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Daß die gegenwärtige Menschheit dringend eines inneren Zusammenhanges und zugleich eines festen Zieles bedarf, das leidet nicht den mindesten Zweifel; daß der Sozialismus das Recht dieses Problems vollauf anerkennt, das gibt seinem Unternehmen eine große Stärke. Aber ein anderes ist das Problem, ein anderes ist die Lösung. Diese Lösung erklärt als das Hauptziel die wirtschaftliche Wohlfahrt der Gesellschaft. Diesem Hauptziel ordnet sie alle Aufgaben unter, sie hofft, von hier aus alle Gebiete umfassen zu können; sie erstreckt solches Streben über den ganzen Umfang des Lebens. Sie führt dabei einen bedeutenden Tatstand ins Treffen. Zunächst ist das physische und wirtschaftliche Gedeihen eine notwendige Bedingung zum Gedeihen des menschlichen Zusammenseins; aus ihrer Verkennung müssen schwere Mißstände erwachsen. Ferner handelt es sich nicht um bloße Bedingungen, sondern um ständige Berührungen und Beziehungen dieser Seite des Lebens zu seiner ganzen Entfaltung; lag es in der Art des älteren Idealismus, das Materielle und mit ihm auch das Wirtschaftliche als eine nebensächliche Voraussetzung zu behandeln, so hat die Erfahrung uns darüber hinreichend belehrt, daß jenes Materielle auch in die Lebensentwicklung des Geistigen zurückgreift, daß es weit mehr als ein bloßes Mittel bedeutet. Insofern ist ein Zusammenstreben der verschiedenen Seiten des Lebens unverkennbar, eine Kette muß beide verbinden. Aber es fragt sich, ob dies Streben in derselben Ebene erfolgt, ob dabei nicht führende und folgende Gruppen zu scheiden sind, und ob unser Leben nicht eine große Abstufung in sich trägt. Auch die wirtschaftliche Betrachtung des Lebens kann sich nicht der Tatsache verschließen, daß uns eine durchgehende Scheidung beherrscht, die Scheidung eines sinnlich gebundenen und eines selbsttätigen Lebens, eines gegebenen Daseins und einer schaffenden Tatwelt. Jenes wurzelt in der Empfindung, dieses im Denken; das ergibt entgegengesetzte Ausgangspunkte und Bewegungsrichtungen; dort steht das Leben inmitten einer es sinnlich umfassenden Welt, hier vermag es sich dieser Welt gegenüberzustellen und eigene Bahnen einzuschlagen. Das führt zu grundverschiedenen Größen und Werten, die keine fortlaufende Linie verbindet. Dort die Triebe, Vorstellungen, Zustände, die den Stand der uns nahestehenden Tiere nicht wesentlich überschreiten, eine bloße und blinde Tatsächlichkeit des Geschehens, ein unablässiger Strom einzelner Wirkungen und Gegenwirkungen, ein gleichgültiges Nebeneinander der Elemente, eine Gebundenheit an die einzelnen Eindrücke und Triebe; demgegenüber ein Streben nach einer zusammenhängenden Gedankenwelt, ein Vermögen zu scheiden und zu verbinden, zu urteilen und zu wählen, das Entstehen von Inhalten, die das Leben auf sich selbst stellen und die einzelnen Betätigungen durch Gesamtziele verbinden. Dort das Überwiegen der sinnlichen Lust mit ihrer Zufälligkeit und ihrer Flüchtigkeit, ihrer Bindung an den jeweiligen Eindruck; hier das Vermögen, selbständige Ziele auszubilden und sie gegen Widerstände durchzusetzen, das Vermögen auch, die einzelnen Antriebe von einem überlegenen Einheitspunkt aus zu beherrschen und sie richtenden Normen zu unterwerfen. Nur ein solches Wirken kann dem sinnlosen Dasein ein Reich der Kultur entgegensetzen, es der Herrschaft des Menschen unterwerfen, das Nebeneinander der Individuen zu einer festen Gemeinschaft verbinden, das Nacheinander der Augenblicke zu einer beharrenden Geschichte zusammenfügen. So sind verschiedene Stufen des Lebens beim Menschen unverkennbar; wohl müssen sie in einer gegenseitigen Beziehung stehen, aber diese Beziehung ist nicht ein unmittelbares Zusammenfließen, es bedarf einer Scheidung, damit jede Art ihre Eigentümlichkeit entfalte und zur Wirkung bringe, das bloße Durcheinander bringt keinen Zusammenhang, keine beherrschende Einheit. Der vom Sozialismus gebotene Zusammenhang aber wirft die verschiedenen Stufen durcheinander, er entbehrt einer überlegenen und umfassenden Einheit. So leiden alle seine Grundbegriffe an einer argen Unklarheit, ja, Zweideutigkeit. Das ist besonders deutlich an der Fassung des Zusammenlebens, die alles andere überragt. Das Zusammenleben muß grundverschieden ausfallen, je nachdem der Geist oder die Natur die Maße gibt und das Grundgefüge beherrscht. Es besteht ein weiter Abstand zwischen einer bloßen Gesellschaft und einer innerlich verbundenen Gemeinschaft, er treibt das Leben in grundverschiedene Bahnen. Ist das Zusammensein der Menschen ein bloßes Nebeneinander, so können die einzelnen Punkte sich wohl einander berühren, nicht aber sich gegenseitig fördern: erzeugt es aber eine innere Gemeinschaft, dann muß in ihm ein überlegenes Ganzes wirken. Ist es ein bloßes Nebeneinander, so mag es wohl eine gelegentliche Summierung vollziehen, nicht aber wesentliche Umwandlungen und Erhöhungen erzeugen. Läßt sich auf solche nicht verzichten, so muß eine Kraft im Menschen walten, die von dem Dasein aus nicht erklärlich ist und das Walten einer Tatwelt bezeugt; für die Anerkennung einer solchen Tatwelt hat aber der Sozialismus keinen Platz.
Jede nähere Betrachtung dessen enthüllt einen schreienden Widerspruch im Grundzuge seines Strebens. Er möchte ein den einzelnen Punkten überlegenes Gefüge herstellen, er hängt daran alle seine Wünsche und Hoffnungen, aber das Ganze kann ihm nur ein Nebeneinander, eine Summe einzelner Elemente bedeuten, nie ein Leben aus dem Ganzen, nie einen inneren Zusammenhang. So kommt er in einen Zwiespalt mit sich selbst: seine Schätzung des Ganzen fordert eine Tatwelt, er gerät damit in die Bahn der Selbsttätigkeit und des Geistes; in der näheren Entwicklung aber folgt er dem Nebeneinander der Natur, so bleibt er ihr fest verkettet. So begegnen sich bei ihm grundverschiedene Lebensgestaltungen unausgeglichen. Auch das hier gebotene Glück teilt diesen Zwiespalt: das Ganze soll möglichst glücklich werden, aber worin besteht das Glück, wenn es schließlich immer wieder auf das Befinden der einzelnen Individuen zurückkommt, wenn sich nie ein Reich des Guten und Wahren aus dem Gewirr der Interessen der einzelnen heraushebt und das Menschenwesen daran teilnehmen läßt? Schließlich soll die Quantität die Qualität ersetzen, aber läßt sich das so einfach vollziehen, treten wir damit nicht in grundverschiedene Welten? Der Sozialismus erstrebt eine Gemeinschaft, aber er erreicht nur eine Gesellschaft.
So steht es hier mit der Einheit und dem Zusammenhang des Lebens recht schlecht. Trotz aller Zusammendrängung fallen die Individuen innerlich auseinander, und wenn die wirtschaftliche Aufgabe die einzelnen Lebensgebiete als das Hauptziel zusammenfaßt, so ergibt das eine starke Verengung und eine Verkümmerung ihrer Eigentümlichkeit. Auf einer gewissen Lebensfläche wird eine gewisse Beziehung, ja Verkettung geboten, aber diese Fläche bildet nicht das Ganze des Lebens, sie ist nicht seine Grundschicht, welche über seinen Sinn und Wert entscheidet. Wir überzeugten uns, daß es weit größere und auch schwerere Aufgaben in sich trägt; so gewiß wir den gegenwärtigen Stand mit seinen Widersprüchen nicht als einen endgültigen annehmen dürfen, eine Überwindung ist nur auf dem Wege eines vordringenden Schaffens, einer erhöhenden Umwälzung, einer allumfassenden Wirklichkeitsbildung möglich; die sozialistische Lebensgestaltung ist diesem Problem nicht gewachsen. Sie kann wohl zum Bau des Ganzen Steine liefern und schätzbare Anregungen bieten, aber sie kann nicht den Gesamtaufbau entwerfen und ausführen. So erreicht die sozialistische Lebensgestaltung beim Problem der Einigung des Lebens das Gegenteil ihrer eigenen Absicht. Sie will die Menschen fester verbinden und alle Kluft zwischen ihnen überwinden, aber da sie nur von außen, nicht von innen her baut und nicht ein überlegenes Leben einzusetzen hat, so werden die Individuen unvermeidlich sich weiter und weiter zerwerfen, jeder möchte seine Fassung des Ganzen den anderen aufdrängen, eine wachsende Zersplitterung ist die Folge, bis ein Machtgebot allen Widerstand niederschlägt. Schließlich entsteht das Verlangen nach einer Diktatur des Proletariats, aber was hilft alle Diktatur, wenn ein überlegener Diktator fehlt? In diesem sozialistischen Einheitsstreben bewährt sich deutlich die alte Erfahrung, daß besonders viel Streit aus einem ungenügenden Streben nach Einheit hervorgeht. Demnach greift der Sozialismus nicht genügend in die Wurzeln des Lebens zurück, er verkennt die großen Verwicklungen, aber auch die großen Möglichkeiten, welche das menschliche Leben in sich trägt, er bietet statt des ganzen Lebens einen bloßen Ausschnitt, der unter besonderen Zeitumständen die Menschheit leidenschaftlich bewegen mag, der aber nie ihr dauernd genügen wird. Das rechte Einheitsstreben kann nicht aus dem Nebeneinander des Daseins, es kann nur aus einer überlegenen und umfassenden Tatwelt hervorgehen, nur eine solche gestattet eine Überwindung des vorgefundenen Standes der Dinge.
Der Sozialismus hofft dem Leben mehr Zusammenhang geben zu können, indem er das Streben und Wirken unmittelbar auf den Menschen und auf sein Wohl richtet, an ihm alles Vorgehen mißt, ihm möglichst alle Hemmung und Störung fernhält. Dies Streben zum Menschen entspricht insofern einem Hauptzuge des modernen Lebens, als die Erhebung des Menschen zum Ausgangspunkt der geistigen Bewegung die Neuzeit deutlich von den früheren Zeiten abhebt. Damals erschien der Mensch als ein Glied oder ein Stück eines ihn umfangenden Ganzen, mochte dies als Weltall (Kosmos), mochte es als Reich Gottes verstanden werden, jenes Ganze schien seinem Leben den Hauptinhalt und seinen Hauptwert zu geben; die Neuzeit hingegen beginnt vom Menschen, sie sucht von ihm aus die Welt zu ergreifen und aus eigenem Vermögen ihr Leben zu teilen. Dieses moderne Streben durchläuft aber verschiedene Stufen, und es hat recht verschiedene Ergebnisse hervorgebracht, sein Hauptziel fand es darin, die Kluft zu überbrücken, welche die Scheidung eines naiveren und eines von geistiger Tätigkeit getragenen Standes zwischen Menschen und Welt gerissen hatte. Zunächst unternahm das in kühnem Gedankenfluge die Aufklärung auf intellektuellem Wege, sie fühlte sich stark genug, beide eng zu verbinden und ihr Leben dem Menschen zuzuführen. Dem widersprach Kants kritische Denkweise mit ihrer Zerlegung des Weltbildes, sie verlegte den Schwerpunkt des Lebens in das moralische Handeln, das damit zu einer selbständigen Welt aufstieg und dem Menschenwesen mit seiner Freiheit einen unermeßlichen Wert zuerkannte, das aber nicht allen Lebensinhalt umfaßte; die damit vollzogene Scheidung trieb in einer kühnen Wendung zu dem Unternehmen der Spekulation, die ganze Wirklichkeit aus dem eignen Schaffen der Menschheit zu erzeugen. Das erschien im weiteren Verlauf als eine kecke Überspannung des menschlichen Vermögens; so traten Mensch und Welt auseinander, und ihr Verhältnis wurde von neuem zum Problem. Inzwischen war aber eine Wendung erfolgt, welche den Menschen mehr und mehr auf den eignen Kreis zu beschränken strebte; schon dem 18. Jahrhundert wurde die große Welt mehr und mehr zu einer Umgebung des menschlichen Bereiches; es war dann der Positivismus, der das wissenschaftlich ausführte, alle innere Verbindung des Menschen mit der Welt abbrach und das Streben ganz und gar auf den menschlichen Kreis einschränkte. Auch der Sozialismus folgt diesem Zuge, er ergänzt ihn aber durch die stärkere Betonung der eignen Leistungen des Menschen, wie sie sowohl in der Unterwerfung der Natur durch wissenschaftliche und technische Leistung, als in dem Aufbau einer neuen Gesellschaft vorliegen. Damit gerüstet scheint er imstand, sich ganz und gar auf sich selbst zu stellen und seinem Leben Wahrheit und Glück zu gebend
Aber diese Ablösung vollzieht sich nicht so einfach und glatt, wie der erste Anblick es darstellt; sie hat eingreifende Folgen auch für den inneren Stand und für das Wirken des Menschen, sie setzt ihm Grenzen, die einem denkenden Wesen nicht genügen können. Wird der Mensch ausschließlich auf sich selbst zurückgewiesen, so bleibt ihm als Ziel des Strebens nur das eigene Befinden und Behagen, das Glück als subjektives Ergehen. Dieses Ziel langt aber für ein denkendes und zur vollen Selbstbesinnung gewecktes Wesen nun und nimmer aus. Es sieht namentlich in der sozialistischen Gedankenwelt oft so aus, als könne ein von Arbeit wenig beschwertes, sorgenfreies, von geistigen Genüssen begleitetes Leben alle Ansprüche befriedigen. So mag die Sache mit Arbeit überlasteten und hart um die Lebenserhaltung ringenden Menschen erscheinen, den letzten Abschluß aber kann nur darin finden, wer seine geistige Natur als eine Nebensache behandelt und die geistige Betätigung nur als eine ergötzliche Unterhaltung und Zerstreuung, nicht als eine innere Notwendigkeit, nicht als eine zwingende Selbsterhaltung betrachtet. Auch die geistige Betätigung verliert ihre erhöhende Kraft, wenn sie nur ein Zusatz eines im Grunde andersartigen Lebens wird. Auch ein feineres Behagen und Genießen muß als Sache des abgelösten Subjekts sich in eine innere Leere verwandeln, die für die Dauer schwerer zu ertragen ist als alle Mühe und Not, aller Kampf und Schmerz. So zeigte es der alte Epikureismus schon vor Jahrtausenden, so wird es auch der sozialistische Epikureismus zeigen.
