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»Ich sage mich los von der kindischen Hoffnung, den Zorn eines Tyrannen durch freiwillige Entwaffnung zu beschwören, durch niedere Untertänigkeit und Schmeichelei sein Vertrauen zu gewinnen.«
K. v. Clausewitz.
»– Oh, kein Donner an dem Himmel und kein Laut auf Erden, quöll' er auch von schönster, süßester Lippe, gleicht an Macht dem Worte: Vaterland!«
D. Chr. Grabbe.
Ruhr und Rhein, Frühjahr 1923.
Essen; Lili schritt über den Bahnhofplatz. Gewohnter Anblick: Tanks, Geschütze, Panzerwagen. Drahtverhau und Mannschaften – diesmal waren es Belgier und Turkos. Sie ging durch die Straße, betrachtete einen Laden, von dessen Schaufenster gerade die Holzverschalung entfernt wurde, während ein deutscher Stadtpolizist mißmutig zusah. Schon kam die Scheibe zum Vorschein; drinnen wischte die ausgemergelte Putzfrau müde dran herum. Das war nun die fünfte Scheibe der französischen Buchhandlung in Essen: viermal hatte man sie zerschlagen, viermal neu eingesetzt.
Lili lächelte, wie sie an die Entrüstung Dr. Eggelings dachte, als Gerhard befahl, in allen Städten die Schaufenster der französischen Geschäfte einzuwerfen.
»Wir sind doch keine Schuljungen!« hatte er gerufen.
»Aber vielleicht lernen die von uns«, hatte ihm Gerhard geantwortet. »Von dem, was wir dem welschen Diebspack antun, merkt die Bevölkerung herzlich wenig. Die Zeitungen dürfen nichts drüber bringen, wenn wir eine Eisenbahnbrücke gesprengt, einen Schleppkahn im Kanal versenkt haben. Aber die französischen Lebensmittelgeschäfte und Buchhandlungen, die sich überall die besten Läden aneignen, sieht jeder Mensch jeden Tag. Eine zerschlagene Scheibe erzählt: dies Land ist noch deutsch! Füllt mit Steinen die Taschen – es erfreut das Herz, wenn sie Scherben machen. Und verlaßt euch drauf: es steckt an.«
Er hatte recht gehabt – wenige Schaufenster nur hatten seine Leute zerschlagen. Aber das Beispiel hatte gewirkt: trotz aller Bewachung gab's Scherben Tag und Nacht.
Ein Turkokorporal fuhr vor, stellte sein verschmutztes Motorrad am Rinnstein fest, trat in den Laden. Das letzte Holzbrett fiel, nun schleppte die Frau ihre Leiter heraus, putzte von außen. Lili blickte durch die Scheibe, betrachtete die bunte Auslage. Da griff eine Hand ihren Arm, riß sie schnell zur Seite – so entging sie dem Wasserguß des vollen Eimers, der der Putzfrau von der Leiter rutschte.
»Achtung – Attenzione!« klang eine Stimme. Aber es war nicht ein französisches »Attention!« mit dem nasalen »a« der zweiten Silbe, nein, ein deutliches »e« und ein volles »one« am Ende. Sie wandte sich um; ein dunkler Herr stand neben ihr, der sie freundlich anlächelte. Sie dankte; er grüßte leicht, ging weiter, blieb aber am nächsten Ladenfenster wieder stehn. Gleich drauf strolchte von der andern Seite ein Kerl vorbei mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Er reichte der Putzfrau den Eimer, der auf die Straße gerollt war, stellte sich dann breit vor das Schaufenster, dicht neben Lili. Er sah sie listig unter seiner Schirmmütze an, nickte ihr zu, zwinkerte mit den Augen, sagte halblaut: »Nette Bücher, wat, Fräulein? Soll ich Ihne en paar besorje?«
Sie erkannte Döres. Aber ehe sie noch antworten konnte, hatte der die Leiter umgestoßen, daß sie mit voller Wucht in das Schaufenster fiel. Dann griff er mit beiden Händen in die Auslage, nahm ein paar Bücher, drückte sie ihr in die Hand. Gleich faßte ihn der Schutzmann am Kragen, Döres rang mit ihm. Die Ladentür öffnete sich, der Turkokorporal sprang wie eine Katze heraus. Er stolperte über Lilis Fuß, schlug der Länge lang aufs Pflaster. Im selben Augenblick versetzte Döres seinem Gegner einen Kniestoß in den Unterleib, riß sich los, sprang zu dem Motorrad, stieß es vor, daß die Standgabel hochknallte, fuhr davon.
Das alles ging so schnell, daß sich Lili kaum klar darüber wurde, was geschehn war. Dann war sie von Soldaten umringt, die sie schreiend mit sich zerrten. Da kam ihr der schwarze Herr zu Hilfe. Er redete auf die Soldaten ein, in einem Gemisch von Französisch und Italienisch. Unter Führung des Korporals zog man hinüber zum Bahnhof in die Wache.
Der wachhabende französische Leutnant erhob sich nicht, als sie eintraten. Er fuchtelte mit seiner Reitgerte herum, vernahm zunächst seine Leute. Als er Lili aufrief, ihr mit der Gerte winkte, an seinen Tisch zu treten, mischte sich der Italiener ein. Er versuchte es zunächst mit Französisch, stockte, sprach einige Sätze zerhacktes Deutsch und fuhr schließlich in seiner Muttersprache fort.
»Mais, Monsieur, je ne comprends pas un mot!« schrie der Offizier, »'cré nom – qui êtes-vous et que voulez-vous?«
Der Italiener zog seinen Paß aus der Tasche. Der Offizier las, preßte die Lippen zusammen. Lili begriff: das war einer der Leute, die Rom geschickt hatte – also mußte der Offizier Rücksicht nehmen. »Eh bien, Monsieur?« fragte der.
Wieder begann der Italiener, aber der Leutnant sah ihn verständnislos an. Da trat Lili heran, übersetzte: die Signorina habe vor dem Laden gestanden, sich die Bücher angeschaut – da sei der Kerl gekommen, der die Leiter ins Schaufenster gestoßen habe. Er habe alles aus nächster Nähe beobachtet: die Signorina sei völlig unschuldig.
Der Franzose nickte, wurde sehr höflich. Er dankte dem Italiener, bat Lili um Entschuldigung. Verbeugte sich, sagte ein wenig anzüglich: »Mademoiselle – Monsieur – bon soir! Et beaucoup de plaisir!«
Lili ging neben ihrem Retter, dankte ihm. Er wehrte ab; bat sie dann, mit ihm eine Tasse Tee zu trinken. Er zog seine Brieftasche heraus, reichte ihr seine Karte. »Roberto Farinacci«, las sie, »Avvocato, Cremona.«
»Advokat?« fragte sie. »Ich glaubte, daß Sie Ingenieur seien – Sie sind doch von der italienischen Kommission?«
Er nickte. »Bin ich auch – unsre Regierung hielt es für gut, auch ein paar Juristen mitzuschicken.«
Sie traten in ein Kaffeehaus; als er ihr aus dem Mantel half, bemerkte sie, daß sie immer noch die zwei Bücher in der Hand hielt, die Döres – besorgt hatte. Farinacci lachte. »Andenken, Kriegsbeute! Nur gut, daß es der französische Leutnant nicht sah. Schenken Sie mir eins, schreiben Sie eine Widmung hinein, zur Erinnerung.«
Er nahm seine Füllfeder, schrieb ihr seinen Namen und ein paar Worte in eins der Bücher – sie schrieb in das andre.
»Lili Ignota?« las er. »Ein merkwürdiger Name!«
»Wollen Sie meinen Paß sehn?« entgegnete sie.
Er schüttelte den Kopf. »Es stehn manche Namen auf Pässen in dieser Zeit.« Lili schaute ihn an – dieser Mann war gewiß nicht dumm. Man mußte auf seiner Hut sein.
Farinacci lächelte; es war, als ob er ihr den Gedanken vom Gesicht abgelesen habe. »Keine Sorge, Signorina«, sagte er. »Glauben Sie, ich hätte nicht gesehn, daß der Bursch, der die Scheibe zertrümmerte, vorher mit Ihnen sprach? Er kannte Sie – kannte Sie gut. Und ich sah auch, wie ein kleiner Fuß sich ausstreckte, als der Turko aus der Ladentür sprang. Tut's weh? Sie müssen einen tüchtigen Tritt abbekommen haben, als der Kerl auf die Straße schlug?«
Unwillkürlich griff Lili nach ihrem Fuß. Ah, der Knöchel war geschwollen – jetzt spürte sie auch den Schmerz.
»Sie haben den Burschen gerettet«, fuhr er fort, »sonst hätte der Turko ihn gefaßt. Dann säße er jetzt auf der Wache und würde mit Reitpeitschen behandelt.«
Was wollte dieser Mann von ihr? Er war ein Italiener, war ein Feind. Hatte er sie darum den Franzosen aus den Händen geholt, um sie nun in seine eignen Klauen zu zwingen?
»Ich denke, daß Sie ein Ehrenmann sind –« erwiderte sie. Sie sagte: »Galantuomo«, und das volltönende Wort klang ihr in den Ohren.
Er wurde ernst. »Gab ich Ursache, daran zu zweifeln?«
Ihr Blick fiel auf eine unscheinbare Nadel, die er im Knopfloch trug: ein Stabbündel, aus dem ein Beil herausschaute. »Nein«, sagte sie schnell. »Ich vertraue Ihnen, Herr – Sie sind Faschist. Sie lieben Ihr Land und Ihr Volk –«
Seine schwarzen Augen leuchteten. »Das tue ich«, rief er, »liebe es ›über alles‹, und grade darum verstehe ich die Deutschen, die ihr Vaterland auch so glühend lieben – ›über alles‹, wie es in eurem Liede heißt.«
Er rührte in seinem Tee, setzte die Tasse an die Lippen – und zurück, ohne zu trinken. »Signorina«, fuhr er fort, »ich hatte heute das Glück, Ihnen einen Gefallen zu erweisen. Ich kenne Sie eine halbe Stunde erst, kann nicht verlangen, daß Sie Ihr Herz mir öffnen. Vertrauen – das kann nur gegenseitig sein. Und da ich von Ihnen einiges erfahren möchte, von dem ich glaube, daß Sie darum Bescheid wissen, so will ich zuerst sprechen.«
»Was ist es?« fragte sie.
