilchseife duftende Briefchen. Bis dann Käterchen jedem die ganze, zu dem Briefchen gehörige Vorgeschichte erzählt hatte, vergingen drei Monate.
Der Brief von Susanne wurde hinter den Spiegel gesteckt.
Käterchen hatte bei aller Liebe für Susanne nur Sinn für die gemeinsam verlebte Vergangenheit. Daß sie einmal darüber hinausgedacht hätte, wie es Susanne nun wohl ergehen möge, durfte man von ihr nicht erwarten.
Susanne begann das Wachstum ihres Leibes mit den Augen zu sehen. Sie wurde unruhig und verließ den stillen Tannenort. Jetzt wäre Käterchen ihr ganz geschickt gewesen, aber es widerstrebte ihr, sie wieder zu sich zu rufen. Das wäre ihr fast feig erschienen. Es hätte gerade so ausgesehen, als fürchtete sie mit dem Leben allein fertig zu werden. Und in den Monaten der Trennung war vielleicht eine noch größere Kluft zwischen ihnen entstanden, als sie vermutete.
Sie hatte den Mut, in der Bedrängnis ihres Zustandes Brüssel allein zu betreten. Man deutete zwar mit Fingern auf sie und lachte hinter ihr her, aber es ließ sie völlig kalt. Das waren doch nur Affen. Diese alten Bekannten glaubten, es herrsche im Leben die gute Sitte und gelte das Gesetz: ja nicht auffallen!
Das hatte sie nun gerade anders erfahren. Auffallen mußte man, sonst kam man unters Luder.
Sie kleidete sich derart, daß ihr Umherlaufen bald als öffentlicher Skandal angesehen wurde. Wie konnte sie sich erlauben, den vierdimensionalen Raum realisieren zu wollen! Je mehr man aber Anstoß an ihr nahm, desto trotziger wurde sie. Ihre Unterlippe trat immer stärker hervor.
Sie scheute sich nicht, im Café zu sitzen. Eines Tages war es gedrängt voll. Da fand sie nur noch an einem Tischchen Platz, an dem zwei Männer vertieft über einem Schachbrett saßen. Als sie dasaß, wippte fortwährend das Tischchen in die Höhe, so daß die beiden Spieler endlich aufmerksam wurden und nach der Ursache der Tischbewegung forschten. welche die Figuren umzuwerfen drohte.
Sie betrachteten plötzlich gleichzeitig Susannes Leib. Darüber war der eine Spieler so erregt, daß er nicht mehr weiterspielen konnte. Er spuckte aus und verließ den Raum.
Susanne wurde unwirsch und kam mit dem Zweiten ins Gespräch. Dieser Herr sprach Rätseldinge von der vierten Dimension. Susanne verstand seinen Vortrag nicht; sie erkannte nur soviel, daß sie als schwangere Frau Aufsehen erregte. Hierin teilte sie das Los aller Schicksalsgenossinnen. Sie behauptete, daß das Betragen der Mitmenschen ungehörig sei. Die Menschen mußten doch wissen, daß sie sämtlich nicht vom Monde gekommen waren.
»Sie irren sich, meine Dame«, sagte der Herr. »Die Menschen kümmern sich im allgemeinen nicht darum, woher sie kommen und wohin sie gehen. Und deshalb chockieren sie sich über Sie, weil Sie zum Nachdenken darüber verlocken. Das nenne ich das Inerscheinungtreten der von den Denkerköpfen vergebens gesuchten vierten Dimension, welche ein mathematischer Begriff ist. In Ihnen lebt mehr und weniger als da ist und als nicht vorhanden ist.«
Das mußte fabelhaft gelehrt sein, denn dem Herrn trat der Schweiß auf die Stirne und er zog alsobald sein Notizbuch hervor, worin er eifrig mit einem kleinen Bleistiftstumpen schrieb. Wahrscheinlich war er ein Professor, der soeben die große Erfindung der lange gesuchten mathematischen Funktion gemacht hatte.
