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Elftes Kapitel, das wiedergibt, welches Ende dem Geheimrat durch Alraune ward

In der Schaltnacht dieses Jahres fuhr ein Sturmwind über den Rhein. Fuhr von Süden her, fasste die Eisschollen, die hinuntertrieben, schob sie übereinander und warf sie krachend gegen den Alten Zoll. Riss das Dach der Jesuitenkirche herunter, schlug uralte Linden nieder im Hofgarten, löste die starken Pontons der Schwimmschule und zerschellte sie an den mächtigen Pfeilern der Steinbrücke.

Auch in Lendenich jagte der Sturm. Drei Kamine stürzte er vom Gemeindehaus und zertrümmerte die alte Scheune des Hahnenwirts. Aber das Schlimmste tat er dem Hause ten Brinken an: er verlöschte die ewigen Lämpchen, die dem heiligen Johann von Nepomuk brannten.

Das war nie geschehen, solange das Herrenhaus stand, durch manche hundert Jahre nicht. Zwar füllten die Frommen im Dorfe gleich am andern Morgen die Lämpchen von neuem und brannten sie wieder an, aber sie sagten, dass es ein grosses Unglück bedeute und das sichere Ende der Brinken. Denn der Heilige wende seine Hand nun ab von dem lutherischen Hause und das habe er gezeigt in dieser Nacht. Kein Sturm in der Welt hätte die Lämpchen verlöschen können, wenn er es nicht zugelassen –

Ein Zeichen sei es; so sagten die Leute. Manche aber raunten, dass es gar nicht der Sturmwind gewesen sei: das Fräulein sei hinausgegangen um Mitternacht – sie habe die Lampen gelöscht.

Aber es schien, als ob die Leute wohl irrten mit ihren Prophezeiungen. Grosse Feste gab es im Herrenhause, trotz der Fastenzeit. Hell strahlten alle Fenster, eine Nacht um die andere, Musik scholl heraus und helles Lachen und Singen.

Das Fräulein verlangte es so. Sie müsse Zerstreuung haben, sagte sie, nach dem Verlust, der sie getroffen. Und der Geheimrat tat, wie sie es wünschte.

Er kroch hinter ihr her, wo sie nur ging, fast war es, als ob er die Rolle Wölf chens übernommen habe. Gierig traf sie sein schielender Blick, wenn sie ins Zimmer trat, gierig folgte er ihr, wenn sie hinausging. Und sie merkte wohl, wie heiss ihm das Blut durch die alten Adern kroch, lachte hell auf und warf den Kopf in den Nacken.

Immer kapriziöser wurden ihre Launen, immer übertriebener ihre Wünsche.

Der Alte gab, aber er handelte, verlangte stets irgend etwas dagegen. Liess sich leicht kraulen auf der Glatze, oder mit raschen Fingern über den Arm spielen, auf und nieder. Verlangte, dass sie sich auf seinen Schoss setzen solle, oder gar ihn küssen. Und, wieder und wieder, hiess er sie, als Knabe zu kommen.

Sie kam im Reitanzug, kam auch in dem Spitzenkleid vom Lichtmessball. Kam als Fischerknabe mit offener Bluse und nackten Beinen, kam als Liftboy in roter, prall sitzender Uniform mit vortretenden Hüften. Kam als Wallensteinjäger, kam als Prinz Orlowski oder als Nerissa im Gerichtschreibergewand. Und als Pikkolo im schwarzen Frack, als Rokokopage oder als Euphorion in Trikots und blauer Tunika.

Dann sass der Geheimrat auf dem Sofa, liess sie, auf und ab, vor sich hinschreiten. Seine feuchten Hände strichen über die Hosen, seine Beine rutschten hin und her über den Teppich. Und er suchte, mit verhaltenem Atem, wie er beginnen solle –

Da blieb sie wohl stehn, sah ihn herausfordernd an. Dann kuschte er unter ihrem Blicke, fand die Worte nicht, suchte umsonst das hüllende Mäntelchen, das er über seine ekeln Wünsche decken könne.

Spöttisch lächelnd ging sie hinaus. Sowie die Türe ins Schloss fiel, sowie er ihr helles Lachen auf der Treppe hörte – kamen ihm die Gedanken. Nun war es leicht, nun wusste er gut, was er sagen, wie er es anstellen sollte. Oft rief er dann – manchmal auch kam sie zurück. »Nun?« fragte sie. – Aber es ging nicht, ging wieder nicht. »O nichts!« brummte er.

 

Das war es: die Sicherheit fehlte ihm. Und er suchte herum, nach irgendeinem andern Opfer, nur um sich zu überzeugen, dass er noch Herr sei seiner alten Künste.

Er fand eines, das dreizehnjährige Töchterlein des Klempners, das irgendeinen geflickten Kessel zum Hause brachte.

»Komm mit, Mariechen.« sagte er. »Ich will dir was schenken.« Und er zog sie hinein in die Bibliothek.

 

Still, wie ein krankes Wild, schlich die Kleine hinaus, nach einer halben Stunde. Drückte sich eng an den Mauern vorbei, mit weit offenen, starren Augen –

Aber triumphierend, mit breitem Lächeln, schritt der Geheimrat über den Hof, dem Herrenhause zu.

Nun war er wohl sicherer – aber nun wich Alraune ihm aus. Kam vor, sowie er ruhig schien, zog sich zurück, wenn sein Auge wirr flackerte.

»Sie spielt – spielt auch mit mir!« knirschte der Professor.

Dann, einmal, als sie aufstand vom Tisch, fasste er ihre Hand. Er wusste genau, was er reden wollte, Wort für Wort – und hatte es doch vergessen im Augenblicke. Er ärgerte sich, ärgerte sich auch über den hochmütigen Blick des Mädchens. Und rasch, heftig, sprang er auf, drehte ihren Arm herum, warf die Schreiende auf den Diwan.

Sie fiel – aber sie stand wieder auf den Füssen, ehe er noch heran war. Lachte, lachte gell und lang, dass es ihn schmerzte in den Ohren. Und schritt hinaus ohne ein Wort.

Sie blieb in ihren Räumen, kam nicht zum Tee, nicht zum Abendessen. Liess sich nicht blicken durch Tage hindurch.