»Also hören Sie, Signorina«, begann er, »wir wissen, daß dieselbe Bewegung, wie bei uns, auch in Ungarn lebt und auch bei euch.« Sein Tonfall klang ein wenig schulmeisterlich, aber ruhig und einfach. »Wir hatten es leichter, hatten nur im Lande selbst Ordnung zu schaffen, in unserm Volke den Gedanken ›Italien‹ wieder zu erwecken, der schon verloren schien in dem Wirrwarr internationaler Ideen. Wir brauchten Gewalt und werden das weiter tun: ›Cura fascista‹ – wissen Sie, was das ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er lachte. »Unsre jungen Leute greifen einen Burschen, der nicht so will, wie sie wollen, gießen ihm Rizinusöl in den Schlund. Das ist harmlos und sehr gesund – und es hilft in den meisten Fällen. Oft freilich müssen wir deutlicher werden: nie hat ein Gedanke ein Volk erobert, um den nicht Blut floß – auf beiden Seiten. Wir rotten aus, was international ist: Anarchisten, Kommunisten, Syndikalisten, Sozialisten, Liberale vom Manchesterschlage; wir hassen Moskau, aber wir lernten von ihm. Der Duce – unser Führer –«
»Mussolini«, sagte sie; es klang nicht sehr überzeugt.
Er empfand es gleich. »Oh, ich weiß, was die großen liberalen Blätter über ihn schreiben, eure und die der ganzen Welt: Operettentenor, Scharlatan, aufgedunsner Blasebalg! Wir kennen die Melodie: Bordiga, unser Kommunistenhäuptling, stempelte ihn zum erbärmlichen Feigling, Serrati, der Sozialistenführer, zu einem armen Narren, während Facta, unser liberaler Ministerpräsident, ihn nie anders als einen lächerlichen Don Quixote nannte. Als wir nach Rom zogen, als Benito Mussolini die Macht ergriff, da lachte die ganze Welt: nicht ein Jahr würde der faule Zauber sich halten! Warten Sie ab – die Welt wird noch viel vom Faschismus hören und von Mussolini.«
»Kennen Sie ihn?« fragte sie.
»Ob ich ihn kenne?!« rief er. »Ich arbeitete mit ihm in Mailand, ich war ihm zur Seite beim Marsch auf Rom.« Seine Stimme hob sich; nichts Schulmeisterliches mehr, wie ein Verzückter sprach er. »Mussolini – das ist der Faschismus. Ist der Glaube an unser Volk und seine Sendung. Ist die Überlieferung der Jahrtausende, ist das alte Rom, das Fleisch wurde in ihm. Lenin zerbrach alle Überlieferung, vernichtete Intelligenz und Kapital, die alte Kunst wie das alte Heer, das alles, um aufzubauen im marxistischen Sinne. Wir gehn den andern Weg. Und so ist Mussolini alles, was gut und stark ist in unserm Volke – mit ihm ist das Hirn, das ehrlich denken kann, ist die Faust, die den Hammer schwingt, den Pflug führt und die Büchse spannt. Er ist der wahre Adel, ist die glühende Seele unsres Volkes – Benito Mussolini, das ist Italien selbst. Und wir, die wir diesem Mann unsre Arbeit und unser Leben geben, wir alle, die wir schwarze Hemden tragen und diese kleinen Nadeln, wir alle zusammen sind Blut seines Blutes, sind – er, sind: Mussolini!«
Er schwieg. Unwillkürlich hatte er sich gereckt; größer und stärker schien er.
Vielleicht hätte ein Deutscher das anders gesagt, dachte sie, einfacher, schmuckloser. Es blieb dasselbe: der Lebenswille des Volkes schwang seine Fahne, schuf sich ein Symbol – und dies Symbol lebte und war ein Mann. Ihr Hauslehrer fiel ihr ein, der langmähnige Dorpater Student, der sie und die Geschwister Griechisch lehrte. Von jedem Philosophen mußten sie ein Sprüchlein lernen; die kannte sie heute noch. Und das war es, was sie von Heraklit wußte: » Einer gilt wie zehntausend – wenn er der Beste ist!« Zehntausend? Heute mußte man Millionen sagen!
Wieder klang die Stimme des Mannes aus Cremona. »Wir waren euch verbündet und brachen dies Bündnis. Wir drängten zum Kriege gegen euch, d'Annunzio, Mussolini, Corridoni, manche noch – nicht, weil wir euch haßten, sondern weil wir glaubten, so Österreichs italienische Provinzen zu gewinnen. Dann aber konnten wir das große Italien schmieden, das wir im Herzen trugen. Beinahe irrten wir uns: die Welt mußte aufstehn, um euch zu besiegen. Mit uns war das Schicksal und gegen euch. Heute sind wir keine Gegner mehr – heute steht unser Feind an andrer Stelle.«
»Wo?« fragte sie. »Habt ihr nicht alles, was ihr wollt?«
»Nein!« kam die Antwort. »Unser Königshaus heißt Savoyen – das ist französisches Land. Und französisch ist Nizza, Garibaldis Vaterstadt, der die Ewige Stadt dem neuen Italien schenkte. – Deutschland ist zerrissen, jeder, der mochte, riß sich Fetzen aus seinem Leib – die Welt schwatzt von Frieden, aber der Feind steht in eurem Land, dringt weiter vor jeden Tag, preßt euch aus wie Zitronen –«
»Was können wir tun?« rief sie. »Wollt ihr uns helfen?«
»Nein«, rief er hart, »das können wir nicht – wir pressen mit, solang es die andern tun und ihr es geschehn laßt. Helfen kann euch nur einer – ihr selbst! Verächtlich ist uns ein schwaches Deutschland, das jeder mit Füßen tritt – wir auch. Aber ihr Deutsche werdet euch besinnen, werdet wieder stark werden, wie ihr wart. Kläglich ist heute euer Staat. Wie bei uns, als der Frieden ausbrach: zitternd vor Furcht das Bürgertum, gierig und blind vor Hunger die aufgepeitschten Massen, kopflos die Regierung. Da griffen wir das Steuer.«
»Seid ihr so sicher, daß ihr segeln könnt?« fragte sie.
Er lehnte sich über den Tisch, hielt ihren Blick. »Zu dreißig saßen wir im Parlament, als wir auf Rom marschierten – dreißig unter sechshundert. Das Staatsschiff war leck, zerfetzt waren die Segel, die Mannschaft meuterte. Und der Sturm pfiff und pfeift heute noch. Aber unser Kapitän steht auf der Brücke, keiner wird ihm das Steuer entreißen!«
Er schwieg; griff nach seiner Tasse, trank den längst kalten Tee, schlang einen Krapfen hinunter. »Euer Tee ist schlecht«, sagte er, »euer Kuchen kaum zu genießen.«
»Wir sind froh, daß wir überhaupt was haben«, antwortete sie.
Er lachte. »Ich werde Ihnen Mandorlato schicken lassen, und Panettone Milanese, das wird Ihnen schmecken, bella Signorina. Aber nun weiter: wir wissen, daß es in Deutschland eine Bewegung gibt, die wir faschistisch nennen, eine Bewegung, die sich gleichzeitig mit der unsern bildete. Wir konnten uns bisher wenig darum kümmern, hatten zu viel im eignen Hause zu tun – wissen nur, daß sie überall im Lande Anhänger hat. Darum bin ich hier. Was im Baltenlande, später in Oberschlesien kämpfte, das ist gewiß wieder hier, aber versteckt, arbeitet sehr geheim. Zwei Leute sprach ich; sie wollten nichts sagen – auch fehlte die Zeit. Sie zerstörten das Bahngleis zwischen Gelsenkirchen und Wanne – dicht waren ihnen die Franzosen auf der Fährte. Einer unsrer Ingenieure nahm sie auf den Kohlenzug, während draußen die Gendarmen nach ihnen suchten. Er benachrichtigte mich, ich half ihnen weiter. Prachtburschen, die gern ihr Leben wagten für ihres Landes Freiheit! Natürlich mußten sie uns als Feinde ansehn, begriffen nicht, daß einer von uns ihnen beistand – da hielten sie den Mund.«
Lili nickte. Sie wußte, daß er die Wahrheit sprach; sie kannte die Geschichte, war dabei, als die beiden Gerhard Bericht erstatteten. Krause und Federer waren es, zwei von Görges' Leuten.
»Signor Roberto«, sagte sie, »ich denke, daß ich Ihnen helfen kann.«
Er sah auf. »So sprechen Sie!« forderte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich bringe Sie mit den Leuten zusammen, die Sie suchen. Heutnacht noch – wenn's Ihnen recht ist.«
* * *
Trüb und neblig war der Morgen. Sie saßen auf der Haustreppe des Ledigenheims in Herne, Hornemann, Lannwitz und ein strohblonder Bursch, den sie Studentchen nannten.
»Also heutabend«, maulte Hornemann. »Noch zehn Stunden warten. Warum nur?«
»Halt 's Maul«, sagte der Rittmeister, »frag Scholz selber.«
»Ist denn der Kanal so wichtig?« fragte der Student.
Lannwitz lachte. »Menschenskind! Der Dortmund-Ems-Kanal und nicht wichtig? Wenn der gesperrt ist, soll mal einer versuchen, Kohlen nach Paris zu schaffen.«
»Dann hätten wir's schon vor vierzehn Tagen tun sollen«, meinte der Student.
