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Den Erwerb des Würfelbechers erwähnt der Geheimrat in dem Lederbande, der von nun an nicht mehr die deutliche, klare Hand des Dr. Petersen zeigt, sondern seine eigene dünne, langgezogene, kaum leserliche Schrift. Aber schon vor dieser kleinen Episode befinden sich in diesem Bande manche kurze Eintragungen, von denen einige für den Verlauf dieser Geschichte von Interesse scheinen.
Die erste betrifft die Operation der Atresia vaginalis des Kindes, die ebenfalls Dr. Petersen vornahm und der sein vorzeitiges Ende zuzuschreiben ist. Der Geheimrat erwähnt, dass er, in Ueberlegung einmal der Ersparnis, die ihm der Tod der Mutter gemacht habe, dann der guten Hilfe seines Assistenzarztes in der ganzen Angelegenheit, diesem einen dreimonatlichen Urlaub mit vollen Bezügen für eine Sommerreise bewilligt und ihm obendrein noch eine besondere Gratifikation von eintausend Mark versprochen habe. Dr. Petersen habe sich auf diese Reise, die erste grössere, die er in seinem Leben machen sollte, ganz ausserordentlich gefreut, habe aber darauf bestanden, vorher noch die ziemlich leichte Operation vorzunehmen, obwohl man sie ohne besondere Bedenken ganz gut noch längere Zeit hätte hinausschieben können. Er habe also diese Operation ein paar Tage vor seiner beabsichtigten Abreise gemacht und zwar mit ausgezeichnetem Erfolge für das Kind. Leider habe er sich selbst dabei eine schwere Blutvergiftung zugezogen – was um so erstaunlicher sei, als Dr. Petersen sonst stets eine fast übertriebene Sorgfalt an den Tag legte – und sei im Laufe von kaum achtundvierzig Stunden nach sehr heftigen Leiden gestorben. Die direkte Ursache dieser Blutvergiftung sei nicht festzustellen gewesen; es habe sich um eine mit unbewaffneten Auge kaum wahrnehmbare Wunde am linken Unterarme gehandelt, die vielleicht von einem leichten Kratze der kleinen Patientin herrührte. Der Professor hebt dann noch hervor, dass ihm dadurch nun schon zum zweiten Male in dieser Angelegenheit durch den Tod des Betreffenden die Auszahlung einer grösseren Summe erspart worden sei. Irgendein Kommentar ist an diese Bemerkung nicht geknüpft.
Es wird dann weiter berichtet, dass das Baby, das er einstweilen in der Klinik selbst unter der Obhut der Oberwärterin gelassen habe, ein ganz aussergewöhnlich stilles und zartes Kind sei. Nur ein einziges Mal noch habe es geschrien und zwar bei Gelegenheit der heiligen Taufe, die der Kaplan Ignaz Schröder im Münster vornahm. Da allerdings habe es ganz fürchterlich gebrüllt, so dass die kleine Gesellschaft – die Wärterin, die es trug, die Fürstin Wolkonski sowie Justizrat Sebastian Gontram, die seine Taufpaten waren, endlich der Pfarrer, der Küster und er selbst – durchaus nichts mit ihm hätten anfangen können. Von dem Augenblick an, als man es hinaustrug aus dem Hause, habe es begonnen zu schreien und habe nicht eher wieder aufgehört, bis es wieder von der Kirche dorthin zurückgebracht worden sei. Im Münster selbst sei sein Geschrei so unerträglich gewesen, dass Seine Hochwürden die heilige Handlung nach Möglichkeit beschleunigt habe, um nur sich selbst und die Anwesenden bald von diesem greulichen Ohrenschmause zu befreien. Man habe ordentlich aufgeatmet, als alles zu Ende gewesen, und die Wärterin mit dem Kinde in den Wagen gestiegen sei.
Es scheint, dass in diesen ersten Lebensjahren des Mädchens, dem der Professor aus einer begreiflichen Laune heraus den Namen »Alraune« gab, nichts Sonderliches vorgekommen sei, wenigstens finden sich in dem Lederbande kaum bemerkenswerte Angaben. Es wird noch berichtet, dass der Professor seinen schon vor ihrem Erscheinen in dieser Welt gefassten Entschluss wahr machte, das Mädchen adoptierte und in einem beglaubigten Testamente als alleinige Erbin, unter ausdrücklichem Ausschluss aller Verwandten einsetzte. Es wird weiter erwähnt, dass die Fürstin dem Kinde als Patengeschenk einen ganz ausserordentlichen kostbaren und ebenso geschmacklosen Halsschmuck übersenden liess, der aus vier mit Brillanten besetzten Goldketten und zwei Schnüren grosser schöner Perlen bestand. In der Mitte aber befand sich, wieder reich mit Perlen besetzt, eine Schnur brandroten Haares, die die Fürstin aus einer Locke hatte anfertigen lassen, die sie bei der Erzeugung des Kindes der bewusstlosen Mutter abgeschnitten hatte.