Er bettelte an ihrer Türe. Gab ihr gute Worte, flehte und bat. Aber sie kam nicht. Er schickte ihr Briefe hinein, beschwor sie, versprach ihr mehr und immer noch mehr. Aber sie antwortete nicht.

Endlich, als er stundenlang vor ihrer Türe wimmerte, öffnete sie. »Sei still,« sagte sie, »es ist mir lästig. – Was willst du?«

Er bat um Verzeihung. Sagte, dass es ein Anfall gewesen sei, dass er die Herrschaft verloren habe über seine Sinne –

»Du lügst.« sprach sie ruhig.

Da liess er alle Masken fallen. Sagte ihr, wie er sie begehre, wie er nicht atmen könne ohne ihre Gegenwart. Sagte ihr, dass er sie liebe.

Sie lachte ihn aus. Aber sie liess sich ein auf Unterhandlungen, machte ihre Bedingungen.

Immer noch handelte er, suchte da und dort ein kleines Mehr zu ergattern. Einmal – nur einmal in der Woche solle sie als Bube kommen –

»Nein,« rief sie. »Jeden Tag, wenn ich mag – – und gar nicht, wenn ich nicht will.«

Da beschied er sich. Und er war, von diesem Tage an, der willenlose Sklave des Fräuleins. War ihr höriger Hund, winselte um sie herum, frass die Krumen, die sie mit frechem Finger bedächtig vom Tische knipste. Sie liess ihn herumlaufen, in seinem eigenen Hause, wie ein altes räudiges Tier, das das Gnadenbrot frisst – nur, weil man zu gleichgültig ist, es totzuschlagen –

Und sie gab ihm ihre Befehle: besorge die Blumen. Kauf ein Motorboot. Lade die Herren ein heute und morgen die. Hol mein Taschentuch herunter. Er gehorchte. Fühlte sich reich belohnt, wenn sie plötzlich herunterkam als Etonboy mit hohem Hute und grossem rundem Kragen, wenn sie ihm die kleinen Lackschuhe hinstreckte, dass er die Seidenbänder knoten solle.

Manchmal, wenn er allein war, erwachte er. Hob langsam den häs suchen Kopf, neigte ihn hin und her, grübelte nach, was eigentlich vorgegangen wäre. War er nicht gewohnt zu herrschen durch Menschenalter? War es nicht sein Wille, der galt auf dem Sitze ten Brinken?

Es war ihm, als ob er ein Geschwür habe, mitten im Hirn, das dick schwoll und die Gedanken erdrückte. Irgendein giftiges Insekt war da hineingekrochen, durch das Ohr oder durch die Nase, hatte ihn gestochen. Und nun schwirrte es herum, dicht um sein Gesicht, summte höhnisch vor seinen Augen. – Warum zertrat er nicht das ekle Geschmeiss? – Er richtete sich halb auf, rang mit einem Entschluss. »Es muss ein Ende haben.« murmelte er.

Aber er vergass das alles, sowie er sie sah. Dann weitete sich sein Blick, dann schärfte sich sein Gehör, vernahm das leiseste Rauschen ihrer Seide. Dann schnupperte seine mächtige Nase in der Luft, sog begierig den Duft ihres Fleisches, zitterten seine alten Finger, leckte seine Zunge den Speichel von den Lippen. Alle seine Sinne krochen ihr nach, gierig, geil, giftig gefüllt mit eklen Lüsten. – Das war der starke Strick, an dem sie ihn hielt.

Herr Sebastian Gontram kam hinaus nach Lendenich; fand den Geheimrat in der Bibliothek.

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte er, »wir werden viele Mühe haben, das alles wieder in Ordnung zu bringen. Sie sollten sich selbst ein bisschen mehr darum bekümmern, Exzellenz.«

»Ich habe keine Zeit,« antwortete der Geheimrat.

»Das geht mich nichts an,« sagte Herr Gontram ruhig. »Sie müssen eben Zeit haben. Sie bekümmern sich um nichts mehr in den letzten Wochen, lassen alles laufen, wie es eben läuft. – Passen Sie auf, Exzellenz, es könnte Ihnen an den Kragen gehen!«

»Ach,« höhnte der Geheimrat, »was ist denn los?«

»Ich habe es Ihnen ja geschrieben,« antwortete der Justizrat, »aber Sie scheinen nicht einmal meine Briefe mehr zu lesen. Der frühere Direktor des Wiesbadener Museums hat eine Broschüre geschrieben – das wissen Sie ja – in der er alles mögliche behauptet; er wurde dafür vor Gericht gezogen. Er beantragte nun die Vernehmung von Sachverständigen – jetzt hat die Kommission die Stücke untersucht und sie zum grössten Teil für Fälschungen erklärt. Alle Blätter sind voll davon – der Angeklagte wird gewiss freigesprochen werden.«

»Lassen Sie ihn doch.« sagte der Geheimrat.

»Na, mir soll's recht sein, Exzellenz, wenn Sie meinen!« fuhr Gontram fort. »Aber er hat schon eine neue Anzeige gegen Sie bei unserer Staatsanwaltschaft eingereicht und die Behörde wird sie aufnehmen müssen. – Uebrigens ist das lange nicht alles. In der Konkurssache der Gerstenberger Erzhütte hat der Konkursverwalter, auf Grund einiger Dokumente, Anzeige wegen Bilanzverschleierung und betrügerischen Bankerotts gegen Sie erstattet; eine ähnliche Anzeige ist, wie Sie wissen, in Sachen der Karpener Ziegeleien eingelaufen. Endlich hat Rechtsanwalt Kramer, der den Klempner Hamecher vertritt, es durchgesetzt, dass die Staatsanwaltschaft die ärztliche Untersuchung seines Töchterchens angeordnet hat.«

»Das Kind lügt,« rief der Professor, »es ist ein hysterischer Fratz.«

»Um so besser,« nickte der Justizrat, »dann wird sich Ihre Unschuld ja herausstellen. Wir haben da ferner eine Klage des Kaufmanns Matthiesen auf Schadenersatz und Rückzahlung von fünfzigtausend Mark, in der mitgeteilt ist, dass zugleich eine Betrugsanzeige erstattet wurde. In einem neuen Schriftsatze in Sachen der Plutus-G. m. b. H. wirft Ihnen der gegnerische Anwalt Urkundenfälschung vor und erklärt ebenfalls, die nötigen Schritte zum strafgerichtlichen Verfahren einleiten zu wollen. – Sie sehen, Exzellenz, die Fälle mehren sich, wenn Sie eine Zeitlang nicht auf das Bureau kommen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass wir irgend etwas Neues da vorfinden.«

»Sind Sie nun fertig?« fuhr ihn der Geheimrat an.