Hornemann pfiff ihn an: »Red doch nicht so blöd. An der richtigen Stelle muß der richtige Kahn liegen – sonst geht's doch nicht. Aber nun liegt er da und sehnt sich nach uns – und wir drehn Däumchen. Ich möchte gleich hin.«
Der Rittmeister zog seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie. »Du Dussel gehst, wann und wie Scholz es befohlen hat. Das wär noch schöner, wenn jeder aufs Geratewohl losfuhrwerken wollte.«
»Viechsarbeit!« fluchte Paul. »Wenn's nicht um Gerhard Scholz wär, würd ich längst streiken – saumäßiger wird's von Jahr zu Jahr. Ich hab mir's überlegt: in Flandern war's schlimm, aber es war Zug drin. Wir schimpften genug, spien aus, wenn einer von ›Helden‹ sprach – kamen uns im Grunde doch so vor. Rußland, das war Schulbubenspiel, Italien ein Kindergarten, Rumänien ein Paradies. Baltenland, Oberschlesien – ein großer Mist, aber man fühlte doch, daß man lebte. Dann die Ruhr im zwanziger Jahr, als die Roten uns einheizten und wir ihnen – das brannte wie 's Fegefeuer. Diesmal aber ist's die Hölle.«
Peter von Lannwitz schob die Stummelpfeife von der rechten Backe zur linken. »Schimpf du nur, wenn dir's Freude macht«, brummte er.
Hornemann fuhr ihn an: »Hab ich vielleicht nicht recht? Wir leben wie Pariahunde – pennen in Löchern und Höhlen, wenn's hoch kommt, mal im Obdachlosenasyl, das sie hier großartig Ledigenheim nennen; die Spucke friert uns im Maul zusammen, so kalt ist's! Wir hungern, daß die Schwarte kracht – die Ratz, die mir heutnacht übers Gesicht lief, hätte ich mir sicher gebraten, wenn ich sie nur erwischt hätte. Wir starren von Dreck und Ungeziefer, – die Läuse sind in diesem Klima die einzigen Wesen, die Fett ansetzen.«
»Hört, hört!« rief der Rittmeister. »Sehr richtig!«
»Wie die Pariahunde«, knurrte Hornemann wieder, »du merkst es nur nicht, du Nilpferd. Wir schleichen herum, wenn's hübsch duster ist. Alle sind hinter uns her, Franzosen, Belgier und ihre schwarzen Vettern. Dann die Landjäger und Schutzleute – das ist herrlich: die Reichsregierung ermutigt uns, schickt zuweilen gar Geld – und die preußischen Häscher hetzen und fassen uns. Rundherum müßte man Augen haben, wenn man sich durch die Gassen drückt. Immerhin, das trägt Uniform, und man kann sich vorsehn. Wie aber soll man das Saupack erkennen, die Spitzel? Deutsche wie wir – und vom Feind bezahlt, uns zu verkaufen. Und ich sage dir, Lannwitz, die Bevölkerung haßt uns auch; gestern erst klagte mir ein Bäcker, den ich mit meiner Kundschaft beehrte, sein Leid: wenn nur diese Vaterländischen aus dem Lande wären!«
»Kannst du's ihm übelnehmen?« fragte der Rittmeister.
Paul Hornemann spie aus. »Nee, das nicht! Wer mit uns mitmacht, dem geht's wie uns, wenn sie ihn schnappen. Und wo wir ein Ding drehn – da hat's die Stadt auszubaden: die Beamten werden verhaftet und verprügelt, die Kassen ausgeraubt – alle Einwohner gezwickt und gezwackt. Ich sag dir, Peter, Berlin hat wieder mal einen Blödsinn gemacht. Dieser ganze passive Widerstand ist ein großer Bluff!«
Lannwitz zuckte die Achseln. »Man muß seine Pflicht tun.«
Wütend sah ihn Hornemann an. »Was nützt das, ob wir unsre Pflicht tun – und noch ein bißchen mehr? Wir paar Männekens hier!! Vierzigtausend sind einmarschiert ins Ruhrland – wir sind kaum hundert. Als die Franzosen Revolution machten und die Feinde ihr Land überschwemmten, da stand das Volk auf, fegte sie hinaus. Ich sag dir, du Rindsvieh, wir müssen erst innen aufräumen.«
»Großartiger Gedanke!« höhnte der Rittmeister. »Sag's dem Scholz.«
»Der weiß es längst«, schloß Hornemann. Nach einer Weile fuhr er fort: »Peterchen, altes Kamel, willst du mir einen Gefallen tun?«
»Was denn?« fragte sein Freund.
»Mich kribbelt's in den Pfoten«, meinte Paul Hornemann. »Darf ich dir eine runterhaun?«
»Nee, lieber nicht«, antwortete Lannwitz. Er klopfte auf der Treppenstufe die ausgebrannte Pfeife aus, suchte in der Tasche nach Tabak, fand kein Krümelchen mehr. »Sag mal, Studentchen«, begann er, »wer hat dich hergebracht?«
»Leutnant Hinrichsen«, antwortete der blonde Bursch.
Hornemann sah ihn von der Seite an, ein wenig mißmutig. »Der hat dich angeworben?«
»Angeworben grade nicht«, erwiderte der Student. »Wir hatten gehört, Roderwald und ich –«
Lannwitz unterbrach ihn. »Ich denke, du heißt Roderwald? So bist du uns gemeldet!«
»Nein, das ist mein Korpsbruder. Ich heiße ten Brinken.« Er verbeugte sich leicht, schnurrte: »Hans ten Brinken, stud. jur., Guestphaliae, Bonn.«
»Also hat man euch zwei Kanarienvögel verwechselt«, stellte Hornemann fest, »der Roderwald ist der, den sie mit dem Prinzen Lippe geklappt und im Werdener Zuchthaus eingebuchtet haben, was?«
Der Student seufzte. »Ich wollte, er wär schon frei!«
»Keine Angst«, rief Lannwitz, »wir werden sie rausholen. Das hat Scholz selbst in die Hand genommen. – Weiter!«
»Wir hatten von euch gehört«, erzählte ten Brinken, »von euch und eurer Arbeit. Aber wir kannten keinen, hatten keine Beziehungen. Kannten nur flüchtig Leutnant Hinrichsen, wußten, daß er in Kurland dabei war und in Oberschlesien. Wir suchten ihn auf – er war mitten im medizinischen Staatsexamen. Aber er ließ alles liegen, kam mit uns am nächsten Tag, brachte uns zu Oberleutnant Scholz.«
Ein paar Landstreicher traten aus dem Ledigenheim, fragten nach dem Weg nach Eickel, wanderten los. Dann kam ein untersetzter, vierschrötiger Mann in dickem blauen Köperanzug; fast wohlhabend sah er aus. Hornemann rief ihn an: »Sieh da, Wilcke, auch glücklich auf? Haben Sie noch was Tabak für den Rittmeister?«
Wilcke griff in die Tasche, reichte Lannwitz seinen Tabakbeutel, Hornemann seine Zigarrentasche. Aber der dankte.
»Sie können hinauf gehn«, sagte er, »ich habe reingemacht. Ich will nach meinem Wagen sehn – erwarte Sie heutabend sieben Uhr, wie befohlen.« Er grüßte, ging die Stufen hinab.
Hornemann sah ihm nach. »Ich weiß nicht – ich kann den Kerl nicht leiden.«
Der Rittmeister nickte. »Vollgefressen ist er wie ein Pferdemetzger, trägt einen Anzug, wie wir seit zehn Jahren keinen gehabt haben. Alle Taschen hat er voll dicker Zigarren – Geld hat er auch. Was ist er eigentlich?«
»Weiß nicht«, antwortete Paul. »Schlosser vielleicht. Hat sich in Oberschlesien bewährt – Scholz hält was von ihm.«
Sie gingen zurück in das Haus. »Streck dich aus, Studentchen«, riet der Rittmeister. »Versuch zu schlafen, wirst deine Kräfte brauchen heutnacht.«
Langhin warfen sie sich auf die Pritschen.
* * *
Am Abend trafen sie Wilcke; der fuhr sie hinaus aus der Stadt, nach Osten, zum Dortmund-Ems-Kanal. Dort hielten sie, zogen ein langes Brett aus dem Wagen, schickten den Fahrer zurück, liefen am Ufer entlang. Schielten nach einem Dampfer, der da lag, spähten zum andern Ufer, das sie in der Dunkelheit doch kaum erkennen konnten. Warteten eine Stunde und noch eine.
Sie hielten sich in Bewegung, schritten manchmal zu dreien, dann wieder einzeln. Immer wieder blitzten die Scheinwerfer auf, huschten hin und zurück, suchten die Gegend ab – so mochte man sie für harmlose Leute halten.
Vom Ufer drüben löste sich ein Nachen; drei Leute sprangen hinein, ruderten quer über die Wasserstraße. Machten fest, kletterten die steile Böschung hinauf. Voran der lange Hinrichsen; er stapfte mit solchen Klafterschritten daher, daß die beiden Gefährten hinter ihm traben mußten. Er stellte sie vor: »Student Becker – Ingenieur Kuhlmann, der hat den Plan gemacht. Beide von Schlageters Trupp, beide sachverständig – haben im Januar schon bei der Karnaper Schleuse den Kohlenkahn versenkt, der den Verkehr auf dem Rhein-Herne-Kanal lahmlegte.«
Händeschütteln. Dann fragte Lannwitz: »Klappt alles?«
Hinrichsen nickte. »Glückstag – hat schon mal geklappt heute: wir haben dem Synder das Handwerk gelegt.«
Hornemann unterdrückte einen Juchzer. »Dem? Diesem Hund von Spitzel, der unsre Leute den Franzosen ans Messer lieferte? Der den Prinzen Lippe ins Werdener Zuchthaus brachte, deinen Freund Rod – wie hieß er noch?«
»Roderwald!« ergänzte der Student.