Um dieser unerträglichen Leere zu entgehen, wandte sich die Menschheit zur Arbeit, um von ihr aus dem Leben ein würdiges Ziel zu geben; namentlich das 19. Jahrhundert hat in dieser Richtung eine großartige und höchst erfolgreiche Arbeitskultur ausgebildet. Unter fieberhafter Steigerung aller Kräfte und in Konzentration aller Interessen hat sie das ganze Leben dem unterworfen, aber eben ihre Erfolge machten ihren Mangel sonnenklar und erweckten mehr Sorge für die Seele; das trieb dem Sozialismus den Wind in die Segel, aber da er für die Seele nur das subjektive Befinden einzusetzen hatte, so gab auch er dem ganzen Menschen weder ein Ziel noch einen Inhalt; die durchschnittliche Lage blieb demnach in einem halt- und hilflosen Schwanken zwischen jenen beiden Bewegungen; ein solcher Widerspruch und eine solche Leere konnte unmöglich große Persönlichkeiten und ein ursprüngliches Schaffen erzeugen. Jetzt aber ist das Problem zu voller Bewußtheit gelangt, und es erhebt sich damit über alle einzelnen Fragen und Aufgaben das Problem des ganzen Menschen; nur im weltgeschichtlichen Zusammenhang und nur bei einer durchgreifenden Umwälzung läßt es sich erfolgreich angreifen. Wir bedürfen neuer Möglichkeiten, wir bedürfen eines neuen Grundverhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit. Begann die frühere Zeit vom Ganzen der Welt als einer vorhandenen Größe, so entbehrte das Leben einer vollen Freiheit und Ursprünglichkeit; begannen wir aber mit der Neuzeit, und waren Freiheit und Ursprünglichkeit unsere Hauptanliegen, so gewann uns das Leben keinen festen Gehalt und keine sichere Wahrheit, es drohte immer wieder ins Bloßsubjektive und Individuelle zu fallen; so gilt es mit einer durchgehenden Umwandlung Freiheit und Wahrheit enger zu verbinden. Das aber kann nur geschehen, wenn der Grundbegriff des Menschen verändert und die Kluft zwischen Mensch und Welt überbrückt wird, wenn im Menschen unmittelbar ein Weltleben anerkannt und angeeignet, er aber von Grund seines Wesens aus in ein schaffendes Leben gehoben wird. Das ergibt ein neues Bild vom ganzen Menschen, es enthält die beiden Stufen von Natur und Geist; der geistigen Stufe aber ist eigentümlich ein Zusammentreffen von Einzelpunkt und Gesamtleben, zusammen bilden sie eine selbständige Lebenskonzentration, eine geistige »Energie«, welche von den Elementen der Natur durch die Begründung im Gesamtleben wesentlich verschieden ist; daß im Menschen sowohl ein Einzelpunkt als ein Weltleben angelegt ist, und daß bei ihm ein Verhältnis von Einzelpunkt und Gesamtleben möglich wird, das ergibt einen charakteristischen Lebensprozeß, der alle nähere Gestaltung beherrscht. Nur wenn hier das Schaffen nicht gegenüber der Welt, sondern innerhalb ihrer steht, gewinnt der Begriff des Lebensinhalts einen deutlichen Sinn, nur hier kann eine Wirklichkeitsbildung entstehen, nur hier der wilde Lebensdurst weichen, inmitten angespannter Tätigkeit ein Beisichselbstsein des Lebens, eine innere Einigung, ein ruhiges Schauen, ein selbständiges Schaffen möglich werden. Es bedeuten dabei die Hauptrichtungen und Lebensgebiete, wie Wissenschaft und Kunst, Religion und Recht, nicht ein Werk der abgelösten Punkte, sondern sie sind Zeugnisse einer überlegenen Gesamtmacht. Wohl kann ein solcher Aufstieg bei der Begrenztheit des menschlichen Standes nur allmählich geschehen, die Hauptsache bleibt, daß eine Bewegung zu solchen Zielen im Menschen stattfindet, und daß sie uns ein neues Grundverhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit offenbart. Auch können sich Gesamterfahrungen bilden, die zugleich unmittelbare Erfahrungen des Menschen als eines geistigen Wesens sind. Auch der Gegensatz von Wahrheit und Freiheit kann nunmehr keinen Zwist erregen, indem der Mensch als Mitträger eines schaffenden Lebens an beiden unmittelbaren Anteil hat. Mit solcher Wendung gewinnt sein Leben einen unverwerflichen Sinn und einen hohen Wert. Sie hat weiter nach verschiedenen Richtungen wichtige Konsequenzen: auf diesem Grunde kann eine Geistes- und Wesenskultur den Gegensatz von Arbeitskultur und Wohlfahrtspflege überwinden, von hier läßt sich dem Intellektualismus zuversichtlich entgegentreten, der die Neuzeit stark geschädigt hat; mag nunmehr die intellektuelle Tätigkeit ein Hauptstück des geistigen Lebens bleiben, sie steht innerhalb eines überlegenen Schaffens, nicht ihm gegenüber; Mensch und Welt fallen nunmehr nicht auseinander, sondern sie werden durch eine innere Bewegung verbunden, die Menschheit steht nicht einsam und verlassen in einer dunklen und unzugänglichen Welt, sondern jene Bewegung kann eine Aufhellung bringen und die Verbindung enger gestalten. Das ergibt ein neues Lebens- und Kulturbild, das auf einem neuen Weltbild ruht und es mit seinem Vermögen bekräftigt.
Alle diese Probleme finden aber die sozialistische Lebensgestaltung wehrlos; wenn sie sich irgendwie mit ihnen auseinandersetzt, so ist sie schweren Irrungen ausgesetzt. Das Ende solcher Irrung ist der Menschheitsidealismus, der seine Gedankenwelt durchdringt. Er behandelt den Menschen als einen überragenden Wert, und er möchte alles Streben ihm unterordnen, aber begründen kann er jenen Wert nicht, er verfällt dem Widerspruch, den Menschen als ein bloßes Stück des Daseins zu behandeln, die Schätzung aber, welche allein einer Wertgröße zukommt, auf dieses Daseinsstück zu übertragen.
Dies Verfahren ist aber überaus gefährlich, da es die Ansprüche des Idealmenschen unbedenklich dem Menschen der Erfahrung zuerkennt; das muß alle Maße des Lebens stark herabdrücken und einen flachen Optimismus erzeugen; zugleich erwächst die Neigung, alle schwereren Probleme abzuschleifen; was aber an Verwicklungen unverkennbar ist, möglichst auf die äußeren Verhältnisse und Lebensbedingungen zu schieben. Dabei werden leicht Freund und Feind mit doppeltem Maße gemessen, es scheint oft, als ob die Mißstände allein die Gegner träfen, während die Parteigenossen aller Schuld und Fehle ledig seien. Wahren wir uns demgegenüber einen festen Glauben an ein Geistiges und Göttliches im Menschenwesen, hüten wir uns aber vor jenem blinden Glauben an den bloßen Menschen!
Der sozialistische Idealismus bemüht sich, die einzelnen Menschen möglichst zu fördern, aber seine Herabsetzung der Maße schädigt das Menschenwesen; sinkt aber dies, so müssen auch die einzelnen Menschen den Verfall teilen; das gewahren wir heute schon mit erschreckender Deutlichkeit.
Solche Vermengung von Menschenwesen und dem Stand der einzelnen Menschen gestaltet auch das Leben der Gemeinschaft flach und einseitig. Gewiß hat die sozialistische Lebensgestaltung ein nicht geringes Verdienst darin, den Lebensbestand den einzelnen Menschen wie ihrem Zusammensein näher zu bringen und sie stärker dadurch zu bewegen; hier liegen bedeutende Aufgaben, die noch viel zu tun geben. Aber es sollte diese Aufgabe der Zuerteilung an die einzelnen nicht vor der Urerzeugung der geistigen Größen und Mächte stehen, sie sollte nicht die erste sein, sie hat ein gutes und unverwerfliches Recht erst an der zweiten Stelle; messen wir nicht die geistigen Maße am bloßen Menschen, sondern den Menschen an ihnen! Er kann sich nicht zum Maß erheben, ohne die Wohlfahrt zum Ziel der Ziele zu machen, alles ins Subjektive und Relative zu verschieben, den inneren Stand des Lebens als eine Nebensache zu behandeln und alle Leistung nur danach zu schätzen, was sie dem einzelnen und seinem Wohlbefinden gewährt.
Mag demnach die sozialistische Lebensführung manche Übelstände heben und manche Verbesserungen einführen, vieles für die Erziehung tun, harte; und Rauhes in den gemeinsamen Einrichtungen mildern: zerstörend bleibt ihr Streben, den geistigen Gehalt des Lebens nur als ein Mittel für die Wohlfahrt des Menschen zu behandeln. Geist oder Mensch, Erhöhung des Menschenwesens oder Wohlfahrt der Individuen, das ist eine Frage, die kein Ausweichen duldet; der Sozialismus aber entscheidet sich für den Menschen. Es sinkt aber alle geistige Betätigung, die nicht als Selbstzweck behandelt wird; als ein bloßes Mittel kann dies Leben nie den inneren Zwang, aber auch nicht die innere Freude und Erhebung einer Selbsterhaltung erlangen, damit die Seele ergreifen, sie zu ursprünglichem, zu wesenbildendem Schaffen treiben. Ein solches Leben ist zu einer geistigen Unfruchtbarkeit verdammt, es rüttelt den Menschen nicht genügend aus der Trägheit und Stumpfheit auf, es kennt kein unerbittliches Entweder – Oder in der Seelenhaltung, es mag sich fortwährend mit politischen und sozialen Fragen befassen und alle Glut der Leidenschaft daran setzen, aber es zieht alle Fragen aus das Niveau der Tagespolitik, der wirtschaftlichen Interessen, der Parteien, es stellt keine Frage an den inneren Menschen und an das ganze Menschenwesen. Was wird aber aus dem Menschen, wenn jenes andere ihm alles bedeutet, wenn der Mensch sich selbst verliert, indem er nach außen hin vordringt?
Wir erfahren unter solchen Eindrücken manches Schwanken in der Schätzung des Menschen. Die Zeiten verfolgten hier verschiedene Wege; es war sehr begreiflich, daß in besonderen Lagen der Mensch sich zu sich selbst wandte und sich im eigenen Wesen zu befestigen suchte; so im späteren Altertum, wo der Menschheitsgedanke einen festen Halt bot, so bei der Neuzeit, wo er zur Steigerung des Lebensgefühls wirkte. Auch wir begreifen wohl, daß bei den schweren inneren und äußeren Kämpfen der Gegenwart vielen jener Gedanke eine freudig begrüßte Aussicht und einen willkommenen Trost zu gewähren scheint. Aber wie schwankend, wie haltlos ist uns jetzt jene Zuflucht geworden? Der Menschheitsgedanke hatte im späteren Altertum und auf der Höhe der Aufklärung einen festen Grund in der Idee einer weltüberlegenen Vernunft, stärkend und richtend schien sie zu den Seelen zu sprechen; jetzt aber ist für die meisten unter uns jene Idee zu einer leeren Phrase gesunken, und wie können wir die in ihr liegende Macht ersetzen? Tatsächlich geht heute durch weite Kreise eine starke Unlust am Menschen, ja ein Widerwille, ein Taedium generis humani, wie es im späteren Altertum hieß; zugleich erfahren wir die Schattenseiten der Übervölkerung, der Zusammendrängung der Menschen, der wirtschaftlichen Kämpfe usw., der Raum wird uns vielfach zu knapp, der Mensch wird dem Menschen zum Gegner; über die besonderen Fragen hinaus empfinden wir schmerzlich die Macht des Kleinen, Gemeinen, ja Bösen über die Menschen. So gewann der Gedanke des Übermenschen Anhänger, aber führt der bloße Gedanke über die Sache und über ihre Macht hinaus? So stehen wir eben beim Menschenproblem unter ungeheuren Verwicklungen; die sozialistische Lebensgestaltung ist ihr keinesfalls gewachsen. Die Sache wäre hoffnungslos, wenn nicht dem Menschen überlegene Mächte wirkten, mehr aus ihm machten, ihm alte und neue Lebensquellen eröffneten. Doch das bleibt gegenwärtig in einem unsicheren Suchen.
Der Sozialismus hatte eine besondere Stärke darin, das Leben in eine volle Gegenwart zu verwandeln, er will den ganzen überkommenen Lebensbestand gründlich prüfen, alles veraltete austreiben, alle Einrichtungen und Überzeugungen zu voller Wahrheit führen; als wahrhaftig galt ihm aber dabei, was den Menschen unmittelbar berührt und bewegt; das sollte das Leben sowohl frischer als kräftiger machen. Wieviel in dieser Richtung das deutsche Leben zu tun gibt, wie oft hier die Vergangenheit die Gegenwart hemmt, das war nicht zu verkennen; so hatte eine Wendung zur vollen Gegenwart ein gutes Recht. Aber wie an anderen Stellen, so müssen wir auch uns hier davon überzeugen, daß der Sozialismus das Problem viel zu summarisch und einseitig faßt, und daß alles, was er dabei an Anregung bietet, die Schädigung des Grundbestandes des Lebens nicht aufwiegt.
Zunächst müssen wir anerkennen, daß jede große Umwälzung an dem Überkommenen vornehmlich die Schattenseiten hervorkehrt, besonders muß das eine Denkweise tun, welche mit der Aufklärung das Leben auf den freischwebenden verstand stellt; auch das ist beachtenswert, daß die Massen, welche die Stärke des Sozialismus bilden, von der Geschichte und von geschichtlicher Bildung wenig berührt werden, daß sie überwiegend der Gegenwart leben. Aber daß jene ungeschichtliche Denkweise ein viel zu knappes Wirklichkeitsbild liefert, und daß sie viel zu enge Begriffe einsetzt, das sei nun etwas näher gezeigt.
Der Sozialismus will das Leben in volle Gegenwart versetzen, aber was bedeutet ihm Gegenwart, und wie ist sie zu verstehen? Bedeutet sie nur den jeweiligen Augenblick, an dem wir uns jetzt befinden, und kann dieser unserem Streben genügen? Dann müßte aller fester Ausbau aus unserem Leben verschwinden, unsere Bestrebungen und Einrichtungen hätten nur unsere zufälligen und individuellen Meinungen und Stimmungen widerzuspiegeln; wie jede Jahreszeit neue Moden zu bringen pflegt, so müßte auch unser Handeln ganz am Augenblick hangen. Das will in dieser Schroffheit niemand, aber kann er sich den Konsequenzen dieser Denkweise entziehen? Wenn das Leben ohne irgendwelchen Halt bleibt und ganz und gar dem Strom des Werdens ausgeliefert wird, so zerfällt es in lauter einzelne Eindrücke; von einer Gegenwart ließe sich überhaupt dann nicht reden. Alle Gegenwart bedarf für ein denkendes Wesen einer Zusammenfassung, sie muß irgendwelchen Gehalt besitzen und diesen in das menschliche Wirken hineinlegen; eine Gegenwart fällt einem solchen Wesen nicht von außen zu, sie ist sein eigenes Werk, sein Verdienst oder auch seine Schuld. Demnach müssen wir von der Gegenwart des Augenblickes eine echte Gegenwart unterscheiden. Eine echte Gegenwart aber bedarf selbst einer Geschichte, sie läßt sich nicht verstehen, ohne ein Stück Geschichte in sich aufzunehmen, sie ist nicht eine tote Vergangenheit, ein gleichgültiges Erinnerungsbild, das uns gelegentlich beschäftigt, auch nicht eine bloße Mitteilung gelehrter Überlieferung, sie gehört unmittelbar zur Gegenwart und ist von dieser untrennbar.
Denken wir an ein vollentwickeltes Kulturvolk. Seine Gemeinschaft bedarf dauernder Einrichtungen und Ziele, sie bedarf beharrender Zusammenhänge, auch gemeinsamer Erfahrungen Liebes und Leides; diese Zusammenhänge sind meist allmählich und oft unter großen Mühen entstanden, sie sind wertvoll, weil sie die Individuen zusammenschmieden und ihnen gemeinsame Ziele vorhalten, ja, ihnen einen gemeinsamen Geist einflößen.