In der Klinik verblieb das Kind über vier Jahre, bis zu dem Zeitpunkte, als der Geheimrat dieses Institut, sowie die angegliederten Versuchsstationen, die er ohnehin mehr und mehr vernachlässigt hatte, aufgab. Er nahm es dann heraus auf seine Besitzung in Lendenich.
Dort erhielt das Kind einen Spielkameraden, der freilich um fast vier Jahre älter war: das war Wölfchen Gontram, der jüngste Sohn des Justizrates. Geheimrat ten Brinken erzählt wenig genug von dem Zusammenbruche des Gontramhauses; er erwähnt nur kurz, dass dem Tode das Spiel in dem weissen Hause am Rhein doch einmal zu fade geworden sei und dass er in einem Jahre die Mutter und drei ihrer Söhne weggewischt habe. Den vierten der Jungen, Josef, der auf Wunsch der Mutter zum Geistlichen bestimmt war, habe Seine Hochwürden Kaplan Schröder zu sich genommen, während Frieda, die Tochter, mit ihrer Freundin Olga Wolkonski, die inzwischen einen etwas zweifelhaften spanischen Grafen geheiratet hatte, nach Rom gezogen sei und in deren Hause dort lebe. Zugleich mit diesen Ereignissen sei der finanzielle Zusammenbruch des Justizrates erfolgt, der trotz des glänzenden Honorars, das ihm die Fürstin für ihren endlich gewonnenen Eheprozess gezahlt habe, nicht aufzuhalten gewesen wäre. Der Geheimrat stellt die Tatsache, dass er das jüngste Kind zu sich aufnahm, als eine Art menschenfreundlicher Handlung dar, vergisst aber nicht hinzuzufügen, dass gerade Wölfchen einige Weinberge mit kleinen Baulichkeiten von einer Tante mütterlicher Seite geerbt hatte, so dass seine Zukunft durchaus sichergestellt war. Er bemerkt auch, dass er sich die Verwaltung über dies Vermögen von dem Vater habe übertragen lassen, fügt sogar hinzu, dass er – aus Delikatesse: damit der Junge später einmal nicht das Gefühl habe, aus Gnade und Barmherzigkeit in fremdem Hause aufgezogen worden zu sein – von diesen Zinsen den Unterhalt des Pflegekindes bestreite. – Es ist anzunehmen, dass der Herr Geheimrat bei dieser Rechnung nicht zu kurz kam.
Übrigens lässt sich aus allen den Eintragungen, die Geheimrat ten Brinken in diesen Jahren in den Lederband machte, wohl schliessen, dass Wölfchen Gontram das Brot, das er in Lendenich ass, reichlich selbst verdiente. Er war ein guter Spielkamerad für sein Pflegeschwesterchen, war mehr als das: war ihr einziges Spielzeug und ihr Kindermädchen zugleich. Gewohnt mit seinen wilden Brüdern herumzutollen, übertrug sich seine Liebe im Augenblicke auf das kleine zarte Geschöpf, das allein in diesem weiten Garten, in den Ställen, Treibhäusern und allen Gebäuden herumlief. Das grosse Sterben im Elternhause, der jähe Zusammenbruch alles dessen, was für ihn die Welt war, hatte einen starken Eindruck auf ihn gemacht – trotz aller Gontramschen Indolenz. Der kleine hübsche Bursche, der seiner Mutter grosse schwarze Traumaugen hatte, war still geworden, schweigsam und in sich gekehrt. Und das so plötzlich erstickte Interesse für tausend Knabengedanken schlang sich nun wie leichte Ranken um dieses kleine Wesen Alraune, sog sich dort fest mit vielen dünnen Würzelchen. Was seine junge Brust trug, gab er dem neuen Schwesterchen, gab es mit der grossen, unbegrenzten Gutmütigkeit, die seiner Eltern sonniges Erbteil war.