»Richtig«, rief Hornemann, »den auch – und ein halbes Dutzend noch. Nicht zu reden von den Essener Bürgern und Arbeitern. Schon vor Wochen gab Scholz den Befehl – und wir konnten den Fuchs nie erwischen! So erzähl doch, Hinrichsen!« In diesem Augenblick blitzte der Scheinwerfer auf, strich vorbei, beleuchtete hell die Gruppe, den Kanal und den Dampfer, der dicht am Ufer lag.
»Wir trafen ihn zufällig«, antwortete Hinrichsen, »vielleicht war er hinter uns her. Becker erkannte ihn – da flogen die Sechstöter hoch. Gewinselt hat er –«
»Weiter!« drängte Paul.
»Der verrät keinen Deutschen mehr!« schloß Becker.
Hinrichsen sagte: »Seht ihr nicht, daß der verdammte Lichtkegel uns hält?«
»So werden wir im Hellen arbeiten«, meinte Lannwitz.
Ein Mann auf dem Dampfer wurde aufmerksam, lehnte sich ans Geländer, warf ein paar Worte hinüber.
Sie hörten nicht hin. »Wieviel sind an Bord?« fragte Paul.
»Nur einer«, erwiderte Hinrichsen. »Die andern sitzen in der Kneipe drüben in Holthausen, saufen wie die Stinte, der Kapitän obenan. Ein paar Bayern vom Oberland halten sie da fest, die mit Hauptmann Römer herkamen – ihr kennt ihn ja vom Annaberg her. Die Brüder verstehn's, pumpen die Schiffsleute voll, bis sie Backbord für Steuerbord halten.«
»Na, denn rauf!« lachte Lannwitz. »Hab mir's auch nicht träumen lassen, daß ich alter Ulan noch mal ein Schiff kapern müßte. Wie lange wird die Geschichte dauern?«
»Eine Viertelstunde«, antwortete Kuhlmann, »bei der Festbeleuchtung nur zehn Minuten, wenn wir Glück haben.«
Hinrichsen winkte ten Brinken; sie sprangen in den Nachen, ruderten um den Dampfer herum. Sogleich lief der Matrose auf die andre Seite – man hörte Geschrei und Geschimpf. Derweil schleppten Hornemann und der Rittmeister ihre Planke heran, schoben sie auf den Dampfer – gleich turnten Becker, Kuhlmann, Lannwitz hinüber, während Paul am Ufer blieb, scharf ausspähend nach beiden Seiten. »Das hat seinen Nachteil«, dachte er, »wenn man die besten Augen hat! Da darf man nur zusehn, wenn andre ihren Spaß haben!«
Der Rittmeister stellte den Matrosen, führte ihn mit vorgehaltenem Revolver zum Ufer, hieß ihn sich auf den Boden setzen. Die beiden andern waren im Schiffsbauch verschwunden. Der Nachen glitt den Kanal hinunter, schnell getrieben von den mächtigen Ruderschlägen des Holsteiners. Ein paarmal fing ihn der Scheinwerfer; schließlich verschwand er in der Dunkelheit.
»Die zwei sind mal sicher«, murmelte Hornemann.
Sie starrten auf den Dampfer – kein Laut. Alles war still, nichts bewegte sich, nur der Lichtkegel, in dem sie standen, zitterte vor und zurück.
»Dauert lange«, sagte der Rittmeister. »Hast du eine Uhr?«
Hornemann lachte. »Ja – im Pfandhaus zu Herne. Da hängt sie neben deiner und träumt von uns.«
Sie schwiegen. Nach einer Weile fuhr er fort: »Wie im Himmel ist's – da muß es auch so hübsch hell und still sein. Und die Engelchen baumeln mit den Beinchen und warten wie wir: vorn auf hübsche Musik und hinten auf das Heranbrausen der himmlischen Heerscharen.«
Der Rittmeister meinte: »Los, los mit der Musik – wenn's doch endlich knallen möchte in dem ollen Stinkkahn. Und die Heerscharen? Wie lange, glaubst du, werden die Franzosen gebrauchen, uns hier Gutnacht zu wünschen?«
Hornemann sah zum Scheinwerfer hinüber. »Der steht in Vette, oder wie das Loch heißt. Von da geht die Straße nach Mengede, dann erst zum Kanal; wir sind ja durchgefahren heutabend. Die Straße ist schlecht, Feldweg zum Teil – und wer weiß, ob ihre Kraftwagen in Bereitschaft sind. Soviel ist sicher: wenn ich drüben den Befehl hätte, war ich längst hier.« Er wandte sich zu dem Matrosen.
»Du könntest uns mal deine Hosenträger leihn.«
Der Matrose verstand, zog sein Wollwams hoch, knöpfte die Träger los.
»Sieh doch an«, lachte Hornemann, »du bist ja ein Schwarzseher, einen Riemen trägst du auch noch! Denkst wohl: doppelt genäht hält besser, so kann man die Büxen nicht verlieren. Aber schau, mein Goldkind, heut wirst du sie schon mit den Händen halten müssen. Also sei so freundlich: her mit dem Bauchschmuck!«
Er fuhr auf; Schritte klappten auf Deck, gleich darauf rannten die beiden über die Planke ans Ufer. Sehr enttäuscht sah Lannwitz sie an. »Was? Nichts geschafft?«
Kuhlmann lachte. »Denkt ihr, daß wir mit in die Luft fliegen wollen? Wartet nur, bald kracht's – der alte Kasten wird sich hübsch auf die Seite legen, zum Wasser hin.«
»Wird er ganz wegsacken?« erkundigte sich Paul.
Kuhlmann schüttelte den Kopf. »Das nicht – der Kanal ist ja nur wenige Meter tief – aber durch kann hier niemand.«
»Wenn's den Herrschaften recht ist, verziehn wir uns«, schlug Becker vor. »Sonst könnte uns doch noch ein Brocken an den Schädel fliegen.«
Lannwitz stieß den Matrosen an. »Auf, mein Junge, hilf ein wenig: wirf die Planke ins Wasser.«
Der Matrose erhob sich, faßte die Planke und stieß sie in den Kanal – seine Hosen rutschten ihm hoffnungslos herunter. Sie lachten, wandten sich zum Gehn. Hornemann fragte noch: »Weißt du, was für Truppen da hinten liegen?« Er zeigte zum Scheinwerfer.
»Alpenjäger«, knurrte der Matrose.
Hornemann jauchzte. »Mensch, Lannwitz – Alpenjäger! Das sind die, die sie im Kriege in der ganzen Welt herumgereicht haben, die berühmten ›blauen Teufel‹, die drüben in Amerika jede alte Jungfer streicheln durfte, wenn sie französische Kriegsanleihe zeichnete – na, sie haben ja wirklich was geleistet im Felde. Aber dieser Saufriede gefällt ihnen nicht. Alpenjäger – das sind die, die letzte Woche in Buer meuterten, zwei ihrer eignen Offiziere abknallten! Die bedanken sich dafür, mitten in der Nacht aus den Betten herauszukriechen, weil wir hier mit dem Blechkasten unsern Spaß haben. Da können wir beruhigt nachhause gehn! Hinrichsen hatte recht: ist ein Glückstag heute!« Er schwenkte Riemen und Hosenträger in der Luft herum, warf sie dann dem Matrosen zu. »Auch für dich, Junge – für die gute Nachricht magst du deinen Kram wieder haben!«
* * *
»Also das wäre Werden!« sagte Scholz. Er saß auf Hauenburgs Bude in Elberfeld; stundenlang hatten sie den Befreiungsplan durchgesprochen. »Es muß gelingen – in einer Woche haben wir sie raus aus dem Zuchthaus.«
Hans Hauenburg zuckte die Achseln. »O ja, wenn nicht wieder ein Spitzel seine Nase im Wind hat. Unsre Leute sind so gottsverdammt offenherzig; können nichts für sich behalten, schwatzen wie die Spittelweibchen im Altweiberstift.«
Er zog eine Postkarte aus der Tasche: »Die kam gestern für dich an – es ist himmelschreiend!«
Scholz las:
Himmelgeist, am 19. Februar.
Geehrter Herr!
Da mein Mann Theodor sich etwas die Finger dabei verstaucht hat, soll ich Ihnen schreiben, daß er vorgestern in Köln bei Herrn Joseph Smeets war, dem sein Schwager, der französischer Soldat ist, war auch dabei. Da beging Herr Smeets Widersetzlichkeit und mein Mann Theodor mußte sich notwehren. Da ging der Revolver los und der Schwager ist verstorben. Der Herr Smeets aber nicht, sondern nur beinahe, da mein Mann Theodor keine Zeit mehr hatte, aber es wäre so gut wie, sagt mein Mann Theodor, und es wär nun aus mit dem seiner Herrlichkeit. Auch in den Zeitungen steht es schon, aber nichts von meinem Mann Theodor.
Achtungsvoll!
Christina Schmitz
»Na, was sagst du?« lachte Hauenburg. »Das nennt man Vorsicht – so müssen Verschwörer arbeiten! Offene Postkarte, hinten und vorn beschrieben – einfach rein in den Kasten! Wenn der Christina ihr Mann Theodor nicht einen besonders tüchtigen Schutzengel hat, dann gibt's keinen lieben Gott mehr!«
* * *
Als Herr Lamberts in Begleitung eines Artilleriehauptmanns aus dem Hause des Generals Laignelot zu Recklinghausen heraustrat, fand er neben dem Auto seine Sekretärin im Gespräch mit einem jungen, schick gekleideten Mann.
»Darf ich bekannt machen«, sagte Käte Scholz, »Herr Lamberts – Herr Doktor Eggeling. Ein Kunstgelehrter, den ich von Köln her kenne; er arbeitet dort mit Major Seagrave von der englischen Kommission. Er hatte hier zu tun – sah mich; fragt, ob wir ihn mitnehmen wollen, wenigstens bis Düsseldorf – die Bahn fährt schon wieder mal nicht.«
Lamberts streckte ihm seine mächtige Flosse hin. »Freut mich, Doktor. Trifft sich wie gerufen – können Sie fahren?«
Eggeling nickte.