»Nein,« sagte Herr Gontram gleichmütig, »ganz und gar nicht. Es war nur eine kleine Blütenlese aus dem hübschen Strauss, der Sie in der Stadt erwartet. Ich rate Ihnen dringend, Exzellenz, fahren Sie hinein – nehmen Sie die Sachen nicht gar so leicht.«

Aber der Geheimrat antwortete: »Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich keine Zeit habe. Sie sollten mich wirklich in Ruhe lassen mit diesen Lappalien.«

Der Justizrat erhob sich, gab seine Akten in die Ledermappe und schloss diese bedächtig. »Ganz wie Sie wollen,« sagte er. »Uebrigens wissen Sie, dass das Gerücht geht, die Mühlheimer Kreditbank würde ihre Zahlungen in diesen Tagen einstellen?«

»Dummes Zeug,« erwiderte er. »Uebrigens habe ich kaum Geld drin stecken.«

»Nicht?« fragte Herr Gontram ein wenig verwundert, »Sie haben doch erst vor einem halben Jahre das Institut mit über elf Millionen saniert, um Ihre Hand fester in der Kalikontrolle zu haben?! Ich habe ja selbst die Bergwerksobligationen der Fürstin Wolkonski zu diesem Zwecke verkaufen müssen.«

Exzellenz ten Brinken nickte: »Der Fürstin – nun ja. – Bin ich etwa die Fürstin?«

Der Justizrat wiegte bedenklich den Kopf. »Sie wird ihr Geld verlieren.« murmelte er.

»Was geht's mich an?« rief der Geheimrat. »Immerhin wollen wir sehen, was zu retten ist.« Er erhob sich, trommelte mit der Hand auf den Schreibtisch. »Sie haben recht, Herr Justizrat, ich sollte mich etwas mehr bekümmern um meine Angelegenheiten. Erwarten Sie mich, bitte, gegen sechs Uhr im Bureau. – Ich danke Ihnen.«

Er reichte ihm die Hand und geleitete ihn zur Türe.

Aber er fuhr an diesem Nachmittag nicht zur Stadt. Zwei Leutnants kamen zum Tee, da schlich er durch die Zimmer, kam herein, um irgend etwas zu holen, getraute sich nicht aus dem Hause zu gehen. Er war eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem Alraune sprach, auf den Stuhl, auf den sie sich setzte und den Teppich, den ihr Fuss trat.

Und er ging nicht am nächsten Tage, noch am übernächsten. Der Justizrat sandte einen Boten nach dem andern, er schickte sie weg, ohne Antwort; stellte auch das Telephon ab, um nicht mehr angerufen zu werden.

Da wandte sich der Justizrat an das Fräulein, sagte ihr, dass der Geheimrat sehr notwendig zum Bureau kommen müsse. Sie klingelte nach dem Auto, sandte ihre Zofe zur Bibliothek und liess dem Geheimrat sagen, er möge sich fertigmachen, mit ihr zur Stadt zu fahren.

Er zitterte vor Freude – das war das erstemal seit Wochen, dass sie mit ihm ausfuhr. Er liess sich den Pelz umhängen, ging in den Hof, öffnete ihr den Wagenschlag.

Sie sprach nicht, aber es beglückte ihn schon, nur sitzen zu dürfen neben ihr. Sie fuhr gleich zum Bureau, hiess ihn da aussteigen.

»Wo fährst du hin?« fragte er.

»Besorgungen machen,« antwortete sie.

Und er bat: »Wirst du mich abholen?«

Sie lächelte: »Ich weiss nicht. Vielleicht.« – Schon für dies »vielleicht« war er dankbar.

Er stieg die Treppe hinauf, öffnete links die Türe zu des Justizrats Zimmer.

»Da bin ich,« sagte er.

Der Justizrat schob ihm die Akten hin, einen hohen Stoss. »Da ist der Kram,« nickte er, »eine hübsche Sammlung. Auch ein paar alte Sachen, die längst erledigt schienen, sind wieder aufgenommen worden. Und drei neue – seit vorgestern!«

Der Geheimrat seufzte: »Ein bisschen viel. – Wollen Sie mir Bericht erstatten, Herr Justizrat?«

Gontram schüttelte den Kopf: »Warten Sie, bis der Manasse kommt, der weiss besser Bescheid. – Er muss gleich hier sein, ich habe ihn rufen lassen. Er ist gerade zum Untersuchungsrichter in Sachen Hamecher.«

»Hamecher?« fragte der Professor. »Wer ist das?«

»Der Klempner.« erinnerte ihn der Justizrat. »Das Gutachten der Aerzte ist recht belastend; die Staatsanwaltschaft hat Voruntersuchung beantragt. – Da liegt die Ladung. – Uebrigens scheint mir diese Sache vorderhand die wichtigste.«

Der Geheimrat nahm die Akten auf, blätterte sie durch, ein Heft nach dem andern. Aber er war unruhig, lauschte nervös auf jeden Klingelruf, jeden Schritt, der durch den Flur ging. »Ich habe nur wenig Zeit.« sagte er.

Der Justizrat zuckte die Achseln, brannte gemächlich eine frische Zigarre an.

Sie warteten, aber der Rechtsanwalt erschien nicht. Gontram telephonierte in sein Bureau, dann aufs Gericht, aber er konnte ihn nirgends erwischen.

Der Professor schob die Akten zur Seite. »Ich kann sie heute nicht lesen,« sagte er. »Es interessiert mich auch so wenig.«

»Vielleicht sind Sie krank, Exzellenz,« meinte der Justizrat. Er liess Wein holen und Selterwasser.