Wenn er mittags zurückkam aus der Stadt, vom Gymnasium, wo er stets in den allerletzten Bänken sass, lief er an der Küche vorbei, so hungrig er auch war. Suchte im Garten herum, bis er Alraune fand. Und die Dienstboten mussten ihn oft genug mit Gewalt hereinholen, um ihm sein Essen zu geben. Niemand kümmerte sich so recht um die beiden Kinder, aber während sie alle vor dem kleinen Mädchen ein seltsames Misstrauen hatten, mochten sie doch Wölfchen gern leiden. So übertrug sich auf ihn diese etwas plumpe Liebe des Gesindes, die vordem durch so lange Jahre Frank Braun, dem Neffen des Herrn galt, wenn er als Knabe seine Schulferien hier verbrachte. Wie einst ihn, so duldete Froitsheim, der alte Kutscher, jetzt Wölfchen gern bei den Pferden, hob ihn hinauf, liess ihn reiten auf der Wolldecke durch Hof und Garten. Der Gärtner wies ihm die besten Früchte im Garten, schnitt ihm die schwanksten Gerten, und die Mägde stellten sein Essen warm, sahen zu, dass ihm nirgends etwas abging. Es war wohl so, dass der Junge es verstand, sie alle wie seinesgleichen zu nehmen, während das Mädchen, so klein es auch war, doch eine eigentümliche Art hatte, zwischen sich und ihnen allen einen breiten Graben zu ziehen. Es plauderte nie mit ihnen und wenn es überhaupt sprach, so war das irgendein Wunsch, der fast wie ein Befehl klang: gerade das, was diese Leute vom Rhein in innerster Seele nicht ertragen konnten. Von ihrem Herrn nicht – und nun erst von diesem fremden Kinde –
Sie schlugen es nicht; das hatte der Geheimrat streng verboten. Aber sie liessen auf jede Weise das Kind empfinden, dass sie sich durchaus nicht um es kümmerten, taten so, als ob es gar nicht da sei. Es lief da herum – gut, sie liessen es laufen. Sorgten für sein Essen, für sein Bettchen, für Wäsche und Kleider – – aber so, wie sie dem alten bissigen Hofhund sein Essen brachten, wie sie seine Hütte fegten und ihn losketteten zur Nacht.
Der Geheimrat bekümmerte sich in keiner Weise um die Kinder, er liess sie völlig ihren eigenen Weg gehen. Seitdem er kurz nach der Auflösung der Klinik auch seine Professur aufgegeben hatte, beschäftigte er sich neben allerlei Grundstück- und Hypothekengeschäften nur mehr mit seiner alten Liebhaberei, der Archäologie. Er betrieb sie, wie alles was er anfasste, als kluger Kaufmann und verstand bei allen Museen der Welt seine geschickt zusammengestellten Sammlungen zu recht hohen Preisen anzubringen. Dieser Boden, rings um den Sitz der Brinken, bis hin zum Rhein und zur Stadt nach der einen Seite, bis weit hinaus an die Eifeler Vorgebirge nach der andern, stak ja voll von Dingen, die einst Rom hertrug und alle seine Hilfsvölker. Von jeher sammelten die Brinken, und wenn, auf zehn Meilen in der Runde, ein Bauer mit der Pflugschar auf irgend etwas stiess, dann grub er sorgfältig nach und brachte seine Schätze nach Lendenich in das alte Haus, das dem Johann von Nepomuk geweiht war. Der Professor nahm alles, ganze Töpfe von Münzen, verrostete Waffen und vergilbte Knochen, Urnen, Schnallen und Tränenkrüglein. Er zahlte mit Pfennigen, mit Groschen höchstens – – aber der Bauer war immer gewiss, in seiner Küche einen guten Schnaps zu bekommen, auch, wenn es nötig war, das Geld, das er brauchte zur Aussaat, freilich auf sehr hohe Zinsen, aber ohne die Sicherung, die die Banken verlangten.