»Dann nehmen Sie bitte das Steuer«, bestimmte Lamberts, »lassen Sie meine Sekretärin hinten zu uns kommen. Kennen Sie den Weg? Macht nichts: Fräulein Scholz wird aufpassen und Ihnen Bescheid sagen. In Bottrop halten wir, da hab ich zu tun.« Er wandte sich an den Offizier. »Bitte einsteigen, mon cher capitaine – meine Sekretärin, Sie kennen sie doch? Wird Ihnen lieber sein als meine langweilige Gesellschaft – Sie können sich mit ihr unterhalten, als ob Sie an der Seine wären.« Er katzenbuckelte, schob den Offizier in den Wagen.
Eggeling fuhr los; er versuchte, durch die Scheiben etwas von dem Gespräch aufzuschnappen. Aber er hörte kaum ein Wort, gab es bald auf. Von Zeit zu Zeit klopfte es; Käte wies ihn nach rechts oder links. Vor der Kommandantur in Bottrop stieg Lamberts aus, aber der französische Hauptmann blieb neben Käte sitzen. – So sprang Eggeling vom Fahrsitz, ging auf und ab, die Beine zu bewegen.
Kaum Verkehr in den Straßen, geschlossen alle Läden; fast ausgestorben schien diese verrußte Stadt. Karren zogen vorbei, mit Kohlen beladen, begleitet von französischen Soldaten – dann kamen zwei Kinderwagen, ein halbwüchsiger Junge schob den einen, ein altes Weib den andern – neben jedem schritten die Wachen, Gewehr über den Schultern, Handgranaten im Gürtel. Drüben am Eckhaus zog ein Unteroffizier auf mit vier Mann, hämmerte an die verschlossene Ladentür – ›Kolonial- und Lebensmittel-Handlung‹ las Eggeling auf dem Schaufenster. Man hörte Stimmen von drinnen; erst als sie das Türfenster einschlugen, ward geöffnet. Die Soldaten drangen in den Laden; wieder vernahm er Lärm und Geschrei. Dann kamen die Himmelblauen zurück, schleppten große Blechkannen, gossen ihren Inhalt auf die Straße. Weiß floß es in den Rinnstein – Milch! Verdorben, dachte er, gefälscht? Seit wann üben die Franzosen Gesundheitsaufsicht?
Herr Lamberts kam aus dem Haus. »Also nach Düsseldorf, Doktor!« rief er, stieg in den Wagen.
Sie kamen spät genug in die Stadt; nun öffnete Lamberts die Scheibe, wies Eggeling zurecht bei jeder Straßenecke. Sie hielten vor einem mächtigen häßlichen Gebäude in der Ulmenstraße; der Franzose stieg aus, wechselte noch ein paar höfliche Worte, ging dann zum Tor, wo neben zwei Stadtschutzleuten ein Trupp weißbemäntelter Spahis Wache stand. Eggeling sah ihm nach: schlank wie eine Wespe – trugen all diese Offiziere wirklich ein Mieder und schnürten sich?
Er hörte Käte sagen: »Gradaus, dann links, Herr Doktor. Wir werden Herrn Lamberts nachhaus bringen, dann fahr ich Sie zum Bahnhof.«
Aber Lamberts widersprach. »Davon kann keine Rede sein – wir können doch Ihren Freund nicht stundenlang Schofför spielen lassen und ihn dann hungrig heimschicken! Zum Parkhotel!«
Als Eggeling aus dem Waschraum in den Speisesaal kam, wies ihn der Kellner in ein Sonderzimmer; er fand die andern schon bei Tisch. Das Blumenmädchen stand vor Herrn Lamberts; er wählte ein paar lange Rispen weißer Orchideen, ließ sie in ein Glas setzen. Käte Scholz faßte Eggelings Arm. »Hören Sie, Doktor«, flüsterte sie, »Schlageter –«
Lamberts wandte sich, zeigte auf die Blüten. »Na, wie macht sich das? Kommen aus Holland, jeden Tag frisch.«
»Sehr schön«, nickte Eggeling. Er sah Käte an, murmelte: »Was ist's?«
Ihr Blick hieß ihn schweigen, unmerklich schüttelte sie den Kopf.
Ein Kellner schob den mächtigen Eisblock zurecht, in dem eine Büchse Belugakaviar ruhte.
»Wodka zum Kaviar, Herr Doktor?« fragte Lamberts. »Oder wollen Sie gleich mit Schampus anfangen?«
Eggeling ließ sich sein Schnapsglas füllen. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber wenn man mir Kaviar vorsetzt, vergeß ich meine gute Erziehung.«
»Greifen Sie zu, je mehr, je besser!« lachte Lamberts. »Da vergißt man die schlechten Zeiten!« Er fegte mit großer Geste den Arm durch die Luft. »Nun verschwinden – nicht wiederkommen, ehe ich schelle. Und dann bringen, hinstellen, wieder verschwinden – verstanden?« Die Kellner zogen sich zurück.
Er hob sein Glas. »Also prost, Doktor!« Er goß den Schnaps herunter. »Was – das nennen Sie unbescheiden? Es geht auf Geschäftskosten – die Firma Hanau, Lamberts & Cie. kann zahlen. So wird das gemacht!« Er griff den Schildpattlöffel, häufte ihm einen hohen Berg auf den Teller. »Fahren macht hungrig und herumschmusen auch. Ich hab Schildkrötensuppe bestellt, dann warmen Hummer, dann – na, Sie werden ja sehn! Dies ist der einzige Ausschank, in dem man anständig essen kann – und das auch nur, weil alle hohen Offiziere und Kommissäre hier wohnen. Schlagen Sie sich den Bauch voll, das ist patriotische Pflicht: was wir vertilgen, können uns die nicht mehr wegfressen.« Er grinste, füllte den Mund – das Röstbrot knirschte zwischen den Zähnen.
Lamberts schwatzte unaufhörlich. Bei der Suppe erklärte er, daß er heute ein großes, aber wirklich ein ganz großes Geschäft gemacht habe. Beim Hummer fragte er Eggeling nach seinen Arbeiten – und ob er nicht einige besonders schöne Stücke für ihn einkaufen könne? Ihm selbst fehle die Zeit – und dann sei es ja überhaupt besser, wenn man sich von einem Sachverständigen beraten lasse. Eggeling möge doch einmal herauskommen zu ihm, nach Kaiserswerth – Lambertsruh heiße sein Landsitz – möge sehn, was noch fehle. Teppiche habe er genug, aber ein paar schöne alte Brabanter Gobelins könne er noch gebrauchen. Auch Bilder, aus der Kölner Schule, Meister des Marienlebens, des Rosenkranzes – na, und wie all die Brüder genannt würden. Dann – ja darauf lege er besondern Wert – Möbel von dem Neuwieder Meister des achtzehnten Jahrhunderts – wie hieß der Kerl doch nur? – Röntgen? – Ja richtig, Röntgen! Eingelegte Schreibtische und Schränkchen mit allen möglichen Geheimfächern und verborgenen Klappen – das mache ihm Spaß. So was könne man jetzt doch gewiß unter Preis bekommen. Und der Doktor solle ruhig dabei verdienen – leben und leben lassen, Elberfelder Diskont: dreiunddreißigeindrittel Prozent! Beim Masthuhn – Poularde nannte er das, Poularde de Styrie à l'Impératrice – wechselte seine Stimmung. Er legte plötzlich Messer und Gabel hin, wischte sich den Mund ab. Ganz unvermittelt rief er: »Dieser General Laignelot ist ein Schwein – ein Bluthund ist er!« Er erzählte Einzelheiten von der Schreckensherrschaft dieses Helden von Recklinghausen. Was zuviel sei, sei zuviel – selbst Degoutte habe das eingesehn, der Oberstkommandierende – der habe Laignelot und seinen Offizieren das Ehrenwort abverlangt, daß all diese Geschichten nicht wahr seien: diese maßlosen Mißhandlungen der Einwohner, diese grauenhaften Quälereien von Frauen und Kindern, Greisen und Kriegskrüppeln. Lamberts lachte: das Päckchen Ehrenwörter habe Degoutte natürlich schleunigst bekommen – vermutlich seien es alle ›kleine‹ gewesen, zwanzig Stück aufs Dutzend! Übrigens sei es in Gelsenkirchen und Buer, in Wanne und Dortmund genau so schlimm. Ob Eggeling in Bottrop gesehn habe, wie die Himmelblauen in Kinderwagen Kohlen wegschafften? Wie sie die Milch auf die Straße gossen? Alle Milch müsse abgeliefert werden für die Soldaten – die deutschen Kinder brauchten keine Milch. Und die Kohle, das sei Freikohle der Bergleute – Deputatkohle nenne man es, jeder Kumpel bekomme monatlich seinen Anteil. Das würde nun auch beschlagnahmt; wozu brauchten die Bergleute Kohlen, wenn sie nicht für die Franzosen arbeiten wollten? Das Pack könne frieren, könne seine Kartoffeln roh fressen! Pfui Teufel, eine Schweinerei sei es, eine –
Er schrie, verkutzte sich, wurde puterrot im Gesicht. Dann goß er schnell seinen Wein herunter. Das beruhigte ihn: er konnte seine Poularde sichtlich mit Lust und Liebe zerkauen.