Dann kam das Fräulein. Der Geheimrat hörte das Auto vorfahren und halten, sprang sofort auf und griff nach seinem Pelz. Kam ihr entgegen auf dem Korridor.

»Bist du fertig?« rief sie.

»Natürlich,« erwiderte er, »vollständig.« Aber der Justizrat trat dazwischen. »Es ist nicht wahr, Fräulein. Wir haben noch gar nicht angefangen. Wir warten auf Rechtsanwalt Manasse.«

Der Alte fuhr auf: »Unsinn! Es ist alles ganz unwichtig. Ich fahre mit dir, Kind.«

Sie sah den Justizrat an; der sprach: »Mir scheint es sehr wichtig für den Herrn Papa.«

»Nein, nein!« beharrte der Geheimrat. Aber Alraune entschied: »Du wirst bleiben« – – »Adieu Herr Gontram,« rief sie, drehte um, lief die Treppen hinab.

Er ging zurück in das Zimmer, trat ans Fenster, sah sie einsteigen und abfahren. Und er blieb da stehen, blickte hinab auf die Strasse in die Dämmerung. Herr Gontram liess die Gasflammen anbrennen, sass ruhig in seinem Sessel, rauchte und trank seinen Wein.

Sie warteten. Das Bureau wurde geschlossen, einer nach dem andern gingen die Angestellten heraus, öffneten die Regenschirme, stapften durch den klebrigen Schmutz der Strasse. Kein Wort sprachen die beiden.

Endlich kam der Rechtsanwalt. Schnellte die Treppen hinauf, riss die Türe auf. »Guten Abend.« knurrte er, stellte den Schirm in die Ecke, zog die Galoschen aus, warf den nassen Mantel auf das Sofa.

»Höchste Zeit, Herr Collega.« sagte der Justizrat.

»Höchste Zeit – ja gewiss höchste Zeit!« gab er zurück. – Er ging auf den Geheimrat zu, stellte sich breit vor ihn hin und schrie ihm ins Gesicht: »Der Haftbefehl ist heraus.«

»Ach was!« zischte der Geheimrat.

»Ach was!« höhnte der Rechtsanwalt. »Ich habe ihn gesehen, ich, mit eigenen Augen. – In Sachen Hamecher! Spätestens morgen früh wird er ausgeführt.«

»Wir müssen Kaution stellen.« bemerkte der Justizrat gelassen.

Der kleine Manasse fuhr herum. »Meinen Sie, dass ich daran nicht auch gedacht habe? – Ich habe sofort Kaution geboten – gleich eine halbe Million. – Abgewiesen! – Die Stimmung ist umgeschlagen beim Landgericht, Exzellenz, ich hab mir's immer gedacht. Ganz kühl erklärte mir der Rat: ›Stellen Sie bitte Ihre Anträge schriftlich, Herr Anwalt. – Aber ich fürchte, dass Sie wenig Glück damit haben werden. Unser Material ist geradezu erdrückend – und so erscheint die äusserste Vorsicht geboten.‹ – Da haben Sie seine eigenen Worte! Wenig erbaulich, was?«

Er goss sich ein Glas voll, leerte es in kurzen Schlucken. »Ich kann Ihnen noch mehr sagen, Exzellenz! Ich traf den Rechtsanwalt Meier II auf dem Gericht, unsern Gegner in der Gerstenbergsache; auch die Gemeinde Huckingen vertritt er, die gestern geklagt hat. Ich bat ihn, auf mich zu warten – ich hatte dann eine längere Unterredung mit ihm; das ist auch der Grund, weshalb ich so spät komme, Herr Collega. –

Er schenkte mir reinen Wein ein – – wir sind loyal an unserm Landgericht, Gott sei Dank! Da erfuhr ich denn, dass sich die gegnerischen Anwälte geeinigt haben, bereits vorgestern abend hatten sie eine lange Konferenz. Ein paar Pressleute waren auch dabei – darunter der fixe Dr. Landmann vom Generalanzeiger. Und Sie wissen, Exzellenz, dass Sie in dem Blatt keinen Pfennig Geld stecken haben! – Die Rollen sind gut verteilt, erkläre ich Ihnen – diesmal werden Sie nicht so leicht herauskommen aus der Falle!«

Der Geheimrat wandte sich an Herrn Gontram: »Was ist Ihre Meinung, Herr Justizrat?«

»Abwarten,« erklärte der, »es wird sich schon noch ein Ausweg finden.«

Aber Manasse schrie: »Und ich sage Ihnen: es findet sich kein Ausweg! Die Schlinge ist geknüpft, sie wird zugezogen – da baumeln Sie, Exzellenz, wenn Sie der Galgenleiter nicht vorher einen raschen Tritt geben!«

»Was raten Sie also?« fragte der Professor.

»Genau dasselbe, was ich dem armen Dr. Mohnen geraten habe, den Sie auf dem Gewissen haben, Exzellenz! Es war eine Gemeinheit von Ihnen – doch was hilft es, wenn ich Ihnen jetzt Wahrheiten sage?! Ich rate, dass Sie im Augenblick flüssig machen, was möglich ist – übrigens werden wir das ja auch ohne Sie können. Dass Sie Ihre Siebensachen packen und verduften – heute nacht noch! – Das rate ich.«

»Man wird einen Steckbrief erlassen,« meinte der Justizrat.

»Gewiss,« rief Manasse, »aber man wird es ohne besonderen Nachdruck tun. Ich sprach schon mit Kollegen Meier darüber, er teilt meine Ansicht. Es liegt durchaus nicht im Interesse der Gegner, einen Skandalprozess heraufzubeschwören und auch die Behörden werden froh genug sein, wenn sie das vermeiden können. Man will Sie nur unschädlich machen, Exzellenz, Ihrem Treiben ein Ende setzen: und dazu – glauben Sie mir – haben die Leute nun die Mittel. Wenn Sie aber verschwinden, irgendwo im Ausland still leben, werden wir hier alles in Ruhe abwickeln können; es wird freilich eine Stange Gold kosten – aber was liegt daran? Man wird Rücksichten auf Sie nehmen, auch heute noch, schon in ureignem Interesse, um der radikalen und sozialistischen Presse nicht diesen prachtvollen Frass hinzuwerfen.«

Er schwieg, wartete auf Antwort. Exzellenz ten Brinken ging auf und ab im Zimmer, langsam, mit schweren, schlürfenden Schritten. »Wie lange, glauben Sie, muss ich wegbleiben?« fragte er endlich.