Und das war gewiss, dass dieser Boden nie mehr ausspie, als in den Jahren, seit Alraune im Hause war. Der Professor lachte: sie bringt Gold ins Haus. Er wusste gut, dass es zuging auf die natürlichste Weise der Welt, dass nur seine intensivere Beschäftigung mit all diesen Dingen der Grund war, aber er brachte es mit Absicht doch in Verbindung mit dem kleinen Wesen – spielte mit diesem Gedanken. Er liess sich ein auf recht gewagte Spekulationen, kaufte mächtige Komplexe in der Fortsetzung der breiten Villenstrasse, liess den Boden aufgraben, jede Handvoll Erde durchwühlen. Er machte Geschäfte mit denkbar grösstem Risiko, sanierte die Hypothekenbank, der jeder Vernünftige einen sicheren Bankerott in kürzester Frist prophezeite. Aber die Bank hielt sich; was er auch anfasste, ging den rechten Weg. – Dann, durch einen Zufall, fand sich ein Sauerbrunnen auf einem seiner Grundstücke im Gebirge; er liess ihn fassen und abfüllen. So kam er auf die Säuerlinge, kaufte auf, was zu haben war im rheinischen Lande, monopolisierte fast diese Industrie. Er bildete einen kleinen Trust, hing ihm ein nationales Mäntelchen um, erklärte, dass man gegen das Ausland Front machen müsse, gegen die Engländer, denen Apollinaris gehörte. Die kleinen Besitzer scharten sich rings um diesen Führer, schworen auf ›ihre Exzellenz‹, liessen ihn gerne mittun, wenn er bei der Gründung von Aktiengesellschaften eine Handvoll Anteile für sich ausbedang. Und sie taten wohl daran: der Geheimrat verdoppelte ihre Interessen und rechnete scharf genug ab mit den Aussenseitern, die nicht mittun wollten.
Eine Menge Dinge trieb er durcheinander – nur das eine hatten sie gemein, dass sie alle mit dem Boden etwas zu tun hatten. Auch das war eine Marotte von ihm, ein bewusstes Spiel mit Gedanken. Die Alraune zieht Gold aus dem Boden, dachte er, und so blieb er bei dem, was mit der Erde zusammenhing. Er glaubte nicht eine Sekunde lang selbst daran; aber doch hatte er bei jeder wildesten Grundspekulation das sichere Vertrauen, dass sie gelingen müsse. Alles andere lehnte er ab, ohne es auch nur zu prüfen. Sehr vorteilhafte Börsengeschäfte, deren Chancen sonnenklar schienen, die kaum ein kleinstes Risiko boten. Dagegen kaufte er eine Menge äusserst fauler Kuxen, Erz sowohl wie Kohlen, wurde Gewerke in einer Reihe recht übel beleumdeter Zechen. Er gewann auch hier. – Die Alraune tut es, sagte er lachend.
Dann kam der Tag, wo ihm dieser Gedanke mehr wurde als nur ein Witz.
Wölfchen grub im Garten, hinter den Ställen unter dem grossen Maulbeerbaum; dort wollte Alraune ihre unterirdische Burg haben. Er grub, Tag um Tag, und zuweilen half ihm einer der Gärtnerburschen. Das Kind sass dabei, sprach nicht, lachte nicht, sah still zu.
Und dann, eines Abends, gab des Knaben Schaufel einen hellen Klang.
Der Gärtnerbursche half ihm; sie gruben vorsichtig, holten mit den Händen die braune Erde zwischen den Wurzeln vor. Und sie brachten dem Professor ein Wehrgehenk, eine Schnalle und eine Handvoll Münzen. Nun liess er nachgraben, kunstgerecht; er fand einen kleinen Schatz – lauter gallische Stücke, selten und kostbar genug.
Freilich, absonderlich war das nicht. Wenn die Bauern ringsum bald hier und bald dort etwas fanden – warum sollte nicht auch in seinem eigenen Garten etwas verborgen sein? Aber das war es: er fragte den Jungen, warum er gerade dort gegraben habe, unter dem Maulbeerbaum. Und Wölfchen sagte, dass die Kleine es so gewollt habe – dort und nirgend anders.
Er fragte auch Alraune. Aber Alraune schwieg.
Der Geheimrat dachte: sie ist eine Wünschelrute. Sie fühlt es, wo der Grund Schätze hält. Er lachte dabei – lachte immer noch.
Manchmal nahm er sie mit. Hinaus zum Rhein, an die Villenstrasse. Ging mit ihr über die Grundstücke, wo seine Leute gruben. Fragte sie – trocken genug: »Wo soll man graben?« Und beobachtete sie scharf, wenn sie ging über die Wiesen, ob ihr zarter Leib irgendein Anzeichen gäbe, irgend etwas, das vermuten liesse –
Aber sie schwieg und ihr kleiner Körper sagte nichts.