Käte Scholz seufzte, warf einen raschen Blick auf die Armbanduhr. Eggeling bemerkte es wohl – was hatte sie nur? Schlageter – was war denn mit ihm? Er sah, wie sie nervös mit dem Löffel spielte, ihre Unruhe übertrug sich auf ihn. Wenn sich der Lamberts doch nur verschlucken wollte, hinaus müßte auf ein paar Minuten –
Bei den Crêpes Suzette stieg dessen Lebensfreude. Als der Kellner den hübschen Spiritusherd brachte und der Ober sich anschickte, die letzte Hand anzulegen, erklärte er, der Pâtissier müsse selber kommen, das ›Réchaud‹ zu bedienen. Der kam, sehr feierlich in blendendem Weiß mit hoher Zuckerbäckermütze, rieb den Würfelzucker auf Orangenschalen ab, goß Cognac drüber. Aufmerksam folgte Herr Lamberts jeder seiner Bewegungen. »Crêpes Suzettes«, sagte er andächtig, »Crêpes Suzettes –«
Dann zog er seine Brieftasche, nahm Dollarscheine heraus: je einen für den Poissonnier, den Rôtissier, den Saladier, den Entremetier, den Saucier, den Gardemanger und den Sommelier – der Chef de cuisine aber und der Pâtissier bekamen zwei. Man sah ihm an, wie wohl es ihm tat, diese schönen Worte so ohne zu stocken hersagen zu können.
Pfirsiche und Melonen – was fragte Herr Lamberts nach Jahreszeiten! Welchen Käse der Doktor wünsche? Stilton, alten Holländer? Er selbst ziehe Camembert vor – aber solchen Camembert nur wie diesen da auf der Strohplatte. Das habe er in Frankreich gelernt – ja, ob der Doktor auch im Kriege gewesen sei? Was, vierzehn Tage nur in Flandern – dann gleich verwundet und ins Gefangenenlager? Da könne er freilich nicht mitreden.
Er blieb beim Kriege – beim Mokka und beim Cognac. Drei Jahre lang hätten sie ihn festgehalten, einen Mann von seiner Begabung! In Schreibstuben habe er hocken, jeden lausigen Fähnrich grüßen müssen. Dann vergaß er das, sprach von der Front und von hundert Erlebnissen, war auf einmal selber dabeigewesen, mitten im dicksten Dampf.
Kaum drei Worte hatte Käte gesprochen, und Herbert Eggeling keine zehn Sätze. Aber als sie aufbrachen, als Lamberts ohne hinzusehn seinen Namen auf die Rechnung setzte und seine Trinkgelder streute, bedankte er sich doch für die liebenswürdige Unterhaltung. Und das sei abgemacht, daß der Doktor für ihn einkaufen wolle, nicht wahr?
Käte Scholz unterbrach ihn. »Vor allem müssen wir sehn, wie er nachhaus kommt! Ich schlage vor, daß er das Auto nimmt. Er hat morgenmittag doch hier zu tun – da kann er gleich von Köln wieder herfahren.«
Herr Lamberts nickte eifrig. »Einverstanden! Ich möchte noch ein wenig frische Luft schnappen – also bringe ich Sie heim, Fräulein Käte, nehme dann ein Taxi.«
Sie gingen zum Kleiderraum, Lamberts eilte voraus. Da griff Käte Eggelings Arm, hielt ihn fest. Flüsterte schnell: »Meingott – endlich eine Sekunde! Schlageter ist verhaftet und seine ganze Gruppe – sieben Mann. Ich weiß es von dem Hauptmann, der mit uns fuhr. Sie werden heutnacht ins Gefängnis gebracht nach Düsseldorf. Ulmenstraße. Mein Bruder ist in München – drahten, Boten senden! Sie müssen sofort nach Elberfeld zu Hauenburg – der soll versuchen, was er kann. Sagen Sie ihm –«
Herr Lamberts kam, half ihr in den Mantel. Sie gingen auf die Straße, verabschiedeten sich.
* * *
Herbert Eggeling fuhr in die Nacht. Es sang ihm in den Ohren, sein Schädel brummte. Schlageter, dachte er, Hans Sadowsky, Zimmermann – wer sonst noch? Die Worte tanzten, er konnte sie kaum festhalten – Crêpes Suzettes, Poularde, Hummer, Kaviar!
Schlageter? Meingott – der war Gerhards rechte Hand! Verhaftet und mit ihm sieben Mann – und grade jetzt Gerhard in München! Käte Scholz hatte recht: er mußte Hauenburg auftreiben, heutnacht noch. Der verstand sich auf Kerkertore, war selber dreimal schon ausgebrochen, hatte Gerhard in Oberschlesien aus polnischer Haft befreit und eben erst aus dem Werdener Zuchthaus fünf Leute. Der würde auch Leo Schlageter –
Er raste durch die Nacht. Hundert drauf, hundertzehn –
Plötzlich erschrak er, griff an die Tasche. Aber sein Paß war noch da – von General Degoutte unterschrieben.
Dann begann es wieder: Sadowsky, Bisping, Schlageter – Camembert, Pfirsiche, Crêpes Suzettes – es flimmerte ihm vor den Augen. Kohlen im Kinderwagen, Milch auf der Straße, himmelblaue Soldaten, Crêpes Suzettes. Er fuhr langsamer – nein, er durfte heutnacht keinen Bruch machen. Weg, weg, nicht dran denken!
* * *
Sie schritten über die weiten Rheinwiesen, hinaus nach Himmelgeist.
»Wer denn nur, wer?« fragte Lannwitz.
Gerhard zuckte die Achseln. »Wenn ich das wüßte! Aber ganz sicher ist, daß wir wieder Verräter haben und daß diese Verräter engste Fühlung haben, über alles genau Bescheid wissen. Ich sprach heutmorgen mit Schlageters Anwalt – keiner von den Sieben hat den Mund aufgemacht. Sie wurden verhört, mit Gummiknüppeln und Revolverkolben, bis sie zu Boden sanken, mit Tritten in den Leib und ins Gesicht, bis sie wieder aufstanden. Sie leugneten dennoch, keiner von ihnen hat des andern Namen genannt. Aber bei der Verhandlung lagen ihre Mauserpistolen auf dem Tisch, und die Richter wußten recht gut Bescheid. Also: Zuchthaus – zwanzig Jahr, lebenslänglich – Leo Schlageter zum Tod. Zeugen? Nur die Kriminalbeamten, die die Folterverhöre anstellten; die schwuren natürlich drauflos, daß sie die Deutschen höchst vornehm behandelt hätten, daß diese aber mit wahrer Wollust gestanden und sich gegenseitig bezichtigt hätten.«
Sie blickten schweigend über den Strom. Drüben, hinter den Weiden, versank die blutende Sonne. »Du«, begann der Rittmeister, »glaubst du, daß das alles einmal wieder frei sein wird?«
Gerhard hob die Schultern. »Ja – nein – ich weiß nicht. Weiß nur, daß wir drum streiten müssen, was auch geschehn mag. Jetzt aber geht's um Schlageter – alles andre ist gleichgiltig im Augenblick.«
Aber Lannwitz beharrte. »Ich meine nämlich, Gerhard – wenn's so weit ist, will ich deine Schwester heiraten.«
Scholz fuhr auf. »Was du nicht sagst! – Du – meine Schwester?! Den Schlageter stellen sie an die Wand, und du willst heiraten!« Er warf das heftig heraus, stutzte dann. »Verzeih, Peter«, fuhr er fort, »das hat nichts miteinander zu tun. – Hast du mit ihr drüber gesprochen?«
Lannwitz schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber ich finde, daß wir sehr gut zueinander passen. Je öfter ich sie sah, je lieber wurde sie mir –«
»Und sie«, unterbrach Gerhard, »sie?«
»Aber Mensch«, rief der Rittmeister. »Du warst doch selber dabei an jenem ersten Abend, als sie mich küßte –«
Scholz blieb stehn, sah ihn an. »Und seither?«
»Seither nichts«, erwiderte Lannwitz. »Wenn wir uns sahn, war immer Wichtigeres zu tun. Nur zuweilen ihr Blick –«
Gerhard lachte. »Ja gewiß – ihr Blick und dein Blick und eure Blicke –« Er stockte, rief dann: »Mach, was du willst! – Aber ich meine, das alles hat Zeit. Kennst du Hauenburgs Plan, Schlageter herauszuholen?«
»Ich sprach Hauenburg vorgestern in Elberfeld«, antwortete der Rittmeister. »Er ist zuversichtlich. Aber er ist mißtrauisch, hat die Nase so voll von dem Treiben der Spitzel, daß er nicht einmal mir was erzählte.«
Scholz nickte. »Er drahtete mir, daß er Schwester Pia nötig habe – ich brachte sie mit von München; mühsam genug hab ich ihr Urlaub erwirkt. Sie ist bei Lili – Schmitz soll sie morgen früh zu Hauenburg bringen.«
Pfiffe gellten durch den Abend, aufreizend, wie der Schrei französischer Clairons. Lannwitz fuhr auf. »Was ist das?«
Aber Gerhard lachte. »Gut Freund, Peter! Döres ist's – er pfeift ›Le Régiment de Sambre et Meuse!‹ Sicherste Verständigung heut am Rhein – für Deutsche!«
Döres kam aus einem Weidengebüsch, lief ihnen entgegen. »Tag, Herr Oberleutnant, jlücklich wieder angelangt? 'n Abend, Herr Rittmeister – ich han Ihne auch wat Hübsches mitjebracht.« Er griff in die Tasche, holte vorsichtig eine Papierrolle heraus. »Dä belgische Steckbrief is et, jestern in Duisburg han ich en besorjt.«
»Nummer sieben«, rief Lannwitz, »das bringt Glück.«
Döres gab ihm die Rolle. »Et war en Sauarbeit, dat Ding von de Plakatsäul abzulöse. Dreiviertel Stund han ich dran jedruckst – dä verdammte Kleister klebt wie der Deubel! Un dann immer aufpasse – noch ene Schutzmann und widder ene Soldat – nee, wirklich, daför könne Se mich dankbar sein, Herr Rittmeister!«
Lannwitz entfaltete das Plakat. »Bin ich auch, das ist doch ein schönes Andenken! Wenn ich die andern nur auch hätte!«
»Wenn Se mich nur rechtzeitig ä Sterbenswörtche davon jesagt hätte«, meinte Döres vorwurfsvoll. »Ich hätt se Ihne all besorjt.«
Scholz starrte auf das Bild in der Mitte. »Das – das ist ja Paul! – Und ein vorzügliches Bild – wo zum Teufel haben die Schweine sein Bild herbekommen? Wenn sie ihn schnappen – als Lannwitz oder Hornemann, gleichviel – teilt er Schlageters Schicksal. Er muß sofort weg – sofort!«
»Ich treff ihn morgen in Essen«, sagte der Rittmeister.
