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Unsern Ausgangspunkt bildet das Problem der physischen Erhaltung des Menschen gegenüber einer gleichgültigen oder gar feindlichen Natur, der harte Kampf um das Dasein. Die erste Förderung empfing dabei der einzelne aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben kleiner oder größerer Kreise; nur dieses machte ihn wehrhaft sowohl gegenüber der harten Natur als gegenüber ihn bedrohenden Gegnern. Zu einer inneren Aufgabe, zu einer Pflicht, haben das wohl zuerst die Religionen erhoben und manches dafür geleistet. Aber erst nach und nach haben Religion und Moral, im besonderen Moral als soziales Handeln, sich gegenseitig gefunden und eng miteinander verbunden.
Unter den uns näherstehenden Religionen hat namentlich das Judentum im Lauf seiner Geschichte Hervorragendes in dieser Richtung gewirkt, die Sorge für das Wohl des Nächsten ward ihm zu einem Hauptstück seiner Überzeugung. Das Christentum aber verband mit der Gottesliebe eng eine warme Menschenliebe, es hat sich eifrig der Armen, Leidenden, Unterdrückten angenommen, es hat auch manche humane Einrichtungen geschaffen und viel Opfersinn entzündet. Aber alles derartiges Sinnen und Mühen schuf keine Lebensordnung im Sinn des Sozialismus, es stellte das Handeln des einzelnen nicht unter einen zwingenden Gesamtwillen, es erreichte keine feste Organisation. Einerseits schien ihm nur eine freie Liebestätigkeit wertvoll, andererseits dünkte, was immer die unbestreitbare wirtschaftliche Not lindern konnte, als nebensächlich gegenüber der zuversichtlichen Erwartung und freudigen Hoffnung einer höheren Welt, der gegenüber alle Freuden und Leiden des gegenwärtigen Daseins zu wesenlosem Scheine verblaßten. Wer die Überzeugung teilt, daß wir auf Erden keine bleibende Stätte haben, vielmehr die zukünftige erst erwarten, den treibt es nicht, das wirtschaftliche Leben von Grund aus umzugestalten, der schafft nicht eine sozialistische Gedankenwelt.
Eine große Wendung dagegen brachte die Zeit, welche wir als Neuzeit zu bezeichnen pflegen. Der religiösen Epoche folgte eine andere, welche dem Weltgedanken die Herrschaft gab und ihn zugleich mehr und mehr ins Sinnlichgreifbare verschob; das mußte nicht nur das Bild der Wirklichkeit, es mußte auch die Ziele und Werte des Lebens wesentlich umgestalten. Denn nunmehr erschien ein stärkerer Lebenstrieb und eine unmittelbarere Lebensbejahung, zur Seele des Strebens ward es, die eigene Kraft voll zu entwickeln und ins Unbegrenzte zu steigern, ward ein glühendes Verlangen, sich dieser Welt zu bemächtigen und in ihr Bedeutendes zu leisten, alle Widerstände zu brechen, dem Leben mehr Größe und Freude zu geben. Dieser Trieb nach Kraftbetätigung hebt auch den Wert der materiellen Güter und zugleich des gesamten wirtschaftlichen Lebens, jene werden nicht nur unentbehrliche Mittel, sondern selbständige Stücke des Lebens. Zugleich werden der Wirtschaft neue technische Bahnen geschaffen, wird sie als Ganzes mehr in Zusammenhang und in fortlaufenden Fluß gebracht, sie erfährt bis ins Technische hinein Punkt für Punkt durchgreifende Wandlungen. Es fällt die überkommene enge Verbindung vom Erzeuger und Empfänger, es fällt der unmittelbare Zusammenhang von Persönlichkeit und Arbeit, die Kräfte recken und strecken sich ins Unbegrenzte, der überkommene Beharrungszustand weicht