Er bat Susanne um ihren Namen; da sagte sie gutwillig: »Susanne Flaubert«. Der Gelehrte schrieb in sein Buch f(s). Er zeigte es ihr.
»Was soll das heißen«, frug Susanne.
»Funktion von S. Damit will ich den Begriff der gesuchten vierten Dimension festlegen. Sie werden es nicht verstehen. Aber da ich Sie kenne, weil Sie die Liebenswürdigkeit hatten, mir Ihren Namen zu nennen, so kann ich die Initialen und Ihre Anfangsbuchstaben für meine Wissenschaft gerade geschickt gebrauchen. Ich könnte auch s. f. sagen, aber f(s) entspricht der Gepflogenheit, wie man eine Funktion bezeichnet.«
Susanne war einigermaßen starr. Der Herr hatte aber so gütig mit ihr gesprochen, daß sie sich ruhig von ihm die Hand geben ließ.
»Würden Sie, meine gnädige Funktion, die Güte haben, sich mir für den Hörsaal zur Vorstellung vor meinen Studenten zur Verfügung zu stellen? Ich würde Sie mit drei Mark für das Stündchen entschädigen.«
Susanne gaffte ihn jetzt groß an und tupfte mit weit gebogenem Arm den Mittelfinger ihrer rechten Hand auf die Stirn. »Drei Mark?«
»Das ist der übliche Satz.«
»Das können Sie einem üblichen Mädchen anbieten«, loderte Susanne empor. »Wenn ich Ihre Funktion sein soll, so stelle ich meine Rechnung und verlange mindestens dreitausend für das Stündchen.«
Die Szene zwischen dem Professor und der Dame fiel im Lokal auf. Sensationslüsterne Jünglinge waren sofort hinzugetreten. »Sie sind hysterisch«, sagte der Herr und ging eilends seines Weges.
Susanne stand da und wurde von einem heftigen Weinkrampf hin- und hergeworfen. Die Polizeistation wurde vom Cafétier alarmiert und Susanne, die in einen halb bewußtlosen Zustand verfallen war, in die Klinik gebracht. Als sie sich unterwegs sträuben wollte und entfliehen, ließ sich der Wagen von innen nicht aufschließen. Sollte sie die Scheiben einschlagen? Sie besann sich. »Ja, schlage sie ein!« mahnte es in ihr. Es war entschieden die Stimme des Teufels, denn sie klang sehr verlockend. Und nun geschah es.
Die Glassplitter zerschnitten ihre Hände, aber der Wagen rollte unaufhaltsam weiter, umpfiffen und umgröhlt von einer großen Volksmenge, die im Sturme mit dem Wagen vorwärts schob. Susanne hatte eine entsetzliche Angst, man bringe sie in ein Gefängnis. Durch den starken Blutverlust von den tiefen Schnittwunden wurde sie ohnmächtig und lag im Wagen wie ein gequältes Tier.
Endlich sah sie das ruhige Antlitz einer barmherzigen Schwester über sich. Sie wurde gut gepflegt; und sie erzählte der Schwester, wer sie war. Das Interesse, das sie der Pflegerin entgegenbrachte, lief wie Balsam auf sie selbst zurück.
Susanne hatte eine unsinnig große Wohnung inne. Sie schlug sich vorwurfsvoll an die Stirne: »Warum? Warum?« Die Schwester sollte in ihrem Auftrage die Mietvertragslösung übernehmen.
Susanne und die Schwester waren jetzt zwei Menschen, die gemeinsam planten. Sie sollte das Kind mit aller Fassung erwarten, es aber nach dem Abwurf in andere Hände geben. Dann sollte sie sich auch dem frommen Geschäft des Samariterdienstes weihen.
Inzwischen war es den Bemühungen der Polizei gelungen, Licht in die dunkle Herkunft der Kranken zu bringen. Man verhandelte lebhaft zwischen Berlin und Brüssel.