»Er muß hinaus aus dem Ruhrland«, rief Gerhard, »mit dem nächsten Zuge!«
»Wohin soll er?« fragte der Rittmeister.
»Nach Spandau«, befahl Scholz, »in die Zitadelle zu unsern Jungs von der Schwarzen Reichswehr. Da ist genug für ihn zu tun.«
* * *
Gleich nach dem Frühstück fuhr Schwester Pia nach Elberfeld – mittags war sie wieder zurück: Hans Hauenburg war verhaftet. Von preußischen Beamten aus dem Bett geholt, sicher aufgehoben im Barmer Polizeigefängnis.
Gerhard Scholz biß in die Lippe. Hauenburg verhaftet, Schlageter verloren! Er rannte die Treppen hinab, sprang in Kätes Wagen, fuhr nach Elberfeld. Man ließ ihn nicht vor – Sonntag, da sei niemand zu sprechen. Er versuchte es am nächsten Tage, zweimal, dreimal; man wies ihn ab: der Herr Dezernent sei verreist –
Er kundschaftete aus, wie der Herr aussah, wartete auf ihn am frühen Morgen auf der Straße, folgte ihm ins Amtsgebäude, trat zugleich mit ihm in sein Zimmer.
»Das ist ja ein Überfall!« empörte sich der Beamte.
Aber Scholz ließ sich nicht abweisen, verlangte Auskunft und erhielt sie. Gewiß, das sei richtig: Bestimmtes liege nicht vor gegen Hauenburg. Man habe ihn seiner eignen Sicherheit halber festgenommen – Anweisung von Berlin. Es bestehe die Möglichkeit, daß er Dinge vorhabe, die der Regierung Ungelegenheiten verursachen könnten, darum –
Gerhard behielt seine Ruhe. Es sei der Elberfelder Polizei – und diese Stadt liege ja wohl außerhalb des von den Franzosen besetzten Gebietes – doch bewußt, daß Hauenburg vom Reiche bezahlt würde, Chef der Spezialpolizei sei?
Möglich, erwiderte der Beamte, amtlich jedoch sei ihm nichts davon bekannt. Besonders betonen aber müsse er, daß er preußischer Beamter sei und nur vom preußischen Innenministerium Befehle anzunehmen habe: die führe er aus! Er zündete sich umständlich eine Zigarre an.
»Das heißt also«, rief Scholz, »daß das Reich Sie weiter nichts angeht! Nun, Herr, wir beide brauchen nicht Versteck zu spielen. Sie wissen recht gut, worum das Spiel geht. Mein Freund Hauenburg hat Vorbereitungen getroffen, um noch in letzter Minute Schlageter und seine Kameraden den Klauen der Franzosen zu entreißen. Er allein hat die Fäden in der Hand – wir kennen diese nicht. Sie wissen auch, daß der Oberreichsanwalt, trotz Preußen, seine Freilassung verfügen wird – vermutlich wird inzwischen Schlageters Schicksal erfüllt sein, werden die andern Opfer schon auf dem Wege nach Cayenne sein! Sie wissen so gut wie ich, daß sie alle ihr Leben für Deutschland aufs Spiel setzten – und damit ja wohl auch für Preußen. Wollen Sie mir unter diesen Umständen wenigstens Gelegenheit geben, Hauenburg zu sprechen? Dann kann ich –«
Aber der Beamte unterbrach ihn. »Ich habe strenge Weisung, niemanden zu ihm zu lassen.«
»Ich werde einen Anwalt bringen«, rief Gerhard. »Er ist verhaftet, ohne einen Funken von Recht verhaftet. Nicht einmal eine Anschuldigung liegt gegen ihn vor – mit seinem Anwalt wird er doch reden dürfen!«
Dicke Rauchwolken paffte der Beamte. »Bemühn Sie sich nicht: bis auf weiteres wird Ihren Freund auch ein Anwalt nicht besuchen dürfen. Ich kenne meine Pflicht und, glauben Sie mir, ich werde sie erfüllen.«
Gerhard Scholz preßte die Hände ineinander. »Ihre Pflicht gegen Berlin – gewiß! Begreifen Sie denn nicht, daß es noch eine höhere Pflicht gibt – die gegen Deutschland?«
Der Beamte klopfte sorgsam die Asche auf den Teller. »Ich sehe keine Veranlassung«, sagte er, »mich darüber mit Ihnen zu unterhalten. Und nun entschuldigen Sie mich wohl – Sie sehn, daß ich noch unrasiert bin.« Er zog eine Schublade auf, nahm Rasiermesser heraus, Handspiegel, Pinsel.
Gerhard stand auf, ging aus dem Zimmer. Nein, er schlug die Tür nicht zu, schloß sie leise, wie es sich gehört. Spie auch nicht aus auf der Treppe.
Am Tor standen zwei Schutzleute; sie wandten sich ab, als er vorbeikam. Einen Augenblick blieb er stehn – aber er sprach sie nicht an. »Ich ersticke«, murmelte er.
Er lief über die Straße, atmete tief. Wenn er sich nun rasiert, dachte er, wenn er sich einseift, der Herr da oben, das Messer aufklappt und den Spiegel nimmt, wenn er sich nun erblickt in diesem Spiegel, wenn er, eine einzige kleine Sekunde nur, sich selber sieht, so wie er wirklich ist – muß ihn da nicht ein Grauen fassen bei solchem Anblick? Und muß er nicht, ob er mag oder nicht, das Messer nehmen und es schnell durch die Kehle ziehn?
Er schüttelte den Kopf. Keine Angst, dachte er. Sehr zufrieden wird er lächeln: so sieht ein Mann aus, der seine Pflicht tat! Und eines Tages wird man ihn rufen. Nach Berlin – da gibt's hübsche Pöstchen –
Schneller lief Gerhard Scholz, blieb dann plötzlich stehn vor einem Schaufenster. Er starrte hinein – sah nichts von dem, was da herumlag. Ein Wort fiel ihm ein, ein fremdes, grauenhaftes Wort. Einmal nur hatte er es gehört, einmal im Leben.
Damals hatte er's aufgeschrieben, hatte sich's später erklären lassen – da war es nicht halb so schlimm, hatte wohl gar etwas Komisches. Aber der Klang blieb ihm dennoch im Ohr wie ein Fluch, der erschlagen mußte, Kinder noch und Kindeskinder.
In ein leeres Dorf ritt er ein – zehn Meilen hinter Grodno – mit seinen Jägern. Kaum heraus waren die Kosaken, noch sah man ihre kleinen Pferdchen an der Kimme. Die Häuser brannten, auf der Gasse lagen ein altes Weib und ein junges. Nackt lagen sie da und tot. Ein alter Jude stand dabei, das Blut troff ihm vom Gesicht in den schmutzigen, gelbweißen Bart. Er achtete es nicht, sah nicht die Soldaten, sah das Feuer nicht und nicht die Leichen, die vor ihm lagen. Gereckt hielt er den Arm, ausgestreckt den Zeigefinger, sah hinüber, dorthin, wo der letzte Kosak in den Abend ritt. Und er schrie, schrie, wieder und immer wieder dies gräßliche Wort.
Das fiel ihm ein, als er vor dem Schaufenster stand. Er dachte an den Mann da oben, an diesen pflichtgetreuen Beamten. Und durch die zusammengebissenen Zähne zischte er: »Mamser ben hanide! Mamser ben hanide!«
Dann sah er, was da im Schaufenster lag: Bilderbücher, Badepüppchen, Teddybären. Auch eine Arche Noah –
* * *
Den Prinzen Lippe hatten sie befreit aus dem Werdener Zuchthaus, fünf andre noch, auch den jungen Roderwald. Nur, der hatte Pech: auf der Flucht traf ihn eine Kugel in den Rücken. Durch die Lunge, Steckschuß. Unmöglich ein Krankenhaus – die Franzosen hätten ihn wieder herausgeholt. So brachten ihn sein Freund Hans ten Brinken und Leutnant Hinrichsen nach Bochum in das Haus guter Freunde; dort pflegte ihn Schwester Pia.
Nach den ersten bedenklichen Tagen sah es hoffnungsvoll aus; die Arzte schienen zufrieden. Dann, plötzlich, verkehrte sich das Bild; Lungenentzündung – übernacht war er tot.
Gegen Mittag kam Lili; dann Brinken und Wilcke; der sollte mit seinem Auto den Toten nach Bonn schaffen. Sie gingen wieder, die nötigen Vorbereitungen zu treffen; auf der Straße lief ihnen Hinrichsen in die Arme.
»Wie geht's ihm?« fragte er.
»Tot!« antwortete der Student.
Detlev Hinrichsen griff seinen Arm. »Was sagst du, was?«
Er lief durch den Garten, sprang die Treppe hinauf.
Wilcke sah ihm nach, grinste. »Den hat's wieder mal!«
Oben traf Hinrichsen die zwei Frauen. »Kann ich ihn sehn?« fragte er. Aber vor der Tür blieb er stehn, bat: »Wollen Sie mich mit ihm allein lassen?«
Bleich das Gesicht, blau die Lippen. Schwester Pia sah ihn an, sagte rasch: »Sie versprechen, keine Dummheiten zu machen?«
Ein bittres Lächeln lag um seinen Mund. Er griff in die Tasche, hielt ihr seinen Revolver hin. »Bitte!«
»Stecken Sie ihn nur wieder ein«, sagte die Schwester, »Ihr Wort genügt.«
Da trat Lili heran. »Und das gilt, Leutnant Hinrichsen, nicht nur für jetzt. Scholz erwartet von Ihnen, daß Sie leben, daß Sie Ihr Examen machen, hören Sie? Scholz braucht Sie.«
Der lange Holsteiner straffte sich, hob den Blick. »Braucht mich? Ist das wahr?«
Sie log: »Ich habe den Auftrag, Ihnen das zu sagen.«
Er verbeugte sich leicht. »Darf ich nun eintreten?«
Schwester Pia öffnete. Einen Augenblick blieben die Frauen stehn, sahn, wie der Riese an das Bett trat, sich schwer auf den Stuhl fallen ließ. Leise schlossen sie hinter ihm die Tür.