mehr und mehr einer ungehemmten Bewegung. Dem entspricht ein neuer Seelenstand, der Mensch überdenkt klarer und bewußter seine Lage und sein Handeln, er ersinnt neue Theorien und erwartet von ihnen ein größeres und greifbareres Glück. Auch das Erscheinen von Staatsromanen bekundet die Verschiebung der Gedankenwelt. Es war der Boden der Renaissance, auf der Thomas Morus seine Utopie (1516, also gleichzeitig mit dem Auftreten Luthers) schuf, eine scharfe Kritik an den vorhandenen wirtschaftlichen Zuständen übte und ein neues Gesamtbild des Lebens entwarf, das die Jahrhunderte überdauert hat. Aber so gewiß derartige Leistungen ein frischeres Lebensgefühl und eine freiere Stellung zur Wirklichkeit verraten, eine durchgreifende Wendung des Lebens bringt erst die Aufklärung mit ihrem schroffen Durchbrechen der Überlieferung, auch der heutige Sozialismus ist ihr mit vielen Fäden verbunden. Erst der Aufklärung ist deutlich geworden, daß der Mensch nicht einer gegebenen und geschlossenen Welt angehört, sondern daß er selbst das Dasein fortzuführen, ja umzuwälzen berufen ist: zuversichtlich ergreift er jetzt sein Schicksal und bereitet er sich selbst den Lebensstand. Zum Hauptträger des Wirkens wird dabei das Denken, nunmehr soll es nicht bloß eine vorhandene Welt abspiegeln und in die Form des Begriffes gießen, es ist nicht nach dem Ausdruck Hegels die Eule der Minerva, welche ihren Flug erst bei eintretender Dämmerung beginnt, sondern es erscheint als die Morgenröte einer neuen Zeit, die ihre Strahlen vorauswirft; mit dem umwandelnden und erhöhenden Vermögen verbindet es aber ein sonderndes und sichtendes, das alles Vorgefundene auf sein Recht prüft und nur anerkennt, was diese Prüfung besteht. Ein derartiges belebendes und umwandelndes Wirken fordert aber einen zuversichtlichen Glauben an das Walten einer Vernunft beim Menschen, die alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige wirklich machen soll; so weicht der religiöse Glaube einem Vernunftglauben, der aber auf der Höhe der Aufklärung selbst ein religiöses Element in sich trug. Denn jener galt die Vernunft nicht als eine Eigenschaft des bloßen Menschen, sondern als eine Erweisung einer übermenschlichen Intelligenz. Nur die Begründung auf eine göttliche, weltordnende Vernunft scheint eine Überlegenheit über alle menschliche Autorität und Tradition zu rechtfertigen. Dem gesellschaftlichen Zusammensein gab aber diese überlegene Vernunft die Überzeugung, daß ein und dasselbe Denkvermögen alle Menschen beherrscht und verbindet; auf diesem Boden zuerst erscheint der Gedanke einer völligen Gleichheit alles Menschenwesens. Mehr und mehr wird das Menschsein auch unabhängig von Gott zum überragenden Wertbegriff, »der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist« (Herder). In dieser Richtung ist namentlich Frankreich vorangegangen; je unerquicklicher der Verlauf des 18. Jahrhunderts die damaligen Verhältnisse machte, um so zuversichtlicher und siegesgewisser erhob sich ein Glaube an die Größe und Würde des Menschenwesens. Man fühlte sich an der Schwelle einer besseren und glücklicheren Zeit; die sprudelnde Frische und die kecke Beweglichkeit der damaligen französischen Literatur hat nicht wenig dazu beigetragen, einer solchen Denkweise freie Bahn zu schaffen und zugleich die Epoche der Revolution einzuleiten, die auch uns umfängt.