Polizeirat Löwe war hocherfreut, Susannes Namen von Polizeiwegen zu hören. Er rieb sich die Hände und schmunzelte. Das hatte er sich gar nicht anders gedacht. Susanne konnte freie Sprünge nur machen, solange das Geld reichte, welches ihr Büffel unfreiwillig mit auf den Weg gegeben hatte.
Aber wichtiger war es, was er sich zu tun entschloß. Jetzt galt es eine Entscheidung: war er Mensch oder Unmensch? Von dem Doktor wußte er gerade noch soviel, als er zu wissen brauchte, wenn er den Mann nicht aus den Augen verlieren wollte. Der Doktor war als untergeordneter Spieler an einer Bühne engagiert, wo er kleine Dienerrollen gab. Er lebte in Schlafstelle mit mürrischem Gesicht, den Tag ersehnend, wo ihm ein Dachziegel auf den Kopf stürzte, der ihn kaput schlug.
Es handelte sich darum, ob es Zweck hatte, den Doktor noch einmal mit Susanne in Verbindung zu bringen. Er war doch nicht imstande, eine Familie zu ernähren! Die Leerung des Taifunhauses hatte ihn geradezu vernichtet. Er war kein Schellenhauer, der nach der Katastrophe einfach die Haare noch stärker pomadisierte und einen großen Lebensmittelverkauf einrichtete, mit flott gehendem Schleichhandel.
Der Doktor fühlte sich in jedem Nerv so durchaus als Künstler, daß er ohne Stütze von außen eigentlich existenzunfähig war. Er hoffte jetzt auf nichts mehr. Susanne hielt er für zeitlebens verschollen, und Ganswinds waren zu gewandt, als daß sie sich wiederbringen ließen. Man wußte ziemlich bestimmt, Löwe sogar ganz gewiß, daß sie am Meere neuen Musen huldigten, aber dem Gericht waren ihre Prozesse viel zu bodenlos. Ganswind war ein reicher Mann, und es war wirklich besser, wenn das Geld bei ihm konzentriert blieb. Bei seinem Unternehmungsgeist war es sogar empfehlenswert, daß er Gelder verfügbar hatte. Wenn er auf gesundem Fundament neue Kunst protegierte, so geschah es zum Segen der gesamten kunstliebenden Menschheit.
Der Doktor dachte allerdings: Ein bißchen Rente hätten sie dir schon aussetzen können, bei solcher Freundschaft untereinander. Doch im Ernst grollte er dem Freunde nicht. Hätte er die Millionen gehabt, so hätte er's nicht anders gemacht, sagte er sich.
Willenlos hing er wie ein gelbes Blatt am Baume des Lebens. Eine kleine unsanfte Berührung, – und er fiel vollends ab.
Löwe sann. Und als er nichts ersinnen konnte, knubberte er zu Hause an den Fingernägeln.
Es bedurfte erst wieder der Frau Clothilde, ihren von den Spinnweben der Eifersucht bedeckten Mann zu säubern. Susanne war doch, weiß Gott, ein schwer geprüftes Menschenkind. Wie konnte man eine Sekunde zögern, hier Hilfe zu bringen!
»Siehst du sie denn nicht vor dir? Dick? Unförmig?«
Löwe zuckte mit den Achseln.
»Du siehst sie nicht?«
»Ich sehe Susanne immer nur als die figulante Brüsselerin.« Löwe stieg das Blut heiß zu Kopf.
»Unglückseliger, warum hast du sie damals nicht gekriegt?«
Löwe kaute eine Bartspitze in den Mund und funkelte mit Tigerblick. »Und nun nimmst du den Doktor immer noch in Schutz? Ist er nicht ein ganz weicher Haderlump? Der Mensch hatte sie und empfing kein Glück von ihr!«
»Er hätte Glück gefunden, wenn er nicht gleichzeitig anderen Einflüssen unterworfen gewesen wäre. Schicke ihn nach Brüssel.« Clothilde weinte. »Der arme Mensch kennt keine Tatkraft mehr.«
»Er macht also das ganze Weib unglücklich.«
»Bruno, schick ihn hin. Ich bitte dich. Du wirst ja doch nie imstande sein, Susanne zu beglücken.«
Löwe senkte den Kopf und ging, von Clothildes Willen begleitet, zu Doktor Bäumlers Schlafstelle.