Ein solches Gesamtwerk war z. B. das preußische Heer durch ganze Jahrhunderte hindurch als ein Erzeugnis einer langen Reihe von Geschlechtern, war auch das deutsche Beamtentum: derartige Zusammenhänge haben oft schroffe Ecken und Kanten, sie können unbequem werden, und es sind ihre Stärken nicht ohne Schwächen, aber sie geben dem Leben größerer Kreise feste Richtungen, sie verkörpern bestimmte Ziele und verstärken die gemeinsamen Leistungen, sie sind nicht vage Gedanken und Einfälle, sondern eigentümliche Denkweisen und Lebensentfaltungen, sie erwecken besondere Kräfte und Gesinnungen, wie z. B. der Ehre und der Tapferkeit, der Zuverlässigkeit und der Unbestechlichkeit, sie widerstehen niederen Trieben, sie entwinden den Menschen der Macht flüchtiger Augenblicke und wechselnder Stimmungen, sie sind wirksame Lebensmächte; nur ein flacher Optimismus kann sie für gleichgültig halten. Diese Lebensmächte sind schwer aufzubauen, leicht zu zerstören, die ihnen innewohnende Treue und Beständigkeit ist ein hohes Gut, dessen Vernichtung oder doch Schädigung schmerzliche Lücken bewirken kann, wie wir das neuerdings deutlich empfunden haben.
Ein Volk ohne Tradition ist nur ein Halbwesen, es entbehrt eines eigenen Schattens, die Tüchtigkeit seiner Erziehung, die Kraft seiner Gesetzgebung hängt zum guten Teil an seiner Tradition. Mit Recht sagt darüber ein hervorragender Forscher der Gegenwart (Frazer): »Nur eine Gesetzgebung, die einigermaßen eines Volkes Vergangenheit entspricht, hat auch die Kraft, um eines Volkes Zukunft umzubilden. – Es muß in jedem Gesetz, wie in jeder Pflanze ein Element der Vergangenheit sein (s. Folklore in the old Testament 1918, zitiert in der ›Frankfurter Zeitung‹ vom 23. April).« Demnach sind lebendige Geschichte und eingesargte Vergangenheit grundverschiedene Dinge; ein Volk aber, das seine Geschichte verleugnet, muß sein eigenes Wesen, es muß sich selbst verleugnen; das ist mit einem Worte ein elendes Volk.
Wie aber steht es hier bei der sozialistischen Lebensführung? Sie unterscheidet in der Geschichte nicht genügend verschiedene Arten: eine Geschichte passiver Art, welche nur das tatsächliche Geschehen dem Gedächtnis einverleibt, von sich aus aber nichts Weiteres leistet, und eine aktive Geschichte, welche mit dem Streben und Wirken des Menschen zu tun hat. Die aktive Geschichte gehört zweifellos der Tatwelt, nicht dem bloßen Dasein. Nur diese kann den Wahrheitsgehalt der lebendigen Geschichte zur vollen Geltung bringen. Der Sozialismus aber mit seinem Hangen an einer passiven Geschichte ist zu einer unbefangenen Beurteilung ungeeignet, er pflegt beim Verhältnis von Altem und Neuem ein doppeltes Maß und Gewicht zu verwenden, er sieht am Neuen nur das Gute, am Alten nur das Schlechte, ja er neigt zu einer entstellenden Karikatur. Nun pflegt ja in menschlichen Dingen jede Sache eine Kehrseite zu besitzen, es ist leicht, diese Kehrseite herauszuheben und sie das Urteil bestimmen zu lassen. Es ist zum mindesten geschmacklos, wenn selbst hochgebildete Menschen von der überkommenen und eingewurzelten Staatsordnung als einem bloßen »Obrigkeitsstaat« reden; gewiß war namentlich in Preußen der Begriff der Obrigkeit oft überspannt, aber erschöpft sich jener Staat mit seiner unbedingten Pflichttreue, mit seiner Unterordnung aller einzelnen unter die Zwecke des Ganzen, seiner rastlosen Arbeit, seiner Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit, seiner untadeligen Unbestechlichkeit in diesem Begriff? Es sieht oft aus, als ob die Mehrzahl der Deutschen sich in unfreier Stellung und Gesinnung befunden hätte, und als ob erst jene gewaltsame Umwälzung ihr zur Freiheit verholfen hätte. Was aber das überkommene Leben an Freiheit besaß, weit über die Programme der Parteien hinaus, das wird schier vergessen, und es wird auch das vergessen, daß jedes der leitenden Kulturvölker seinen eigentümlichen Freiheitsbegriff besitzt; unsere Radikalen aber pflegen nur den französischen Freiheitsbegriff zu verwenden und dünken sich stolz, wenn sie diesen Begriff möglichst nachahmen, sie ahnen nicht die tiefe Bedeutung des deutschen Freiheitsbegriffes.
Diese Verkennung des Großen in unserem Wesen und in unserer Leistung erstreckt sich durch die verschiedenen Gebiete. Es sieht oft so aus, als ob unser Unterrichtswesen, an dem ganze Jahrhunderte treu und eifrig gearbeitet haben, sich in einem Stande befinde, der dringend einer durchgängigen Umwälzung bedürfe. Haben wir ferner in andrer Richtung vergessen, daß Deutschland in der sozialen Fürsorge für die arbeitenden Klassen allen Völkern voranging, und daß dies Vorangehen viele Opfer forderte? Deutsche Leistungen möglichst herabzusetzen, das scheint manchen ein Ausdruck geistiger Überlegenheit.
Ein Hauptgrund der Irrung des Übersehens wirklicher Leistungen ist, daß die Gewohnheit des Lebens manches als selbstverständlich behandelt, was keineswegs selbstverständlich ist, was vielmehr viel Mühe und Arbeit, auch viel Selbstentsagung und innere Erhöhung kostet. Man würde nicht so geringschätzig vom Christentum sprechen, vergäße man nicht, wieviel dazu gehört, die Menschen innerlich zusammenzuhalten und die niederen Triebe zu bändigen, die uns bezwingen. Auch bei dem Staate herrscht die Neigung zu tadeln und das Vorhandene herabzusetzen; für Religion wie für Staat gilt Hegels Wort: »Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete aber sieht in jedem das Positive.« Besonders gilt das gegenüber großen Umwälzungen, wie wir sie heute erleben. Der Verlauf der Bewegung zeigt schon jetzt deutlich genug, daß manches in Wahrheit nicht selbstverständlich ist, was die Gewohnheit als selbstverständlich behandelt, aber »die Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere Existenz beruht« (Hegel). Nichts verrät deutlicher das Sinken des gesamten Lebensstandes, als wenn etwas früher Selbstverständliches zu einer mühsamen Aufgabe wird. Wie steht es hier mit der Gegenwart?
Die Ungleichheit der Behandlung von Zeiten erstreckt sich auch auf das Verhältnis der verschiedenen Altersklassen. Die Jugend wird möglichst gefeiert, das Alter möglichst herabgesetzt. Die Jungen erscheinen geweckter, unbefangener, freiheitsliebender, leistungsfähiger, sie allein bilden die Hoffnung der Zukunft, ihnen scheint der unbedingte Vorrang zu gebühren; die größere Lebenserfahrung und die reifere Einsicht des Alters kommen dagegen nicht auf. Der Sozialismus verfährt dabei sehr einseitig und summarisch. Daß das Ganze des Lebens ein gewisses Gleichgewicht und eine gegenseitige Ergänzung der verschiedenen Alter fordert, das unterliegt keinem Zweifel; wer teilte nicht den Wunsch Luthers: auch die Jungen möchten weise und auch die Alten möchten stark sein; aber jedes Alter hat mit seinen Vorzügen auch seine Schwächen, man sollte sich nicht bei dem einen nur an die Vorzüge, bei dem anderen nur an die Schwächen halten. Jenes entspricht der Vermengung vom Physischen und Psychischen, welche durch die sozialistische Denkweise geht, ihrer ungenügenden Scheidung von physischer und geistiger Jugend. Die verschiedenen Zeiten zeigen hier verschiedene Bilder, eine physische Jugend kann geistig schlaff und matt sein, die bloßen Jahre begründen noch keinen Vorzug; krafterfüllte und großangelegte Zeiten dagegen können auch dem physischen Alter geistig einen Jugendmut verleihen; wie überhaupt, so liegt auch hier alles daran, was geistige Kraft aus dem Menschen macht; die Zahl der Jahre macht wenig aus, nach der Elle läßt sich hier nicht messen.
Mit der Überschätzung der zeitlichen Gegenwart pflegt aber jene Denkweise die Neigung zu verbinden, das Tempo des gesellschaftlichen Lebens möglichst zu beschleunigen. Auch dabei stoßen wir auf ein bedeutendes Problem: wie der körperliche Prozeß auf ein Gleichgewicht zwischen Beschleunigung und Verlangsamung angewiesen ist, so bedarf auch das seelische Leben sowohl des einen als des anderen, es ist eine besondere Größe des Staatsmannes, das Staatsschiff durch Szylla und Charybdis hindurch zugleich besonnen und entschieden zu steuern und den richtigen Punkt für das eigene Handeln zu treffen. Bei uns Deutschen bestand auf dem politischen Gebiet unzweifelhaft die Gefahr, die Entschlüsse zu langsam in Tat zu überführen, wir neigten dazu, recht gründlich, übergründlich zu erwägen, dann aber folgenreiche Beschlüsse plötzlich ins Leben zu rufen, wie der hastige Beginn des letzten Krieges deutlich zeigte. Der Fehler der sozialistischen Denkweise liegt aber an anderer Stelle, sie möchte den Lebensstand möglichst erneuern, sie macht sich wenig Bedenken darüber, ob die gesuchte Erneuerung in Wahrheit eine Verbesserung sei. Zugleich vergißt sie leicht die Bedingungen eines glücklichen Erfolges, indem sie die Sache ganz und gar auf das freischwebende Denken setzt und ihm alle Entscheidung anvertraut. Prinzipielle Entscheidungen, wie das Unternehmen eines neuen Gesetzbuches oder einer neuen Erziehungsordnung, sollten vor allem sich die Frage gewissenhaft und gründlich vorlegen, ob unsere Zeit fest genug in ihren Überzeugungen und Zielen wurzelt, um die zu einem solchen Unternehmen nötige Kraft und Gewißheit aufzubringen; sonst kann leicht der Wind unsere Spuren verwehen. Auch die jetzt beliebte parlamentarische Regierungsform ist wenig geeignet, das richtige Tempo des Handelns zu ermessen, unbedeutende Fragen werden nach Gunst und Laune der Parteien oft breitgetreten, wichtige aber flüchtig erledigt. Die neue Telephonordnung greift tief in die Lebensarbeit des so schon schwer bedrückten Mittelstandes ein, eine kleine Mehrheit eines schwach besetzten Hauses hat rasch und nebenbei diese für viele sehr wichtige Sache entschieden.
Alle diese Eindrücke und Erfahrungen weisen auf ein prinzipielles Problem zurück, auf das Problem des Verhältnisses von Denken und Erfahrung, zugleich aber von Gegenwart und Geschichte. Die Neuzeit steht hier vor einem gewaltigen Problem, ohne es voll lösen und ohne sich von schroffen Gegensätzen befreien zu können. Sie wollte von Haus aus alles Denken und Leben auf die eigene Tätigkeit stellen und alles Unternehmen selbständig machen. Dies unangreifbare Streben erlitt aber gleich zu Anfang eine Verengung, indem das bloße Denken, die Form des Lebens, seinen Hauptträger bildete; es wurde aber anfänglich nicht auf den freischwebenden Verstand des Menschen, sondern auf ein absolutes Denken gegründet, es empfing daraus feste Grundlinien, wie die »eingeborenen Ideen« ( ideas innatae) sie enthielten, es ruhte hier das Erkennen auf der Wahrhaftigkeit Gottes und hatte damit einen festen Halt. Die englische Aufklärung brachte von Locke her darin eine große Wendung: die ursprünglichen Ideen verschwanden wie eine Irrung, die Verbindung mit einer absoluten Vernunft wurde aufgegeben, die Vernunft sank aus einer grundgeistigen zu einer menschlichen Größe, zugleich verlor das Denken alle Selbständigkeit, es hatte seinen ganzen Gehalt der Erfahrung zu entnehmen, es konnte dem Strome der Eindrücke und Antriebe aus eigenem Vermögen keinen Widerstand entgegensetzen, es mußte wie ein weiches Wachs sich allen Forderungen anpassen. Wurde diese empiristische Denkweise vollauf entwickelt und in ihre Konsequenzen begleitet, so fiel alle Möglichkeit aller selbständigen Wissenschaft, ihre Forderung der Allgemeingültigkeit und der Notwendigkeit wurde abgelehnt, alles Denken wurde ein bloßes Vorstellen, sei es der einzelnen Individuen, sei es ihrer Summierung zu Massen. Die durchschnittliche Art der Gegenwart scheut diese sehr folgenreiche Konsequenz und ihre Verneinungen, so behilft sie sich mit einem Gemisch freischwebenden Denkens und zuströmender Erfahrung, dieses Gemisch aber besitzt eine große Unsicherheit. Dies Schwanken zwischen einem leeren Denken und einem gebundenen Eindruck teilt auch die sozialistische Denkweise, so kann sie auch zu Darbietungen der Geschichte keine feste Stellung nehmen, sie verwirft die Geschichte, wenn sie ihren Ideen abhold ist, sie läßt sie sich gern gefallen, wenn sie sich eine Förderung ihrer eigenen Bestrebungen dadurch verspricht. Jedenfalls wird dann leicht das eigene Urteil nicht aus der Sache und ihren Forderungen, sondern aus den unmittelbaren Eindrücken und aus Parteiinteressen gefällt.
Betrachten wir die deutschen Universitäten: sie sind aus dem Mittelalter hervorgegangen und passen nicht recht in das Schema des modernen Staates, ohne Mühe läßt sich an ihnen manches veraltetes aufweisen. Aber mit diesem Veralteten verbindet sich aufs engste dasjenige, was ihrem Leben eine Selbständigkeit und ihrem Schaffen eine Ursprünglichkeit verlieh, und was der ganzen gebildeten Welt große Hochachtung einflößte; sollten wir nicht lieber den Gründen ihres Wirkens nachgehen und ihre Leistungen möglichst heben, als ihre Mängel möglichst hervorkehren? Unterscheiden wir schärfer zwischen einem Irrationalen und einem Unvernünftigen: manches, was sich als irrational darstellt, kann bei genauerer Betrachtung einer tiefer gegründeten Vernunft dienen: die Wirklichkeit ist kein glattes Rechenexempel. Eines Irrationalen ist das geschichtliche Leben mit seinen Verkettungen, seinen Einrichtungen usw. voll; unsere ganze Wirklichkeit durchdringt ein harter Kampf zwischen Rationalem und Irrationalem, schließlich muß auch das Rationale auf einem Tatleben, auf einem schaffenden Willen ruhen und daraus seinen Inhalt ziehen. Die sozialistische Lebensgestaltung aber folgt bei allen diesen Fragen der Bahn der späteren Aufklärung, sie lebt im Hauptzug ihres Strebens nicht im 20., sondern im 18. Jahrhundert; so kann sie kein engeres Verhältnis zur Geschichte finden, so werden überhaupt ihre Maße zu eng für die Lebensfülle der Wirklichkeit.