Dann später begriff sie wohl. Manchmal blieb sie stehen, irgendwo an beliebiger Stelle. Sagte: »Graben.«
Man grub und fand nichts. Dann lachte sie hell.
Der Professor dachte: »Sie narrt uns.« Aber er liess doch immer wieder graben, wo sie befahl.
Ein- oder zweimal fand man etwas. Fand ein römisches Grab, dann eine grosse Urne mit frühen Silbermünzen.
Jetzt sagte der Geheimrat: »Es ist Zufall.« – Aber er dachte: ›Es – kann auch Zufall sein!‹
Eines Nachmittags, als der Geheimrat aus der Bibliothek trat, sah er den Jungen unter der Pumpe stehn. Halbnackt mit weit vorgerecktem Oberkörper . Und der alte Kutscher pumpte, liess ihm den kalten Strahl über Kopf und Nacken laufen, über den Rücken und beide Arme. Rot strahlte die Haut und überall waren kleine Blasen.
»Was hast du, Wölfchen?« fragte er.
Der Junge schwieg, biss die Zähne aufeinander, ob ihm auch die schwarzen Augen voll Tränen standen.
Aber der Kutscher sagte: »Es sind Brennesseln. Die Kleine hat ihn mit Brennesseln geschlagen.«
Da wehrte er sich: »Nein, nein, sie hat mich nicht geschlagen. Ich bin selbst schuld – ich hab mich hineingeworfen.«
Der Geheimrat nahm ihn ins Verhör; mühsam genug, und nur mit Hilfe des Kutschers, gelang es ihm die Wahrheit herauszuholen.
Es war schon so: er hatte sich ausgezogen bis Hüfte, sich hineingeworfen in die Brennesseln und darin gewälzt. Aber – auf den Wunsch des Schwesterchens. Die hatte bemerkt, dass er sich die Hand verbrannte, als er zufällig an das Kraut stiess, hatte gesehen, wie sie rot wurde und Blasen trieb. Da hatte sie ihn veranlasst, auch mit der andern Hand hineinzugreifen, dann sich darin zu wälzen mit der nackten Brust –
»Dummer Junge!« schalt ihn der Geheimrat. Dann fragte er, ob Alraune auch in die Brennnesseln gefasst habe.
»Ja,« antwortete der Knabe, »aber sie verbrannte sich nicht.«
Der Professor ging in den Garten, suchte, fand endlich sein Pflegekind. Sie stand hinten an der grossen Mauer, riss von einem Schutthaufen grosse Büschel von Brennesseln. Trug sie in ihren nackten Ärmchen über den Weg in die Glyzenenlaube, schichtete sie dort auf den Boden auf. Ein richtiges Lager machte sie.
»Für wen ist das?« fragte er.
Die Kleine sah ihn an, sagte dann ernst: »Für Wölfchen!«
Er nahm ihre Hände, betrachtete ihre dünnen Ärmchen. An keiner Stelle war etwas von einem Hautausschlag zu bemerken.
»Komm mit,« sagte er.
Er führte sie in das Treibhaus, da standen in langen Reihen japanische Primeln. »Brich die Blumen,« rief er.
Und Alraune brach, eine Blüte um die andere. Sie musste hinauflangen, hoch sich recken, überall kamen ihre Arme in Berührung mit den giftigen Blättern. Aber nirgend zeigte sich der brennende Ausschlag.
»Sie ist also immun,« murmelte der Professor.
– Und er schrieb in den braunen Lederband eine saubere Abhandlung über das Auftreten von Urticaria beim Anfassen von Urtica dioica und von Primula obconica. Er setzte auseinander, dass die Wirkung eine rein chemische sei, dass die kleinen Härchen des Stengels und der Blätter, die die Haut verletzten, eine Säure ausschwitzten, welche an den verletzten Stellen eine lokale Vergiftung hervorrufe. Er untersuchte, ob und inwiefern die Immunität gegen diese Primeln und Brennesseln, die sich so selten findet, mit der Empfindungslosigkeit der Hexen und Besessenen verwandt sei, und ob man bei beiden Erscheinungen die Ursache in einer Autosuggestion auf hysterischer Basis zu suchen habe, die diese Immunität erklären könne. Nun er einmal angefangen, in dem kleinen Mädchen etwas Absonderliches zu sehen, suchte er gewissenhaft nach allen Zufälligkeiten, die ihm für diesen Gedanken zu sprechen schienen. So findet sich auch an dieser Stelle die nachgetragene Bemerkung – die Dr. Petersen in seinem Bericht als völlig unwesentlich übersehen hatte – dass die eigentliche Geburt des Kindes in der Mitternachtsstunde vor sich ging.