Der kleine Rechtsanwalt drehte sich um nach ihm. »Wie lange?« bellte er. »Welche Frage? Genau so lange, wie Sie leben! Seien Sie doch froh, dass Ihnen wenigstens diese Möglichkeit noch bleibt: es ist gewiss angenehmer in einer schönen Villa an der Riviera seine Millionen zu verzehren, als im Zuchthaus sein Leben zu beschliessen! Und darauf würde es hinauskommen, dafür garantiere ich Ihnen! – Uebrigens hat Ihnen die Behörde selbst dieses Türchen geöffnet, der Untersuchungsrichter hätte genau so gut heute morgen schon den Haftbefehl unterschreiben können; da würde er jetzt schon ausgeführt sein! Verdammt anständig sind die Leute – aber sie würden es Ihnen eklig übelnehmen, wenn Sie das Türchen nicht benutzen wollten. Wenn sie zugreifen müssen – fassen sie fest zu: dann, Exzellenz, schlafen Sie heute nacht zum letzten Male als freier Mensch.«

Der Justizrat sagte: »Reisen Sie! – Es scheint mir nach alledem wirklich das beste.«

»O ja,« kläffte Manasse. »Das beste. Das allerbeste. Und sogar das einzigste! Reisen Sie. Verschwinden Sie. Treten Sie ab – auf Nimmerwiedersehen. – Und nehmen Sie Ihr Fräulein Tochter mit – Lendenich wird Ihnen dankbar dafür sein und unsere Stadt auch.«

Da horchte der Geheimrat auf. Zum ersten Male an diesem Abend kam ein wenig Leben in seine Züge, senkte sich die starre apathische Maske, auf der wie leichte Lichter eine nervöse Unruhe flackerte.

»Alraune« – flüsterte er. »Alraune – Wenn sie mitgeht –« Er fuhr mit der plumpen Hand über die mächtige Stirne, zwei-, dreimal. Er setzte sich, liess sich ein Glas Wein geben, leerte es.

»Ich glaube, Sie haben recht, meine Herren.« sagte er. »Ich danke Ihnen. Wollen Sie mir noch einmal alles auseinandersetzen.« Er griff zu den Akten, nahm die obersten. »Karpener Ziegeleien – bitte –«

Der Rechtsanwalt begann, ruhig, sachlich hielt er seinen Vortrag. Der Reihe nach nahm er die Akten vor, erwog alle Wahrscheinlichkeiten, jede kleinste Chance eines Widerstandes. Und der Geheimrat lauschte ihm, warf hie und da ein Wort ein, fand manchmal eine neue Möglichkeit, wie in alten Zeiten. Immer klarer, immer überlegender wurde der Professor, es schien, als erwache mit jeder neuen Gefahr immer frischer seine alte Elastizität.

Er schied eine Anzahl Sachen aus, als verhältnismässig ungefährlich. Aber es blieben immer noch genug, die ihm den Hals brechen mussten. Er diktierte ein paar Briefe, gab eine Fülle von Anweisungen. Machte sich Notizen, entwarf Anträge und Beschwerden – Dann studierte er das Kursbuch mit den Herren, machte seine Reisepläne, gab genaue Instruktionen für die nächste Zeit. Und als er das Bureau verliess, durfte er sich sagen, dass seine Angelegenheiten geordnet waren.

Er nahm ein Mietauto, fuhr hinaus nach Lendenich, sicher und selbstvertrauend. Und erst, als ihm der Diener das Tor aufschloss, als er über den Hof schritt und die Treppe hinauf zum Herrenhause, da erst verliess ihn seine Zuversicht.

Er suchte Alraune, nahm es als gutes Vorzeichen, dass niemand zu Gaste war. Er hörte von der Zofe, dass sie allein genachtmahlt habe und nun in ihrem Zimmer sei; so ging er hinauf. Klopfte an ihre Türe, trat ein auf ihr: »Herein«.

»Ich muss mit dir sprechen,« sagte er.

Sie sass am Schreibtisch, sah kurz auf. »Nein!« rief sie, »Es passt mir jetzt nicht.«

»Es ist sehr wichtig,« bat er. »Es ist unaufschiebbar.«

Sie sah ihn an, schlug leicht die Füsse übereinander. »Jetzt nicht,« antwortete sie. »Geh hinunter. – In einer halben Stunde.«

Er ging. Legte den Pelz ab, setzte sich auf das Sofa. Wartete. Und er überlegte, wie er es ihr sagen sollte, wog jeden Satz ab und jedes Wort.

Nach einer guten Stunde hörte er ihre Schritte. Er erhob sich, ging zur Türe – da stand sie schon vor ihm. Als Liftboy, in erdbeerroter praller Uniform.

»Ah –« machte er, »das ist lieb von dir.«

»Zur Belohnung,« lachte sie. »Weil du so hübsch pariert hast heute. – Und nun rede: was gibt es?«

Der Geheimrat schminkte nicht, sagte ihr alles, wie es war, haarklein, ohne jede Zutat. Und sie unterbrach ihn nicht, liess ihn reden und beichten.