Die Begrenzung der sozialistischen Lebensgestaltung muß jedem einleuchten, der nicht mit dem Strome der geschichtlichen Ereignisse wehrlos dahinschwimmt, sondern von einem überlegenen Standpunkte aus das Ganze in ein Gesamtbild faßt. Zunächst ist festzustellen, daß der Mensch nicht gänzlich innerhalb der Zeit lebt, sondern mit seinem Denken und geistigen Leben die Zeit zu erleben und in dem Zeitgebotenen etwas Ewiges, Fortwirkendes, Gegenwärtiges zu ergreifen vermag. Betrachten wir eine weltgeschichtliche Erscheinung, wie das Christentum. Es ist aus einer besonderen Zeitlage hervorgegangen, aus einer vielfach trüben und verworrenen Zeit, ist es deshalb nur ein Erzeugnis jener trüben Lage, das wir einfach von uns abschütteln sollten? Hat sein Wirken nicht bleibende Erfahrungen, Leistungen, Aufgaben herausgearbeitet, denen auch wir uns nicht entziehen dürfen? Ist der moralische Widerspruch, unter den es das Menschenleben stellt, nicht dauernder Art, können wir den gewaltigen Ernst und die aufrüttelnde Triebkraft dieser Weltbildung, ihre Eröffnung überlegener Weltmächte und ursprünglicher Quellen des Lebens preisgeben? Wir können es nicht, ohne das Menschenwesen eines großen, eines unentbehrlichen geistigen Haltes zu berauben. Ähnlich steht es mit dem klassischen Griechentum. Seine Zeit war begrenzt und seine Blüte kurz, aber diese kurze Blüte hat Ewigkeitswerte erzeugt, ohne die unser Kulturstreben schwersten Abbruch erleiden muß. Wieweit die besonderen Zeiten und Individuen sich dieser Lebensgehalte bemächtigen, das ist eine weitere Frage; sicherlich sind sie nicht erloschene Daten, sondern lebendige Möglichkeiten und fortdauernde Aufforderungen, Tatsachen, die, im menschlichen Kreise einmal geweckt, nicht einfach verschwinden können; wer bei diesen Fragen über die Zeit hinaus zu Überzeitlichem strebt, der wird auch der Goetheschen Mahnung gedenken:
»Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib' im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.«
So scheint beim Menschen durch das Geschichtliche ein Übergeschichtliches hindurch, durch ein Menschengeschichtliches ein Geistesgeschichtliches, das uns in eine neue Ordnung versetzt, in ein Leben in ewigen Zusammenhängen ( sub specie aeternitatis). Während in der Menschengeschichte Wogen über Wogen dahinrollen, ohne von überlegenen Zielen gelenkt zu werden, unternimmt die Geistesgeschichte, dem Leben bleibende Inhalte und Werte zuzuführen, ihm ein Beisichselbstsein zu eröffnen, ihm sowohl einen Halt als einen Zusammenhang zu gewähren. Nur von hier aus läßt sich auch eine innere Gliederung der Geschichte erstreben, lassen sich Uroffenbarungen des Lebens sowohl unterscheiden als zu einem Ganzen verbinden, von hier aus muß sich eine völlige Umkehrung des Lebens von der sinnlichen Unmittelbarkeit zu einer geistigen Unmittelbarkeit vollziehen. Nur eine solche Umwälzung mit ihrer Befestigung kann verhindern, daß all unser menschliches Wirken und Streben in den Strom eines unablässigen Werdens gerät und nach einem flüchtigen Aufleuchten in den Abgrund des Nichts versinkt, das aber nicht nur beim einzelnen, sondern auch beim Ganzen der Menschheit.
Alle diese für das Ganze des geistigen Lebens unentbehrlichen Probleme sind aber für das sozialistische Leben nicht vorhanden, es ergibt sich ganz der geschichtlichen Bewegung, wie sie das bloße Dasein bietet, ihrem Streben fehlt damit aller geistige Hintergrund, alles was sie unternimmt, trifft nur eine begrenzte Fläche des Lebens. Auch die »materialistische« Geschichtsphilosophie von Marx und Engels führt darüber nicht hinaus. Das alles darf nicht die Anerkennung dessen verhindern, daß die sozialistische Denkweise auf dem Boden der empirischen Geschichte manches Schätzbare durch ihre Kritik, durch ihre Befreiung von Hemmungen, durch ihr Abwerfen überflüssigen Ballastes gewirkt hat, aber auch auf diesem Boden verwendet sie zu enge Maße und entbehrt sie einer Gerechtigkeit, welche über den Streit der Parteien hinausführt.
Der Gleichheitsgedanke ist ein Hauptstück der sozialistischen Gedankenwelt, er erzeugte in Handeln und Gesinnung eine gewaltige Bewegung. Eine Hauptaufgabe wurde darin erkannt, alle künstlichen Unterscheidungen zu bekämpfen, eingebildete und unbegründete Vorrechte auszutreiben, Widerständen und Störungen den Gedanken des gemeinsamen Menschenwesens als einen festen Halt entgegenzusetzen. Wo dies unterblieb, da wurde aufstrebende Kraft gehemmt, das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit geschädigt, die Freude an der Arbeit vermindert; nicht nur einzelne Leistungen, sondern ganze Denkweisen und Grundüberzeugungen standen dabei in Frage. Aber wir werden sehen, daß der Sozialismus auch hier die Sache viel zu summarisch faßt, daß er vielen Widerständen begegnet, ja, daß er vielfach das Gegenteil seiner Absicht erreicht. Es sind namentlich folgende Punkte, die dringend einer Klärung bedürfen.
1. Schon die Begründung des hier vertretenen Gleichheitsgedankens enthält einen Widerspruch, der das Gesamtbild gefährdet. Wo liegt die Wurzel und damit auch das Recht des Gleichheitsgedankens, liegt sie in einer überlegenen Geistigkeit, oder im Bereich der Erfahrung? Die ältere Überzeugung hielt sich an jene, sei es an die Gottheit als den Quell alles Lebens, sei es an die Vernunft als die weltordnende Macht, für den Sozialismus aber hat beides seine Überzeugungskraft verloren. Im Gottesgedanken sieht er nur ein Gebilde der Mythologie, in der Vernunftidee nur ein Erzeugnis des menschlichen Vorstellens, das den eigenen Kreis nicht überschreitet. So kann hier nur die Erfahrung den Gleichheitsgedanken rechtfertigen. Aber die Erfahrung zeigt die Menschen überaus ungleich, Natur wie Kultur verbinden sich, um das Leben immer ungleicher zu machen. Die Erfahrung gilt aber dem Sozialismus als die Quelle und der Rechtsgrund aller Überzeugung. Damit gerät er in folgendes Dilemma: Anerkennt er irgendwelche Gleichheit alles Menschenwesens, so muß er eine geistige Macht, wie immer sie näher beschaffen sei, gelten lassen und der Erfahrung widersprechen; hält er sich an die Erfahrung, so muß er ihr nachgeben und sein Handeln nach ihren Forderungen bemessen. Diesem Widerspruch wäre nur zu entgehen, wenn der Mensch auf dem Boden der Erfahrung eine völlige Gleichheit aller Menschen und Verhältnisse durchsetzen könnte; das würde, konsequent durchdacht, einen schroffen Kommunismus ergeben, wie schon Babeuf ihn vorschlug; der Kommunismus ist überhaupt die konsequenteste Art des sozialistischen Grundgedankens. Wie schlecht dabei aber die Menschheit und auch die Kultur fährt, das bedarf keiner Erörterung. So bleibt es dabei, daß eine unmittelbare Verbindung von Vernunft und Erfahrung beim Gleichheitsproblem unmöglich ist. Nietzsche dachte klarer als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, wenn er erklärte, daß der Wegfall der Gottesidee auch dem Gleichheitsgedanken alles Recht nimmt.
2. Die entscheidende Frage ist hier, ob das Leben der Gemeinschaft einstufig oder ob es zweistufig verläuft, d. h. ob aller Unterschied in der gleichen Ebene liegt, oder ob eine Abstufung der Art möglich und wünschenswert ist, welche eine den Einzelpunkten überlegene Einheit in Tätigkeit versetzt und aus ihrem Vermögen auf die einzelnen wirkt. Eine einstufige Art wird alles Leben und Handeln direkt auf die einzelnen beziehen und alle Gliederung der Gesellschaft verbieten; dann ist allerdings der Kommunismus der einfachste und der wirksamste Weg. Bei der zweistufigen Art dagegen bietet sich die Möglichkeit einer Ausgleichung und Verbindung; wenn ein überlegenes Ganze wirkt, so kann auch der einzelne dies Ganze als seine eigene Sache behandeln und auch bei einer äußeren Unterordnung sich als Glied des Ganzen fühlen. Nur von hier aus entstehen die Wechselbegriffe von Recht und Pflicht; wenn die einstufige Denkweise das Recht des einzelnen der Pflicht voranzustellen pflegt, so ist demgegenüber zu bemerken, daß auf diesem Boden auch der Begriff des Rechtes nicht das mindeste Recht hat, sondern daß hier die Entscheidung lediglich bei der Macht liegt. Nur jene zweistufige Ordnung kann sowohl dem Ganzen als den einzelnen Elementen eine Selbständigkeit gewähren, bei ihr wird freilich der einzelne stets die zweite Stellung einnehmen, aber er wird als Glied des Ganzen den bloßen Punkt überschreiten und sich als Mitträger jenes Ganzen fühlen. Denken wir an die Ordnung der katholischen Kirche: jeder einzelne Priester darf sich kraft der gemeinsamen Weihe als Mitträger des Ganzen betrachten und damit seinem Handeln den höchsten Wert beilegen, aber das verhindert nicht im mindesten, daß er innerhalb der Ordnung eine recht bescheidene Stellung einnimmt.
Die sozialistische Gedankenwelt aber schwankt zwischen einer einstufigen und einer zweistufigen Art; das geschieht aber dadurch, daß sie wohl am Begriff des Ganzen festhält, ihn aber nur als eine Summe der einzelnen Elemente versteht; so kann sie ihm keinen selbständigen Inhalt gewähren; unvermeidlich wird sie wieder unter die Macht der einzelnen Elemente geraten, deren Nebeneinander sie nicht überwinden kann, hier muß alles Gedeihen des Ganzen an den Interessen der einzelnen gemessen werden, was doch dem Grundgedanken direkt widerspricht. Diese Gleichsetzung der Summe der einzelnen mit einem selbständigen Ganzen muß einen fortwährenden Widerspruch ergeben und Punkt für Punkt in Verwicklungen führen.
Denken wir an das Wahlrecht. Das Staatsganze muß diejenige Einrichtung fordern, welche seinen Zwecken und seinem Gedeihen am besten dient; dabei dürfen freilich auch die einzelnen als zur Selbständigkeit berufene Vernunftwesen nicht vergessen werden, aber die Hauptentscheidung muß beim Ganzen stehen. Es war ein Anzeichen der beginnenden Auflösung der überkommenen Ordnung, als ein preußischer Minister das allgemeine und gleiche Wahlrecht als ein Grundrecht und als eine jedem einzelnen gebührende Forderung erklärte; in der herrschenden Begriffsverwirrung hat er selbst wohl kaum bemerkt, daß er damit den Grundgedanken des preußischen Staates mit seiner unbedingten Überordnung des Ganzen über die einzelnen verleugnete. Diese Frage, ob die einzelnen alles direkt erlangen, oder ob sie es im Zusammenhang mit dem Ganzen erhalten sollen, enthält sehr bedeutende Konsequenzen für die Gestaltung des gemeinsamen Lebens. Es muß das Unterrichtswesen und die Bildungsfürsorge sehr verschieden ausfallen, je nachdem ein gemeinsamer, den Individuen überlegener Gesamtstand, eine Sphäre gemeinsamer Bildung erstrebt, oder die Bewegung allen einzelnen möglichst gleich zugemessen wird. Manches kann nicht allen gleichmäßig zugehen, aber soll es deshalb dem Ganzen gleichgültig oder doch minderwertig sein? Die höhere Mathematik kann unmöglich eine Sache aller einzelnen sein, nicht bloß, weil ihnen die dafür nötige Zeit, sondern auch weil ihnen die besondere Begabung dafür fehlt. Dürfen wir deshalb die höhere Mathematik mit ihrer Bedeutung für die Gedankenwelt minder schätzen? Die Kultur würde unsäglich verlieren, wenn jener Maßstab des Einzelteiles letzthin entscheiden sollte. Wie hier, so kann überhaupt das Interesse des Ganzen sehr wohl eine Zerlegung des Zusammenlebens in eine höhere und niedere Schicht empfehlen; verwerflich ist eine solche Scheidung nur, wenn sie zugunsten besonderer Klassen, nicht im Interesse des Ganzen, erfolgt. Jene Zerlegung begründet sich aus der Notwendigkeit, einem begrenzten Lebenskreise die Hauptsorge für die geistige Selbsterhaltung der Menschheit zuzuweisen; jener kann nicht bestehen und gedeihen ohne ein Ineinandergreifen und einen festen Zusammenhang der Arbeit über die Individuen hinaus, nicht ohne die Bildung einer Tradition, nicht ohne eine gewisse Befreiung von der Not des physischen Daseins; auch fordert er durchgebildete Denkweisen und Methoden, nicht bloß eine Anzahl von einzelnen Leistungen und Handgriffen. Und das alles sollten wir wegwerfen, um dem Phantom einer klassenlosen Gesellschaft anzuhangen, die sich bald als eine kultur- und geistlose erweisen müßte? Auch die einzelnen Elemente fahren weit besser, wenn eine Abstufung erfolgt, kein regelloses Durcheinander eintritt. Nur ein wunderlicher Optimismus kann von daher das Heil der Menschheit erwarten. Den entscheidenden logischen Trugschluß des Kommunismus hat schon Aristoteles in seiner klaren und scharfen Art deutlich aufgedeckt: er liegt in der Doppelbedeutung des Begriffs »alle«, man denkt bei ihm sowohl an alle zusammen, als auch an jeden einzelnen für sich selbst (πάντες und ὡς ἕκαστος), demnach hat der Begriff eines gemeinsamen Besitzes eine ganz verschiedene Bedeutung; selten haben sich wie hier mit einem Trugschluß so ungeheure Leidenschaften verquickt. Der Sozialismus aber mit seiner Schätzung des Ganzen und mit seiner Einsetzung der Summe der einzelnen für das Ganze befindet sich in einer haltlosen Mitte.
3. Die Anerkennung eines wesentlichen Unterschiedes zwischen dem Ganzen einer Gemeinschaft und den einzelnen Elementen führt zur vollen Beachtung der Mannigfaltigkeit der Lebensgestaltung, wie die Erfahrung sie uns bietet. Der Sozialismus betrachtet diese Mannigfaltigkeit als etwas Nebensächliches, ja, Gleichgültiges; er liefert ein wenig genaues Bild von jener, er verkennt auch die Bedeutung der verschiedenen Angriffspunkte und Wege, welche sie dem Handeln gewährt. Die Fülle dieser Lebensgestalten deutlich zu zeichnen, war eine besondere Stärke der antiken Denkweise, es entsprach das ihrer Art, die Wirklichkeit als ein Reich geschlossener Formen zu verstehen und durchgängig scharfe Grenzen zu fordern. Gewiß hat sie dabei oft die Unterschiede zu starr gefaßt, gegenüber festen Typen Übergänge und Mischungen übersehen, das Werden und Wandeln der Erscheinungen mit seiner Flüssigkeit nicht genügend anerkannt, namentlich der Unendlichkeit des Individuums nicht ihr volles Recht gegeben. Aber es bleibt dabei, daß die Erfahrung recht verschiedene Bewegungen und Richtungen zeigt; die Mannigfaltigkeit kann aber als Hebel dienen, das Leben in vollen Fluß zu bringen und zugleich seine Beurteilung genauer und zutreffender zu machen, eine Abstumpfung dieser Unterschiede und Gegensätze ergibt leicht eine öde Gleichmacherei. Die alten Denker waren einig in der Unterscheidung einer edlen und einer gewöhnlichen, einer auf das Schöne und einer auf das Nützliche gerichteten Denkart; dort sollte das Handeln durch sich selbst gefallen, hier hatte es nur äußeren Zwecken zu dienen; aus der Seele jener Kultur sind die Worte des Aristoteles gesprochen: »Eines freien und großgesinnten Menschen Sache ist es, nicht das Nützliche, sondern das Schöne zu erstreben.« Eingehender hat der große Menschenkenner die Haupttypen des menschlichen Verhaltens geschildert und dabei fünf Hauptarten des Denkens und der Gesinnung geschieden: Große, Tüchtige, Ehr- und Machtliebende, auf Gewinn und Genuß Gerichtete, endlich eigentliche Verbrechernaturen; das gute Recht dieser Scheidung wird weiter bestätigt durch die Tatsache, daß die Überlieferung der katholischen Kirche sie im wesentlichen beibehalten hat; es steckt hier viel Lebenskunde und Lebenserfahrung, die dem bloßen Gleichheitsstreben fehlt.