»Alraune wurde also in dies Leben geholt – – wie es sich gehörte,« fügte der Geheimrat hinzu.
Der alte Brambach war heruntergekommen vom Hügelland, vier Stunden weit vom Dorfe Filip her. Er war ein Halbinvalide, zog durch die Dörfer des Vorgebirges, verkaufte Kirchenlose und dazu Heiligenbilder und billige Rosenkränze. Er hinkte in den Hof und liess dem Geheimrat melden, dass er römische Sachen mitgebracht habe, die ein Bauer auf seinem Acker gefunden. Der Professor liess ihm sagen, dass er keine Zeit habe, und dass er warten solle; da wartete der alte Brambach, sass auf der Steinbank im Hofe und rauchte seine Pfeife.
Dann, nach zwei Stunden, rief ihn der Geheimrat herein. Er liess immer die Leute warten, auch wenn er gar nichts zu tun hatte – nichts drückt so die Preise, wie warten lassen, sagte er. Aber diesmal war er wirklich beschäftigt; der Direktor des Germanischen Museums aus Nürnberg war da und hatte gerade eine hübsche Sammlung angekauft: gallische Funde im Rheinland.
Der Geheimrat liess den lahmen Brambach nicht hereinkommen in die Bibliothek, hielt ihn fest in dem kleinen Vorraum. »Na, alter Hümpelepümp, zeigt her, was Ihr habt!« rief er.
Der Invalide knüpfte das grosse rote Taschentuch auf, legte den Inhalt sorgfältig auf den morschen Rohrstuhl: viele Münzen, ein paar Helmstücke, ein Schildknauf und ein entzückendes Tränenfläschchen. Der Geheimrat wandte sich kaum, nur ein rascher schielender Blick streifte das kleine Fläschchen. »Das ist alles, Brambach?« fragte er vorwurfsvoll. Und als der Alte nickte, begann er ihn tüchtig auszuschimpfen. So alt sei er nun und noch so dumm, wie ein Rotzjunge! Vier Stunden weit käme er her und vier müsse er zurück – ein paar Stunden müsse er warten dazu: so vertrödele er den ganzen Tag um den Quark da! Nichts sei der Plunder wert, er solle nur alles wieder einpacken und mitnehmen, keinen bergischen Stüber könne er dafür geben! Wie oft müsse er es immer wieder und wieder sagen: die dummen Bauern sollten doch nicht um jeden Dreck nach Lendenich laufen! Hübsch warten, bis sie etwas zusammen hätten und dann alles auf einmal bringen! Oder ob es ihm mit seiner krummen Hinkepote so angenehm wäre, den weiten Weg von Filip in der Sonnenhitze hin und wieder zu traben, um nichts? Schämen solle er sich.
Der Invalide kratzte sich hinter den Ohren, drehte dann verlegen die braune Mütze in den Fingern. Er hätte gern irgend etwas gesagt, um den Professor umzustimmen; sonst konnte er doch ganz gut schwatzen, um seine Sachen anzupreisen. Aber es fiel ihm gar nichts ein, als der weite Weg, den er gekommen – und gerade den machte ihm ja der Professor so zum Vorwurf. Er war völlig zerknirscht und sah durchaus ein, wie dumm er war; so machte er gar keine Widerworte. Bat nur, die Sachen dalassen zu dürfen – – dann brauchte er sie wenigstens nicht zurückzuschleppen. Der Geheimrat nickte, dann gab er ihm ein Fünfzigpfennigstück.
»Da, Brambach, für den Weg! Aber seid ein andermal gescheiter und tut, wie ich euch sagte! Und nun geht in die Küche, lasst euch ein Butterbrot geben und ein Glas Bier!«
Der Invalide bedankte sich, froh genug, dass es noch so abgelaufen war. Und er hinkte wieder über den Hof, der Küche zu.
Exzellenz ten Brinken aber nahm mit raschem Griffe das süsse Tränenfläschchen. Zog ein seidenes Tuch aus der Tasche, reinigte es sorgfältig, betrachtete das feine violette Glas von allen Seiten. Dann erst öffnete er die Türe, trat zurück in die Bibliothek, wo der Nürnberger Konservator vor den Glaskästen stand, schwenkte sein Fläschchen in erhobenem Arm.