»Es ist deine Schuld im Grunde,« sagte er. »Ich wäre mit alledem fertig geworden, ohne zu viele Mühe. Aber ich habe es gehen lassen, habe mich nur um dich gekümmert, da wuchsen der Hydra die Köpfe.«

»Die böse Hydra –« spottete sie. »Und nun macht sie dem braven armen Herkules so viele Schwierigkeiten? Uebrigens deucht mich, als ob diesmal der Held der Giftmolch sei und das Schlangenungeheuer seine strafende Rächerin.«

»Gewiss,« nickte er, »vom Standpunkte der Leute aus. Sie haben ihr ›Recht für alle‹ – ich habe mir mein eigenes gemacht. Das ist eigentlich mein ganzes Verbrechen – ich glaubte, dass du das verstehen würdest.«

Sie lachte vergnügt: »Gewiss, Väterchen, warum nicht? Mach ich dir Vorwürfe? – Nun sag, was du tun willst?«

Er setzte ihr auseinander, dass sie fliehen müssten, in dieser Nacht noch. – Man könnte ein wenig reisen, sich die Welt ansehn. Zuerst nach London vielleicht, oder nach Paris – da könne man bleiben, um sich mit allem Nötigen zu equipieren. Und dann über den Ozean, quer durch Amerika. Nach Japan – oder auch nach Indien – ganz wie sie es wolle. Oder auch beides, man habe ja keine Eile, habe Zeit genug. Und endlich nach Palästina, nach Griechenland, Italien und Spanien. Wo es ihr gefiele – da würde man bleiben; würde abreisen, wenn sie genug habe. Und endlich würde man irgendwo eine schöne Villa kaufen, am Gardasee oder an der Riviera. Mitten in einem grossen Garten natürlich. Sie würde ihre Pferde haben und ihre Autos, auch ihre eigene Jacht. Würde empfangen können, wen sie wollte, ein grosses Haus machen –

Er kargte nicht mit seinen Versprechungen. Malte in leuchtenden Farben alle verlockenden Herrlichkeiten, fand immer noch ein Neues und besonders Reizvolles. Endlich hielt er inne, tat seine Frage: »Nun, Kind, was sagst du dazu? Möchtest du nicht das alles sehen? – Möchtest du nicht so leben?«

Sie sass auf dem Tisch, baumelte mit den schlanken Beinen. »O ja,« nickte sie. »Sehr gerne sogar. – Nur –«

»Nur?« fragte er rasch. »Wenn du noch einen Wunsch hast – sag ihn! Ich will ihn dir sicher erfüllen.«

Sie lachte ihn an. »So erfüll ihn mir also! – Ich will sehr gerne reisen – nur nicht mit dir!«

Der Geheimrat trat einen Schritt zurück; taumelte fast, hielt sich an einer Stuhllehne. Er suchte nach Worten und fand keine.

Und sie sprach: »Mit dir würde es mich langweilen. – Du bist mir lästig! – Ohne dich!«

Er lachte auch, versuchte sich einzureden, dass sie scherze. »Aber ich bin es ja gerade, der reisen muss,« sagte er. »Ich muss fahren – noch heute nacht!«

»So fahre,« sagte sie leise.

Er griff nach ihren Händen, aber sie legte die Arme auf den Rücken. »Und du, Alraune?« bettelte er.

»Ich?« machte sie. »Ich bleibe.«

Er begann von neuem, flehte und jammerte. Sagte ihr, dass er sie nötig habe, wie die Luft, die er atme. Dass sie doch Mitleid haben solle mit ihm – bald sei er nun achtzig und würde ihr gewiss nicht allzu lange zur Last fallen. Dann wieder drohte er, schrie, dass er sie enterben wolle, auf die Strasse werfen, ohne einen Heller –

»Versuch es doch!« warf sie dazwischen.

Immer wieder sprach er, malte den bunten Glanz, den er ihr geben wollte. Sie sollte frei sein, wie kein anderes Mädchen, tun und lassen dürfen, was ihr beliebe. Kein Wunsch, kein Gedanke solle sein, den er ihr nicht zur Wirklichkeit umwandeln würde. Nur mitkommen solle sie – ihn nicht allein lassen.

Sie schüttelte den Kopf. »Mir gefällt es gut hier. Ich habe nichts getan – ich bleibe.«

Sie sprach es ruhig und still. Unterbrach ihn auch nicht, liess ihn reden und versprechen, immer von neuem. Aber sie schüttelte den Kopf, sowie er die eine Frage tat.

Endlich sprang sie hinab vom Tisch. Ging mit leichten Schritten zur Türe hin, an ihm vorbei.

»Es ist spät,« sagte sie, »ich bin müde. Ich will schlafen gehen. – Gute Nacht, Väterchen, glückliche Reise.«

Er vertrat ihr den Weg, machte noch einen letzten Versuch. Pochte darauf, dass er ihr Vater sei, sprach von Kindespflichten, wie ein Pastor. Da lachte sie: » – – auf dass ich in den Himmel komm!« Sie stand neben dem Sofa, setzte sich rittlings auf die Seitenlehne. »Wie gefällt dir mein Bein?« rief sie plötzlich. Und sie streckte ihm das schlanke Bein weit entgegen, wippte damit, hin und her in der Luft.

Er starrte auf ihr Bein. Vergass, was er wollte, dachte nicht mehr an die Flucht und an alle Gefahr. Sah nichts anderes, fühlte nichts – als dieses erdbeerrote schlanke Knabenbein, das auf und nieder wippte vor seinen Augen.

»Ich bin ein gutes Kind,« zwitscherte sie, »ein sehr liebes Kind, das seinem dummen Väterchen viele Freude macht. – Küss mein Bein, Väterchen, streichle mein hübsches Bein, Väterchen!«

Da fiel er schwer auf die Knie. Griff nach dem roten Beine, fuhr mit irren Fingern über die Schenkel und die prallen Waden. Drückte seine feuchten Lippen auf das rote Tuch, leckte lang darüber mit bebender Zunge –

Dann sprang sie auf, leicht und behende. Zupfte ihn am Ohr, klatschte ihn leicht auf die Wange. »Nun, Väterchen,« klingelte sie, »habe ich meine Kindespflichten gut erfüllt? – Gute Nacht denn! Reise glücklich und lass dich nicht erwischen – es soll recht ungemütlich sein in dem Zuchthaus. Schick auch einmal eine hübsche Ansichtskarte, hörst du?«

Sie war in der Türe, ehe er sich noch erheben konnte. Machte eine Verbeugung, kurz und stramm wie ein Knabe, legte dabei die rechte Hand an die Mütze. »Habe die Ehre, Exzellenz,« rief sie. – »Und mach nicht zuviel Lärm hier unten, wenn du packen lässt – – es könnte mich im Schlafe stören.«

Er wankte ihr nach, sah, wie sie hurtig die Treppen hinauflief. Hörte oben die Türe öffnen, hörte das Schloss schnappen und zweimal den Schlüssel sich drehen. Er wollte ihr nach, legte die Hand aufs Geländer. Aber er fühlte, dass sie nicht öffnen würde, trotz aller Bitten. Dass diese Türe geschlossen bliebe für ihn, und wenn er die ganze Nacht über vor ihr stünde, bis zum Morgengrauen, bis – bis –

Bis die Gendarmen kommen würden, ihn abzuholen – -h i'«':°i«!