Die Erwägung dieser Mannigfaltigkeit führt auch auf das Problem des Großen, das schon das Altertum, dann aber die Neuzeit sehr beschäftigte; die Alten dachten dabei namentlich an die volle Überlegenheit gegen das Schicksal und das menschliche Treiben, die Neueren mehr an das Vermögen ursprünglichen Schaffens. Beiden aber stand fest, daß das Große eine seltene Ausnahme ist, und daß es sich von der gewöhnlichen Art nicht quantitativ, sondern qualitativ unterscheidet; das aber ergibt ein eigentümliches Gesamtbild der Lebensbewegung. Echtes Schaffen bildet sich nicht als ein Niederschlag des Durchschnitts, sondern es zieht seine Hauptkraft aus der eigenen Seele und aus den geistigen Zusammenhängen des Lebens, es hat einen unablässigen Kampf gegen den stumpfen und trägen, dabei oft neidischen und bösartigen Durchschnitt zu führen; dieser Kampf ist voller herber Tragik, nicht die Individuen, sondern die Massen haben Sokrates und Jesus verurteilt. Die Großen waren, äußerlich betrachtet, seltene Ausnahmen, sie galten den anderen meist nur als wunderliche Schwärmer. In Wahrheit sind sie das Normale, die Voraussetzung eines Aufklimmens des Lebens zu einer höheren Stufe, nur sie halten die Sache des Geistes aufrecht, nur sie eröffnen neue Möglichkeiten und Fernsichten, nur an ihren Feuerseelen entzündet sich ursprüngliches Leben. Daß die Unzulänglichkeit überhaupt empfunden wird, und daß sie das gemeinsame Leben in irgendwelche Bewegung versetzt, das ist das Verdienst jener Höhen, welche den trüben Nebel des Durchschnitts überragen. So ist es grundverkehrt, Normales und Durchschnittliches als gleichbedeutend zu setzen. Dem Durchschnitt genügt die »Menschen und Göttern verhaßte Mittelmäßigkeit« (Goethe), gegen ihn sind Nietzsches Worte gerichtet: »In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selbst, in ferne Ferne will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten, darum braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Steigender! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.« Der Abstufung der Ziele entspricht eine Abstufung der Gesinnungen, es kann auch hier eine Welt zwischen den einzelnen Menschen liegen, und es können weite Abstände Höhen und Abgründe trennen. Durch das ganze Leben geht der Gegensatz einer nur anhängenden und einer selbsttätigen Geistigkeit, geht der Gegensatz eines Strebens, die Unendlichkeit des Lebens zu teilen und am Punkt das Ganze zu ergreifen, und eines anderen, möglichst rasch einen bequemen Gleichgewichtsstand zu erreichen. Dem einen ist die Arbeit eine lästige Notwendigkeit, das sinnliche und gesellschaftliche Dasein zu fristen, dem anderen wird sie zur Seele und Freude seines Lebens. So gewiß ferner der Sozialismus ein gutes Recht darin hatte, den Abstand zwischen körperlicher und geistiger Arbeit nicht zu überspannen, es bleibt ein großer Unterschied in der Sache, ob nur der materielle Besitz der Menschheit vermehrt oder das Reich geistigen Lebens erhöht wird. Punkt für Punkt ist eine Art des Strebens zu bekämpfen, das scheinbar einer ausgleichenden Gerechtigkeit dient, das tatsächlich aber leicht in eine Ungerechtigkeit gegen die Höhen ausläuft. Vergessen wir nicht, daß im Durchschnittsleben Neid und Scheelsucht unermüdlich im Werke sind, und daß um mit Goethe zu reden: »Der größte Neidhart in der Welt ist, wer jeden für seinesgleichen hält.« Mit Recht mahnte auch Aristoteles, nicht Gleiche ungleich, aber auch Ungleiche nicht gleich zu behandeln.
Wenn ferner der Sozialismus eine möglichste Gleichheit erstrebt, so ist gewiß seine löbliche Absicht, das Gesamtniveau zu heben, möglichst viele auf die Höhe des Lebens und der Bildung zu führen, ohne diese selbst zu mindern. Aber die Natur der Dinge ist hier stärker als die Absicht der Menschen. Unvermerkt wird der Stand der Aufnehmenden zum Maß der Bewegung, und es sinkt damit unvermeidlich der Stand des Ganzen; es ist unmöglich, dies Streben vornehmlich auf die Wirkung bei anderen zu richten, ohne damit am eigenen Gehalt einzubüßen; eine vorwiegend auf Mitteilung und Verbreiterung gerichtete Arbeit verfällt unfehlbar einer Verflachung. Urerzeugung und Mitteilung müssen in rechtem Verhältnisse zueinander stehen, die Führung aber gebührt der Urerzeugung.
4. Schließlich sei auch ein Widerspruch nicht übersehen, der die innerste Gesinnung des Gleichstrebens durchdringt. Es wird fortwährend von Gleichheit gesprochen, im Grunde aber will niemand bloß Gleichheit, er will vielmehr eine Überlegenheit, er will ein Mehrhaben, namentlich ein Mehr an Macht und Herrschaft. Die Bewegung zur Gleichheit pflegt aus dem Wunsch hervorzugehen, von der niederen Stufe zu einer höheren fortzuschreiten; es erwärmen sich für sie namentlich solche, die durch sie zu gewinnen hoffen. Ist aber diese Stufe erreicht, so treibt es unaufhaltsam weiter und weiter. Der Arbeiterstand sah zunächst sein Ziel darin, eine volle Gleichheit mit allen übrigen Staatsbürgern zu erreichen, jetzt genügt ihm nicht mehr die Gleichheit, sondern er will über die anderen herrschen, ja, es erscheint ihm als ein Unrecht, daß die anderen sich das nicht unbedingt gefallen lassen; schließlich bleibt nur die Diktatur des Proletariats, eine Diktatur ohne einen Diktator. Aber was wird aus dem Gleichheitsstreben, von dem die Bewegung ausging? Es wäre nur eine Gleichheit der Sklaverei.
5. Das Recht und die Bedeutung des Gleichheitsstrebens läßt sich nur in weltgeschichtlichen Zusammenhängen würdigen. Es ist, wie wir wiederholt sahen, nicht zum erstenmal, daß das Zurückgehen auf die dem Menschen innewohnende Vernunft das Leben fördern und stützen sollte; eine weitgehende Verwandtschaft zwischen der späteren Antike und der modernen Aufklärung ist unverkennbar; unter mannigfachen Kämpfen und Nöten flüchtete der Mensch zu sich selbst und fand er in kräftiger Selbstbesinnung einen festen Halt. Antike und moderne Art fielen freilich dabei nicht zusammen: jene war die Abendzeit einer reichen Kultur, die ihren Lauf im wesentlichen vollbracht hatte, die moderne Aufklärung dagegen fühlte sich als die Morgenröte einer mit Jugendkraft aufsteigenden Zeit. Die antike Art brauchte nicht mit einer überkommenen Kultur zu brechen, sondern sie hatte nur zu klären, zusammenzufassen, in den Besitz der ganzen Menschheit und des einzelnen zu verwandeln; die moderne Aufklärung dagegen fand eine unermeßliche Tatsächlichkeit vor, die neuen Bedürfnissen und Forderungen nicht entsprach, mit der energisch zu brechen unvermeidlich war. Ein endloser Wust hatte sich angehäuft, viel Abgelebtes erhielt sich weit über sein Recht hinaus, das menschliche Leben hatte sich in verschiedene Strömungen gespalten. Bei solchem Wirrwarr erschien der Menschheitsgedanke als die einzige Rettung; mit ihm aber erhob sich der Gleichheitsgedanke und gewann eine gewaltige Macht über die Seelen, er galt als eine große Befreiung, er hat tatsächlich Unermeßliches zur Verbesserung der Verhältnisse und zur Austreibung von Unvernunft und Aberglauben gewirkt. In diese Lage muß sich versetzen, wer die Aufklärung und die Macht des Gleichheitsgedankens vollauf würdigen möchte; ein solcher Gedankengang konnte Rousseau als den feiern, der »aus Christen Menschen macht« (Schiller); auch die Zeit unserer klassischen Literatur teilte zunächst den Einfluß dieser Bewegung. Dann aber kam die entgegengesetzte Strömung zum Historischen, Positiven, Individuellen; der Aufklärung mit ihrer Verstandesart müde, ersehnte man ein gesättigteres, farbigeres, ursprünglicheres Leben; man zog vielfachste Bereicherung aus der eigenen Geschichte und aus dem eigenen Volkstum, es kam die nationale Bewegung mit all ihren gewaltigen Leistungen, freilich auch mit ihren Gefahren. Die nationale Idee hatte zunächst einen überwiegend geistigen Charakter, die Frage der Macht, der wirtschaftlichen Ausdehnung usw. stand einstweilen im Hintergrunde. Ein Fichte war geneigt, die Deutschen möglichst auf den eigenen Kreis zu beschränken, aller Welthandel erschien ihm gefährlich, und das Fehlen von Kolonien begrüßte er als einen Vorteil. Auch der Panslawismus trug zunächst einen rein literarischen Charakter. Das konnte nicht dauernd bleiben, der Aufbau des Lebens forderte mehr Berührung mit dem sinnlichen Dasein; das trieb die Bewegung in die Bahnen des Realismus, damit aber auch in die der Interessen und Kämpfe, der alte Idealismus verblich, der Gedanke an Macht und Größe packte die Völker mit dämonischem Zwange, aus dem friedlichen Zusammenleben erwuchs ein harter Wettbewerb, ja, schließlich ein erbitterter Weltkrieg, wie wir ihn unmittelbar erlebten. Als Rückschlag dagegen hat der Menschheitsgedanke und das Gleichheitsstreben neue Macht gewonnen, das wirtschaftliche Streben des aufsteigenden Arbeiterstandes hat das unterstützt, der Gedanke der Menschenverbrüderung suchte sich neue Geltung zu verschaffen.
Das alles hat aber eine chaotische Lage ergeben, aus der uns nur überlegene geistige Kraft befreien kann. Einerseits erfahren wir ein Neubeleben der Aufklärung, deren nüchterne Verständigkeit und Zweckmäßigkeit doch nach den großen inneren Wandlungen und bei durchgehender Bereicherung des Wirklichkeitsbildes uns nicht genügen kann, andererseits sehen wir uns vom Positiven, Individuellen, Tatsächlichen festgehalten, das uns keine leitenden Ziele gewährt. Der Sozialismus geht mit der Aufklärung und mit ihrer Gleichheitstendenz, er hat recht, insofern er den Grundgedanken einer Gesamtheit gegenüber dem Gegensatz der Nationen verficht, er hat unrecht, insofern er diesen Gedanken alle Besonderheit, alle geschichtliche Leistung, alle individuelle Entwicklung unterdrücken läßt und dem Menschengedanken keinen ausgeprägten Inhalt zu gewähren vermag. So zerreibt uns heute der Gegensatz einer wurzellosen Aufklärung und eines naturalistischen Positivismus. Nur ein idealistischer Positivismus, der dem Menschheitsgedanken einen lebensvolleren Inhalt und ein allumfassendes Ziel verspricht, der dabei in die Fülle der Gestaltungen einzugehen vermag, kann diesen lähmenden Zwiespalt überwinden.
Die sozialistische Lebensgestaltung aber ist nicht fähig, dies Problem zu lösen, sie ist es schon deshalb nicht, weil sie keine selbständige Geisteswelt anerkennt und demnach ganz und gar in das Daseinsleben aufgehen muß. So gewährt die von ihr gebotene Lebensgestaltung mit ihrem Gleichheitsstreben ein viel zu abstraktes und flaches Lebensbild. So vor allem beim Menschenbegriff selbst; auch dieser muß auf Grund einer Tatwelt einen individuellen Charakter annehmen. Daß sich auf diesem besonderen Planeten Erde eine unbegrenzte Zahl von Wesen findet, die eine gewisse Eigentümlichkeit gegenüber uns nahestehenden Tieren besitzen, das langt nicht aus, um diesem Begriffe eine Hochachtung und Verehrung zu zollen. Vor allem muß anerkannt werden, daß unter einer durchgreifenden Umwälzung des Lebens in diesem Bereich eine Tatwelt erscheint und eine große Weiterbildung bringt; ferner haben wir die besondere Art und auch die besonderen Erfahrungen dieses Bereiches zu würdigen, wir müssen anerkennen, daß hier zwei Lebensstufen zusammentreffen, und daß aus diesem Zusammentreffen schwere Probleme hervorgehen, aber auch Einblicke in weitere Tiefen möglich werden; auf solche Grundlagen und solche Aufgaben ist alles aufzutragen, was die nähere Erfahrung des menschlichen Kreises an geschichtlicher Entwicklung bietet; der abstrakte Menschheitsgedanke scheitert an diesen Problemen. Mit dem bloßen Ausspinnen dieses Gedankens entspricht der Sozialismus weder dem Reichtum der Wirklichkeit, noch der weltgeschichtlichen Lage der Menschheit.
Ähnlich steht es bei dem Verhältnis von Menschheit und Welt. Die Nation ist nicht nur eine Anhäufung oder ein Nebeneinander von verschiedenen Menschen, die eine gemeinsame Landesgrenze umschließt, sondern sie fordert einen inneren Zusammenhang und ein gemeinsames Leben des Ganzen; reichste Quellen bleiben ungenutzt, wenn ein solcher Zusammenhang fehlt. Gedenken wir hier der Worte Schleiermachers: »Nur wer die Bestimmung des eigenen Volkes kennt, wird die rechte Freude haben an der Sache der Menschheit«, »Ein Volk ist ein ausdauerndes Gewächs in dem Garten Gottes; es überlebt manchen traurigen Winter, der es seiner Zierden beraubt, und oft wiederholt es seine Blüten und Früchte!« So ist allerdings ein Übernationales zu verlangen, aber zugleich aller bloßer Internationalismus zu verwerfen, der alles Charakteristische der Völker aufgibt, und der wohl gar in solcher Blutleere des Lebens eine Größe sucht.
Diese abstrakte Denkweise mit ihrer Gleichmacherei erstreckt sich hier aber in alle Verzweigung und Gliederung der Gemeinschaft, sie hat keinen Sinn für die Bildung selbständiger Lebenskreise, so duldet sie kein kräftiges Bürgertum und sieht sie in ihm nur eine Summe beliebiger Menschen, die keine eigentümliche Geschichte und keine besonderen Aufgaben besitzen; schließlich siegt hier die Quantität über die Qualität; alles Individuelle, alles Unmittelbare, alles Ursprüngliche wird gleichgültig. So kommen wir immer wieder auf den Gedanken zurück, daß eine wesentliche Gleichheit nur aus geistigen Zusammenhängen hervorgehen kann, daß aber eine naturalistische Gleichheit einen Widerspruch in sich selbst trägt.