»Sehen Sie her, lieber Doktor,« begann er, »hier habe ich noch einen besonderen Schatz! Es gehört zu dem Grabe der Tullia, der Schwester des Feldherrn Aulus, beim Lager von Schwarz-Rheindorf – ich zeigte Ihnen ja vorhin die andern Funde von dort!« Er überreichte ihm das Fläschchen und fuhr fort: »Nun bestimmen Sie einmal, wo es herstammt!«
Der Gelehrte nahm das Glas, trat ans Fenster, rückte seine Brille zurecht. Er bat sich eine Lupe aus und einen Seidenlappen, rieb und wischte, hielt das Fläschchen gegen das Licht, wandte es hin und her. Etwas zögernd und nicht ganz sicher sagte er endlich: »Hm – es scheint syrisches Fabrikat zu sein, aus der Glasfabrik zu Palmyra.«
»Bravo!« rief der Geheimrat. »Vor Ihnen muss man sich in acht nehmen, Sie sind ein Kenner!« – Hätte der Nürnberger auf Agrigent geraten oder auf Munda, so würde er geradeso begeistert zugestimmt haben. – »Und nun, Herr Doktor, die Zeit?«
Der Konservator hob noch einmal das Fläschchen auf. »Zweites Jahrhundert,« sagte er dann, »erste Hälfte.« Und diesmal klang es schon recht bestimmt.
»Ich mache Ihnen mein Kompliment!« bestätigte der Geheimrat. »Ich glaube nicht, dass noch jemand so schnell und treffsicher bestimmen könnte!«
»Ausser Ihnen natürlich, Exzellenz!« erwiderte der Gelehrte geschmeichelt. Aber der Professor sagte bescheiden: »Sie überschätzen meine Kenntnisse bedeutend, Herr Doktor. Ich habe nicht weniger wie acht Tage angestrengter Arbeit benötigt, um dies Fläschchen mit völliger Gewissheit bestimmen zu können und ich habe eine Menge Bände dazu gewälzt. – Nun, es tut mir nicht leid, es ist ein selten schönes Stück – hab's freilich auch teuer genug erworben. Der Kerl, der es fand, hat sein Glück damit gemacht.«
»Ich möchte es gerne für mein Museum haben,« erklärte der Direktor. »Was verlangen Sie?«
»Für Nürnberg nur fünftausend Mark,« antwortete der Professor. »Sie wissen, dass ich allen deutschen Institutionen besondere Preise berechne. Nächste Woche kommen zwei Herren aus London, da werde ich achttausend fordern – und gewiss bekommen.«
»Aber Exzellenz,« erwiderte der Gelehrte, »fünftausend Mark! Sie wissen doch, dass ich solche Preise nicht bezahlen kann! Das übersteigt meine Befugnisse.«
Der Geheimrat sagte: »Es tut mir sehr leid – aber ich kann das Fläschchen wirklich nicht anders geben.«
Der Herr aus Nürnberg wog das kleine Glas in der Hand: »Es ist ein entzückendes Tränenfläschlein. Ich bin ordentlich verliebt darin. – Dreitausend will ich Ihnen geben, Exzellenz.«
Da sagte der Geheimrat: »Nein, nicht einen Heller weniger, wie fünftausend! – Aber ich will Ihnen was sagen, Herr Direktor: da Ihnen das Fläschchen so gefällt, so erlauben Sie mir, es Ihnen persönlich zum Geschenk anbieten zu dürfen. Behalten Sie es zur Erinnerung an Ihre so treffsichere Bestimmung.«
»Ich danke Ihnen, Exzellenz, ich danke Ihnen!« rief der Konservator. Er stand auf und drückte dem Geheimrat kräftig die Hand. »Aber ich darf keinerlei Geschenke annehmen in meiner Stellung – verzeihen Sie also, wenn ich ablehne. – Im übrigen bin ich bereit, den geforderten Preis zu bezahlen, wir müssen das Stück unserm Vaterland erhalten, dürfen es nicht den Engländern lassen.«
Er ging zum Schreibtisch und schrieb seinen Scheck. Ehe er sich aber empfahl, hatte ihm der Geheimrat noch die anderen, weniger interessanten Stücke angeredet – aus dem Grabe der Tullia, der Schwester des Feldherrn Aulus.