Er blieb stehen, regungslos. Lauschte, hörte ihre leichten Schritte über ihm – zwei-, dreimal, quer durch das Zimmer. Und dann nichts mehr. Dann war es still.

Er schlich zum Hause hinaus, ging barhaupt durch den schweren Regen über den Hof. Trat in die Bibliothek, suchte nach Streichhölzern, brannte am Schreibtische ein paar Kerzen an. Und Hess sich schwer in den Sessel fallen.

»Wer ist sie denn?« flüsterte er. »Was ist sie?«

– »Welch ein Wesen!« raunte er.

Er schloss den alten Mahagonitisch auf, zog eine Schublade auf, entnahm ihr den Lederband. Legte ihn vor sich hin, starrte auf den Deckel. »A. T. B.« las er halblaut – »Alraune ten Banken«.

Das Spiel war aus, ganz aus, das empfand er wohl. Und er hatte es verloren – – keine letzte Karte hielt er mehr in der Hand. Es war sein Spiel gewesen, er allein hatte die Karten gemischt. Alle Trümpfe hielt er – und nun hatte er doch verspielt.

Er lächelte, grimmig genug. Nun musste er wohl die Zeche bezahlen.

Bezahlen? – O ja! – Und in welcher Münze?

Er sah auf die Uhr – es war zwölf vorbei. Spätestens um sieben Uhr würden die Leute kommen mit dem Haftbefehl – über sechs Stunden hatte er noch. Sie würden sehr höflich sein, sehr rücksichtsvoll – in seinem eigenen Auto würden sie ihn ins Untersuchungsgefängnis bringen. Dann – dann begann der Kampf. Das war nicht schlecht – durch viele Monate würde er sich wehren, jede Spanne breit den Gegnern streitig machen. Aber schliesslich – in der Hauptverhandlung – würde er doch zusammenbrechen, da hatte Manasse recht. Und endlich – das Zuchthaus.

Oder die Flucht. – Aber allein. Ganz allein? Ohne sie? Er fühlte, wie er sie hasste in diesem Augenblick, aber er wusste auch, dass er nichts anderes mehr denken könne, als sie. Er würde herumlaufen in der Welt, ziellos, zwecklos, nichts sehen, nichts hören, als ihre helle, zwitschernde Stimme, ihr rotes, wippendes Bein. Oh – verhungern würde er. Draussen oder im Zuchthause – ganz gleich war es.

Dies Bein – dies süsse, schlanke Knabenbein! – Ah – wie sollte er leben ohne dies rote Bein? Das Spiel war verloren – er musste aufkommen für die Zeche. – So wollte er sie gleich bezahlen, in dieser Nacht noch – keinem etwas schuldig bleiben. – Wollte zahlen, mit dem, was ihm blieb – mit seinem Leben.

Und er dachte, dass es ja doch nichts mehr wert sei, und dass er die Partner noch betrügen würde am Ende.

Das tat ihm wohl; nun grübelte er, ob er ihnen nicht obendrein noch einen letzten Fusstritt versetzen könne. Das wäre eine kleine Genugtuung.

Er nahm sein Testament aus dem Schreibtisch, das Alraune als Erbin einsetzte. Las es durch, zerriss es dann sorgfältig in kleine Fetzen. »Ich muss ein neues machen,« flüsterte er. »– Für wen nur – für wen –?«

Er nahm einen Bogen, tauchte die Feder ein. Da war seine Schwester – war ihr Sohn, Frank Braun, sein Neffe –

Er zögerte. Der – der? War der es nicht, der ihm dieses Geschenk ins Haus brachte, dies seltsame Wesen, an dem er nun zugrunde ging? Er – wie die andern! – Oh, ihn sollte er treffen, ihn mehr noch wie Alraune.

»Du wirst Gott versuchen,« hatte der Bengel gesagt. »Du wirst ihm eine Frage stellen, so frech, dass er antworten muss.« – O ja, nun hatte er seine Antwort!!

Aber wenn er hinab musste, unerbittlich, so sollte der Junge sein Schicksal teilen, er, Frank Braun, der ihm diesen Gedanken einblies! – Oh, er hatte ja eine blitzblanke Waffe, sie, sein Töchterlein: Alraune ten Brinken. Sie würde auch ihn schon dahin bringen, wo er selbst heute war –

Er überlegte. Wiegte den Kopf, grinste selbstgefällig in dem gewissen Gefühl eines letzten Triumphes. Und er schrieb sein Testament, ohne Stocken, in raschen, hässlichen Zügen.

Alraune blieb seine Erbin, sie allein. Aber er vermachte der Schwester ein Legat und ein anderes dem Neffen. Ihn aber bestimmte er zum Testamentsvollstrecker, ihn zum Vormunde des Mädchens, bis es mündig sei. – So musste er wohl herkommen, musste in ihrer Nähe sein, musste die schwüle Luft ihrer Lippen atmen.

Und es würde kommen, wie bei allen andern! Wie bei dem Grafen und dem Dr. Mohnen, wie bei Wolf Gontram. Wie bei dem Chauffeur. – Wie bei ihm selbst endlich!

Er lachte laut. Machte noch einen Nachtrag, dass die Universität Erbin sein sollte, falls Alraune ohne Erben sterben sollte: so schloss er den Neffen für alle Fälle aus. Unterschrieb dann den Bogen, datierte ihn.