»Ich muß ein wenig hinaus«, sagte Pia, »seit fünf Tagen bin ich nicht aus dem Haus gekommen.«
Arm in Arm gingen sie durch die Villenstraße. Eine Weile schwiegen sie, dann sagte Lili: »Seltsam, der starke Hinrichsen war wie der Tod so bleich – der arme, kleine Student aber sah aus, als ob er schliefe. Leichtrot waren seine Lippen, selbst durch die Wangen schien noch ein roter Hauch. Hättest du ihm nicht die Maiglöckchen auf die Brust gelegt –«
Ein rasches Flackern zuckte in Schwester Pias braunen Augen. »Du hast recht, Kleine, das hätte ich nicht tun sollen.«
»Was?« fragte Lili. »Ihm die Blumen geben?«
Sie nickte. »Ja. Ich werde sie wegnehmen. Zu lieb und zu hübsch war der Junge – kein Mensch soll an Tod denken, der ihn noch sieht.« Dann sagte sie: »Der Sauerbruch würde mich rausschmeißen aus seiner Klinik, wenn er davon hörte. – Als ich eben anfing, kaum noch den Unterschied kannte zwischen Jod und Karbol, hab ich den Trick von einer steinalten Oberin gelernt. Zu ihrer Zeit war das Mode. Dann wurde es vergessen – im Krieg kam's ganz außer Brauch. Aber heute früh, als ich den armen Studenten vor mir sah, so jung und so schön – da fiel mir's wieder ein.«
»Was fiel dir ein, Pia?« fragte die Freundin.
Die Schwester sah sie groß an. »Hast du's denn nicht gemerkt? Schminke – Puder! Für mich hab ich das Zeug nie gebraucht. Mußte mir's ausleihen von der Dame des Hauses. – Wenn seine Eltern heutabend kommen, werden sie froh sein, daß sie solch schönes Bild von ihm mitnehmen. Und der arme Teufel, der jetzt bei ihm sitzt – der wohl auch.«
Einen Augenblick sah Lili sie an, dann faßte sie ihren Kopf, küßte sie.
Schwester Pia riß sich los. »Was fällt dir ein? Mitten auf der Straße – was sollen die Leute denken!«
Aber es waren nirgends Leute zu sehn.
Sie gingen unter den frühlingsfrischen Linden, bogen um die Straßenecke. »Hast du von Gerhard gehört?« fragte Pia.
Lili schüttelte den Kopf. »Kein Wort – in Duisburg ist er, trifft dort Hauptmann Römer. Schlageter – wenn's nur gelingen wollte!«
Die Freundin nahm ihren Arm, schweigend wandelten sie zwischen den Gärten.
Bei den stattlichen Villen standen ein paar armselige Hütten. Und vor einer saß auf einem Schemel ein dicker französischer Korporal, den drei kleine, zerlumpte Kinder umspielten; ein Säugling lag noch in einem alten Kinderwagen.
»Petits boches«, schimpfte er, »sales petits boches!« Aber er zog weißes Brot aus der Tasche und eine große Tafel Schokolade, füllte ihnen die hungrigen Mäuler.
Die zwei Frauen traten heran; Lili fragte ihn, wem die Kinder gehörten.
Der Korporal sprudelte los, sowie er Französisch hörte. Mon Dieu, in Einquartierung liege er hier. Die Frau, die Mutter der vier Kinder da, habe im Winter die wacklige Holzbude von ihrem alten Vater geerbt. Sie habe bisher in Essen gelebt; ihr Mann sei Hüttenarbeiter gewesen, einer von denen, die die Franzosen erschossen, als sie das Kruppwerk besetzten. Da sei die Witwe mit den Kindern hergezogen – der kleine Balg sei hier in Bochum erst zur Welt gekommen. Er habe geholfen, habe seine Rationen mit der Frau geteilt; aber sie sei eine wilde Person – man könne das ja begreifen. Er habe oft mit ihr gestritten, weil sie immer geschimpft habe auf Frankreich, habe ihr gesagt, daß sie still sein müsse. Nun sei es gekommen, wie er's vorausgesagt habe – man habe sie angezeigt, vor drei Tagen sei sie verhaftet worden. So sitze er da mit den Würmern!
Das kleine Mädchen flüsterte ihm was ins Ohr. Gehorsam hob er ihr Röckchen hoch, knöpfte das Höschen los, hielt sie ab über dem Rinnstein.
»Voyez donc, mesdames«, rief er, »c'est tout ce que j'ai à faire pendant ma journée! Oh, ces sales petits boches.« Er nahm Zeitungspapier, wischte, gab ihr einen leichten Klaps auf den Popo, knöpfte das Höschen wieder zu.
Lili lachte, reichte ihm ein paar Geldscheine, versprach ihm, wiederzukommen am Abend – sie würden sehn, was sich machen ließe.
Die beiden gingen weiter, wandelten den breiten Baumweg hinauf; Lili brach einen großen Zweig Goldwiede ab, der sie über einen Gartenzaun anlachte. Sie umschritten einen Straßenblock, sprachen von dem, was war und was sein würde. Schwester Pia hob ihre linke Hand, sah auf die Uhr. »Wir müssen heimkehren«, sagte sie.
Sie kamen wieder über die stille Straße, wo die Hütten standen, sahn auf der andern Seite den Soldaten, der nun den Säugling auf den Knien hielt, ihm die Milchflasche zwischen die Lippen drückte. »Bois donc, mon chouchou, bois donc!« sagte er.
Dann bemerkte er sie, rief hinüber: »Mesdames, il est très méchant, ce sacré petit animal! Il ne veut pas boire!«
Schwester Pia ging mit großen Schritten über die Straße. Sie warf einen langen Blick auf den Säugling, strich ihm mit den Fingern über das bleiche Gesichtchen. Fühlte den Puls, hob das Ärmchen auf, das kraftlos wieder zurückfiel. »Lassen Sie nur«, sagte sie langsam, »das Kind ist tot.«
»Comment?« verlangte der Korporal. »Qu'est-ce que vous dites?«
Lili übersetzte es. Ein sehr dummes Gesicht machte er; zwei dicke Tränen rannen ihm über die schmutzigen Wangen.
»Pauvre petit gosse!« murmelte er.
* * *
Alles versuchte Gerhard, die Freunde zu befreien. Hauenburg herauszuholen, Schlageter und seine Leute.
Nur neue Opfer kostete es. Diesmal paßte man scharf auf: französische Soldaten in Düsseldorf, preußische Schutzleute in Barmen.
Er verzweifelte fast, immer wieder fachte Lili neue Hoffnung in ihm. Sie hatte mit Käte einen Plan erdacht, all ihre Willenskraft gaben die Frauen hinein – ah, die ganze Welt wollten sie für Schlageter einspannen!
Nicht der Kölner Erzbischof nur, der Papst selber trat für den Verurteilten ein. Lili hatte sich an Farinacci gewandt, der versprach Hilfe. Er berichtete nach Rom, seine Freunde gingen zum Vatikan, erreichten dort, was Schwester Pia beim Erzbischof erreicht hatte: der Heilige Vater bat im Namen der katholischen Christenheit die französische Regierung um Gnade. Dasselbe tat das Internationale Rote Kreuz, taten Dutzende angesehener Körperschaften in aller Herrn Länder.
Käte hatte ihre Schreibmaschine nachhause gebracht – durch die Nächte schrieben sie Briefe und Telegramme. An die Träger großer Namen wandten sie sich, Männer von Weltruf in allen Erdteilen – die horchten auf, legten ihr Wort ein in Paris. Einer und wieder einer – viele.
Der Herr über Frankreich, Raymond Poincaré, hörte den Pulsschlag der Welt.
Sie saßen beim Frühstück an einem späten Maimorgen – die Sonne lachte ins offene Fenster. Als Gerhard eintrat, reichte ihm Käte ein Telegramm. Er las es, nickte – aus Stockholm, von Schwedens Königin: auch sie bat in Paris um Schlageters Leben.
Lili legte ihm den Arm um die Schultern. »Glaubst du, daß wir's schaffen?«
In diesem Augenblick kreischte eine helle Knabenstimme von der Straße herauf. Käte lief ans Fenster, sah hinaus. »Ein Extrablatt!« rief sie. »Das sind wir nicht mehr gewohnt seit der Kriegszeit. Und da war's immer gute Nachricht – vielleicht wird's auch heute so sein.« Sie schellte dem Stubenmädchen, sandte sie hinunter.
Das Mädchen kam zurück, brachte das Extrablatt. Wenige Sätze nur, kurz und knapp.
Spät abends stand Poincaré vor der aufgeregten Kammer – die tobte: nichts habe er erreicht mit seinem Ruhrabenteuer, sei zu weichmütig, nicht entschlossen genug. Da führte er seinen Hieb: das wage man ihm zu sagen, ihm, der soeben erst den Befehl zur Hinrichtung Schlageters gegeben habe? Dieses Mannes, für den eine ganze Welt sich einsetzte! Und dennoch habe er, zum Heile Frankreichs und um dem feigen deutschen Widerstande endlich das Rückgrat zu brechen, den Befehl gegeben.
Er bekam seine große Mehrheit, die Kammer jubelte ihm zu.
Und um fünf Uhr früh holten die Himmelblauen Leo Schlageter aus dem Gefängnis. Brachten ihn zur Golzheimer Heide, banden ihn an den Pfahl. Durchsiebten mit Kugeln seinen Leib.