Der Professor liess anspannen für seinen Gast, geleitete ihn hinaus bis zum Wagen. Als er zurückkam über den Hof, sah er Wölfchen und Alraune bei dem Hausierer stehen, der ihnen seine bunten Heiligenbilder zeigte. Der alte Brambach hatte sich bei Speis und Trank wieder etwas Mut geholt, auch der Köchin einen Rosenkranz verkauft, von dem er behauptete, dass er vom Bischof geweiht sei, und der deshalb dreissig Pfennige mehr kostete, als die andern. Das alles belebte seine Zunge, die vorhin so furchtsam gewesen war, er fasste sich ein Herz und humpelte auf den Geheimrat zu.
»Herr Professor,« meckerte er, »kaufen Sie den Kindern ein hübsches Josefbildchen!«
Exzellenz ten Brinken war gut gelaunt; so antwortete er: »Den heiligen Josef? – Nein! Aber habt Ihr nicht den Johann von Nepomuk da?«
Nein, den hatte der Brambach nicht. Den Antonius ja, und den Johannes und den Thomas und Jakobus – aber den Nepomuk leider nicht. Und er musste sich wieder vorwerfen lassen, dass er sein Geschäft nicht verstehe: in Lendenich könne man nur mit St. Nepomuk Geschäfte machen, mit keinem andern Heiligen. Der Hausierer war betreten genug, aber er machte doch noch einen letzten Versuch.
»Ein Los, Herr Professor! Nehmen Sie ein Los! Für den Wiederaufbau der Laurentiuskirche zu Dülmen! Nur eine Mark kostet's – und jeder Käufer bekommt hundert Tage Ablass im Fegefeuer! – Da steht's gedruckt!« Er hielt ihm die Lose unter die Nase.
»Nein,« sagte der Professor. »Wir brauchen keinen Ablass – wir sind Geusen, da kommen wir so in den Himmel. – Und gewinnen kann man bei der Lotterie ja doch nichts.«
»So?« antwortete ihm der Hausierer. »Man kann nicht gewinnen? Dreihundert Gewinne gibt's und als ersten fünfzigtausend Mark in bar! Hier steht's!« Er wies mit dem schmutzigen Finger auf das Los.
Der Professor nahm es ihm aus der Hand. »Du alter Esel!« lachte er. »Und hier steht: fünfmalhunderttausend Lose! Da kannst du dir ausrechnen, wieviel Chancen man zum Gewinnen hat!«
Er wandte sich zum Gehen, aber der Invalide hinkte ihm nach, hielt ihn am Rock fest.
»Versuchen Sie es trotzdem, Herr Professor,« bat er. »Unsereins will doch auch leben.«
»Nein!« rief der Geheimrat.
Doch der Hausierer gab nicht nach. »Ich hab so eine Ahnung, als ob Sie gewinnen müssten!«
»Die hast du immer!« sagte der Geheimrat.
»Lassen Sie die Kleine ein Los ziehen, das bringt Glück!« bettelte Brambach. – Da stutzte der Professor.
»Ich will es versuchen,« murmelte er. »Komm einmal her, Alraune!« rief er. »Zieh ein Los.«
Das Kind trippelte heran; sorgfältig machte der Invalide einen Fächer von seinen Losen, hielt ihn ihr entgegen.
»Mach die Augen zu,« gebot er. »So – und nun zieh.«
Alraune zog ein Los und gab es dem Geheimrat. Der zögerte einen Augenblick, dann winkte er den Knaben heran. »Zieh du auch ein Los, Wölfchen,« sagte er.
In dem Lederbande berichtet Exzellenz ten Brinken, dass er fünfzigtausend Mark in der Dülmener Kirchenlotterie gewann. Er könne leider nicht feststellen, setzte er hinzu, ob das von Alraune, oder das von Wölfchen gezogene Los der Treffer war, da er beide zusammen, ohne die Namen der Kinder daraufzuschreiben, in seinen Schreibtisch gelegt hatte. Doch hege er kaum einen Zweifel, dass es das der Alraune gewesen sei.
Im übrigen zeigte er sich dem alten Brambach, der ihm dieses Geld fast mit Gewalt ins Haus gebracht hatte, erkenntlich. Er schenkte ihm fünf Mark und setzte es durch, dass er aus der Provinzialunterstützungskasse für alte notleidende Krieger eine regelmässige Ehrengabe von jährlich dreissig Mark erhielt.