Das alles hat aber die wirtschaftliche Bewegung nur langsam, ja zögernd ergriffen. Befaßten sich die leitenden Denker des 17. Jahrhunderts vornehmlich mit dem Weltall, und waren sie mehr um die philosophische Wahrheit als um das Befinden des Menschen bemüht, so beherrschten das 18. Jahrhundert mehr und mehr die Aufgaben und Verwicklungen der gesellschaftlichen Lage, sie gaben dem Streben das Hauptziel. Aber es ging zunächst mehr auf die politischen als auf die wirtschaftlichen Zustände, und zum Hauptanliegen wurde die politische Freiheit, nicht die Gleichheit der Bürger. An wirtschaftlichen Systemen und an förderlichen Gedanken fehlte es nicht. Aber die Merkantilisten, deren Bestrebungen das 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts einnahmen, behandelten die Wirtschaft nur als ein Mittel zur Hebung der Staatsmacht, und so schätzbar das Streben der Physiokraten war, das wirtschaftliche Leben auf die Natur zu begründen, so erreichten sie nicht einen klar umrissenen wirtschaftlichen Typus, wie ihn über sie hinaus Adam Smith (mit seinem gewaltigen Werk über den Reichtum der Nationen 1776) schuf. Dies Werk hat den Grundgedanken der Aufklärung in seinem besonderen Gebiete klassisch verkörpert, es hat das verwickelte Wirtschaftsgewebe völlig durchsichtig zu machen versucht, es hat dabei die Bewegung ganz und gar in die Kräfte, Antriebe, Zwecke der Individuen verlegt, mit dem allen ein zusammenhängendes Bild des Wirtschaftslebens entworfen. Dies Bild ist durchaus optimistischer Art. In dem Wettbewerb der aller Schranken entledigten Individuen und Völker sah Smith vornehmlich einen unermeßlichen Gewinn an Freiheit und Kraft. Die Interessen aller schienen dabei eine volle Harmonie zu ergeben, sowie einen stetigen Fortschritt des Ganzen zu verbürgen. Er dachte dabei nicht bloß an die einzelnen, er dachte auch an das Ganze, aber der Gesamtstand selbst schien ihm am besten bestellt, wenn er lediglich von den Einzelkräften getragen und getrieben wurde. Zugleich liefert hier zuerst das wirtschaftliche Leben ein die Verzweigung der Gebiete umfassendes und eigentümlich gestaltendes Gesamtbild, eine Lebensanschauung und Lebensführung; konnte man früher von einem religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen Lebenstypus reden, so gesellt sich jetzt ein wirtschaftlicher als ein gleichberechtigter, ja überlegener hinzu. Die Wirkung der Smithschen Lehren erstreckte sich, wenn auch in verschiedenem Grade, auf alle europäischen Völker; man begrüßte diese Bewegung lebhaft als eine Befreiung von drückenden Hemmungen und als ein ununterbrochenes Anschwellen der Kraft, man sah aber nicht die geschichtlichen Bedingungen ihres Werdens, man sah namentlich nicht die ungeheuren Verwicklungen, welche der weitere Verlauf des Wirtschaftslebens brachte. Diese Verwicklungen haben sich bald eingestellt, eben die Zeit, welche die wirtschaftliche Theorie der Aufklärung abschloß, vollzog eine völlige Wendung. Der Gesamtcharakter der Arbeit verschob sich mit der Ausbildung des Maschinenwesens und des Fabrikbetriebes, dieser Wendung schlossen sich zahlreiche weitere Probleme an, bei aller Steigerung der Leistungen fühlte der Mensch sich seelisch unbefriedigt, es erschien ein schroffer Spalt im Ganzen der Menschheit, zum Mittelpunkt der Probleme aber wurde eine Umwälzung des Wirtschaftslebens.