In der Sozialisierung erreicht die sozialistische Lebensgestaltung ihre Höhe, das Technische der wirtschaftlichen Arbeit und der Grundzug der Überzeugung verbinden sich dabei eng. Die moderne Wendung zum souveränen Individuum hat einen starken Rückschlag erfahren, die Lebensbewegung drängt eifrig dahin, ein überlegenes Ganzes zur Geltung und Wirkung zu bringen; das ergreift auch die Stimmung der einzelnen, gegenüber ungeheueren Erschütterungen fühlt sich der Mensch leicht als wehrlos und verlassen. Das wirtschaftliche Gebiet aber wird durch seine schroffen Gegensätze besonders stark dadurch betroffen, kein Wunder, daß der Gedanke eines festeren Zusammenschlusses der zerstreuten und vielfach einander widerstrebenden Kräfte eine wachsende Macht ausübt, im besonderen ist es das Selbständigwerden des Arbeiterstandes, welches das gemeinsame Leben in neue Bahnen treibt und eine Hebung der ganzen Menschheit verspricht. Eine große Bewegung nach dieser Richtung ist unverkennbar.
Aber es müßte wunderlich zugehen, wenn eine Wendung, welche die Gemüter so stürmisch fortreißt, mühelos ein volles Gleichgewicht mit den anderen Aufgaben fände. Die Gefahr einer Verengung liegt dabei nahe, nicht minder droht die, die große und notwendige Sache einer besonderen Partei zu unterwerfen und damit ihren Vernunftcharakter zu gefährden. Diese Gefahren wollen nacheinander betrachtet werden.
1. Vor allem liegt ein großer Widerspruch im Grundgedanken vor. Die Bewegung zur Sozialisierung soll vom Ganzen zum einzelnen gehen, nur vom Ganzen wird entscheidende Hilfe und Rettung erwartet. Daß aber die sozialistische Gedankenwelt hier innerlich auseinanderfällt, das wurde schon früher erörtert. Eine Verbindung, wie die Sozialisierung sie erstrebt, kann nicht von den Elementen und aus ihrer Zusammensetzung, sondern nur von einem selbständigen Ganzen ausgehen; fehlt ein solches Ganzes, so entbehrt die Bewegung einer festen Grundlage, so muß der Aufbau zusammenstürzen. Die sozialistische Lebensgestaltung aber kennt kein Leben von innen und vom Ganzen her, so hat der erstrebte Zusammenschluß keine Seele und das Unternehmen keinen Hintergrund; alles Wirken bleibt an die Oberfläche gebannt, es entbehrt erhöhender geistiger Mächte, welche das Durcheinander der Elemente überwinden könnten. An diesem Widerspruch muß alles scheitern, was in jener Richtung vorgeht, es mag einen leidlichen Schein eines Zusammenhanges liefern, aber es kann dem Zusammenhang keine volle Wirklichkeit verleihen. So fallen an dieser Stelle Weltanschauung und gesellschaftliches Streben schroff auseinander.
2. Die sozialistische Lebensanschauung neigt dahin, das Wirken des Individuums als gleichgültig zu betrachten und es als einen Ausfluß niederer Selbstsucht zu verstehen. In Wahrheit ist das Vermögen des Individuums nicht nur notwendig für die physische Selbsterhaltung, und auch nicht bloß zur Anspornung der Kräfte im Kampf des Lebens, es ist auch unentbehrlich, um das Seelenleben voll zu entwickeln, es eigentümlich zu gestalten, aus ihm einen selbständigen Bereich zu bilden; nur damit wird es ein lebendiges Glied der Wirklichkeit. Ja, eine geistige Individualität darf als eine ursprüngliche Quelle unbegrenzten Lebens gelten; sie besitzt unmittelbar bei sich selbst einen Wert. Mit gutem Recht meinte Aristoteles, nichts versetze den Menschen mehr in volle Tätigkeit als ein eigener Besitz und der Gegenstand seiner Liebe. Adam Smiths Ableitung alles Strebens aus den Zwecken des Individuums war sicherlich unzulänglich, aber dessen Vermögen, alle Kräfte zu wecken und zu schärfen, war wohl begründet. Den Wetteifer zu veredeln und zu einem starken Antriebe nicht bloß des Nützlichen, sondern auch des Schönen zu erheben, war ein Hauptstreben der antiken Welt, das auch unsere Erziehung nicht aufgeben kann. Kann aber die Sozialisierung diese Antriebe des Lebens voll ausnutzen, wird sie nicht die Leistung verringern, wird sie nicht die freie Bewegung der Individuen hemmen, sowie die Freudigkeit ihrer Arbeit schädigen?
3. Die Sozialisierung vertraut der Kraft und dem Recht der von ihr vertretenen wirtschaftlichen Ordnung, sie erwartet, daß diese alles an sich ziehe, was den Zusammenhang der Arbeit und die Eintracht der Gemüter fördert. Auch hat sie ein gutes Recht, die ältere Art des Idealismus abzulehnen, die nur der guten Gesinnung der einzelnen Individuen vertraut; gegenüber den ungeheuren Gefahren und Mißständen der Gegenwart genügt diese Hilfe nicht, sicherlich bedarf es dafür energischer Weiterbildungen des gemeinsamen Lebens. Aber andererseits genügen auch keine greifbaren Gesetze und Einrichtungen, um den Kern des Menschen zu bewegen und die tiefste Seele für höhere Ziele zu gewinnen. Es müssen zusammenhaltende geistige Mächte belebt werden, es gilt, den ganzen und inneren Menschen einer höheren Stufe zuzuführen; Gedankenwelten und Gemütslagen müssen zusammenwirken, um eine innere Umwälzung zu bewirken und dem kleinen Selbst der Natur ein größeres Selbst des Geistes entgegenzusetzen. Auch bei diesen Problemen empfinden wir beim Sozialismus schmerzlich das Zusammenwerfen von höherer und niederer Art, von Geist und Natur; bei seiner Vermengung finden sich die höheren Züge nicht zusammen und wirken sie nicht aus der Kraft einer gemeinsamen Welt. Als Beispiel diene dabei der Unterschied einer niederen und einer höheren Art in Mitleid und Liebe. Das Mitleid als natürlicher Affekt hat keinen erheblichen moralischen Wert, mit Recht haben Denker wie z. B. Kant die gewöhnliche Art des Mitleides als zufällig und nebensächlich bezeichnet; jede Betrachtung der großen indischen Religionen aber zeigt, wie andersartig das dort gebotene Mitleid ist, wie es von einem besonderen Verhältnis zum Alleben getragen wird und aus der Entwicklung dieses Verhältnisses große Antriebe gewinnt. Ähnlich steht es beim Christentum. Was gewöhnlich Liebe heißt, verquickt sich meist eng mit einem niederen Naturtriebe und wirkt wenig zum Ganzen des Lebens; die Liebe aber, die im besonderen Sinne christlich heißt, wurzelt in der Macht eines schaffenden Weltwillens, der mit erhöhendem Wirken die Wesen durchdringt und miteinander innig verbindet. Fehlt einem menschlichen Streben und Handeln ein derartiges zusammenhaltendes und erhöhendes Band, so können alle Gesetze und Einrichtungen nicht ein Flachwerden, eine Veräußerlichung der Sache verhüten; so schätzbar und unentbehrlich die Leistung der sichtbaren Welt sein mag, nur im Zusammenhang mit einer unsichtbaren kann sie ihr eigenes Ziel erreichen. Der Sozialismus mit seiner Verneinung der Religion und seiner Herabsetzung der Religion zu einer bloßen Privatsache ist besonders ungeeignet, den von dort ausgehenden Anregungen und Aufforderungen zu folgen und ein selbständiges Innenleben auszubilden. Mag demnach das Sozialisierungsstreben die Menschen äußerlich leidlich zusammenhalten, es kann sie nicht mit dem Geist der Liebe erfüllen und sie dadurch fest verbinden.
4. weiter aber stellt der Sozialismus das verwickelte Gewebe des menschlichen Lebens viel zu eng und summarisch dar, er verschließt sich den vielfachen Unterschieden und Gegensätzen, welche durch das Leben gehen und deren Wechselwirkungen zu seinem vollen Gelingen unentbehrlich sind. Betrachten wir die Hauptrichtungen dieser Bewegung.
á) Das Leben behandelt den Menschen nicht als ein beliebiges Stück einer zusammenhängenden Masse, sondern es fordert für seine Entwicklung ein Auseinandertreten, eine genügende Distanz, eine Diskretheit. Es gilt einen eigenen Kreis abzustecken, es gilt nicht nur zu verbinden, sondern auch zu scheiden. So sagte mit Recht Goethe: »Jedes Lebendige bildet um sich eine Atmosphäre« und »Eigentümlichkeit ruft Eigentümlichkeit hervor«. Ein Zusammenwirken von Anziehen und Abstößen ergibt dabei einen eigentümlichen Begriff der Vornehmheit, der mit einem Standesbewußtsein nicht das mindeste zu tun hat, der zur Ausprägung des Lebens unentbehrlich ist. Aus einer niederen Art dagegen ist es, die Lebensströme unmittelbar zu verschmelzen. Dem widersprach von altersher die Überzeugung leitender Denker, mit Recht erachtete Aristoteles ein unselbständiges Hangen an anderen Menschen, ein bloßes Mitgehen, als Zeichen eines geringen Menschen. Namentlich die Höhe des deutschen Humanismus hat sich dessen energisch erwehrt und mit großer Kraft selbständige Lebenskreise ausgebildet. Hier hieß es: »Sei dir selbst alles, oder du bist nichts« (Fichte). Diese Diskretheit und Individualität des Lebens läßt sich überspannen, wie es öfter von Romantikern geschah, aber sie ist zum Gelingen eines selbständigen Schaffens nicht zu entbehren. Das Sozialisierungsstreben hat dafür keinen Platz.
â) Der Verlauf unserer Erörterung führte auf das Verhältnis des Individuums zur sozialen Umgebung und damit auf das Problem der Massenpsychologie. Dies Problem ist seit Jahrtausenden zu viel erörtert, um einer näheren Behandlung zu bedürfen; so seien hier nur einige Punkte hervorgehoben, an denen der Sozialismus mit den Forderungen der Philosophie zusammenstößt. Er beruft sich gern auf eine Summierung der Vernunft und auf die Bedeutung der »öffentlichen Meinung«, er verkennt aber, daß nicht sowohl der Glaube an eine Vernunft der Menge als ein solcher an eine im menschlichen Bereiche wirksame Geistigkeit jene Schätzung rechtfertigt. Erst die Berührung mit einer geistigen Forderung der weltgeschichtlichen Lage gibt jener Meinung ein gutes Recht und eine Überlegenheit gegen schwankende Stimmungen, aus eigner Kraft hat sie nicht die mindeste Gewähr der Wahrheit.
Die Summierung der Meinungen begründet nicht eine Vernunft, mit Recht hat Tocqueville, dieser ausgezeichnete Menschenkenner, gesagt, daß die Leidenschaften mit der Zahl der Individuen zu wachsen pflegen, welche sie teilen, und daß die Mehrheit sich in einer fortwährenden Selbstvergötterung befindet. Merkwürdig ist nur, daß trotz der Erfahrung der Jahrtausende die Sache stets in Fluß bleibt; jedes Urteil jener Meinung gibt sich als eine unbestreitbare Wahrheit. Namentlich neigt jene dazu, besondere Verfassungen, weil sie gewissen Strömungen entsprechen, als bleibende Forderungen des Menschenlebens zu behandeln. Daß z. B. die Demokratie nur besonderen Lagen und Aufgaben des Staatswesens entspricht, das hat schon Plato mit überzeugender Klarheit dargetan, immer von neuem aber betrachten zahllose Menschen sie als der politischen Weisheit Schluß, und möchten sie ihr alles weitere Leben unterwerfen.
Hegel hatte fürwahr gutes Recht mit seiner Behauptung, aus der Geschichte lasse sich nichts anderes lernen, als daß weder Fürsten noch Völker aus ihr je etwas gelernt haben.
Das Verhältnis des gesellschaftlichen Durchschnitts zu den großen Persönlichkeiten des weltgeschichtlichen Lebens hat uns schon früher beschäftigt, sie sind keineswegs nur ein Sprachrohr ihrer Umgebung, sie sind nicht bloße Zusammenfassungen des gemeinsamen Lebens, sondern sie vollziehen eingreifende Erhöhungen und Weiterbildungen, sie bringen eine Wendung von unsicherem Schwanken zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu einer festen und durchgebildeten Wirklichkeit. So durfte Hegel nicht sagen: »Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit.« Denn erstens erschöpft sich die Leistung des Großen nicht in einem Bewußtmachen eines Lebensinhalts, wie der Intellektualismus meint, sodann aber bleibt die Frage ohne Antwort, worin das Wollen der Zeit bestehe und ob eine Zeit als Ganzes überhaupt ein Wollen besitze; wird sie nicht gewöhnlich von dunklen und verworrenen Antrieben beherrscht, wenn nicht einzelne hervorragende Persönlichkeiten der Unsicherheit Grenzen setzen und der Umgebung deutliche Ziele geben?
ã) Endlich hat das Individuum nicht nur innerhalb der Gesellschaft zu tun, es kann auch ihrem Ganzen entgegentreten und einen harten Kampf damit wagen. Das geschieht namentlich, wenn der Gesamtstand der Menschheit dem Leben, das auf besonderen Höhen entsteht und von ihnen ausstrahlt, nicht mehr genügt, wenn eine innere Erhöhung, ja Umwälzung zur Notwendigkeit wird. Es geschieht das aber aus der Überzeugung, daß freilich in der Menschheit eine selbsttätige Geistigkeit wirkt, daß diese aber im gewöhnlichen Verlauf der Dinge an manche Bedingungen der Natur und der Gesellschaft gebunden bleibt, und daß es nur auf der höchsten Höhe gelingt, eine vollauf selbständige und überwindende Geistigkeit zu erreichen und damit dem Leben einen festen Halt und einen unbedingten Wert zu verleihen. Damit erwuchs eine volle Weltüberlegenheit geistigen Schaffens, innerer Offenbarungen, wie die großen Religionsbegründer, aber auch große Künstler und Denker in der Art eines Plato zeigten; hier gilt es nicht, nur innerhalb der Menschheit etwas Tüchtiges zu leisten, sondern es gilt aus dem Menschen Größeres zu machen. Das war die Sache solcher Persönlichkeiten, die fest und sicher in geistigen Zusammenhängen standen, nur solchen war es beschieden, in der Ablösung von der Gesellschaft die Höhe des eigenen Wesens zu gewinnen und damit dem schaffenden Leben ein volles Beisichselbstsein zu geben, nur hier konnte tiefe Einsamkeit sich einer inneren Verbundenheit mit dem Ganzen des Lebens verbinden, nur hier wurde ein Kampf gegen das bloße Menschentum möglich, der selbst bei äußerem Unterliegen siegreich war. Das erst hob das Leben völlig über die Sphäre des Nützlichen, auch des Gemeinnützigen, und machte aus dem Nutzen einen Segen; dabei dürfen wir auch des Kantischen Wortes gedenken: »Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden.« Daß der Sozialismus mit seiner Nützlichkeitstendenz solche Probleme nicht kennt, deren doch das Ganze der Menschheit unbedingt bedarf, das zeigt deutlich bei ihm eine unübersteigbare Schranke.