Nun nahm er den Lederband. Las wieder, schrieb die Vorgeschichte, holte gewissenhaft alles nach, aus der letzten Zeit. Endete mit einer kleinen Ansprache an seinen Neffen, triefend von Hohn. »Versuche dein Glück.« schrieb er. »Schade, dass ich nicht mehr da bin, wenn du an die Reihe kommst: ich hätte das sehr gerne gesehen!«

Er löschte sorgfältig die nasse Tinte, klappte den Band zu, legte ihn zurück in das Schubfach, zu den andern Erinnerungen: dem Halsbande der Fürstin, demAlräunchen der Gontrams, dem Würfelbecher, der weissen, durchschossenen Karte, die er dem Grafen Geroldingen aus der Westentasche nahm. »Mascotte« stand darauf, neben dem vierblättrigen Kleeblatt. Und viel schwarzes, geronnenes Blut klebte herum –

Er trat an die Gardine und löste die seidene Schnur. Er schnitt mit der langen Schere ein Stück herunter, warf es in die Schublade zu dem andern.

»Mascotte!« lachte er. »Ça porte bonheur pour la maison!«

Er suchte herum an den Wänden, stieg auf einen Stuhl, hob mit grosser Anstrengung ein mächtiges eisernes Kruzifix von dem schweren Haken. Legte es vorsichtig auf den Diwan.

»Entschuldige,« grinste er, »dass ich dich ausquartiere. – Es ist nur für kurze Zeit – für ein paar Stunden nur – du wirst einen würdigen Stellvertreter haben!«

Er knüpfte die Schlinge, warf sie hoch über den Haken. Zog daran, überzeugte sich, dass sie fest hielt –

Und er stieg zum zweiten Male auf den Stuhl –

 

Die Gendarmen fanden ihn, am frühen Morgen. Der Stuhl war umgestossen, dennoch stand, mit einer Fussspitze, der Tote darauf. Es schien, als ob ihn die Tat gereut habe, als ob er im letzten Augenblick versucht habe, sich zu retten. Weit offen stand sein rechtes Auge, schielte hinaus, nach der Türe zu. Und die blaue, dicke Zunge hing ihm weit hinaus –

Sehr hässlich sah er aus.

Intermezzo

Und vielleicht, du mein blondes Schwesterchen, tropfen auch deiner stillen Tage Silberglocken nun weiche Klänge schlafender Sünden.

Goldregen wirft nun sein giftiges Gelb, wo der Akazien blasser Schnee lag, heisse Klematis zeigen ihr tiefes Blau, wo der Glyzinen fromme Trauben allen Frieden läuteten. Süss ist das leichte Spiel lüsterner Sehnsüchte, süsser, scheint mir, zur Nachtzeit der grausame Kampf aller Leidenschaften. Aber süsser als alles deucht mich nun, an heissem Sommermittag, die schlafende Sünde.

Leicht schlummert sie, meine sanfte Freundin und man darf sie nicht wecken. Denn nie ist sie schöner wie in solchem Schlafe.

Im Spiegel ruht meine liebe Sünde, nahe genug, ruht in dünnem Seidenhemd auf weissen Linnen. Deine Hand, Schwesterlein, fällt über des Bettes Rand, leicht krümmen sich die schmalen Finger, die meine Goldreifen tragen; durchsichtig leuchten, wie erstes Tagesglühen, deine rosigen Nägel. Fanny manikürte sie, deine schwarze Zofe, sie war es, die die kleinen Wunder schuf. Und ich küsse im Spiegel deiner rosigen Nägel durchsichtige Wunder.

Nur im Spiegel – im Spiegel nur. Nur mit kosenden Blicken und meiner Lippen leisem Hauch. Denn sie wachsen, wachsen wenn die Sünde erwacht, werden zu scharfen Krallen der Tigerkatze. Reissen mein Fleisch –

Von dem Spitzenkissen hebt sich dein Haupt, rings fallen deine blonden Locken. Fallen leicht umher, wie ein Flackern goldener Flammen, wie das sanfte Wehen der ersten Winde, bei des jungen Tages Erwachen. Deine kleinen Zähne aber lächeln heraus aus den schmalen Lippen, wie die Milchopale in dem leuchtenden Armband der Mondgöttin. Und die Goldhaare küsse ich, Schwesterlein und deine leuchtenden Zähne.

Im Spiegel nur – nur im Spiegel. Mit meiner Lippen leisem Hauch und mit kosenden Blicken. Denn ich weiss: wenn die heisse Sünde erwacht, werden zu mächtigen Hauern die kleinen Milchopale und zu feurigen Vipern deine Goldlocken. Da reissen der Tigerin Klauen mein Fleisch«, schlagen die scharfen Zähne grause Blutwunden. Zischeln die flammenden Vipern mir rings um das Haupt, kriechen ins Ohr, spritzen ihr Gift ins Hirn, raunen und schmeicheln die Märchen wildester Gierde –

Hinabglitt von der Schulter dein Seidenhemd, da lachen deine Kinderbrüstchen. Ruhen, wie zwei weisse Kätzchen, tagesjung, strecken hinauf in die Luft die süssen, rosigen Schnäuzchen. Blicken auf zu deinen sanften Augen, blauen Steinaugen, die das Licht brechen: die leuchten wie die Sternsaphire in meines Goldbuddhas weltstillem Kopfe.

Siehst du, Schwesterlein, wie ich sie küsse – – hinten im Spiegel? Keine Fee hat leiseren Hauch. – Denn ich weiss es gut: wenn sie wach wird, die ewige Sünde, schlagen blaue Blitze aus deinen Augen, treffen mein armes Herz. Machen mein Blut wallen und sieden, schmelzen in Gluten die starken Fesseln, dass aller Wahnsinn frei wird und daherbraust in alle Weiten –

Dann jagt, los ihrer Ketten, die rasende Bestie. Stürzt zu dir, Schwester, in wütenden Qualen. Und in die süssen Kinderbrüstchen, die zu einer Morddirne riesigen Brüsten wurden – nun da die Sünde erwachte – reisst sie die Pranken, schlägt sie das grimme Gebiss – da jauchzen die Schmerzen in Blutbächen.

Aber stiller noch sind meine Blicke, wie die Tritte der Nonnen am heiligen Grabe. Und leiser noch, leiser fliegt meiner Lippen Hauch, wie im Münster des Geistes Kuss zur Hostie hin, der das Brot wandelt in des Herren Leib.

Sie soll ja nicht erwachen, soll ruhen und schlummern, die schöne Sünde.

Denn nichts, liebe Freundin, deucht mich süsser, wie die keusche Sünde in ihrem leichten Schlaf.


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