Von hier aus hat eine unablässig wachsende Unruhe die Seelen ergriffen, immer mehr fand die Gedankenarbeit zu tun, immer mehr überschritt dabei die Bewegung die Grenzen eines besonderen Gebietes, immer mehr wurde der Mensch und sein Lebensstand sich selbst zum Problem. Zunächst hat französische Gedankenarbeit in kühnem Aufschwung diese Probleme ergriffen; die dortigen Sozialisten haben eine eindringende Kritik geübt, verschiedene Möglichkeiten des wirtschaftlichen Zusammenlebens entworfen, die Gedankenwelt vielfach bereichert und den geistigen Horizont erweitert; aber sie waren mit dem Gesamtstand des Wirtschaftslebens und seiner Lage nicht genügend verbunden, so blieb ihnen bei aller Frische und Phantasie eine dauernde Wirkung versagt. England aber verfolgte trotz des Auftretens einzelner hervorragender Persönlichkeiten, wie R. Owens, zunächst eigene Wege, die das gemeinsame Kulturleben wenig berührten. Deutschland stand wie in der wirtschaftlichen Bewegung so auch in der Theorie zurück. Freilich wollen wir nicht vergessen, daß dort die Philosophie eine gewaltige Macht der geistigen Aufrüttelung und Umwandlung geübt und die Begriffe vom Menschen wesentlich vertieft hat, im besonderen hat ihr Ausgehen vom Ganzen statt vom einzelnen und ihr Gedanke einer aus eigener Kraft fortschreitenden Bewegung alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens stark gepackt, aber es fehlte eine engere Verbindung von philosophischem Schaffen und wirtschaftlicher Aufgabe; so ist leider die soziale Gesamtbewegung durch Lassalle und mehr noch durch Marx in eine viel zu enge Bahn geraten und der Gesamtgedanke des Sozialismus viel zu parteimäßig gestaltet. Jedenfalls hat Lassalle zuerst weitere deutsche Kreise unmittelbar mit seinen zündenden Worten ergriffen und Feuer in die Seelen gegossen. Marx aber hat mit unermüdlicher Denkarbeit ein scharfdurchdachtes System geliefert und damit einen ungeheuren Einfluß auf die Kulturwelt geübt. Die sozialistische Idee gewann damit zuerst ein greifbares Ziel und einen übersehbaren Weg: als Hauptaufgabe wurde dabei erklärt, sowohl die Produktionsmittel der Menschheit in einen gemeinsamen Besitz zu bringen, alles Eigentum zu »sozialisieren«, als im Klassenkampf einen wirksamen Hebel zur Umwälzung der politischen Verhältnisse auszubilden; namentlich auf diesem Weg hat die sozialistische Bewegung die Gedanken und die Affekte großer Massen gewonnen. Aber es sei uns gegenwärtig, daß der Grundgedanke des Sozialismus die Fassung von Marx weit überschreitet, daß er sehr verschiedener Wege fähig ist, daß ein Gesamtcharakter sozialistischer Lebensführung und Denkweise alle Gegensätze und Abweichungen umfaßt; mit diesem Gesamtcharakter, nicht mit den einzelnen Theorien, haben wir uns zu befassen; sein Ausgangspunkt bleibt sowohl die unbedingte Unterordnung der Individuen unter das Ganze der Gesellschaft, als auch die Behandlung der wirtschaftlichen Aufgabe als die Hauptsache des Lebens; aber um diesen Kern hat sich ein eigentümliches Lebensganzes gebildet, das eine völlige Umwälzung des menschlichen Daseins erstrebt.
Zunächst darf dieses Leben sich auf das Zusammentreffen verschiedener tatsächlich vorhandener Zeitbewegungen berufen. An erster Stelle auf das gewaltige Anschwellen der wirtschaftlichen Aufgaben und ihrer Verwicklungen. Denken wir nur an die Umwälzung der Arbeit durch die technische Nutzung der Naturkräfte, an ihre Ablösung von der Persönlichkeit des Menschen und an ihr Hervorbringen selbständiger Komplexe riesiger Art, an den schroffen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, an das Zusammenballen der Massen zu unübersehbaren Großstädten und die Steigerung ihres Selbstbewußtseins dadurch, weiter an das sprungweise Wachstum der Bevölkerung, wie die Geschichte der Menschheit es noch nie vorher gesehen hatte – in den meisten europäischen Staaten ist im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung bis aufs Dreifache gestiegen –, endlich an den unablässigen und ungeahnten Fortschritt der Erfindungen –, alles das mußte die Gedanken und die Antriebe immer stärker auf die wirtschaftlichen Fragen richten, es mußte zugleich den Lebensstand wesentlich verändern.