5. Der Sozialismus hat bestes Recht, den Begriff des Ganzen voranzustellen und einen Zerfall der Gemeinschaft in Atome abzuweisen, aber er verengt den Begriff des Ganzen in unzulässiger Art und zerklüftet damit die Menschheit schroff. Er möchte die ganze Menschheit vertreten; er tut das sicherlich oft aus voller Überzeugung. Über sein Gleichsetzen einer besonderen Partei mit dem Ganzen der Gemeinschaft muß ungeheure Mißstände erzeugen; jenes aber geschieht durchgängig in den Kreisen des Sozialismus. Die Partei verschlingt hier die Menschheit und erschleicht die Stellung, die lediglich ihrem Ganzen gebührt. Damit wird die Menschheit bei sich selbst geschieden und zerrissen in einer Weise, die ein Gegenstück lediglich in dem kirchlichen Fanatismus hat, der jene in Gläubige und Ungläubige zerlegt und alles Andersartige verketzert; der Glaube wird zu einem parteiglauben, der nur ein Bekenntnis zu einem Parteiprogramm kennt. Bei schroffer Fassung kennt diese Bewegung Recht, Freiheit, Wahrheit, gute Gesinnung lediglich auf der eigenen Seite, für die übrigen, die »große reaktionäre Masse«, bleibt nur das volle Gegenstück. Alle Verhältnisse werden auf ein schroffes Entweder-Oder gestellt, alles vermittelnde und verbindende verbannt, der ganze Menschenkreis in Freund und Feind, in Arbeiter und Drohnen, in Proletarier und Kapitalisten zerlegt. In dieser Gedankenwelt wird auch das Individuum von früher Jugend her in eine geschlossene Weltanschauung eingesponnen, die keine offenen Probleme kennt. Für das Ganze der Menschheit bedeutet ein solcher Zerfall in getrennte und unversöhnliche Welten eine ungeheure Schädigung. Wieviel Nachteile dem Staatsleben aus einer solchen Parteibehandlung, aus einer Ersetzung der Staatsbürger durch Parteigenossen entstehen muß, das erfahren wir Deutschen schon jetzt recht unliebsam, schließlich müssen sich alle Einrichtungen und Anordnungen den Interessen der Fabrikarbeiter anpassen, und muß alle Freiheit dem Machtgedanken weichen. Einer echten Freiheit ist wesentlich das vermögen, sich in andere Denkweisen versetzen zu können und mit ihnen unbefangen zu verkehren, statt nur an den eigenen Kreis gebannt zu bleiben. Die tiefste Wurzel solches Verfahrens ist der Mangel eines umfassenden und erhöhenden Lebenszieles des ganzen Menschen, ist das Unvermögen, sich über den Streit der Menschen in eine sachliche Wahrheit zu versetzen und ihr über die Interessen des bloßen Menschen hinaus zu dienen; bei solchem Mangel ist ein gänzliches Zerfallen in Parteien unvermeidlich, alles Bemühen für eine Sozialisierung kann dann ein Auseinandergehen der Menschen nicht verhüten.
6. Endlich enthält die nähere Art der im deutschen Leben gebotenen Gestaltung schroffe Gegensätze, vor allem liegt ein Widerspruch im Grundbegriff der Sozialdemokratie, sie verfolgt einander direkt widerstreitende Bewegungsrichtungen. Demokratie und Sozialismus sind zu verschieden, um unmittelbar Zusammengehen zu können, das eine muß vor dem anderen stehen. Die moderne Welt folgte dem Hauptgedanken, das Leben von den einzelnen Punkten her zu entwickeln und alle Zusammenhänge auf ihr eigenes Wollen und Wirken zu gründen; seine deutlichste Ausprägung gab ihm der Freiheit- und Rechtsstaat der Aufklärung, der die Grenzen der Gemeinschaft möglichst eng zog und alles Heil von der freien Betätigung der Individuen erwartete. Das verlieh der demokratischen Bewegung die Führung; viel Schätzbares ist daraus hervorgegangen. Der Sozialismus dagegen huldigt unbedingt der Idee des Ganzen, sein Grundgedanke ist nicht die Freiheit der Individuen, sondern das Gesamtwohl, die Wohlfahrt des Ganzen; der einzelne hat mit seinen Zwecken sich hier unbedingt jenem Gesamtwohl unterzuordnen, er hat in ihm nicht nur sein Maß, sondern auch die Richtung seines Strebens zu finden. Irgendwelche Verständigung und Ausgleichung jener Bewegungen ist unabweisbar, die Freiheit der einzelnen und die Einheit des Ganzen sind beide unerläßlich für das geistige Bestehen der Menschheit. Aber sie können auf der Fläche des Daseins nicht unmittelbar Zusammengehen und sich ineinander zusammenschieben, ihre Verbindung wird nur möglich bei einer wesentlichen Erhöhung, ja Umwälzung der Menschheit wie ihres Zusammenseins. Die Sozialdemokratie als Partei aber nimmt keinen Anstoß an diesem Durcheinander, ihre beiden Strömungen können sich nicht entwickeln, ohne sich gegenseitig zu durchkreuzen und zu hemmen, ein einheitliches Gesellschaftsgefüge ist hier bei folgerichtigem Denken unmöglich, diese Folgerichtigkeit ergibt aber schroffe Zusammenstöße auch für Leben und Staat. Wie tief das in das Leben greift, das zeigt zum Beispiel die Behandlung der Streikfrage. Von der demokratischen Denkweise aus erscheint der Streik als ein unbedingtes und unbegrenztes Grundrecht des Staatsbürgers, das alle Einschränkung verbietet; ob seine jeweilige Ausübung zum Vorteil der Beteiligten dient, ja, wieweit ein Streik das ganze Wirtschaftsleben der Gesellschaft schädigt, das ist vom demokratischen Standpunkt aus lediglich die Sache der Einsicht und des guten Willens der einzelnen; sie allein haben die Sache zu verantworten, wer demgegenüber das Wohl des Ganzen und die ihm drohende Schädigung zur Hauptsache macht, der kann nicht eine unbegrenzte Freiheit und ein unbedingtes Verfügungsrecht des einzelnen gestatten, der muß auf irgendwelche gesetzlichen Mittel und Wege sinnen, um jene Schädigung ungefährlich zu machen, der stellt die sozialistische Idee über die demokratische. So verbleibt ein schroffer Widerspruch. Siegt die demokratische Strömung, so kann der Sozialismus sich nur mit einer bescheidenen Rolle begnügen; siegt die sozialistische, so muß die Demokratie sich ihr anpassen. Die heutige Sozialdemokratie aber befindet sich in einer unhaltbaren Mittelstellung, sie steht aus einer schiefen Ebene: entweder eine Freiheit, welche das Zusammenleben in lauter einzelne Atome auflöst und das Staatsgefüge zerstört, oder eine Herrschaft des Ganzen, die konsequent verfolgt in einen vollen Kommunismus hineingleitet, zugleich aber alle Freiheit preisgibt. Ein solcher Widerspruch der Sache kann sich zeitweilig mit einem notdürftigen Kompromiß behelfen, aber er kann kein gemeinsames wollen und keinen festen Aufbau des Ganzen erzeugen. Im Grunde ist weder für einen Begriff des Ganzen noch für einen der Freiheit ein Platz in einer Ordnung, welche sich lediglich an das Dasein und an die Erfahrung bindet, die Wirklichkeit bedarf größerer Weite und Ursprünglichkeit, als sie hier möglich wird; nur damit kann jener Gegensatz ausgeglichen werden.
Bei den Deutschen erreicht die Verwicklung einen noch höheren Grad durch das Zusammentreffen drei politischer Hauptrichtungen, die nur das parlamentarische System leidlich zusammenhält. Eine nähere Kritik dieses Systems liegt uns fern; darüber aber kann kein Zweifel sein, daß es in England besondere Bedingungen hatte, und daß es dort vieles geleistet hat, daß dagegen seine unbedingte Erhebung zum Normaltypus alles Verfassungslebens schwerste Bedenken hat. In Deutschland im besonderen gesellt sich zu dem Unterschied von Sozialdemokratie und Demokratie der politische Katholizismus, wie ihn die Zentrumspartei vertritt. Der weite Abstand der leitenden Lebensideale ist handgreiflich, ihre Lebensgestaltungen, nicht bloß ihre Lebensanschauungen, gehen bis zum vollen Gegensatz auseinander. Das Verhältnis zur Religion zeigt das besonders deutlich: die Sozialdemokratie verhält sich gleichgültig, wenn nicht feindlich, zur Religion, die sie beherrschende Wirklichkeit ist durchaus diesseitiger Art, sie kann die Religion höchstens dulden, nicht aber ihr einen selbständigen Wert beilegen; die Demokratie kann aus dem Individuum als einem zur Freiheit berufenen Wesen ganz wohl auch eine geistige Welt entwickeln, aber sie stellt dies Wesen auf seine eigene Kraft und verwirft alle Unterordnung; der Katholizismus stellt die sichtbare Welt unter die Macht einer unsichtbaren und bindet den einzelnen fest an eine sichtbare Ordnung, wie die Kirche sie bildet; so streben alle drei Staatsordnungen innerlich auseinander und gegeneinander. Ein leidliches Zusammengehen wird nur möglich, wenn jeder auf dem politischen Gebiete seine Grundüberzeugungen zurückstellt, wenn er nach Art der Sozialdemokratie (»Religion ist Privatsache«) die Gesinnung als eine private Sache behandelt. Für den Katholiken aber ist eine ausgemachte Sache, daß die Religion alles eher als eine Privatsache bedeutet. Wie kann bei solcher Zurückstellung jener letzten Überzeugungen und Ziele ein Gemeinwesen gedeihen, muß es sich nicht in ein Nebeneinander einzelner Maßregeln auflösen, die kein inneres Band zusammenhält, kann daraus ein zusammenhaltender Wille entstehen, und wird nicht das Staatswesen bei solchem Mangel unfehlbar der Macht der Partei und ihrer augenblicklichen Strömungen verfallen? Je mehr die Konsequenzen einer solchen Lage hervortreten, um so mehr muß das Staatswesen sinken, desto lockerer muß sein inneres Gefüge werden, desto weniger ethisch erhöhende Mächte werden daraus hervorgehen.
So erhellt, daß der Gedanke der Sozialisierung voller Verwicklungen ist und daß er immer tiefer in diese hineingerät, je mehr er in das Lebensgefüge eingeht. Ein großer, ein unabweisbarer Gedanke ist vorhanden, aber der Sozialismus kann ihn nicht ausführen, sein Maß ist zu eng; indem er sich lediglich an die sichtbare Welt hält, verfällt er unter die Macht der Parteien und vergißt er den ganzen Menschen. Ja, die Erfahrung zeigt mit voller Deutlichkeit, daß er selbst immer mehr in Zwist im eigenen Lager gerät, sobald er den Grundgedanken näher zu fassen sucht; aus der alten Partei wachsen neue und neue Parteien hervor, die bloße Reflexion des Menschen erweist sich unfähig, die Geister zu bannen, die sie hervorrief; jede besondere Art des Ganzen fühlt sich überlegen, solange sie in der Opposition verbleibt; sucht sie aber einen Übergang zum Schaffen, so wird sie leicht durch eine neue Opposition abgelöst. So droht ein ungeheures Chaos, bis schließlich das Machtgebot irgendwelcher starken Persönlichkeit der Verwirrung und Auflösung halt gebietet. Was aber wird dann aus der inneren Einheit der Menschheit und aus einem Reich des Friedens und der Liebe? An Problemen fehlt es bei der Sozialisierung wahrlich nicht, wohl aber fehlt die Kraft zur Lösung.
Beim Ökonomismus handelte es sich um die Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens für die Menschheit; große Veränderungen gegen die alte Art waren dabei unverkennbar. Jene, wissenschaftlich vor allem durch die Lehre des Aristoteles bestimmte Art hing eng mit einer Gliederung der Gesellschaft zusammen, über die uns der Lauf der weltgeschichtlichen Bewegung hinausgeführt hat. Die Schätzung der geistigen Güter, welche jene Lehre beherrschte, war bedingt durch das Bestehen eines Sklaventums; nur indem der größere Teil der Menschheit in eine dienende Stellung verwiesen wurde, konnte die Sorge für die materiellen Lebensbedingungen als nebensächlich gelten. Die Sache erhält ein völlig anderes Licht, wenn die Unterworfenen selbständig werden, wenn die Bewegung nicht sowohl von oben nach unten, sondern von unten nach oben geht, und wenn damit wesentlich neue Ansprüche auftreten. Das Anschwellen dieser Frage gibt der wirtschaftlichen Erhaltung eine hervorragende Stellung, es muß zur Verlegung des Schwerpunktes des gemeinsamen Lebens wirken; nunmehr darf es nicht mehr als ein Zeugnis idealer Denkart gelten, jene Frage gering zu schätzen.
Ferner erschien die ältere Art als zu stabil und als wesentlichen Umwandlungen unzugänglich; die neue dagegen strebt danach, Menschen wie Verhältnisse in vollen Fluß zu bringen und aller Begrenzung den Gedanken eines unbegrenzten Fortschrittes entgegenzusetzen; das stärkte das Selbstbewußtsein des Menschen und gab seinem Handeln mehr Zuversicht. Neue Möglichkeiten erschienen, die Theorie ergriff die Führung der Dinge, neue Kräfte wurden aufgeboten.
Endlich hat die Wendung zur Technik und zum Fabrikbetrieb den Charakter der wirtschaftlichen Arbeit von Grund aus verändert, sie erzeugte ungeheure Probleme, deren Bewältigung der Gegenwart und Zukunft obliegt. Was in dieser Richtung geschieht; das scheint über das Geschick der Menschheit zu entscheiden; so befinden wir uns in einer höchst gespannten Lage, und es ist begreiflich, daß ihre Lösung alle Kräfte aufruft. Die sozialistische Lebensgestaltung aber suchte bei der Schätzung der Güter das Geistige und das Materielle, das Sinnliche und das Unsinnliche, in die gleiche Linie zu bringen, sie hoffte damit dem Leben mehr Kraft und mehr Zusammenhang geben zu können.
Dieser Fassung des Verhältnisses vom Sinnlichen und Geistigen aber haben wir zu widersprechen. Gewiß hat der Sozialismus gutes Recht, die wirtschaftlichen Güter nicht als bloße Mittel und Werkzeuge zu behandeln, sondern ihnen einen selbständigen wert beizumessen; sie wirken auf den gesamten Lebensprozeß zurück, sie liefern neue Kräfte, Anregungen, Ziele. Aber dies anerkennen heißt keineswegs Ideelles und Materielles in dieselbe Linie bringen und in eins zusammenwerfen. Es geht einmal durch unser ganzes Leben und Tun der große Gegensatz von Dasein und Tatwelt, von anhängender und selbsttätiger Geistigkeit; eine völlige Gleichsetzung ist hier ausgeschlossen, das eine muß führen, das andere folgen. Darin nun liegt die Grenze des Sozialismus, daß er mit seinem Ökonomismus keine selbsttätige Geistigkeit kennt und diese nur als eine Zutat des sinnlichen Daseins behandelt; ihm muß demgemäß auch bei tüchtigster subjektiver Gesinnung das materielle Gedeihen das Hauptziel bedeuten, es müssen dann auch die Größen und Güter fallen, die eine geistige Selbsttätigkeit fordern, ebensowenig können hier selbständige Zusammenhänge entstehen. Damit stoßen wir auf den Grundfehler des hier gebotenen naturalistischen Monismus. Er betrachtet das Seelenleben lediglich als ein Vorgehen an den einzelnen Individuen, er kennt keine Verbindung zu einem gemeinsamen Leben, hält er bei solcher Denkweise sich nur an die einzelnen Individuen, so kann er mit gutem Recht darauf hinweisen, daß das Einzelleben sehr gebunden und die Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Leben fließend sind, aber er mißachtet die Grundtatsache, daß beim Menschen das Seelenleben nicht an einzelne Punkte zerstreut bleibt, daß es sich vielmehr hier zu einem gemeinsamen Leben zusammensaßt; dieses Leben hat einen überaus reichen Inhalt, und es zeigt völlig neue Züge gegenüber der Natur. Erst ein solcher Zusammenschluß ermöglicht Geschichte und Gesellschaft im eigentümlich menschlichen Sinne, nur aus diesem Boden entsteht Gedankensprache und Kultur, hier erwächst eine vielfache Verzweigung selbständiger Lebensgebiete in Recht und Moral, in Kunst und Wissenschaft. Auch ein selbständiges wirtschaftliches Leben kann nur aus diesem Boden entspringen. Denn grundverschieden ist der bloße Naturtrieb nach der Behauptung des eigenen Selbst im Kampf der Wesen, und das Streben, eine gemeinsame Ordnung des wirtschaftlichen Lebens hervorzubringen; dies setzt mit seinen Gedankengrößen eine geistige Selbsttätigkeit voraus; das bloße Zusammentreffen der Naturtriebe könnte nie einen Aufbau eines wirtschaftlichen Lebens erzeugen. Mit dem materialistischen Naturalismus teilt der naturalistische Ökonomismus den Widerspruch, das natürliche Dasein als die Hauptwelt zu behandeln, zu ihrer intellektuellen Aneignung aber Gedankenkräfte zu verwenden, die von der bloßen Natur aus schlechthin unbegreiflich sind. Der Widerspruch des Denkens muß aber auch das Handeln ergreifen: alle Sorge für das sinnliche Wohl kann einem geistigen Wesen nicht der Hauptzweck des Lebens sein, irgendwie muß das Streben in einen Selbstzweck und in einen Selbstwert einmünden, muß es ein Beisichselbstsein werden. Alles Jagen nach unbegrenzten materiellen und wirtschaftlichen Gütern kann dem Menschen nicht endgültig genügen. So muß auch das wirtschaftliche Leben in den Zusammenhang eines umfassenden Lebens ausgenommen werden, um dem Menschen zum Glück und nicht zum Unglück zu gereichen; mag jenes Streben äußerlich ins Unbegrenzte gehen, eine innere Schranke ist unverkennbar; die Sorge um die Mittel des Lebens kann nicht den Grundbestand des Lebens bilden.