Der Doktor stürzte ihm um den Hals und küßte ihn. Das war Löwe eklig; er hätte es ihm jetzt am liebsten gesagt, daß er ihn haßte.
Der Doktor war nicht mehr fähig, still zu sitzen. Er zappelte fortwährend aufgeregt.
Den D-Zug hätte er am liebsten gehetzt wie einen Hund. Er stammelte wilde Strophen laut vor sich hin, hielt den dünnen Kopf vorgebeugt, stierte durch den Klemmer und glotzte nach den vorbeifahrenden Telegraphenstangen. Es ging unerträglich langsam, bis immer wieder eine neue kam, wenn die eine am Coupéfenster vorbeigehuscht war.
Susanne solle ein Kind erwarten, hatte man ihm gesagt. Das war unglaublich. Oh, wenn sie nur nicht – – wenn sie nur nicht. Der Gedanke vollendete sich ihm niemals. Die Kehle preßte sich ihm zusammen. Er war unterwegs nicht fähig, die Fragen der Mitreisenden zu beantworten. Diese glaubten, es sei unmöglich, mit einem Manne solange zusammenzusitzen, ohne wenigstens ein paar freundliche Worte mit ihm zu wechseln. Hatten denn die leichten Schwätzer keine Sorgen und Aufgaben, die immer weiter nagten, bis sie das letzte Mark aus der Wirbelsäule gefressen hatten?
Susanne wälzte sich in Schmerzen, brüllte, kratzte und biß und bat, man möge sie erschießen.
Hermione lag in einsamer Fernsicht im Sande und das Meer brandete schwarz an ihren weißen Leib heran. Ganswind spielte Weisen ohne Instrument, Hermione zerbrach an seinem Ungestüm.
Der Doktor stierte trostlos auf sein schreiendes Weib. Er schluchzte und verstand den Arzt nicht, als er ihm ihre Krankheit nannte. Die eine liebe Schwester tröstete ihn und sagte, daß es nach der Entbindung wahrscheinlich in ihrem Geiste wieder licht werde.
Sie wurde in Narkose entbunden. Da brüllte sie laut und anhaltend »Alfred, Alfred, Alfred!« Der Doktor, den man vor die Tür gesteckt hatte, brach in die Knie zusammen und sprach ein Gebet, nein, er dachte es nur. Wärterinnen rannten an ihm vorbei. Blut, lauter Blut Susannes. Oh, was war er für ein schändlicher Mann! Daß er ins Café Josty gegangen war mit einer quasselnden Trägerin eines roten Rembrandt! Hier lag seine Frau und hatte ihn nicht vergessen... brüllte nach ihm... war jetzt verstummt.
War sie tot? Es war so still.
Er frug mit zitternden Blicken die vorbeischießenden Schwestern: »Wie geht's?« Finstere Mienen antworteten ihm.
Endlich kam ein Schrei eines eines eines. Der Doktor stammelte:
»Schrei Schrei Schrei
eines eines eines Menschen
Schrei.«
Die Luft gurgelte in seiner Brust und stürzte heißer aus seiner eng geschnürten Kehle. Plötzlich lachte alles. Alles tanzte um ihn. Er stand vor ihr.
Susanne blickte ihn mit hohen Gitterfenstern an, bleich, blaß. Ah! Ah! Weib! Er küßte sie. Sie strich ihm über den Kopf. Es war vollbracht. Der Mensch war gezeugt. Gott Geschlecht.
Susanne stützte sich auf den Arm ihres Mannes. Und fern brandete das Meer. Dahin war verbannt das Wesenlose. Kunst, dumpf und furchtbar.
Susanne blühte das Leben.