Dazu gesellte sich die Wendung der modernen Menschheit zu einer demokratischen Denkweise und Lebensführung. Sie hat das politische Gebiet weit überschritten und tief in die Grundempfindungen der Menschen eingegriffen; es heißt jetzt das Leben und Streben möglichst in die elementaren Grundkräfte zu verlegen, sie zu voller Selbständigkeit zu führen, alle Zusammenhänge von ihnen aus aufzubauen. Mit der Kraft des einzelnen wächst aber auch sein Anspruch auf Lebensbetätigung und Lebensfreude; alle Schäden und Schmerzen des überkommenen Standes werden nunmehr unmittelbarer empfunden, alle Gegensätze verschärft; das Subjekt hebt sich über das Objekt hinaus und zwingt es unter sich.
Endlich entstand über das wirtschaftliche Leben hinaus ein eifriges Streben, die Macht und den Wirkungskreis des Staates weiter und weiter zu steigern, wir bezeichnen das als Politismus. Der Verlauf der Jahrhunderte hat in dieser Richtung manche Umwandlungen gebracht. Neigte die Aufklärung, namentlich die englische, dahin, das politische und das wirtschaftliche Leben möglichst auf die Individuen zu stellen und es der freien Verbindung der Einzelkräfte, der Assoziation, anzuvertrauen, den Staat aber möglichst eng zu begrenzen, so hat der Verlauf des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Richtungen die Macht des Staates und der Gemeinschaft erheblich gesteigert. Dahin wirkte das Anschwellen der nationalen Gestaltung und Gliederung der einzelnen Völker, dahin die geschichtliche Denkweise mit ihrer Einfügung der Geschicke und Leistungen in eine zusammenhängende Kette der Zeiten, dahin die wachsende Verzahnung und Organisation des wirtschaftlichen Lebens, dahin das Bedürfnis an einer den wirtschaftlichen Gegensätzen überlegenen Macht. Auch die spekulative deutsche Philosophie hat mit ihrer Idee eines die Individuen umfassenden Gesamtlebens stark dahin gewirkt, niemand mehr als Hegel, seine Denkweise namentlich hat dem Marxismus das philosophische Rüstzeug geliefert. Alles zusammen erzeugte einen festen Glauben, wenn nicht Aberglauben, an den Staat und an sein Vermögen, alle Lebensprobleme zu lösen.
Aber durch alle Verzweigung des gesellschaftlichen Lebens ging eine noch eingreifendere Bewegung, eine Wendung des Strebens vom Weltall zu dem menschlichen Kreise. Die ältere Ordnung, wie sie das Mittelalter einnahm, verband von der Religion aus mit dem All eng den Menschen, die Gesamtordnung stand in sicherer Überlegenheit, sie gab dem menschlichen Leben seinen Sinn und seine Ziele. Der Lauf der Neuzeit hat das mehr und mehr nach der Seite des Menschen verschoben, der Metaphysik folgte die Psychologie, der Religion das gesellschaftliche Leben. Mehr und mehr hat sich dadurch das innere Band von Mensch und Welt gelockert, bis es für viele zerriß. Verschiedene Stufen wurden dabei durchlaufen: die Religion erschien dem modernen Menschen zunächst als eine freundliche und wertvolle Begleiterin, dann sank sie ihm zu einer Nebensache, endlich wurde sie ihm völlig gleichgültig, ja feindlich. Auch die Verneinung hatte dabei verschiedene Stufen. Eine mildere Art besaß der Positivismus mit seiner Zurückschiebung des Weltproblems, eine schroffere die radikale deutsche Philosophie, namentlich im Junghegelianismus. Die erste Stelle hatte dabei Ludwig Feuerbach, der sowohl durch die Entschiedenheit seines