Die Sorgen und Verwicklungen aber, welche aus dem wilden Kampf um die Lebensbedingungen hervorgehen, sind unbedenklich zu ertragen nur von der Überzeugung aus, daß der Mensch nach seinem Durchschnittstand voller geistiger Interessen ist, und daß er keine ernstlichen moralischen Verwicklungen in sich trägt. Das entspricht der Überzeugung der Aufklärung, namentlich der späteren; hier wurde das Leben in erster Linie auf die freischwebende Intelligenz gestellt und von ihrer Einsicht sowie von ihrem Wohlwollen alles Gute erwartet. Was die Einsicht betrifft, so haben wir uns mit dem geringen Stand des menschlichen Durchschnittes schon zur Genüge beschäftigt; aber auch seine moralische Unzulänglichkeit unterliegt keinem Zweifel. Alle tieferen Denker haben die hier vorliegenden seelischen Verwicklungen sehr schwer genommen; selbst diejenigen, welche im Weltbild die Herrschaft der Vernunft eifrig verfochten, wie z. B. Aristoteles und Leibniz, konnten bei der näheren Betrachtung des menschlichen Standes ein scharfes Urteil nicht zurückhalten. Die verschiedenen Zeiten haben diese Bedenken verschieden gefaßt, aber im Grunde waren sie alle einig. Die antiken Denker verlangten für ein rechtes Leben ein festes Maß und eine harmonische Ausbildung aller Kräfte, auch ein ruhiges Beharren inmitten voller Tätigkeit, zugleich fanden sie den Durchschnitt von unersättlicher Gier erfüllt und in unablässiger Veränderung begriffen; das Christentum erklärte die Liebe als die weltbeherrschende Leiterin des menschlichen Lebens, aber alle seine führenden Geister beklagten tief den Mangel echter Liebe, die große Gleichgültigkeit der Menschen gegeneinander, die zerstörende Macht der Selbstsucht; die Neuzeit wollte alle Kräfte entfalten und alle Menschen am Aufstieg des Lebens teilnehmen lassen, aber sie mußte anerkennen, daß der Durchschnitt stumpf und träge alle Anregung zurückweist und nur durch künstliche Mittel leidlich zu bewegen ist. Durchgängig läßt sich zeigen, daß je höher einer von der moralischen Aufgabe dachte, er um so schmerzlicher den weiten Abstand des Durchschnitts von der Forderung empfand; so zum Beispiel Kant mit seinem Bestehen auf lauterer Wahrhaftigkeit und strenger Gerechtigkeit. Was aber hat der Ökonomismus mit seiner Voranstellung der materiellen Lebenshaltung für diese Wesensfragen zu bieten? Im Sinne der sozialistischen Lebensgestaltung pflegt er alle Schuld der moralischen Mißstände auf die verkehrten und verrotteten gesellschaftlichen Verhältnisse zu schieben, aber wie kam es, daß das von Natur einsichtige und wohlwollende Wesen so unerquickliche Zustände schuf? Waren die Verhältnisse so schlecht, so kann auch ihr Urheber nicht vortrefflich gewesen sein; wenn aber die Menschen von Haus mangelhaft und widerspruchsvoll, so kann ihnen auch die Hebung der Verhältnisse wenig helfen. Der Mensch bleibt immer Mensch, keine Verfassung befreit ihn von den Verwicklungen seiner eigenen Natur. Gewiß ist die Gestaltung der Verfassung nicht gleichgültig, es macht einen großen Unterschied, ob der Mensch in einer gesunden, oder ob er in einer verdorbenen gesellschaftlichen Atmosphäre lebt, aber Inneres und Äußeres müssen Zusammenwirken, es ist keineswegs die Atmosphäre allein, welche den Geistesstand bestimmt. In traurigen Verhältnissen hat sich das alte Christentum emporgerungen, aber es hat diesen Verhältnissen nicht nachgegeben, es hat sie, wenigstens teilweise, überwunden. Auch die verschiedenen Kulturwelten haben hier besondere Geschicke, eine gewisse Selbstverzehrung der Kulturen im Lauf der Geschichte ist nicht zu verkennen, große Wogen gehen über die Menschen und die Geschlechter, aber der Mensch ist ihnen nicht unbedingt preisgegeben; Kraft der Ursprünglichkeit des Geisteslebens, woran auch der einzelne teilnehmen kann, und Kraft des Wirkens einer selbständigen und überwindenden Geistigkeit kann er neue Anfänge ergreifen und in der Tiefe seiner Seele eine Überlegenheit über alle Umgebung und Überlieferung dartun, unsere Lage ist nicht so einfach und nicht so gebunden wie der Ökonomismus sozialistischer Art behauptet. Auch das Leben der Gemeinschaft ist mannigfacher und bewegter als der Sozialismus es darstellt; es enthält mannigfache Schichten und Strömungen, von ihnen können neue Anregungen und Antriebe ausgehen, und damit auch auf die Individuen wirken. Schließlich sei nicht vergessen, daß das Überwiegen des wirtschaftlichen Strebens verschiedene Gestalten annehmen kann, mögen wir zunächst an den Kapitalismus mit seiner unheimlichen Macht, seinem unersättlichen Mehrhabenwollen, denken, auch auf der entgegengesetzten Seite kann ein ständiger Stand der Unzufriedenheit, der Scheelsucht, des Neides entstehen, ein inneres Aufsteigen des Lebens hemmen, ja, dieses entstellen. Das moralische Problem, der Seelenstand des Menschen, bleibt immer die Hauptsache; mögen wir an dem geschichtlichen Stande des Christentums noch soviel auszusetzen haben, daß es das Problem einer moralischen Erneuerung der Menschheit mit größtem Eifer und Ernst ergriffen und dafür gewirkt hat, daß es wirren Zeiten einen festen Halt und einen inneren Zusammenhang gegeben hat, das sei keinen Augenblick unterschätzt. Der sozialistische Ökonomismus aber neigt zu solcher Unterschätzung, er tut es, weil er das Aufbauende, was von hier aus an die Menschheit kommt, als selbstverständlich betrachtet; daß es nicht selbstverständlich ist, daß jener Aufbau gewaltiger Kräfte und schwerer Anstrengungen bedarf, das zu gewahren haben wir Deutsche jetzt volle Gelegenheit.
Wie aber der Ökonomismus die inneren Aufgaben und Verwicklungen des Menschenwesens zu unterschätzen pflegt, so ist, wie wir sahen, auch sein Glückideal von ungenügender Tiefe. Sein Hauptziel ist das subjektive Behagen, die Lust. Dies Behagen braucht nicht unmittelbar sinnlich, zu sein, es kann auch geistige Züge annehmen; hängt aber die Lust nicht an einem sachlichen Inhalt, so wird sie rasch ins Sinnliche und Vage fallen; auch im Gelingen verwandelt sie sich schließlich in Leere und Langeweile. Es steckt offenbar eine große Forderung im Leben, die befriedigt werden will, ein zwingender Antrieb, der über das bloße Individuum hinaustreibt und den Menschen als ein Weltwesen, als einen Teilhaber unendlichen Lebens, erweist. So müssen wir uns aus den Kern der menschlichen Tätigkeit besinnen. Er ist nichts anderes als die Arbeit; aber der Ausdruck enthält recht verschiedene Begriffe, deren Zusammenlaufen nicht wenig Verwirrung verschuldet. Einmal denken wir an die Arbeit, welche der Zwang physischer oder wirtschaftlicher Selbsterhaltung zu verrichten uns auferlegt, weiter aber an ein inneres Verhältnis zum Gegenstände, an eine volle seelische Aneignung, an eine Aufnahme in den eigenen Lebensbereich; wir haben jene auferlegte Arbeit und diese selbsterwählte Arbeit, eine nach außen und eine nach innen gerichtete Arbeit, deutlich zu scheiden. Bei jener bleibt der Gegenstand uns gleichgültig, er kann uns fremd, ja feindlich werden; bei dieser verwächst er innerlich mit der Lebensbewegung; dort wird das Streben dahin gehen, die Arbeit möglichst zu vermindern und sich möglichst von ihr abzulösen, hier kennt die Arbeit keine Grenze, sie strebt freudig ins Ungemessene; dort wird sie mit starker Unlust verrichtet, hier kann sie eine reine Freude erzeugen, welche durch die innere Verbindung mit dem Gegenstand sich deutlich von aller Lust unterscheidet. Nur die freie Arbeit kann einen Beruf erzeugen und in dem Wirken dafür sich aller Zwangsarbeit entwinden; nur sie kann das ganze Leben durchdringen. Auch innerhalb der seelischen Arbeit erscheinen zwei Stufen: alle echte Arbeit umspannt den Gegenstand und verbindet die seelische Kraft mit ihm; aber es ist ein Unterschied, ob der Gegenstand nur gewisse Beziehungen zu uns besitzt, oder ob er völlig in den eigenen Lebenskreis ausgenommen wird; nur auf dieser Höhe erhebt sich die Arbeit zu einem Schaffen und entsteht eine Wirklichkeitsbildung; nur hier kann das Leben ganz auf sich selbst ruhen und zugleich eine innere Weltüberlegenheit gewinnen. Dabei bedeutet das Wirken und Schaffen nicht einen beliebigen Ausschnitt aus einem verworrenen und ins vage verlaufenden Nebeneinander, sondern es wird ein selbständiges Glied eines umfassenden Ganzen; hier kann der Mensch, indem er sein besonderes Werk verrichtet, das Ganze als seine eigene Sache ergreifen und die von ihm ausgehende Erhöhung des Lebens teilen. Alsdann ist das Glück nicht bloß Sache der einzelnen Punkte, sondern eine unermeßliche Lebensquelle, aus der jeder schöpfen und die er dabei als sein volles Eigentum betrachten darf. Das ist ein Hauptmangel der Gegenwart, daß sie viel zu viel Zwangsarbeit und viel zu wenig freie Arbeit enthält; so muß sie eines echten Glückes entbehren, und entbehrt sie eines inneren Zusammenhangs mit dem Ganzen der Wirklichkeit.
Wir überzeugten uns durchgängig von den ungeheuren Problemen, unter welchen die Gegenwart steht. Die Arbeit, welche in früheren Zeiten einen mehr persönlichen Charakter trug, hat diesen durch die intellektuelle und technische Unterwerfung der Naturkräfte und durch die Wendung zum Fabrikbetriebe mehr und mehr eingebüßt, sie hat Riesenkomplexe gebildet, welche den Menschen mehr und mehr unter ihre Macht treiben; das ergibt immer großartigere Leistungen und eine immer feinere Verzahnung der Arbeit, aber die Seele bleibt leer und ihr Glückverlangen ungestillt; die Befriedigung dieses Verlangens und zugleich eine Verstärkung der Seele war das hauptstreben und das hauptrecht des Sozialismus. Aber auch hier erweist sich, daß Probleme zu stellen leichter ist, als sie zu lösen. Der Gegensatz einer bloßen Arbeitskultur und einer bloßen Wohlfahrtskultur bleibt ungelöst. Der Sozialismus setzt für die Seele nur die Zuständlichkeit des Menschen ein; wir sahen, daß das nicht ausreicht und ihn in neue Verwicklungen führt. Auf der anderen Seite steht die Arbeit und stellt zwingend ihre Forderungen, sie erscheint als eine dämonische Macht, die wir abschütteln möchten, von der wir aber nicht lassen können, ohne den Kulturstand schwer zu schädigen, ja, zu zerstören. Es wird damit zu einer Hauptsorge, ja, zu der Hauptsorge aller ernsten und wohlmeinenden Seelen, alle Mittel und Hilfen aufzubieten, um aus diesem furchtbaren Konflikt herauszukommen, der die moderne Menschheit zerreißt. Es sind dazu einerseits gesellschaftliche Einrichtungen und Maßregeln mannigfacher Art unentbehrlich; wenn irgendwo, so bedarf es hier einer echten Staatsweisheit, welche das Wesentliche in den Dingen sieht und auch kräftige Mittel nicht scheut, um jene Kluft zwischen Seele und Arbeit möglichst zu überwinden; andererseits aber ist der Begriff der Menschheit zu vertiefen, sind übermenschliche Gesamtmächte neu zu beleben, und es ist auf ihrem Grunde eine geistige, nicht bloß eine religiöse, Reformation zu erstreben; nur eine solche kann ein genügendes Gleichgewicht gegen das Überwiegen der materiellen Interessen bieten.
So viel ist gewiß, daß das Leben der Gegenwart zwei Pole hat und sich um sie bewegt: eine Geisteskultur, die zur Überwindung des Gegensatzes von Arbeitskultur und Wohlfahrtskultur wirken kann, und eine wirtschaftliche Kultur, welche die Forderungen der Natur und des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu befriedigen vermag. Daß diese beiden Pole ein fruchtbares Verhältnis erreichen, und daß die entgegengesetzten Ausgangspunkte zusammenstreben, das ist das Hauptproblem der Gegenwart; geistige Kraft muß dabei führen und die Aufgaben zu einem Ganzen verbinden.
Schließlich handelt es sich nicht nur um das wirtschaftliche Gedeihen, sondern um das Wohl des ganzen Menschen; bei diesem ist das Hauptziel nicht das subjektive Glück, sondern eine innere Erhöhung und Umwandlung. Wir pflegen als Individuen wie im Gesamtleben zunächst nur unser eigenes Glück zu suchen, aber dieses Glückstreben erweist sich bei einer tieferen Betrachtung als ein Mittel, um uns auf die Höhe unseres Wesens zu führen und innerlich mehr aus uns zu machen. Was im einzelnen vielfach geschieht, das gilt vielleicht auch für das Ganze unseres Strebens: der Mensch erreicht oft nicht, was er erstrebt, aber in dem Streben erreicht er oft mehr als das, wovon er ausging, er suchte sein Glück und fand ein neues Leben und Wesen. »Saul, der Sohn des Kis, ging aus, um seines Vaters Eselinnen zu suchen, und fand ein Königreich« (Goethe).