Bekenntnisses, als durch seine kräftige und feurige Sprache viele Gemüter gewonnen hat. Wie alles Übersinnliche, so galt ihm die Religion als ein »überwundener Standpunkt« (Engels meinte als eifriger Anhänger Feuerbachs: »Mit Gott sind wir einfach fertig«), sie erschien ihm als ein widerrechtliches Hinaustragen menschlicher Vorstellungen und Zwecke in das dem Menschen verschlossene All, ja als ein verderblicher Wahn, der die menschliche Kraft schwäche und sie ihren echten Zielen entfremde. Bezeichnend sind für die Richtung seines Denkens die Worte: »Gott war mein erster, die Vernunft der zweite, der Mensch der dritte und letzte Gedanke.« Gewiß erlaubt der Sozialismus recht verschiedene individuelle Bekenntnisse von religiösen Dingen, aber die Religion als Ganzes hat hier keine bedeutende Rolle, im besonderen hat das Erfurter Programm mit der Erklärung der Religion zu einer privaten Sache des einzelnen ihr den Schwerpunkt des Denkens und Handeln genommen; wer die Religion als eine Privatsache behandelt, der kann nur gering von ihr denken, der hat einen schroffen Bruch mit der überlieferten Denkweise vollzogen.
Alles das verbindet sich zu dem Ergebnis, daß der Sozialismus eine eigene Gedankenwelt ausgebildet hat, und daß er den ganzen Menschen zu gewinnen sucht. Diese Gedankenwelt ist namentlich dadurch stark, daß ihr eine tatsächliche Bewegung des modernen Lebens entgegenkommt, die sich nun aber durch menschliche Kraft und Entscheidung ins Prinzipielle und Ganze erhebt, die damit ein Werk des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit wird. Die gegenseitige Berührung von Tatsachen und Ideen gibt dem Ganzen eine ungeheure Macht; es wird hier ein Experiment in denkbar großartigstem Stil an der Menschheit und von ihr vollzogen, es wird an sie eine entschiedene Frage über das Ganze gestellt, die ein bestimmtes Ja oder Nein fordert. Nur die Erfahrung des Gesamtlebens kann entscheiden, ob die hier gebotene Antwort dem Ganzen der menschlichen Wirklichkeit genügt; denn hier handelt es sich nicht um bloße Theorien und Lebensbilder, wie sie sich so oder anders entwerfen lassen, sondern um tatsächliche Lebensentwicklungen, es handelt sich kurz gesprochen um die Möglichkeit eines neuen Lebens, das dem Menschen eine vollere Wahrheit und ein volleres Glück verheißt und seine ganze Seele einzunehmen vermag; die Lebensführungen enthalten radikale Wertverschiebungen, wie die Menschheit sie bisher nie sah.
Wer aber diese Frage aufwirft, der darf das hier aufstrebende Streben nicht als ein seelenloses Objekt von draußen her zerlegen und sich mit einer kalten Schilderung begnügen, er muß sich in das Wirken dieses Zusammenhanges versetzen, er muß seine Antriebe verfolgen, er muß bis zu einem gewissen Grade jenes Leben teilen und als ein eigenes behandeln; wer in ihm nur einzelne Stücke sieht, dem muß das Gesamtgebilde auseinanderfallen, der hat es leicht zu beurteilen und zu verurteilen, aber er wird der Sache nicht gerecht und seine Kritik trifft nicht die Sache. Daß ein solches Verhalten keine Zustimmung bedeutet, das wird der weitere Verlauf unserer Untersuchung zeigen, aber darauf müssen wir bestehen, daß ein Verurteilen vor dem Urteilen keinerlei Wert besitzt. So wollen wir zunächst die sozialistische Lebensführung in ihrem eigenen Streben möglichst unbefangen vorzuführen suchen.